Wahlprogramme die Grünen
Wahlprogramm 2024
https://www.bundestagswahl-bw.de/wahlprogramm-gruene
1Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
WACHSEN
ZUSAMMEN
Entwurf des Bundesvorstands
REGIERUNGSPROGRAMM 2025
Herausgeber*in
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Michael Hack
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
WACHSEN
ZUSAMMEN
Entwurf des Bundesvorstands
REGIERUNGSPROGRAMM 2025
4BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
INHALTSVERZEICHNIS
ZUSAMMEN WACHSEN 6
Kapitel 1: In die Zukunft
wachsen – ökologisch
und ökonomisch 9
A. Eine starke Wirtschaft für sichere Jobs . . . . . 10
Für einen wettbewerbsfähigen Standort . . 10
Für mehr Arbeitskräfte und
die gleichberechtigte Erwerbstätigkeit
von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Für eine starke europäische Wirtschaft. . . 12
Für funktionierende und nachhaltige
Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Für mehr Innovationskraft. . . . . . . . . . 13
Für die klimaneutrale Modernisierung
der Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Für die Stärkung von Mittelstand
und Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Für Wirtschaftssicherheit und
zukunftsfähigen Außenhandel . . . . . . . 15
Für Rohstoffsicherheit und
Kreislaufwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . 16
Für einen starken Verbraucherschutz . . . . 17
B. Ein modernes und digitales Land . . . . . . . . 17
Für einen Staat, der für die Menschen
funktioniert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Für eine serviceorientierte Verwaltung. . . 18
Für eine schnelle und umfassende
Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Für einen Deutschlandfonds und
eine Reform der Schuldenbremse. . . . . . 19
C. Ein Klima, in dem wir gut leben können . . . . 20
Für ein stabiles und sicheres Klima . . . . 20
Für sozial gerechten Klimaschutz. . . . . . 21
Für günstige, verlässliche und
klimaneutrale Energie . . . . . . . . . . . . 22
Für verlässliche und bezahlbare Wärme . . 23
Für vorsorgende Anpassungen an
ein verändertes Klima . . . . . . . . . . . . 23
D. Eine mobile Gesellschaft – Stadt und Land
zusammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Für schnelles, nachhaltiges und
sicheres Fortkommen . . . . . . . . . . . . 24
Für eine verlässliche und bezahlbare Bahn 25
Für gleichwertige Lebensverhältnisse . . . 25
E. Eine Natur, die wir schützen . . . . . . . . . . . 26
Für eine intakte Natur . . . . . . . . . . . . 26
Für eine gesunde Umwelt . . . . . . . . . . 26
Für sauberes Wasser und lebendige Meere 27
F. Eine zukunftsfeste Landwirtschaft . . . . . . . 28
Für starke Landwirtinnen und Landwirte . 28
Für die natürlichen Grundlagen
unserer Ernährung . . . . . . . . . . . . . . 28
Für gute Ernährung . . . . . . . . . . . . . 29
Für einen verbesserten Tierschutz . . . . . 29
Kapitel 2: Einfach
dabei sein – fair und
bezahlbar 31
A. Starke Teilhabe: gute Arbeit, bezahlbares
Wohnen, faire Löhne . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Für gute Arbeit und faire Löhne. . . . . . . 32
Für bezahlbares Wohnen . . . . . . . . . . 32
Für schnelles, günstiges und
klimaverträgliches Bauen . . . . . . . . . . 33
Für ein gerechtes Steuersystem. . . . . . . 34
B. Eine gute Bildung für gute Chancen . . . . . . 34
Für gute und verlässliche Kitas . . . . . . . 34
Für starke Schulen mit starken Kindern . . 35
Für eine gute Bildung, die allen offensteht 36
Für eine starke Hochschul- und
Wissenschaftslandschaft. . . . . . . . . . . 36
C. Mitten im Leben – in jeder Lebensphase . . . . 37
Für starke Familien . . . . . . . . . . . . . 37
5Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Für die Teilhabe der Jüngsten – gegen
Kinderarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Für einen guten Start der
jungen Generation . . . . . . . . . . . . . . 38
Für ein aktives und selbstbestimmtes Leben
im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
D. In jeder Lebensphase abgesichert . . . . . . . 40
Für eine gute
Gesundheitsversorgung überall. . . . . . . 40
Für eine verlässliche und würdige Pflege . 40
Für eine solidarische Kranken- und
Pflegeversicherung. . . . . . . . . . . . . . 41
Für eine vorausschauende
Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . 42
Für eine zukunftsfeste und würdige Rente 42
Für verlässliche soziale Sicherung . . . . . 43
Kapitel 3: Frieden in
Freiheit sichern – innen
und außen 45
A. Eine lebendige Demokratie . . . . . . . . . . . 46
Für demokratischen Zusammenhalt . . . . 46
Für eine Erinnerung, die uns wach hält. . . 46
Für handlungsfähige Kommunen . . . . . . 47
Für eine starke demokratische Gesellschaft 47
Für die Unterstützung von
freiwilligem Engagement . . . . . . . . . . 48
Für Sport, der verbindet . . . . . . . . . . . 49
Für gute Justiz und einen
handlungsfähigen Rechtsstaat . . . . . . . 49
Für digitale Bürger*innenrechte . . . . . . 50
Für eine vielfältige Gesellschaft ohne
Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . 50
Für Frauenrechte . . . . . . . . . . . . . . . 51
Für Selbstbestimmung. . . . . . . . . . . . 51
Für queeres Leben:
sicher und selbstbestimmt . . . . . . . . . 52
Für gleichberechtigte Teilhabe von
Menschen mit Behinderung und eine
inklusive Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 53
Für lebendige Kunst und Kultur. . . . . . . 53
Für die Gestaltung der
Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . 54
Für ein Land, das Schutz bietet . . . . . . . 55
Für eine europäische und internationale
Flucht- und Migrationspolitik . . . . . . . . 55
B. Ein Leben in Sicherheit . . . . . . . . . . . . . 56
Für gute Polizeiarbeit gegen Kriminalität . 56
Für einen verstärkten Einsatz gegen
Organisierte Kriminalität . . . . . . . . . . 57
Für eine klare Kante gegen Geldwäsche
und organisierten Steuerbetrug. . . . . . . 57
Für ein entschiedenes Vorgehen gegen
Extremismus und Terror . . . . . . . . . . . 58
Für einen krisenfesten Bevölkerungsschutz 58
Für die Verbindung von innerer und
äußerer Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . 59
Für IT-Sicherheit und gegen
systematische Desinformation . . . . . . . 59
Für die Verteidigung von
Frieden und Freiheit . . . . . . . . . . . . . 60
C. Eine starke Europäische Union . . . . . . . . . 60
Für eine EU, die unsere Demokratie
verteidigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Für eine handlungsfähige EU . . . . . . . . 61
D. Außen- und Sicherheitspolitik
in Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Für eine aktive Außenpolitik . . . . . . . . 62
Für einen zukunftsfesten Multilateralismus 63
Für Menschenrechte und
demokratische Entwicklung . . . . . . . . . 63
Für die Sicherheit und Frieden in Europa
und der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Für eine moderne, verteidigungsfähige
Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Für globalen Klimaschutz . . . . . . . . . . 66
Für robuste Partnerschaften und
internationale Gerechtigkeit . . . . . . . . 66
6BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
ZUSAMMEN
WACHSENREGIERUNGSPROGRAMM
Bei den Bundestagswahlen am 23. Februar stehen
Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, vor einer wich-
tigen Entscheidung. Es geht darum, wer für unser
Land in dieser herausfordernden Zeit Regierungs-
verantwortung trägt.
Jetzt kommt es auf die Kraft unseres Zusammenle-
bens an, in dem die Menschen auch in diesen her-
ausfordernden Zeiten so viel einbringen und leisten.
Wir nehmen diese Kraft als Auftrag an die Politik,
unser Land für die Menschen in den kommenden
Jahren besser, gerechter und einfacher zu machen.
Als Auftrag, dass es hier einfach funktioniert und der
Alltag bezahlbar ist. Als Auftrag, unsere Verantwor-
tung in einer kommenden Regierung wahrzunehmen.
Deutschland hat viele große Stärken. Mit der Kraft
von Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern, die den
Laden jeden Tag trotz der großen Herausforderun-
gen am Laufen halten. Auf der Arbeit. In der Familie.
Mit viel Engagement und Einsatz. Mit einem star-
ken Sozialstaat, erfolgreichen Unternehmen und
ebenso starkem Mittelstand. Mit Anstrengung und
Innovation, Vielfalt und Solidarität. Es ist auch die
Kraft unseres Landes als Einwanderungsland. Viele
Menschen tragen hier seit vielen Generationen zu
unserem gemeinsamen Wohlstand bei, bringen sich
ein und gestalten unser Zusammenleben mit.
Es geht jetzt darum, diese Kraft als Zukunftskraft auf-
zunehmen: ökologisch und ökonomisch, solidarisch
und europäisch. Als Kraft, die sich den Herausforde-
rungen stellt und die Probleme löst. Mit einer Zuver-
sicht, die aus dem gemeinsamen Handeln kommt.
Denn die Herausforderungen in dieser Zeit sind
groß. Viele Menschen stehen unter Druck und ha-
ben Sorgen. Die Preise sind gestiegen, und der Lohn
der eigenen Arbeit wurde für viele durch Miete,
Heizen und die nötigsten Ausgaben aufgebraucht.
Unser Frieden ist durch Putins Angriffskrieg be-
droht. Autoritarismus und Populismus haben spür-
bar an Einfluss gewonnen. Wer etwas für unsere
Demokratie tut, ist immer mehr mit Hass und An-
feindungen konfrontiert. Die Klimakrise verschärft
sich trotz des Einsatzes vieler weiter, und die Natur,
in der wir leben, wird weiter zerstört. Verspätete
Züge, schlecht ausgestattete Kitas und Papierkrieg
mit den Ämtern zehren an den Nerven. Ein jahrelan-
ger Stillstand gefolgt vom Dauerkonflikt innerhalb
der Ampelregierung hat Vertrauen in die Politik
insgesamt gekostet.
Eine Politik, die Probleme löst und die Dinge zum
Besseren wendet, kann nur gelingen, wenn sie den
Bürgerinnen und Bürgern zuhört. Wenn sie nicht
über die Menschen redet, sondern mit ihnen – so
wie das jeden Tag überall im Land an unseren Kü-
chen- und Esstischen geschieht.
Wir haben in den vergangenen drei Jahren unse-
re Regierungsverantwortung wahrgenommen. In
anspruchsvollen Jahren mit neuen Krisen. In einer
schwierigen Regierungskonstellation. Wir haben
die Jahre genutzt, um Schwung aufzunehmen und
Probleme zu lösen. Probleme, die von Großen Ko-
alitionen lange Jahre angehäuft wurden. Wir haben
uns von der Abhängigkeit von Putin befreit. Wir
haben den erneuerbaren Energien großen Rücken-
wind verliehen. Wir sind jetzt tatsächlich auf Kurs
zum Erreichen der Klimaziele eingeschwenkt. Wir
investieren in unsere deutsche und europäische
Sicherheit und arbeiten an neuen Partnerschaften.
Wir haben angefangen, die Zukunftskraft unserer
Wirtschaft zu stärken, durch mehr Fachkräfte, mehr
Innovation und weniger Bürokratie. Wir haben auch
7Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
endlich wieder in den Erhalt der Natur investiert,
in eine nachhaltige Landwirtschaft. Wir haben zum
Erfolg des europäischen Green Deal beigetragen.
Wir haben Kinder und Familien besser unterstützt.
Wir werben deshalb dafür, den Weg der Erneuerung
fortzusetzen, ihn nicht wieder mit Hürden zu verstel-
len oder gar rückzubauen – wie es schon einmal ge-
schehen ist. Mit dem vorliegenden Programm machen
wir deutlich, worauf es für unser Land jetzt ankommt.
Nehmen wir unsere ökologische und ökonomische
Zukunft in die Hand! Wachsen wir in die Zukunft!
Wir setzen in diesem Programm auf die Wirtschafts-
und Innovationskraft unseres Landes. Doch aus dem
Zutrauen in die Wirtschaft erwächst zugleich der
Auftrag, die Zukunftsblockaden zu lösen. Wir wol-
len, dass unsere Wirtschaft in die Zukunft wächst:
klimaneutral, innovativ, wettbewerbsfähig in einem
gemeinsamen Europa. Ihre Kraft können Unterneh-
men nur entfalten, wenn sie Raum bekommen für
unkomplizierte und pragmatische Lösungen – und
sich zugleich auf klare Ziele und Rahmensetzungen
verlassen können. Das verlangt von der Politik: Kurs
halten. Verlässlichkeit herstellen. Regeln und Nor-
men vereinfachen – ob von der Europäischen Union
oder hausgemacht. Kurz: mehr ermöglichen.
Dabei kommt dem Schutz unseres Klimas und unse-
rer Ökosysteme herausragende Bedeutung zu. Nur
wenn sie intakt sind, kann unsere Sicherheit, unsere
Freiheit und unser Wohlstand intakt sein. Verant-
wortung heißt, dem Rechnung zu tragen. Und die
notwendige Erneuerung solidarisch zu gestalten.
Jede und jeder mit den eigenen Möglichkeiten, Er-
fahrungen und Stärken.
Mit unserer Zukunftsagenda stellen wir die Weichen
für Investition und Innovation, für Erneuerung in
Fairness und Solidarität, für Dynamik statt büro-
kratischer Lähmung. Mit dem „Deutschlandfonds“
werden wir in Bund, Ländern und Kommunen die
notwendigen Mittel für die Investitionen in diese
Zukunft mobilisieren. Er stärkt unsere gemeinsamen
Infrastrukturen, auf die Gesellschaft und Wirtschaft
so dringend angewiesen sind. Zu diesem Investiti-
onsfonds schlagen wir einen „Pakt für ein modernes
Deutschland“ vor – zu dem alle politischen Ebenen
eingeladen sind: Bund, Länder und vor allem die
Kommunen. Verständigen wir uns in dieser Zeit neu,
wie wir unser Land im Dienst der Menschen auf
Vordermann bringen – zusammen und nicht
gegeneinander!
Nehmen wir unsere soziale Zukunft in die Hand! Sor-
gen wir dafür, dass alle Menschen fair dabei sind und
die Dinge des alltäglichen Lebens bezahlbar sind!
Wir bauen in unserem Programm auf die sozia-
le Kraft unseres Landes. Aus diesem Zutrauen in
die Menschen erwächst für uns der Auftrag, einen
ernsthaften Beitrag zu leisten, dass alle Menschen
dabei sein können. Und dass der Alltag wieder be-
zahlbar ist. Wir machen Strom billiger, sorgen für
erschwingliche Mobilität und bezahlbare Mieten.
Gute Bildung, gute Arbeit, verlässliche Mobilität und
bezahlbares Wohnen sind die zentralen Faktoren,
an denen sich die Lebenschancen der Menschen
entscheiden. Ein faires Steuersystem ist dafür die Vo-
raussetzung. Wir setzen uns mit Nachdruck dafür ein,
dass unsere Kitas, Schulen und Hochschulen gestärkt
werden. Damit sie allen Kindern eine Chance auf
einen guten Start ins Leben bieten. Wir unterstützen
gute Arbeit durch faire Löhne und einen höheren
Mindestlohn. Durch Gleichberechtigung für Frauen,
auch auf dem Arbeitsmarkt. Und wir machen Wohnen
bezahlbarer, indem wir Mietsteigerungen begrenzen,
sozialen Wohnungsbau unterstützen und eine realis-
tische Neubaustrategie vorlegen.
Nehmen wir unsere gesellschaftliche und demo-
kratische Zukunft in die Hand! Sichern wir unseren
Frieden in Freiheit!
Wir setzen in dem Programm auf die gesellschaft-
liche und demokratische Kraft der Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes, auf die Kraft unserer
gemeinsamen Republik in ihrer Vielfalt. Doch auch
dieses demokratische Zutrauen in die Bürgerinnen
und Bürger erfordert einen neuen Auftrag an die
Politik, unsere demokratischen Institutionen und
unser demokratisches Zusammenleben lebendig zu
halten und zu stärken.
Unsere demokratische Kraft entsteht, wenn Men-
schen sich als Gleiche begegnen, wenn aus dem
8BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
freien Austausch unterschiedlicher Ansichten der
Wettstreit um die bessere Lösung wird. Deshalb
müssen wir unsere öffentlichen Räume stärken.
Die gemeinsamen Orte, an denen Übereinstim-
mung sichtbar wird und Unterschiede ausgetragen
werden: eine gute Schule; gute Arbeitsplätze; eine
starke und vielfältige Medienlandschaft; starke
öffentliche Räume, die uns in Vielfalt verbinden,
des Sports und der Kultur. All diese Orte sind die
Voraussetzung unseres demokratischen Zusammen-
halts in Vielfalt.
Gerade weil die Stärke unseres Landes daraus
entsteht, dass jede und jeder dazugehört, un-
abhängig von der Herkunft, brauchen wir auch
eine neue Kraft der integrativen Gesellschaft. Was
wir damit meinen: gemeinsam in Vielfalt. Was es
dafür braucht: Aufstiegschancen, Respekt im Streit,
Kompromissfähigkeit und Koalitionsfähigkeit in der
demokratischen Mitte. Bürgerschaftliche Verant-
wortung, aber auch eine neue Verantwortung der
demokratischen Institutionen und der gewählten
Repräsentantinnen und Repräsentanten, die Proble-
me zu lösen und zum Funktionieren beizutragen.
Und so, wie wir unsere Freiheit und unser Zusam-
menleben nach innen zu sichern haben, so gilt es in
dieser Zeit, unseren Frieden in Freiheit nach außen
zu sichern. Gerade jetzt brauchen wir – in unserem
eigenen Interesse – eine neue Initiative an der Re-
gierungsspitze für ein starkes gemeinsames Europa.
Wir können diplomatische Kraft, die engagierte
Suche nach belastbaren Lösungen, nur aufbringen,
wenn wir uns als freies Europa zugleich handlungs-
stark zeigen. Die geopolitischen Kräfteverhältnisse
in der Welt verändern sich rasant – und das nicht
erst seit heute. In dem Angriffskrieg Russlands
gegen die Ukraine zeigt sich eine Bedrohung für die
europäische Friedensordnung und unsere Demokra-
tie insgesamt – daher ist die Unterstützung der Uk-
raine auch unser bester Selbstschutz. So wie unsere
europäischen Nachbarn für uns da waren, sodass
wir in Deutschland wiedervereint im Herzen Euro-
pas in Freiheit leben, sind wir das auch für unsere
Nachbarn. Gemeinsam gilt es Frieden in Freiheit
neu zu sichern. Gemeinsam mit den vielen Staaten
weltweit, die ebenso wissen, dass das Einstehen für
eine regelbasierte Ordnung der beste Schutz ist.
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
nur wenn wir unsere Stärken in Zukunftskraft ver-
wandeln, werden wir das erhalten und stärken kön-
nen, was uns lieb und teuer ist. Wir betonen das, weil
wir in den vergangenen Jahren auch gesehen haben,
wie verlockend es in der Politik ist, die Verluste der
unterlassenen Veränderung einfach zuzukleistern,
nach dem Motto „Niemand muss sich hier verändern“,
oder sich nur noch in der Vergangenheit aufzuhalten.
Mit Robert Habeck kandidiert ein Mensch für die
Führung der kommenden Regierung, der diesen
Unterschied macht. Der eine Politik des Zuhörens
mit Orientieren verbindet, Regierungserfahrung mit
der Bereitschaft selbst zu lernen, Ehrlichkeit mit
der Bereitschaft anzupacken, Zukunftsstärke mit
der Kraft zur breiten gesellschaftlichen Verbindung.
Dem es um die ganze Gesellschaft geht und der
dies als Verantwortung begreift, in eine starke Zu-
kunft zu führen. Gemeinsam mit Annalena Baerbock,
der Außenministerin unseres Landes. Die Haltung
zeigt, wo andere zaudern. Die mit Menschlichkeit,
Partnerschaft und Stärke für unsere Werte und Inte-
ressen einsteht.
Dafür bitten wir bei der kommenden Bundestags-
wahl um Ihr Vertrauen und Ihre Stimme!
Nehmen wir unsere Zukunft zusammen in die Hand!
Wachsen wir zusammen!
9Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
KAPITEL 1
IN DIE ZUKUNFT
WACHSENÖKOLOGISCH UND ÖKONOMISCH
Die Menschen in Deutschland sind zu Recht stolz
auf das, was sie schaffen, auf die Qualität ihrer
Arbeit, auf ihre Leistung, auf ihre Erfahrungen und
Kompetenz. Deutschland muss auf diese Kraft bau-
en, um die großen strukturellen Herausforderungen
anzugehen, vor denen wir stehen: Der Angriffskrieg
von Russland auf die Ukraine und der Systemkon-
flikt zwischen liberalen Demokratien und autoritä-
ren Staaten im Umfeld Chinas erfordern eine Neu-
ausrichtung von Wirtschaftssicherheit und Handel,
Lieferketten und Absatzmärkten. Wir werden diesen
Wettstreit auch im Ökonomischen nur gewinnen,
wenn wir den großen Vorteil der liberalen Demo-
kratie maximal zur Geltung bringen: dass Menschen
neue Ideen haben und Dinge frei entdecken und
entfalten können. Wir wollen in der kommenden
Regierung daran weiterarbeiten, die strukturellen
Schwächen unseres Standorts zu beheben. Wir
sorgen dafür, dass Deutschland und Europa bei den
Innovationen der Zukunft vorn mit dabei sind. Dafür
muss Wirtschaften einfacher und verlässlicher wer-
den, dafür müssen Chancen fair eröffnet und alle
gerecht entlohnt werden. Dafür können wir nicht im
Status quo verharren. Vielmehr brauchen wir mehr
Raum und Begeisterung für die Bereitschaft, mit
neuen Ideen und Technologien ins Risiko zu gehen.
Unser Ziel ist, die Innovationskraft unseres Landes
spürbar zu stärken.
Damit wir unseren Wohlstand erneuern und nicht
nur verwalten, braucht es ein Land, das einfach
funktioniert – einen Staat, der es den Menschen
und Unternehmen leichter macht, ihre Ideen um-
zusetzen, und nicht schwerer: mit einem Klick zur
Lösung statt mit einem Dutzend Formularen in den
Papierkrieg. Den Aufbruch haben wir in den vergan-
genen drei Jahren geschafft: Wir haben ein Rekord-
tempo beim Ausbau der Erneuerbaren erzeugt,
haben Grundlagen gelegt bei der Modernisierung
der Industrie, der Zuwanderung von Fachkräften, der
Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungs-
verfahren, der Stärkung von Investitionen. Aber
unser Land braucht jetzt eine gemeinsame Anstren-
gung, damit wir auf diesem Weg erfolgreich voran-
kommen. Der Wettlauf bei der technologischen
Entwicklung macht es notwendig, dass neue Ideen
und Innovationen schneller Wirklichkeit werden.
Wenn wir auf diesem Weg den deutschen und euro-
päischen Standort stärken, stärken wir dabei auch
die Idee der sozialökologischen Marktwirtschaft –
und eine Wirtschaft, die Verantwortung übernimmt
für Gesellschaft und Umwelt, sichere Arbeitsplätze
bietet und vor Ort verankert ist: eine Wirtschaft
im Dienst der Menschen. Eine starke Wirtschaft ist
nicht nur Bedingung unseres Wohlstandes, sondern
auch Voraussetzung für Zusammenhalt und Stabili-
tät im Inneren, für unser Gewicht in der Welt und
nicht zuletzt zur Bewältigung der Klimakrise.
Unser Wohlstand ermöglicht und basiert auf Ge-
rechtigkeit, Klimaneutralität, Lebensqualität und
Vorsorge. Seine Erneuerung ist eng verknüpft mit
der Bekämpfung der Klimakrise, die gemeinsam mit
der Krise der Artenvielfalt die große Aufgabe unse-
rer Zeit ist. Denn wir wollen einen Planeten erhal-
ten, auf dem Menschen in Freiheit und Sicherheit
leben können. Wir werden den immer häufigeren
Extremwettern nicht gleichgültig gegenüberstehen,
sondern mit aller Kraft dafür kämpfen, dass sich das
Klima stabilisiert. Das erfordert große Investitionen,
zum Beispiel in den Ausbau günstiger erneuerbarer
Energien, der jahrelang verschleppt wurde. Dafür
brauchen wir intakte Ökosysteme, gesunde Wälder,
10BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
saubere Meere und Respekt vor den Tieren als Mit-
geschöpfe. Wenn wir die Umwelt schützen, schützt
sie uns auch. Klimaschutz ist Menschenschutz und
zugleich eine zentrale Wettbewerbsfrage unserer
Zeit. Der Weg zurück zu den fossilen Technologien
führt in den wirtschaftlichen Stillstand.
Wir werden darauf achten, dass alle Menschen
unseres Landes den Weg mitgehen können, der in
eine gute Zukunft führt. Wir sorgen dafür, dass auch
Mieter*innen mit knappem Budget eine moderne
Heizung und eine verbesserte Dämmung bekom-
men. Wir sorgen dafür, dass der Zugang zu elektri-
scher Mobilität die Fortbewegung komfortabler und
das Auto erschwinglich macht. Wir sorgen dafür,
dass durch Klimaanpassung das Eigentum von
Hausbesitzer*innen geschützt und Lebensleistung
erhalten wird.
A. EINE STARKE
WIRTSCHAFT FÜR
SICHERE JOBS
Für einen wettbewerbsfähigen Standort
Unternehmen brauchen gute Wettbewerbsbedin-
gungen und ein gutes Investitionsklima, allem vor-
an klare Rahmenbedingungen und Planungssicher-
heit. Für unsere Wirtschaft sorgen wir für dauerhaft
günstige Energie, erhöhen private und öffentliche
Investitionen in Innovation und Infrastruktur, ver-
einfachen, digitalisieren und beschleunigen staatli-
che Verfahren und Prozesse und arbeiten daran, das
Fachkräftepotenzial in und für Deutschland
zu erhöhen.
Eine sichere, saubere und bezahlbare Energiever-
sorgung ist ein entscheidender Standortfaktor.
Erleichterungen für Eigenstromproduktion und eine
Förderung von langfristigen Abnahmeverträgen
sichern der Wirtschaft direkten Zugang zu günsti-
ger Energie. Auch für die Wirtschaft ist die weitere
Absenkung der Steuern und Abgaben auf Strom
wichtig. Deshalb übernehmen wir die Netzentgelte
für die überregionalen Stromleitungen aus dem
Deutschlandfonds und senken die Stromsteuer auf
das europäische Minimum. Wir werden weiterhin
Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz
unterstützen. Zudem setzen wir uns ein für eine
dauerhafte und breitere Ausgestaltung der Strom-
preiskompensation für energieintensive Unter-
nehmen, die im globalen Wettbewerb stehen. Wir
werden das Wasserstoffkernnetz zügig aufbauen,
die Erzeugung von grünem Wasserstoff in Deutsch-
land fördern und neue Importquellen sichern.
Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen
(KMU) leiden besonders unter aufwendiger Büro-
kratie und oft zu komplizierten Regeln. Die Be-
schleunigung des Ausbaus der Erneuerbaren haben
wir maßgeblich durch das Abschaffen bürokra-
tischer Hürden wie Anträge für einzelne Stecker
ermöglicht. Den gleichen Weg müssen wir in allen
Bereichen gehen. Mit dem Praxischeck haben wir
dafür ein pragmatisches und erfolgreiches Instru-
ment zum Abbau unnötiger Bürokratie in Deutsch-
land eingeführt, das wir in der nächsten Legislatur
skalieren werden. Dabei werden Sektor für Sektor
die Betroffenen aus Unternehmen, Verwaltung und
Zivilgesellschaft eingebunden, unnötige bürokrati-
sche Hürden bestimmt und praktische Lösungen zu
deren Abbau identifiziert, ohne soziale oder öko-
logische Schutzstandards abzubauen. Das werden
wir nun flächendeckend und systematisch ausrollen
und auch in den Gesetzgebungsprozessen vorab
umsetzen. Bei jeder Gesetzgebung muss die ein-
fache Umsetzbarkeit im Vordergrund stehen. Ein
wesentliches Mittel für den Bürokratieabbau ist die
Digitalisierung der Verwaltung: Wir wollen, dass
zentrale öffentliche Dienstleistungen für Unterneh-
men an einer Stelle gebündelt werden und Daten
nur einmal eingereicht werden müssen. Die Notar-
pflichten werden wir vereinfachen und reduzieren,
um so Kosten zu senken und Zeit zu sparen. Damit
mehr Unternehmen von den KMU-Ausnahmeregeln
profitieren können, werden wir die Schwellenwerte
für die Definition von KMU anheben.
Deutschland ist von früheren Regierungen jahre-
lang auf Verschleiß gefahren worden. Zu lange hat
es zu wenig verlässliche öffentliche Investitionen
gegeben. Dabei steht hinter jeder öffentlichen In-
vestition realwirtschaftliche Wertschöpfung. Wir
wollen der Wirtschaft eine starke, resiliente und
verlässliche Infrastruktur bereitstellen, indem wir
die öffentlichen Investitionen dafür aus nationa-
len und aus Mitteln der Europäischen Union (EU)
11Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
stärken und ausbauen. Dafür werden wir auch die
Schuldenbremse sinnvoll modernisieren.
Der Großteil der Investitionen kommt jedoch von
Unternehmen und anderen privaten Akteuren. Wer
in Deutschland investiert, soll es bei der Steuer
leichter haben: Dazu führen wir eine auf fünf Jahre
befristete, unbürokratische Investitionsprämie von
10 Prozent für alle Unternehmen und alle Investi-
tionen mit Ausnahme der Gebäudeinvestitionen ein.
Diese Prämie wird mit der Steuerschuld des Unter-
nehmens verrechnet; falls die Prämie die Steuer-
schuld übersteigt, wird sie ausgezahlt.
Es ist absolut entscheidend, dass wir nicht nur gute
Ideen entwickeln, sondern dass daraus auch starke
neue deutsche Unternehmen entstehen. Hier haben
wir bisher im Vergleich zu den USA oder China eine
große Schwäche beim Zugang zu Finanzierung. Wir
erleichtern deshalb den Zugang zu Wagniskapital
durch die Fortsetzung der WIN-Initiative, um jun-
gen innovativen Unternehmen durch verbesserte
steuerliche, rechtliche und finanzielle Rahmenbe-
dingungen einen einfacheren Zugang zu privatem
Kapital zu ermöglichen.
Wettbewerbsfähigkeit steht und fällt auch mit
gut qualifizierten Beschäftigten. Gewerkschaften,
betriebliche Mitbestimmung und die Sozialpart-
nerschaft mit ihrer starken Tarifbindung sind eine
Stärke unseres Standorts.
Für mehr Arbeitskräfte
und die gleichberechtigte
Erwerbstätigkeit von Frauen
Der Mangel an Arbeits- und Fachkräften ist eine der
größten Herausforderungen für die wirtschaftliche
Entwicklung und Modernisierung Deutschlands. Ob
Handwerk, Gastronomie oder große Konzerne – alle
sind betroffen. Um diese Lücke zu schließen, gilt
es Hindernisse abzubauen und Anreize zu setzen,
damit Menschen sich auf dem Arbeitsmarkt einbrin-
gen können.
Deutschland hat 2,9 Millionen junge Menschen
ohne Berufsabschluss, während viele Ausbildungs-
plätze unbesetzt bleiben. Wir müssen dazu beitra-
gen, dass junge Menschen besser ihren Weg in den
Beruf finden und die Attraktivität der beruflichen
Ausbildung erhöhen. Mit Maßnahmen wie dem
Qualifizierungsgeld unterstützen wir Menschen, die
schon im Berufsleben sind und sich neu orientieren
oder weiterqualifizieren möchten. Älteren Arbeit-
nehmer*innen werden wir Anreize für längeres
Arbeiten über die Regelaltersgrenze hinaus bieten.
Wenn alle Frauen mit Kindern so arbeiten könnten,
wie sie möchten, hätten wir in Deutschland bis zu
840.000 zusätzliche Arbeitskräfte. Um die Verein-
barkeit von Familie und Beruf zu erleichtern, wol-
len wir durch einen gesetzlichen Rahmen flexible
Lösungen ermöglichen und zugleich passgenaue
Regelungen für die Betriebe bieten, die sie nicht
überfordern. Ein gutes und verlässliches Angebot an
Betreuungsplätzen ist dafür die Grundlage. Betreu-
ungskosten sollten umfangreicher bei der Steuer
absetzbar sein. In der jetzigen Form stellt das
Ehegattensplitting ein Erwerbshindernis für Frauen
dar. Deshalb wollen wir es grundlegend geschlech-
tergerecht reformieren, indem wir für Neuehen
eine individuelle Besteuerung mit übertragbarem
Grundfreibetrag einführen. Für bestehende Ehen
ändert sich nichts. Indem wir eine gleichberechtigte
Erwerbsbeteiligung von Frauen ermöglichen, stär-
ken wir ihre eigenständige Absicherung, schützen
sie so vor Altersarmut und stärken gleichzeitig die
Volkswirtschaft.
Deutschland muss für die besten Arbeitskräfte aus
aller Welt attraktiv sein. Wir wollen, dass Menschen,
die bei uns arbeiten wollen, ihr Arbeitsvisum online
beantragen können und dafür nur einen Ansprech-
partner brauchen. Eine digitale Einwanderungs-
agentur soll den Einwanderungsprozess moderni-
sieren und beschleunigen. Wir setzen uns dafür ein,
dass ein Austausch mit Ämtern und Behörden noch
leichter auf Englisch erfolgen kann. Die Anerken-
nung von ausländischen Berufsabschlüssen verein-
fachen wir deutlich und schaffen dafür eine zent-
rale Anerkennungsstelle. Die Arbeitshindernisse für
Geflüchtete bauen wir weiter ab, auch weil sie über
den Arbeitsmarkt schneller in unsere Gesellschaft
integriert werden.
12BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Für eine starke europäische Wirtschaft
Der europäische Binnenmarkt mit seinen 450
Millionen Einwohner*innen und 17 Billionen Euro
Wirtschaftsleistung ist eine historische Errungen-
schaft. Nur mit mehr Europa können wir im Wett-
bewerb mit den USA und China bestehen, können
wir die gemeinsame Wachstums- und Innovations-
schwäche überwinden und wieder treibende Kraft
beim technologischen Fortschritt werden. Das
schafft und sichert auch Wohlstand und gute Jobs
in Deutschland.
Wir wollen den europäischen Binnenmarkt wei-
ter vertiefen und um eine vertieften Digitalunion
ergänzen: Damit die Unternehmen der Zukunft
auch in Europa groß werden. Und wir wollen, dass
Europa seine Kräfte bei Forschung und Innovation
bündelt. Starke Netzwerke europäischer Universitä-
ten, gemeinsame Rechenzentren oder Forschungs-
agenturen können uns wieder zum Spitzenreiter bei
den Zukunftstechnologien machen.
Europa ist bereits Weltmarktführer bei sauberen,
nachhaltigen Technologien wie Windturbinen und
Elektrolyseure. Der europäische Green Deal gibt
mit klimapolitischen und ökologischen Zielen und
Leitplanken den Rahmen für fairen Wettbewerb in
Europa. Bei pragmatischer Umsetzung kann Europa
so zum Marktführer für nachhaltige Elektrotechnik,
Chemie, Maschinenbau und Dienstleistungen wer-
den. Damit sichern wir durch Klima- und Ressour-
censchutz gute Jobs im Industriebereich – einem
wichtigen Zukunftsmarkt. Dazu brauchen wir jetzt
stabile Rahmenbedingungen für Zukunftstechno-
logien statt innovationsfeindliche Diskussionen um
ein Rollback oder eine Bremsung des europäischen
Green Deal.
Wir unterstützen die Erweiterung des Green Deal
um eine industrielle Dimension. Wir müssen von
Klimaschutzmaßnahmen wirtschaftlich stärker
profitieren und unsere klimaneutrale europäische
Innovationskraft zu einem globalen Wettbewerbs-
vorteil ausbauen. Dafür wollen wir im nächsten
EU-Finanzrahmen die entsprechenden Instrumen-
te schaffen und sie mit den notwendigen Mitteln
unterlegen. Dazu gehört auch, dass wir das Beihil-
ferecht der EU so ändern, dass es kurzfristig einer
umfassenden Unterstützung der Dekarbonisierung
der Industrie und dem Abbau gefährlicher Abhän-
gigkeiten von Autokratien nicht im Wege steht.
Für funktionierende und nachhaltige
Finanzmärkte
Funktionierende Finanzmärkte sind ein essenzieller
Bestandteil stabiler wirtschaftlicher Rahmenbedin-
gungen und einer nachhaltigen Investitionsdynamik,
die für klimaneutrale Erneuerung unerlässlich sind.
Um Finanzkrisen vorzubeugen, benötigen Banken,
aber auch Versicherungen und andere Finanzmarkt-
akteure ausreichend haftendes Eigenkapital. Gerade
kleine Banken und Finanzmarktakteure wollen wir
von unnötig kleinteiliger Bürokratie entlasten.
Trotz der gemeinsamen Währung orientieren sich
die Kapitalmärkte der EU-Mitgliedstaaten häufig
noch an nationalen Staatsgrenzen. Die uneinheit-
liche Regulierung hemmt Investitionen aus dem
Ausland und schränkt Finanzierungsmöglichkeiten
für in der EU ansässige Konzerne ein. Aber auch
kleine und mittelständische Firmen leiden, etwa
unter dem vergleichsweise unterentwickelten euro-
päischen Markt für Eigenkapitalinstrumente und
Schuldverschreibungen. Wir werden uns europäisch
für eine rasche Vollendung der Kapitalmarkt- und
Bankenunion einsetzen. Das Vertrags- und Insol-
venzrecht für Finanzmarktakteure wollen wir dafür
europaweit angleichen.
Wir wollen Finanzmarktakteuren die nachhaltige
Finanzierung erleichtern. Sustainable Finance leis-
tet einen wichtigen Beitrag, Investitionen in fossile
Energien unwirtschaftlich und Investitionen in Zu-
kunftstechnologien günstiger zu machen. Deutsch-
land soll eine führende Rolle bei der Verbesserung
der Sustainable-Finance-Regulierung spielen. Wir
setzen uns dabei für mehr Konsistenz und Verein-
fachung bei der Sustainable-Finance-Regulierung
auf europäischer und internationaler Ebene ein, mit
Fokus auf Wirkung und Effizienz. Alle Geldanlagen
des Staates sollen nach Nachhaltigkeitskriterien
angelegt werden.
13Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Für mehr Innovationskraft
Deutschland und Europa müssen bei den Innova-
tionen der Zukunft vorn mit dabei sein. Denn diese
Innovationen sind nicht nur entscheidend für unse-
re wirtschaftliche Zukunft, sondern auch für die Be-
wältigung der großen gesellschaftlichen Aufgaben
unserer Zeit – von der Klimakrise bis zur geopoliti-
schen Behauptung gegen den Autoritarismus.
Die deutsche Forschung soll Weltspitze bleiben.
Wir wollen erreichen, dass Staat und Unternehmen
mindestens 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung in
Forschung und Entwicklung investieren. Unsere
Forschungspolitik umfasst die freie Grundlagen-
forschung ebenso wie die missions- und anwen-
dungsorientierte Forschung sowie den Transfer in
marktreife Produkte. Wir werden daher die Bemes-
sungsgrundlage für die Forschungszulage weiter
ausweiten und so Unternehmen bei der Forschung
besser unterstützen. Gleichzeitig brauchen wir eine
auskömmliche Grundfinanzierung in der Wissen-
schaft. Mit der Deutschen Agentur für Transfer und
Innovation (DATI) wollen wir regionale Innovations-
ökosysteme unterstützen, in denen Wissenschaft,
Gesellschaft und die Wirtschaft gemeinsam an
innovativen Lösungen arbeiten. Die Bundesagentur
für Sprunginnovationen (SPRIND) fördert Innovatio-
nen nicht klassisch durch Förderprogramme, son-
dern durch sogenannte Challenges. Diesen Ansatz
wollen wir ausbauen und auf europäischer Ebene
flankieren. Wir schaffen auch mehr Experimentier-
räume wie die Reallabore, in denen neue Techno-
logien erprobt und in die Anwendung gebracht
werden können.
Wir werden die Digitalisierung der Wirtschaft und
die Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen
erleichtern. Dazu wollen wir die Anwendung von
Künstlicher Intelligenz (KI), die Etablierung robus-
ter Cybersicherheitsstandards sowie die Stärkung
digitaler Kompetenzen in Unternehmen gezielt
fördern und Datenschutzbürokratie abbauen. Wir
schaffen zudem passende Rahmenbedingungen für
interoperable Standards und für einen sicheren und
effizienten Datenaustausch entlang der gesamten
Wertschöpfungskette. Der Staat sollte als vertrau-
ensvoller Referenzkunde seine Marktmacht als
Einkäufer nutzen, um innovative digitale Produkte
zu fördern. Dabei sollte er insbesondere Open-
Source-Anwendungen und Produkte von Start-ups
und KMU berücksichtigen.
Für die notwendige Innovationskraft brauchen
Deutschland und Europa eine neue Gründungs-
kultur. Wir werden Gründungen einfacher machen
durch rechtliche Vereinfachungen und indem wir
Gründer*innen in One-Stop-Shops Begleitung
und Beratung aus einer Hand anbieten. Wir wol-
len Gründungen in ihrer Vielfalt unterstützen.
Dafür geben wir insbesondere Gründerinnen und
nachhaltigen Start-ups einen Booster, etwa durch
verbesserte Finanzierungsangebote. Ausgründun-
gen aus Hochschulen werden wir erleichtern, die
EXIST-Hochschulförderung auf mehr Universitäten
ausweiten und den Transferauftrag für Hochschulen
und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen
stärken.
Für die klimaneutrale Modernisierung
der Industrie
Unser Anspruch ist es, dass Deutschland ein starker
Industriestandort bleibt, denn Industrieunterneh-
men sind in ihren Regionen identitätsstiftend und
wichtige Arbeitgeber. Wir wollen unsere Industrie
bei der klimafreundlichen Modernisierung unter-
stützen, sie hier halten und verhindern, dass die
Produktion in Länder abwandert, in denen es noch
keinen CO₂-Preis und nur laxe Umweltschutz- und
Sozialstandards gibt. In einer Welt, in der Krisen,
Konflikte oder machtpolitische Bestrebungen jeder-
zeit Lieferketten stören oder zerbrechen lassen kön-
nen, brauchen wir in essenziellen Bereichen eigene
Produktionsmöglichkeiten, um fatale Abhängigkei-
ten zu vermeiden.
Damit die klimaneutrale Modernisierung der Indus-
trie gelingen kann, setzen wir auf einen effizienten
Instrumentenmix aus marktwirtschaftlichen Instru-
menten wie CO₂-Preis, gezielter Unterstützung vor
allem bei Investitionen und – wo nötig – möglichst
unbürokratischem Ordnungsrecht. Wo Investitions-
hürden zu Beginn zu hoch sind und über den CO₂-
Preis nicht genug Anreize gesetzt werden, setzen
wir auf wettbewerbsorientierte Instrumente wie
die Klimaschutzverträge. Den Anwendungsbereich
der Klimaschutzverträge werden wir ausweiten
14BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
und so diejenigen Unternehmen finanziell fördern,
die pro Euro am meisten CO₂ einsparen. Um aus-
reichend Nachfrage für klimaneutral hergestellte
Produkte zu garantieren, werden wir grüne Leit-
märkte in Sektoren wie Stahl und Zement europa-
weit etablieren. Dafür wollen wir beispielsweise
bei öffentlichen Aufträgen eine Mindestquote von
grünem Stahl einführen, die stetig ansteigt. Die
vollständige Klimaneutralität der Industrie wird
aufgrund von schwer zu vermeidenden Emissionen
bei bestimmten Produktionsprozessen nur mit der
Abscheidung, Speicherung und Nutzung von CO₂
(CCS/CCU) möglich sein. Deshalb ermöglichen wir
dafür die Anwendung dieser Technologie und unter-
stützen den Ausbau der notwendigen Infrastruktur.
Die Speicherung von CO₂ in Meeresschutzgebieten
lehnen wir ab.
Global ist der Wettbewerb zwischen Verbrenner und
E-Autos längst entschieden. Für die Unternehmen
in der Automobilindustrie, mit ihren mittelständi-
schen Zulieferbetrieben der größte Industriezweig
in unserem Land, ist Planungssicherheit entschei-
dend: dass wir dabei bleiben, ab 2035 nur noch
klimafreundliche Antriebe neu zuzulassen. Die kon-
kreten Ziele der EU-Flottengrenzwerteverordnung
unterstützen wir und lehnen eine Abschwächung
ab. Mögliche Strafzahlungen sollen gegebenen-
falls gestreckt und für den Hochlauf der E-Mobilität
durch europäische Programme genutzt werden. Wir
beschleunigen den Hochlauf der Elektromobilität
durch gezielte Förderung für die Ladeinfrastruktur
und sozial ausgewogene Kauf- und Leasinganreize.
Förderung wollen wir dabei nur jenen gewähren,
die auch in Europa mit seinen hohen sozialöko-
logischen Standards produzieren: in Europa, für
Europa. Mit gezielten Forschungsprogrammen und
dem Ausbau der regionalen Transformationsnetz-
werke unterstützen wir die Fortentwicklung von
Geschäftsmodellen, insbesondere in den Bereichen
vernetztes Fahren und Batteriezellen.
Durch eine stärkere Offenheit und Förderung in
Schlüsselbereichen wie KI, Quantentechnologie,
Mikrochips, Biotechnologie, Robotik und Raumfahrt
wollen wir wettbewerbsfähig bleiben und globale
Trends mitgestalten können. Insbesondere werden
wir den Aufbau von Produktionskapazitäten für
Schlüsseltechnologien wie beispielsweise Mikro-
chips und Batterien weiter vorantreiben. Wir setzen
uns für eine wettbewerbsfähige europäische Raum-
fahrtindustrie ein, um durch Satellitenkommunika-
tion und -navigation, New Space, (Klima-)Forschung
und Erdbeobachtung unsere strategische Souverä-
nität zu stärken.
Auch der Schritt zur Klimaneutralität ist ein Innova-
tionsmotor. Von modernster Kraftwerkstechnologie
über Elektrolyseure bis zur Herstellung von Wasser-
stoff, vom E-Auto bis zur Wiederverwendbarkeit von
Materialien entstehen neue Zukunftstechnologien,
bei denen die deutsche Industrie ganz vorn mit
dabei sein kann. Diese Zukunftstechnologien wollen
wir ermöglichen, fördern und bei der Markteinfüh-
rung unterstützen – und damit Arbeitsplätze und
Wohlstand von morgen sichern. Dafür wollen wir den
europäischen Net-Zero Industry Act der EU möglichst
schnell und umfassend in Deutschland umsetzen.
Für die Stärkung von Mittelstand
und Handwerk
Die ökonomische Kraft unseres Landes liegt in
der Vielfalt seiner Unternehmen. Die Tatkraft und
Innovationsfähigkeit der Handwerksbetriebe, der
Selbstständigen und Freiberufler*innen sowie der
KMU sind Motor unserer Wirtschaft. Sie treiben den
Klimaschutz voran und sorgen gerade in ländlichen
Räumen für Arbeitsplätze und Stabilität. Der Entfal-
tung dieser Kraft wollen wir Rückenwind geben.
Das Handwerk bietet in einer nachhaltigen Wirt-
schaft krisensichere Arbeitsplätze. Durch Bürokra-
tieabbau, die Unterstützung bei Nachfolgen und die
gezielte Förderung der Ausbildung im Handwerk
wollen wir die Rahmenbedingungen verbessern.
Oberstes Ziel sind der Erhalt und die Zukunftsfä-
higkeit der Betriebe. Damit Handwerksberufe noch
attraktiver werden, setzen wir auf branchenspezi-
fische Mindestvergütungen und mehr Gleichwertig-
keit von beruflicher und akademischer Ausbildung.
Der Meisterbrief soll kostenlos werden. Wir setzen
uns dafür ein, dass auch für Handwerkerinnen
und Soloselbstständige die Wochen rund um die
Geburt durch Mutterschaftsgeld finanziell
abgesichert werden.
15Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Wir stehen für eine starke deutsche und europäi-
sche Wettbewerbspolitik mit dem unabhängigen
Bundeskartellamt und der EU-Kommission im Zent-
rum. Das Wettbewerbsrecht braucht eine Weiterent-
wicklung, um KMU sowie Verbraucher*innen effek-
tiver vor Monopolen zu schützen. Auf europäischer
Ebene wollen wir dazu das von der Kommission
bereits vorgeschlagene New Competition Tool wie-
derbeleben, vor allem um heimische Unternehmen
vor unfairen Praktiken globaler Großunternehmen
zu schützen. Umgekehrt sollen kleine Übernahme-
und Fusionsfälle in Deutschland und Europa von
bürokratischen Verfahren entlastet werden.
Unfaire und teure Praktiken von Onlineplattformen
zulasten des mittelständischen Gewerbes und der
Verbraucher*innen werden wir mithilfe des Wett-
bewerbsrechts zurückdrängen. Über große Online-
händler gelangen massenweise Waren zu uns, die
europäische Standards nicht einhalten. Im Internet
entstehen immer wieder neue, unfaire und mani-
pulative Praktiken. Wir setzen uns dafür ein, dass
große Plattformen – genau wie der Laden um die
Ecke – Produktverantwortung übernehmen müssen.
Um die Vergabestellen gerade der Kommunen und
die Wirtschaft um Verwaltungskosten von über
einer Milliarde Euro zu entlasten, modernisieren
wir das Vergaberecht umfassend, um nachhaltige
Beschaffung zu vereinfachen und zur Regel zu ma-
chen. Um die Vergabestellen gerade der Kommunen
zu entlasten, werden wir die Direktauftragsgrenzen
deutlich anheben. Wir berücksichtigen Start-ups bei
der Vergabe besser.
Um Familienunternehmen und Start-ups weitere
Nachfolgeoptionen zu bieten, wollen wir eine neue
attraktive Rechtsform für Gesellschaften mit gebun-
denem Vermögen einführen. Gemeinwohlorientierte
Unternehmen sollen künftig die gleiche Förderung
erhalten wie alle anderen Gründer*innen auch. Gel-
der von verwaisten Konten werden wir zur Stärkung
sozialer Innovationen und gemeinwohlorientierter
Unternehmen verwenden. Die Nationale Strategie
für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientier-
te Unternehmen werden wir fortführen.
Von Wertschöpfung und Investitionen vor Ort in
den Kommunen hängt die Wirtschaftskraft und
Lebensqualität in ländlichen Räumen entscheidend
ab. Durch den Ausbau der Gemeinschaftsaufgabe
Regionale Wirtschaftsentwicklung (GRW) stellen wir
sicher, dass Menschen und Unternehmen sich über-
all im Land entfalten können.
Gerade in den vom Strukturwandel betroffenen
Regionen wie der Lausitz liegt das Potenzial für
ambitionierten Klimaschutz und vorausschauen-
de Wirtschaftspolitik. Die Herausforderungen sind
groß und dennoch wollen wir den Strukturwandel
als Chance begreifen, um mit neuer Infrastruktur,
Wirtschaftsförderung, Renaturierung und Investi-
tionen in Zukunftstechnologien den Weg in eine
nachhaltige Zukunft zu ebnen. Wichtig ist uns dabei,
die Menschen vor Ort durch transparente Entschei-
dungsprozesse, aber auch durch Unterstützung der
Ideen und Wünsche vor Ort zu beteiligen.
Der Tourismus ist in Deutschland Motor für Wachs-
tum und Beschäftigung, insbesondere in ländlichen
Regionen. Wir werden die Nationale Tourismus-
strategie fortentwickeln und den Tourismusstand-
ort Deutschland nachhaltiger, sozial gerechter und
innovativer gestalten.
Wohlstand ist für uns mehr als nur das Wachstum
des Bruttoinlandsprodukt. Wir haben daher erst-
mals im Jahreswirtschaftsbericht auch den Zustand
von Umwelt und Klima sowie soziale Faktoren mit
in den Blick genommen. Diese umfassende Wohl-
standsmessung wollen wir ausbauen.
Für Wirtschaftssicherheit und
zukunftsfähigen Außenhandel
Unser Wohlstand und unsere wirtschaftliche Resi-
lienz und Sicherheit hängen neben dem europäi-
schen Binnenmarkt wesentlich von belastbaren
internationalen Partnerschaften und vom globalen
Handel ab. Angesichts geopolitischer Konflikte,
protektionistischer Maßnahmen und zunehmend
schärferem internationalen Wettbewerb brauchen
wir eine zukunftsfähige Handelsagenda, die sich für
alle auszahlt.
Ausgewogene Handelspartnerschaften eröffnen
deutschen Unternehmen nicht nur neue Absatz-
märkte, sondern stärken auch ihre Lieferketten. Eine
16BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
breitere Streuung unserer Wirtschaftsbeziehungen
hilft zudem, Abhängigkeiten in kritischen Bereichen
zu verringern. Der Fokus auf einzelne Sektoren
und gezielte Abkommen für bestimmte Waren und
Dienstleistungen verspricht dabei schnelle Verhand-
lungserfolge. Hohe Standards bei sozialer Gerechtig-
keit, Klima- und Naturschutz sowie Menschenrech-
ten bewahren gleichzeitig die heimische Wirtschaft
vor einem schädlichen Unterbietungswettbewerb
und schützen vor Ausbeutung oder Umweltzerstö-
rung in anderen Ländern. Wir verhandeln entspre-
chend folgender Prinzipien: rechtsverbindliche und
einklagbare ökonomische, soziale und ökologische
Standards, eine Verankerung des Vorsorgeprinzips,
eine verbindliche Verankerung des Pariser Klima-
abkommens, der zentralen Arbeitsschutzkonventio-
nen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
und des Übereinkommens zur biologischen Vielfalt,
der Beendigung der missbräuchlichen Nutzung von
Schiedsgerichten sowie der Begrenzung von zukünf-
tigen Investitionsabkommen auf direkte Enteignung
und Diskriminierung.
Die EU-Lieferkettenrichtlinie ist eine große Er-
rungenschaft: Verbraucher*innen in Europa können
sicher sein, dass Produkte, die sie hier kaufen, frei
von Ausbeutung und Kinderarbeit entstanden sind.
Wir sorgen dafür, dass die Lieferkettenrichtlinie un-
bürokratisch in deutsches Recht übertragen wird.
Unfaire Handelspraktiken und Marktverzerrungen
erfordern entschiedenes Handeln – deshalb setzen
wir uns, wo es geboten ist, bei der EU-Kommission
für Ausgleichszölle ein, etwa auf Stahl. Wir stär-
ken der EU-Kommission in ihren Verhandlungen
mit China über Dumping von E-Autos den Rücken,
um die Interessen der europäischen Industrie zu
wahren. Die Schlupflöcher im Zollrecht müssen
geschlossen werden, durch die besonders asiati-
sche Onlinehändler wie Temu unsichere Wegwerf-
produkte am Zoll vorbeischleusen und europäische
Hersteller unterbieten. Wer dauerhaft illegale
Produkte im großen Stil nach Europa einführt, muss
nach dem EU-Gesetz über digitale Dienstleistungen
sanktioniert werden. Wir werden den europäischen
CO₂-Zoll CBAM durch eine Ausweitung des Anwen-
dungsbereichs, eine Berücksichtigung der Gesamt-
emissionen des Herstellers im Herkunftsland und
die Nutzung von Standardwerten praxistauglicher
und effektiver gestalten. Damit er die Wettbewerbs-
nachteile ausgleicht, die europäischen Industrie-
unternehmen gegenüber Herstellern aus Ländern
ohne CO₂-Preis entstehen.
Strategisch wichtige Branchen werden wir mit
einem neuen Investitionsprüfungsgesetz vor Über-
nahmen schützen. Um unsere Unabhängigkeit und
ungestörte Lieferketten zu sichern, gehen wir bei
Ausschreibungen in Sektoren mit hoher Abhängig-
keit entsprechend der Resilienzvorgaben des Net-
Zero Industry Acts vor. Staatliche Förderprogramme
für den Kauf von Produkten wie E-Autos werden
wir künftig für Produkte gewähren, die größtenteils
auch in Europa mit seinen hohen sozialen und öko-
logischen Standards produziert wurden.
Für Rohstoffsicherheit und
Kreislaufwirtschaft
Eine nachhaltige, unabhängige und wettbewerbs-
fähige Wirtschaft erfordert sowohl eine gesicherte
Versorgung mit Rohstoffen als auch den Übergang
zu einer effektiven Kreislaufwirtschaft im Einklang
mit den planetaren Grenzen, die Ressourcen spart
und Müll vermeidet. Auch für das Erreichen der Kli-
maziele sind wir auf eine verlässliche Versorgung
mit Rohstoffen angewiesen.
Unser Ansatz für mehr Rohstoffsicherheit basiert
auf vier Säulen. Erstens wollen wir den Verbrauch
von Primärrohstoffen senken und langfristig hal-
bieren. Der Ausstieg aus der Verbrennung fossiler
Energierohstoffe, Rohstoffeffizienz und – wo mög-
lich – der Ersatz von Rohstoffen, ebenso wie der
gezielte Einsatz von Recyclingrohstoffen sind der
Schlüssel dafür. Zweitens fördern wir Recycling und
den Aufbau einer effektiven Kreislaufwirtschaft.
Drittens setzen wir auf heimischen und europäi-
schen Bergbau, auch mit einem modernisierten,
umweltschonenden Bergrecht. Und viertens ent-
wickeln wir eine nachhaltige Rohstoffaußenpolitik
und schließen neue Rohstoffpartnerschaften.
Niemand hat Lust, ständig Dinge wegzuwerfen und
große Mengen an Müll zu produzieren. Die Kreis-
laufwirtschaft macht daraus mit neuen Geschäfts-
modellen eine wirtschaftliche Chance, von der
Wasserflasche über das Smartphone bis zum Wohn-
17Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
haus. Sie braucht die richtigen regulatorischen
und ökonomischen Rahmenbedingungen, mehr
Materialstandardisierung und gleiche Wettbewerbs-
bedingungen für recyceltes Material. Ein digitaler
Produktpass schafft bessere Informationen über
die Materialien, die in einem Produkt stecken. Dafür
werden wir jetzt die Kreislaufwirtschaftsstrategie
umsetzen. Wir haben uns auf europäischer Ebene
erfolgreich dafür eingesetzt, dass Produkte langle-
big und reparaturfreundlich hergestellt werden.
Für einen starken Verbraucherschutz
Faire Verträge und einklagbare Verbraucherrechte
– darauf müssen sich Verbraucher*innen verlas-
sen können. Gerade in Zeiten steigender Lebens-
haltungskosten kann und muss Verbraucherschutz
dazu beitragen, das Leben einfacher zu machen und
Menschen vor unfairen Preisen, Intransparenz und
Betrug zu schützen.
Gentechnikfreie Lebensmittel sind für viele Ver-
braucher*innen wichtig. Damit das möglich bleibt,
müssen alle, die gentechnikfrei arbeiten wollen,
das auch in Zukunft können. Dafür ist entscheidend,
dass es keine Patente auf Leben gibt: Pflanzen,
Tiere, Saatgut und Gene dürfen nicht patentiert
werden, auch nicht in digitalisierter Form. Und es
braucht eine Kennzeichnungspflicht für gentech-
nisch verändertes Saatgut und Lebensmittel.
Steigende Energiepreise und die notwendige Ener-
gie- und Wärmewende stellen Verbraucher*innen vor
große Herausforderungen. Wir werden einen wirk-
samen Schutz vor Wärme- und Stromsperren auf den
Weg bringen. Damit für Stromkund*innen schnell
und einfach sichtbar wird, ob sie aufgrund eines
überteuerten Altvertrags Monat um Monat zu viel für
ihren Strom bezahlen, machen wir die Angabe des
durchschnittlichen Strompreises für Neukund*innen
auf der Energierechnung verpflichtend. Dann weiß
jede und jeder, wann sich ein Wechsel besonders
lohnt. Das wirkt als Teuer-Bremse für Stromtarife.
Wenn es ums Geld geht, sind transparente und
einfach verständliche Informationen besonders
wichtig. Deshalb bedarf es beim finanziellen Ver-
braucherschutz besonders hoher Standards und
einer fairen und unabhängigen Finanzberatung.
Im Zentrum steht der Schutz von Kleinanleger*in-
nen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-
aufsicht (BaFin) wollen wir auch beim Schutz vor
Greenwashing von Finanzprodukten in die Pflicht
nehmen. Zudem setzen wir auf transparente und
einfach verständliche Mindeststandards und Nor-
men für nachhaltige Finanzprodukte.
Die hohen Kosten des Zahlungsverkehrs für deut-
sche Unternehmen und Verbraucher*innen – etwa
bei der Nutzung von Kreditkarten – wollen wir
mithilfe innovativer Wettbewerber und des Wettbe-
werbsrechts günstiger machen.
B. EIN MODERNES UND
DIGITALES LAND
Für einen Staat, der für die Menschen
funktioniert
Für die Herausforderungen im Heute und Morgen
wollen wir unseren Staat besser aufstellen und
bieten dafür den demokratischen und föderalen
Partnern die Hand für eine Staatsreform. Darunter
verstehen wir unter anderem, dass die Aufgaben
und Rollen an manchen Stellen in unserem föde-
ralen Staat neu verteilt, gebündelt und auch klarer
gestaltet werden, zum Beispiel im Sozialleistungs-
bereich. Wir setzen auf konstruktive Zusammenar-
beit statt Doppelstrukturen und Gegeneinander. Der
Bund sollte bei Gesetzen und Förderprogrammen
mehr Umsetzungsverantwortung auf Länder und
Kommunen übertragen, statt alles detailliert selbst
zu regeln. Länder und Kommunen brauchen mehr
Spielräume für eigenverantwortliches Handeln
wie auch für konkrete Kooperationen. Umgekehrt
sollte der Bund für bundesweit gesetzlich geregelte
Leistungen wie Elterngeld oder Wohngeld einen
digitalen Dienst bereithalten, den Länder und Kom-
munen für die Leistungserbringung vor Ort nutzen
können. Durch solche zentralen Serviceeinheiten
kann der Bund Routineaufgaben zentral erbringen,
damit sich die Verwaltung vor Ort auf die Beratung
konzentrieren kann. Den Auftakt für diese Reform-
prozesse könnten die Diskussionen in einem Bür-
gerrat geben.
18BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Die Gesetzgebung des Bundes muss praxistaugli-
cher und weniger kompliziert gestaltet werden. Die
Digital- und Praxischecks wollen wir dafür aus-
bauen. Bei neuen Gesetzgebungsvorhaben ist das
zugrunde liegende Stammgesetz zu modernisieren,
sind Leistungen zu pauschalisieren sowie Experi-
mentierräume und Reallabore vorzusehen. Die
Bundeshaushaltsordnung und ihre Anlagen wollen
wir entschlacken, ohne die Fehlverwendung öffent-
licher Gelder zu begünstigen.
Durch Modernisierung und Automatisierung, auch
durch den Einsatz von KI, kann der Arbeitsaufwand
für Verwaltungsprozesse geringer werden. So ver-
kleinern wir auch die Ministerialverwaltung des
Bundes und stärken die Umsetzungsverantwortung
der nachgeordneten Bundesbehörden. Dies ist in
Zeiten des Fachkräftemangels und unbesetzter
Stellen dringend nötig.
Für eine serviceorientierte Verwaltung
Wir werden unsere öffentliche Verwaltung kon-
sequent modernisieren, digitalisieren und an den
Bedürfnissen der Menschen ausrichten.
Bürger*innen sollen mit dem Staat digital und
auf Augenhöhe kommunizieren können. Deshalb
werden wir gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen die Deutschland-App einführen, in der
schrittweise alle staatlichen Verwaltungsangebote
sicher, barrierefrei und anwendungsfreundlich zur
Verfügung stehen sollen. In dieser App kann man
künftig mit wenigen Klicks einen Personalausweis
beantragen oder die neue Wohnung anmelden. Die
App dient als einfache Bedienungsoberfläche für
die Bürger*innen und als Zielbild für die deutsche
Verwaltungsdigitalisierung. Im Hintergrund der App
bauen wir eine moderne, modulare und standar-
disierte IT-Architektur, bei der die Verwaltungsdo-
mänen von Bund, Ländern und Kommunen sinnvoll
ineinandergreifen.
Die Beschäftigten in den Behörden sind motiviert,
sie packen an und wollen Prozesse besser machen.
Uns geht es darum, sie zu entlasten und mehr Effi-
zienz zu ermöglichen: Wir gehen mit einer Innova-
tionskultur in der Verwaltung voran, die offen ist für
antragslose Verfahren, risikobereite Entscheidungen,
Experimentierfreude und den Einsatz moderner
Technik. Dafür erhöhen wir die Ermessensspiel-
räume der Entscheider*innen. Wir ermöglichen den
Einsatz von Automatisierung und KI-Anwendungen
überall, wo sie hilfreich und sinnvoll sind. Damit
Daten nicht immer wieder neu erhoben werden
müssen, treiben wir die Registermodernisierung und
-vernetzung voran. Die Behörden sollen Datentools
vorhalten, bei denen Bürger*innen und Unterneh-
men ihre Daten nur einmal einpflegen müssen.
Dann müssen die verschiedenen Ebenen der Ver-
waltung darauf selbst zurückgreifen. Das verschlankt
persönliche Meldungen, Berichtspflichten und Kont-
rolldaten in der Landwirtschaft. Dafür brauchen wir
auch eine sichere eigene Cloud in Deutschland.
Für eine schnelle und umfassende
Digitalisierung
Die Digitalisierung zu gestalten, ist für unser Zusam-
menleben und unseren Wohlstand zentral. Bisher
ist das in Deutschland nicht ausreichend gelungen.
Dies liegt auch an der Zersplitterung der Zustän-
digkeiten dafür und der fehlenden Ressourcen-
bündelung. Deswegen braucht es eine Bündelung
von Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und der
Budgetverantwortung. Damit gehen wir den Aus-
bau der digitalen Infrastruktur, die europäische und
internationale Digitalpolitik und die Entwicklung
einer Open-Source-Strategie fokussiert an. Für den
Digitalen Staat wollen wir zentrale digitale Dienste
wie die BundID und die Deutschland-App vorantrei-
ben. Den Digitalcheck als aktives und begleitendes
Instrument der Gesetzgebung entwickeln wir weiter
und gestalten die Digitalisierung nachhaltig.
Der Schlüssel zur Beschleunigung der Digitalisierung
Deutschlands liegt in der Überwindung der Grenzen
der unterschiedlichen IT-Systeme von Unternehmen,
Behörden und Forschungseinrichtungen durch Inter-
operabilität. Nur dann können Prozesse durchgängig
digital ohne Handarbeit oder Medienbrüche abge-
wickelt werden. Diese Art der Vernetzung ist zu sehr
vernachlässigt worden. Wir werden offene Standards
fördern und dabei Entwickler*innen, Zivilgesellschaft
und KMU stets miteinbeziehen. Diese Standards
sollen ohne Lizenzgebühren frei nutzbar sein. Wir
denken Interoperabilität und digitale Kooperation
weiter, nämlich als eine notwendige Grundlage, um
19Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
die Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz und Nachhaltig-
keit unserer Wirtschaft zu stärken.
Um das große Potenzial von Datenkollaboration für
Innovation und Produktivität zu heben, muss die
Umsetzung des Datenschutzes einfacher und weni-
ger bürokratisch werden. Die Datenschutzgrundver-
ordnung muss effizienter und einheitlicher um-
gesetzt werden – auch um Doppelregulierung und
unklare Zuständigkeiten zu vermeiden. Eine Reform
beim Datenschutz hin zu Einheitlichkeit, Verlässlich-
keit und Einfachheit ist nötig, etwa durch die Bün-
delung von Zuständigkeiten für bestimmte Sektoren
oder Forschung bei einzelnen Aufsichtsbehörden.
Deutschland braucht schnelles Internet in Stadt
und Land. Wir werden bessere Rahmenbedingungen
für den privatwirtschaftlichen Ausbau von Glasfa-
ser und 5G-Mobilfunk setzen, indem wir Genehmi-
gungsprozesse beschleunigen, alternative Verlege-
methoden erleichtern und Open Access fördern. Für
ländliche Gebiete und strukturschwache Regionen
werden wir die staatliche Gigabitförderung erhö-
hen. Wir stärken die Rechte von Verbraucher*innen
auf schnelles Internet, indem wir die Mindestband-
breite schrittweise erhöhen und es einfach machen,
mangelhaftes Internet nachzuweisen und einen
besseren Zugang zu bekommen.
Für einen Deutschlandfonds und eine
Reform der Schuldenbremse
Wir werden in der Regierung entschlossen die In-
vestitionen in tragfähige Infrastrukturen nachholen,
die unser Land so dringend braucht. Die schwarze
Null im Haushalt wurde mit einem Kredit bei der
Zukunftsfähigkeit unseres Landes erkauft. Wir wer-
den deshalb einen Deutschlandfonds für Bund, Län-
der und Kommunen errichten. Daraus werden wir
die Schienen bauen, auf denen Züge die Menschen
pünktlich an ihr Ziel bringen, die Kitas und Schulen
sanieren, in denen Chancen für alle entstehen, die
Forschung finanzieren, die die Technologien und
den Wohlstand von morgen begründet, und
Unternehmen den Raum für Investitionen in ihre
Zukunft ermöglichen.
Der Investitionsstau in Deutschland liegt im drei-
stelligen Milliardenbereich. Die Schuldenbremse in
ihrer aktuellen Form verhindert Investitionen und
andere Maßnahmen, die unsere stagnierende Volks-
wirtschaft wieder ankurbeln. Um die notwendigen
Investitionen in Infrastruktur, in die Dekarbonisie-
rung unseres Landes und in eine starke, zukunftsfä-
hige Wirtschaft zu finanzieren, wollen wir die Schul-
denbremse reformieren. Wir schaffen damit neue
finanzielle Spielräume, die wir angemessen zwi-
schen Bund und Ländern verteilen werden. Zugleich
werden wir sicherstellen, dass die Gesamtverschul-
dung dauerhaft tragfähig bleibt. Das raten auch die
führenden Wirtschaftsinstitute wie der Internatio-
nale Währungsfonds (IWF), die Bundesbank oder der
Sachverständigenrat der Bundesregierung.
Nachdem die Große Koalition das Land fast zwei
Jahrzehnte kaputtgespart hat, haben wir in der
Bundesregierung die Trendwende eingeleitet. Bis
zur Umsetzung einer Reform der Schuldenbremse
wollen wir mit dem Deutschlandfonds der jüngeren
Generation ein modernes, funktionierendes und
klimaneutrales Land sowie eine wettbewerbsfähige
Volkswirtschaft garantieren, statt ihnen aufgescho-
bene Lasten und marode Infrastrukturen zu hinter-
lassen. Bürger*innen wollen wir ermöglichen, sich
an diesen Investitionen zu beteiligen.
Investitionen in Klima- und Umweltschutz sowie in
Verkehrs-, Energie-, Bildungs- und Forschungsinfra-
struktur sowie in die nationale Sicherheit haben für
uns dabei Priorität. Klar ist auch: Bei sogenannten
konsumtiven Ausgaben bleibt es bei den derzeit
strikten Regeln. Das bedeutet zum Beispiel: Die
energetische Sanierung des Schulgebäudes kann
kreditfinanziert werden, das Gehalt des Lehrper-
sonals muss aus dem regulären Etat kommen. So
hinterlassen wir der jungen Generation keine un-
nötigen Schulden und vermeiden zugleich versteck-
te Schulden. Denn auch unterlassene Investitionen
sind eine Bürde für die junge Generation.
Der Deutschlandfonds hilft, die Spielräume für drin-
gend notwendige Zukunftsinvestitionen zu erhöhen.
Er ist aber kein Ersatz für die Aufgabe, im Haus-
halt stärker zu priorisieren und effizienter mit den
vorhandenen Einnahmen umzugehen. Denn viele
wichtige Anliegen wie bessere Bildung oder stärke-
re Sicherheit erfordern auch konsumtive Ausgaben.
Wir wollen den Haushalt entlasten, indem wir mehr
20BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Geflüchtete und mehr Bürgergeldbezieher*innen in
Arbeit bringen. Zudem wollen wir die Verwaltung
durch die weitere Digitalisierung verschlanken. Und
wir wollen insbesondere klima- und umweltschäd-
liche Subventionen abbauen.
Die Verteilung der Steuern zwischen Bund, Ländern
und Kommunen muss den tatsächlichen Aufgaben
und Investitionsbedarfen entsprechen, um gleich-
wertige Lebensverhältnisse in allen Landesteilen
zu ermöglichen. Das aktuelle System des Bund-Län-
der-Finanzausgleichs werden wir in seiner jetzigen
Form beibehalten.
C. EIN KLIMA, IN DEM WIR
GUT LEBEN KÖNNEN
Für ein stabiles und sicheres Klima
Die Staatengemeinschaft hat sich mit dem Pariser
Klimaabkommen darauf verständigt, die Klima-
krise einzudämmen. Alle großen Länder mit hohen
Treibhausgasemissionen haben sich auf diesen Weg
gemacht – darauf kommt es an. Die EU ist nach den
USA und China aktuell der drittgrößte Emittent von
klimaschädlichen Emissionen. Es kommt also auch
auf unser gemeinsames Handeln an. Wir haben uns
in der EU deshalb gemeinsam auf ein Ziel verpflich-
tet: Europa soll bis 2050 der erste klimaneutrale
Kontinent werden.
Mit dem europäischen Green Deal haben wir in
den vergangenen drei Jahren große Fortschritte
auf dem Weg zu einem stabilen und sicheren Klima
erzielt und gleichzeitig begonnen, die europäische
Wirtschaft und Industrie zu modernisieren. Das
wirkt: Die EU ist auf Kurs, ihre Klimaziele zu erfül-
len. Jetzt braucht die Wirtschaft Planungssicherheit.
Der Green Deal und das „Fit for 55“-Paket müssen
nun europaweit konsequent und möglichst unbüro-
kratisch umgesetzt werden. Neuer Aufschieberei
und Verwässerung stellen wir uns entgegen.
Deutschland spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Die Großen Koalitionen hatten hohe Klimaschutz-
ziele beschlossen, aber keinen Plan und keine Maß-
nahmen entwickelt, wie diese Ziele erreicht werden.
Wir haben Deutschland und Europa erstmals auf
einen Pfad gebracht, diese Lücke zu schließen. Es
hängt vom entschiedenen Handeln der nächsten
Bundesregierung ab, ob sie diese Chance nutzt und
die Ziele auch erreicht.
Die dafür notwendigen Veränderungen sind an-
spruchsvoll und haben deshalb auch viele hitzige
Diskussionen, Sorgen und Ängste ausgelöst und
neue Fragen aufgeworfen. Es ist klar: Wir müssen
noch mehr dafür tun, damit der Weg verlässlich ist
und alle ihn mitgehen können. Wir machen Klima-
schutz einfacher und bezahlbarer und lösen Um-
setzungsprobleme pragmatisch. Dabei setzen wir
gezielt verschiedene Instrumente ein – von markt-
wirtschaftlichen Anreizen wie dem Emissionshan-
del über eine gezielte Förderung für Wirtschaft und
Haushalte bis hin zum Ordnungsrecht.
Die Anstrengungen lohnen sich: Die klimaschäd-
lichen Emissionen sinken. Erstmals ist Deutschland
auf einem Kurs hin zum Erreichen der Klimaziele.
Es kommt nun darauf an, diesen Kurs zu halten, um
weiterhin Verlässlichkeit und Planungssicherheit
herzustellen und eine Orientierung für die klima-
neutrale Modernisierung unseres ganzen Konti-
nents zu geben.
Europa muss nach wissenschaftlichem Rat nun bis
2040 seine Treibhausgasemissionen um 90 Prozent
gegenüber 1990 verringern. Dazu braucht es ent-
schiedene Anstrengungen und einen bedeutenden
Beitrag von Deutschland als größtes Mitgliedsland
mit den höchsten Emissionen und einem hohen
Wohlstand. Wir halten deshalb an den rechtlich
festgeschriebenen Zielen der Klimaneutralität 2045
und den verbindlichen Zwischenzielen fest. Die
Energiewende setzen wir ebenso fort wie den Um-
stieg auf das klimaneutrale Heizen.
Der Verkehrsbereich hat den größten Aufholbedarf
beim Erreichen der Klimaziele. Deshalb erhöhen wir
die Dynamik, indem wir den Ausbau der Bahn noch
weiter intensivieren und den Umstieg auf E-Mobili-
tät beschleunigen. Um das sicherzustellen, werden
wir, wie rechtlich vorgesehen, das aktuelle Klima-
schutzgesetz evaluieren und entsprechend die Ver-
antwortung von Sektoren stärken, in denen Klima-
schutz zu wenig vorankommt. Würden Ziele verfehlt,
drohen Deutschland teure Strafzahlungen und
21Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
zukünftig höhere CO₂-Preise, beides wollen wir für
öffentliche Haushalte und Bürger*innen vermeiden.
Für sozial gerechten Klimaschutz
Den Weg zur Klimaneutralität gestalten wir als
Weg zu einer gerechteren Gesellschaft: Von einem
erschwinglichen und flächendeckend gut ausge-
bauten öffentlichen Verkehr profitieren vor allem
Menschen, die sich kein Auto leisten können. Elek-
tromobilität sowie der Fuß- und Radverkehr tragen
zu besserer Luftqualität für alle bei. Gut gedämmte
Häuser und klimaneutrale Wärme schützen die
Menschen vor steigenden Heizkosten.
Der Weg zur Klimaneutralität ist also mit vielen
Vorteilen verbunden, aber er bedarf auch großer
Investitionen – sei es bei der Installation neuer
Heizungsanlagen, der Wärmedämmung, dem Ein-
bau eines Energiespeichers oder dem Wechsel zum
E-Auto. Investitionen brauchen Planungssicherheit
und Vertrauen, gerade im Hinblick auf die Verfüg-
barkeit von Fördermitteln. Dahin wollen wir mit
einer berechenbaren Haushaltspolitik zurück. Viele
Menschen werden diese Investitionen ohne Unter-
stützung nicht leisten können. Die Finanzierung der
Investitionen zur klimaneutralen Erneuerung ist
eine Generationenaufgabe, die entscheidend für das
langfristige menschliche Leben auf diesem Plane-
ten ist und die deshalb teilweise auch über Kredit-
aufnahme finanziert werden sollte.
Wir achten besonders darauf, dass alle die not-
wendige Modernisierung mitgehen können. Damit
klimafreundliche Alternativen für alle Menschen
erschwinglich werden, wollen wir in Zukunft För-
derprogramme weiter ausbauen und durch soziale
Staffelung insbesondere auf Menschen mit gerin-
gen und mittleren Einkommen zuschneiden. Erste
Schritte in diese Richtung haben wir bereits unter-
nommen, zum Beispiel mit den sozial ausgestal-
teten Förderprogrammen für die Modernisierung
von Heizungssystemen und bei der Sanierung von
Wohnungen und Häusern. Auch den Umstieg auf
die E-Mobilität wollen wir für Menschen mit klei-
nen und mittleren Einkommen fördern, gerade im
ländlichen Raum. Dazu schlagen wir eine staatliche
Unterstützung beim Erwerb eines verbrauchsarmen
E-Autos vor, welches zusätzlich die europäische
Automobilwirtschaft unterstützt. Sie besteht aus
einer Ladekarte für das Tanken an öffentlichen
Ladesäulen, einer steuerlichen Förderung für kleine
und mittlere Einkommen und einem Social-Lea-
sing-Programm. Zudem beenden wir überzogene
Preise an Ladesäulen durch scharfe Anwendung
des EU-Rechts und stärken den Verbraucherschutz,
sodass Strom und Wärme durch mehr Wettbewerb
bezahlbarer werden.
Wir geben ein Sicherheitsversprechen: Alle Men-
schen mit niedrigen und mittleren Einkommen
bekommen zum Ausgleich einen Großteil der Ein-
nahmen der CO₂-Bepreisung von Gebäudewärme
und Transport als Klimageld zurück. Das Klimageld
soll in der nächsten Legislatur so schnell wie mög-
lich eingeführt werden und dann direkt und ohne
vorherige Beantragung auf das Konto eingehen.
Mieter*innen wollen wir dauerhaft und verlässlich
davor schützen, dass die CO₂-Kosten einseitig auf
sie umgewälzt werden.
Derzeit subventioniert der Staat klimaschädliches
Verhalten. Das werden wir schrittweise abbauen
und die frei werdenden finanziellen Mittel für den
sozialen Ausgleich und Klimaschutz verwenden.
Betroffene werden wir bei der Anpassung unter-
stützen, auf soziale Ausgewogenheit achten und
Planungssicherheit geben. Als ersten Schritt werden
wir das Dienstwagenprivileg so reformieren, da-
mit es noch deutlichere Anreize für klimaneutrale
Mobilität setzt.
Die Klimakrise und damit verbundene Extremwet-
ter wie Überschwemmungen oder Dürren führen
zu immer größeren Schäden. Zugleich machen
Ölkonzerne, die maßgeblich für die weltweiten
CO₂-Emissionen verantwortlich sind, weiter giganti-
sche Gewinne. Wir werden uns dafür einsetzen, dass
diese Verschmutzer einen Beitrag zum Ausgleich
der Kosten der Klimakrise leisten und Bürger*in-
nen, Landwirt*innen und Unternehmen nicht mit
immer größeren Schäden allein dastehen. Auch
in Deutschland gilt für uns ganz klar das Verursa-
cherprinzip. Das bedeutet, dass beispielsweise die
Folgekosten des Kohlebergbaus nicht auf die All-
gemeinheit fallen dürfen.
22BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Weltweit und bei uns zu Hause: Es sind die Ärmsten,
die am stärksten unter den Folgen einer eskalieren-
den Klimakrise leiden. Die Klimakrise ist ein Be-
schleuniger von Ungleichheit, dem stellen wir uns
mit sozial gerechter Klimapolitik und unserem inter-
nationalen Einsatz für Klimagerechtigkeit entgegen.
Für günstige, verlässliche und
klimaneutrale Energie
Günstiger Strom aus erneuerbaren Energien wie
Wind, Sonne, Wasserkraft, Geothermie und naturver-
trägliche Bioenergie sichert unseren Wohlstand. Er
ist auch die Grundlage für ein bezahlbares Leben,
denn Wärme und Mobilität werden zunehmend
elektrisch. Wir halten Kurs beim erreichten Rekord-
Ausbautempo und bauen die Infrastruktur so aus,
dass der günstige Strom bei Menschen und Unter-
nehmen ankommt.
Die vergangenen Jahre sind wir auf diesem Weg
einen riesigen Schritt vorangekommen: 2024 ka-
men circa 60 Prozent unseres Stroms aus erneuer-
baren Quellen, 2021 waren es erst 40 Prozent. Bis
2030 wollen wir 80 Prozent erreichen; 2035 wird
der Strom komplett klimaneutral hergestellt. Eigen-
tümer*innen, Mieter*innen, Unternehmen und Kom-
munen sollen ohne große bürokratische Hürden
eigene Energie nutzen oder an Energieprojekten
teilhaben können. Dazu werden wir auch in Zukunft
dezentrale Erzeuger von Solar- und Windenergie
sowie Speicher, Elektrolyseure durch konsequenten
Bürokratieabbau, Planungssicherheit und rentable
Geschäftsmodelle unterstützen. Mit Energy Sharing
werden wir es möglich machen, günstig erzeugten
erneuerbaren Strom noch einfacher gemeinschaft-
lich und kommunal zu teilen.
Erneuerbare Energien liefern enorm günstig, aber
nicht gleichmäßig Strom. Daher müssen wir Ange-
bot und Nachfrage optimal und möglichst dezentral
aufeinander abstimmen. Dies erreichen wir durch
kosteneffizienten Netzausbau und bessere Netznut-
zung, dezentrale Preissignale ohne eine Aufteilung
der Gebotszone, Speichern aller Arten, eine neue
Generation von wasserstofffähigen und flexibel
einsetzbaren Kraftwerken und die effiziente Aus-
nutzung der enormen Flexibilitätspotenziale von
Industrie, Gewerbe, Verkehr und privaten Verbrau-
cher*innen. Wir setzen uns für einen leistungsfähi-
gen europäischen Strombinnenmarkt ein und bauen
die Stromnetze zu unseren europäischen Nachbarn
aus. Außerdem setzen wir auf die konsequente Di-
gitalisierung des Energiesektors. Mit digitalen und
flexiblen Stromnetzen und dynamischen Stromta-
rifen werden künftig die Bürger*innen in die Lage
versetzt, in Zeiten von viel Wind und Sonne den
Strom per Batterie oder Wärmepumpe systemdien-
lich zu speichern, die Waschmaschine laufen oder
das E-Auto laden zu lassen. Damit kann jede und
jeder Geld sparen und von den Vorteilen der er-
neuerbaren Stromwelt direkt profitieren. Zugleich
sinken die Kosten im Gesamtsystem.
Notwendig sind dazu auch neue Regeln, wie unser
Strommarkt funktioniert. Langfristige Sicherheit für
Investitionen in Kraftwerke, zum Beispiel im Rahmen
von Kapazitätsmärkten, müssen mit intelligenten
kurzfristigen Anreizen zum effizienten Stromver-
brauch einhergehen. Damit ermöglichen wir einen
zunehmend sich selbst tragenden Ausbau von Sonne,
Wind und Speichern sowie sonstiger Infrastruktur
und entlasten Strompreise und Bundeshaushalt.
Gerade weil der Umbau zum klimaneutralen
Stromsystem hohe Investitionen erfordert, ach-
ten wir besonders auf die Kosten. Wir senken die
Finanzierungskosten durch langfristig sichere
Rahmenbedingungen, Garantien und intelligente
Regulierung. Für neu zu planende Hochspannungs-
gleichstromleitungen werden wir die einfacheren
Freileitungen wieder zum Standard machen und
Erdverkabelung nur noch bei besonderen örtlichen
Erfordernissen nutzen. Wir setzen zugleich den Weg
fort, die Kosten nicht umzulegen, sondern anders zu
finanzieren und Strom damit für Verbraucher*innen
und Unternehmen billiger zu machen. Die Umlage
aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wurde
für die Verbraucher*innen bereits abgeschafft und
wird nun vollständig aus dem Haushalt finanziert.
Im nächsten Schritt senken wir die Stromsteuer auf
das europäische Mindestmaß. Zudem reformieren
wir die Finanzierung des Netzausbaus, um die Netz-
entgelte zu senken.
Fossile Energieerzeugung ist ein Auslaufmodell.
Gerade damit die Kohleregionen Planungssicher-
heit haben und der Strukturwandel geordnet
23Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
unterstützt werden kann, halten wir daran fest, alle
verbliebenen Kohlekraftwerke ab 2030 nicht mehr
zu befeuern. Wir stehen für eine endgültige Absage
an die Gasförderung in ganz Deutschland – an Land
wie auf dem Meer. Eine Rückkehr zur Atomkraft ist
weder für das Erreichen der Klimaziele noch für die
Versorgungssicherheit notwendig – zudem scheiden
neue Atomkraftwerke wegen der extrem langen
Planungs- und Bauzeiten, der hohen finanziellen
Risiken und der Ewigkeitskosten als realistische
Option ohnehin aus. Der lange geplante und partei-
übergreifend beschlossene Atomausstieg hat unser
Land sicherer gemacht. Die Suche eines verläss-
lichen Endlagers bleibt eine Herausforderung, der
sich das ganze Land stellen muss.
Für verlässliche und bezahlbare Wärme
Der Einstieg in eine verlässliche und klimafreund-
liche Wärme ist jahrelang verschlafen worden. Jetzt
sind die Weichen richtig gestellt. In den nächsten
Jahren wollen wir gemeinsam mit den Kommunen
den Weg dafür ebnen, allen Menschen den schritt-
weisen Umstieg auf klimafreundliches und bezahl-
bares Heizen zu ermöglichen.
Wir geben mit dem bestehenden Gebäudeenergie-
gesetz und einer Förderung von bis zu 70 Prozent
für den Einbau von fossilfreien Heizungen den
Eigenheimbesitzer*innen, der Wirtschaft sowie
den Mieter*innen und Vermieter*innen die nötige
Planungssicherheit für Kauf und Einbau einer mo-
dernen klimafreundlichen Heizung, wie der Wärme-
pumpe, bis 2045. Die Unterstützung auf diesem Weg
werden wir ausbauen. Ebenso ausbauen werden wir
die Energieberatung. Zudem wollen wir die Klima-
komponente im Wohngeld weiter stärken.
Wärmenetze sind ein wichtiger Baustein auf dem
Weg zu klimafreundlicher und bezahlbarer Wärme
für alle. Vor allem in dicht besiedelten Gebieten
können sie dazu beitragen, viele Häuser gleich-
zeitig mit klimafreundlicher Wärme zu versorgen.
Den Aus- und Umbau von Wärmenetzen wollen wir
mit der Verlängerung und Stärkung der Förderung
für effiziente Wärmenetze (BEW) absichern, Ge-
nehmigungsprozesse optimieren und durch eine
Senkung der Stromkosten auch die Erzeugung
von klimafreundlicher Wärme bei den Energie-
erzeugern vor Ort stärken. Ein gleichzeitig starker
Verbraucherschutz ist dafür Voraussetzung. Durch
die Einführung einer Preisaufsicht wollen wir den
Verbraucherschutz bei der Fernwärme, die vor allem
von Mietshaushalten bezogen wird, weiter stärken.
Mögliche Preisanstiege bei der Fernwärme wollen
wir analog zu den Regelungen im Gebäudeenergie-
gesetz begrenzen. Außerdem werden wir privates
Kapital für den Ausbau der Wärmenetze aktivieren
und die Finanzierungskosten durch öffentliche
Bürgschaften senken.
Die Wärmewende kann sich auf eine Vielzahl von
Technologien stützen. Entscheidend ist für uns je-
doch, dass sich Verbraucher*innen auf Klimafreund-
lichkeit, Verlässlichkeit und Bezahlbarkeit verlassen
können und sie nicht mit falschen Versprechen in
Heiztechnologien investieren, mit denen sie einige
Jahre später in der Kostenfalle landen.
Für vorsorgende Anpassungen an ein
verändertes Klima
Dürren und Hitzeperioden, Waldbrände, Über-
schwemmungen und Starkregen kosten Menschen-
leben, zerstören Wohnhäuser, Straßen und Brücken,
schädigen die Landwirtschaft und unsere Lebens-
mittelerzeugung. Indem wir unser Wirtschaften und
Leben klimaneutral gestalten, bekämpfen wir ihre
Ursachen. Aber im Angesicht der sich verschärfen-
den Auswirkungen der Klimakrise müssen wir weit-
aus stärker Vorsorge leisten. Wie groß die Schäden
durch die Klimakrise sind, hängt auch davon ab,
wie gut wir uns darauf vorbereitet haben. Die An-
passung an die Klimakrise ist deshalb eine gesell-
schaftliche, ökonomische und soziale Kernaufgabe
der kommenden Jahre und Jahrzehnte.
Mit dem Klimaanpassungsgesetz haben wir Bund,
Länder und Kommunen in Deutschland verpflichtet,
diese Aufgabe anzugehen. Die Kommunen tragen
die Hauptlast der Anpassungen, die uns als gesamte
Gesellschaft betreffen. Deswegen wollen wir Klima-
vorsorge zur Gemeinschaftsaufgabe von Bund und
Ländern machen und mehr Bundesmittel für die
Anpassung bereitstellen.
Die vernichtende Ahrtalflut 2021 oder die zerstö-
rerischen Fluten in Osteuropa 2024 führen uns vor
24BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Augen, wie verletzlich unsere Gesellschaft besonders
angesichts von Hochwasserkatastrophen ist. Des-
halb werden wir den Hochwasserschutz zusammen
mit den Ländern verbessern. Zusätzlich brauchen wir
Investitionen in natürliche Überschwemmungsräume
wie Auenwälder oder Erlenbrüche. Flüsse und ihre
natürlichen Auen werden wir im Interesse des Hoch-
wasserschutzes stärken und ihnen, wo immer mög-
lich, durch Renaturierungen mehr Raum geben. Wir
brauchen aber auch Hochwasserschutzanlagen wie
starke Deiche, funktionierende Rückhaltesysteme
und einen gut ausgestatteten Katastrophenschutz.
Den Versicherungsschutz gegen Elementarschäden
werden wir sozialverträglich ausweiten.
Besonders die Menschen in dicht bebauten Städ-
ten müssen besser vor Hitzewellen und Starkre-
gen geschützt werden. Dafür sorgen wir mit mehr
Bodenentsiegelung, Frischluftschneisen, Gebäude-
begrünung, Stadtgrün, Wasserflächen und öffentli-
chen Trinkbrunnen. Als Schwammstädte sollen sie
künftig mehr Wasser aufnehmen, speichern und im
Sommer kühlend wirken.
D. EINE MOBILE
GESELLSCHAFT – STADT
UND LAND ZUSAMMEN
Für schnelles, nachhaltiges und sicheres
Fortkommen
Schienen, Straßen und Brücken sind Lebensadern
unseres Landes, doch sie wurden über Jahrzehnte
auf Verschleiß gefahren. Die Folgen spüren wir alle
in unserem Alltag: verspätete Züge, Umwege und
Staus. Das ist ein Schaden für Menschen, Wirtschaft
und Umwelt. Zugleich ist unser Verkehrssystem
noch weit davon entfernt, seinen Beitrag zum Er-
reichen der Klimaziele zu leisten. Das ändern wir
durch ein leistungsfähiges Angebot an Bussen und
Bahnen und mit dem klaren Signal hin zur klima-
freundlichen E-Mobilität.
Wir wollen die Mobilität für alle verbessern. Wir
brauchen eine Grundsanierung unserer Verkehrsin-
frastruktur. Planungs- und Genehmigungsverfahren
haben wir stark beschleunigt. Jetzt gilt es, das mit
dem Deutschlandfonds verlässlich zu finanzieren
und so Wirklichkeit werden zu lassen, dass der Ver-
kehrssektor seine Klimaziele erfüllen kann. Wäh-
rend unser Schienennetz deutschlandweit einen
deutlichen Ausbau braucht, ist das Straßennetz
bereits flächendeckend gut ausgebaut und benötigt
daher Sanierungen statt Neubau. Dazu wollen wir
einen integrierten Bundesmobilitätsplan erarbeiten,
der Basis für eine klimaneutrale und flächenscho-
nende Mobilität bis zum Jahr 2045 ist. Verkehrs-
wege wollen wir erhalten und sanieren, das Schie-
nennetz massiv ausbauen, stillgelegte Bahntrassen
– gerade in den ländlichen Räumen – reaktivieren
und modernisieren und ein bundesweites Netz von
Radschnellwegen finanzieren.
Um den Luft- und Schiffsverkehr klimaneutral zu
modernisieren, unterstützen wir die Produktion
nachhaltiger Kraftstoffe aus erneuerbaren Energien,
zum Beispiel E-Kerosin, fördern Technologien zur
Kraftstoffeinsparung und den schnellen Aufbau
einer klimaneutralen Energieversorgung in Häfen,
insbesondere einer klimaneutralen Landstromver-
sorgung. Inlandsflüge wollen wir durch eine Verbes-
serung der Bahn überflüssig machen.
Wir wollen, dass alle in Stadt und Land günstig,
sicher und klimafreundlich unterwegs sein können,
egal mit welchem Verkehrsmittel. Mobil auf dem
Land setzt vielerorts ein eigenes Auto voraus. Wir
wollen den öffentlichen Verkehr so entwickeln, dass
er auch auf dem Land eine alltagstaugliche Alterna-
tive zum Auto wird. Rufbusse und andere Konzepte
wie digital vernetzte Kleinbusse können den Takt-
verkehr in der Fläche ergänzen. Bis zur nächsten
Bundestagswahl wollen wir, dass dies exemplarisch
in mindestens zehn Landkreisen Wirklichkeit wird.
Wir wollen, dass ein funktionierendes Miteinan-
der im Verkehr gelingt und alle sicher an ihr Ziel
kommen. Das ist nur erreichbar, wenn überhöhte
Geschwindigkeiten reduziert werden. In der Re-
gierung haben wir mit der Reform des Straßenver-
kehrsrechts für Kommunen in einem ersten Schritt
die Chance geschaffen, leichter Tempo 30 anzu-
ordnen und den Fuß- und Radverkehr zu stärken.
Als einziges Land weltweit erlaubt Deutschland das
unbegrenzte Rasen auf Autobahnen – zum Schaden
von Menschenleben und Umwelt. Ein Sicherheits-
tempo von 130 km/h auf Autobahnen als generelles
25Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Tempolimit ist deshalb überfällig. Den Bußgeldka-
talog für schwere Verkehrsverstöße wollen wir auf
europäisches Niveau bringen.
Um Verkehrsräume attraktiver zu gestalten, Barrie-
refreiheit auszuweiten und die Verkehrssicherheit
insbesondere von Schulwegen zu erhöhen, wol-
len wir Stadtumbau stärker fördern und veraltete
Regelwerke erneuern. Unser Leitbild dabei ist die
Vision Zero, also eine komplette Vermeidung von
Verkehrstoten.
Für eine verlässliche und
bezahlbare Bahn
Mit dem Deutschlandticket haben wir den Tarif-
dschungel im öffentlichen Personennahverkehr
(ÖPNV) gelichtet, Millionen von Kund*innenen
entlastet und ein attraktives Angebot entwickelt:
Bus und Bahn im Nahverkehr sind heute so günstig
wie nie zuvor. Diese Erfolgsgeschichte wollen wir
fortschreiben und das Deutschlandticket weiter zu
einem günstigen Preis für alle anbieten. Unser Ziel
ist, gemeinsam mit den Ländern einen Ticketpreis
von 49 Euro sicherzustellen. Wir begrüßen es, wenn
Länder und Tarifverbünde Regelungen treffen, um
junge Menschen kostenlos oder stark vergünstigt
den ÖPNV nutzen zu lassen. Solche Angebote wol-
len wir bundesweit ausbauen.
Wir werden das Nahverkehrsangebot in Deutsch-
land weiter verbessern, um die Fahrgastzahlen in
klimaneutralen Bussen und Bahnen bis 2040 zu
verdoppeln. Bundesmittel wollen wir zusammen
mit höheren Ausgaben der Länder und Kommunen
für den Nahverkehr weiter steigern. Der öffentliche
Nahverkehr soll mittelfristig im ganzen Land ein
alltagstaugliches Angebot mit verlässlichen Takt-
verkehren garantieren. Unser mittelfristiges Ziel ist,
alle Dörfer in der Zeit von 6 bis 22 Uhr mindestens
einmal pro Stunde anzubinden.
Deutschland soll ein Bahnland werden, in dem man
seine Wege preiswert, bequem und klimaneutral
zurücklegen kann. Hier bleibt viel zu tun, aber der
Anfang ist gemacht: Immer mehr Menschen fah-
ren Bahn, Takte werden verbessert und neue Züge
eingesetzt. Unser Ziel ist der Deutschlandtakt, der
Städte und Regionen regelmäßig und verlässlich
miteinander verbindet. Das Schienennetz, das wir
marode vorgefunden haben, werden wir weiter mit
Hochdruck sanieren und im erforderlichen Maß
ausbauen. Auch für den Schienengüterverkehr wol-
len wir Kapazitäten, zum Beispiel im Kombiverkehr,
ausbauen und die Verlagerung von Straßentrans-
port auf die Schiene fördern.
Für gleichwertige Lebensverhältnisse
In den ländlichen Regionen ruht viel Kraft unseres
Landes. In manchen haben Unternehmen Firmen-
sitze, die Weltmarktführer sind, andere sind geprägt
durch einzigartige Naturschätze. Sie alle haben
eine eigene regionale Kultur und lokale Traditionen.
Es gilt ihre Vielfalt zu schützen und die Gleichwer-
tigkeit der Lebensverhältnisse zu verbessern.
Damit sich Eigeninitiative, Unternehmergeist und
Tatkraft voll entfalten können, braucht es eine
zeitgemäße Infrastruktur in jedem Dorf, im ganzen
Land. Mit erneuerbaren Energien und Klimaschutz
lassen sich vor Ort schwarze Zahlen schreiben. Die
Kommunen verdienen an der Energieerzeugung vor
Ort aus Wind und Sonne mit und gewinnen damit
eigene finanzielle Spielräume. Sie entscheiden
selbst, ob das Schwimmbad saniert oder das Ge-
meindezentrum erweitert wird. Eine digitale Infra-
struktur auf der Höhe der Zeit ist unverzichtbar für
wirtschaftliche Innovation – genauso wie für ge-
sellschaftliche Teilhabe. Und das heißt: Glasfaser in
Stadt und Land und Mobilfunk ohne Funklöcher. Mit
digitalen Standards können regionale Wirtschafts-
kreisläufe verbunden und gestärkt werden.
Jede und jeder muss sich überall in unserem Land
auf eine gute und erreichbare medizinische Versor-
gung verlassen können. Kommunale Gesundheits-
zentren, in denen Ärzt*innen, Pflegekräfte und The-
rapeut*innen unter einem Dach arbeiten, können in
vielen Regionen das Angebot verstärken. Lebendige
Ortskerne und offene Gemeindezentren sind oft die
Voraussetzung für ehrenamtliches Engagement und
Stärkung des Zusammenlebens. Lebendige Regio-
nen entstehen durch passende Rahmenbedingun-
gen für das Zusammenleben und gute Infrastruktur
– auch für junge Familien und ältere Menschen. Sie
wollen wir unterstützen und fördern.
26BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
E. EINE NATUR, DIE WIR
SCHÜTZEN
Für eine intakte Natur
Indem wir die Natur wiederherstellen und schützen,
schützen wir uns selbst: heute und in Zukunft. Mit
dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz
sind wir diese Aufgabe kraftvoll angegangen und
haben die Naturschutzfinanzierung in Deutschland
vervielfacht. Das wollen wir verstetigen, erweitern
und inhaltlich fortentwickeln und damit die Mittel
für den natürlichen Klimaschutz über 2028 hinaus
anwachsen lassen.
Europäisch ist ein Meilenstein gelungen: ein Gesetz
zur Wiederherstellung der Natur. Das werden wir
bis 2030 auf 20 Prozent der Fläche an Land und
im Meer umsetzen. Dafür werden wir Flächen für
die Wiederherstellung von Natur gesetzlich garan-
tiert zur Verfügung stellen, denn auch sie liegen in
einem überragenden gesellschaftlichen Interesse.
Dazu wollen wir einen Schub für den Naturschutz:
wirksame Maßnahmen gegen weiteren Flächenver-
brauch, unbürokratische und schnellere Ausweisung
von Naturschutzgebieten und zusammenhängende
Biotopverbünde und Großschutzgebiete nach dem
Vorbild des ostdeutschen Großschutzgebietspro-
gramms nach der Wende. Frei fließende Flüsse,
naturnahe Bäche und wilde Weiden nehmen dabei
eine zentrale Rolle ein und müssen – wo immer
möglich – erhalten bleiben oder wiederhergestellt
werden. Den unnatürlichen Ausbau der Flüsse, wie
er zum Beispiel an der Mittelelbe oder im Odertal
geplant ist, lehnen wir ab.
Unsere Verantwortung für besonders typische Le-
bensräume wie das Wattenmeer, Buchenwälder und
Streuobstbestände sowie für besonders bedrohte
Arten wie die Wildkatze oder den Feuersalamander
werden wir durch Artenhilfsprogramme und beson-
dere Schutzmaßnahmen wahrnehmen. Den Bundes-
naturschutzfonds werden wir weiter stärken.
Um dies alles umzusetzen, braucht es mehr Unter-
stützung für die Zivilgesellschaft, insbesondere in
ländlichen Räumen. Denn der Erfolg des Aktions-
programms zeigt: Die Menschen und die Kommu-
nen wollen mehr Natur – es sind die Engagierten
und Organisationen vor Ort, die sehr oft der Motor
des Natur- und Artenschutzes sind.
Die Staatengemeinschaft hat vor zwei Jahren in
Montreal eine globale Vereinbarung für den Schutz
der Natur und Artenvielfalt mit ambitionierten
Zielen beschlossen – das ist auch für uns ein klarer
Auftrag, für den Erhalt und die Wiederherstellung
intakter Ökosysteme zu arbeiten. Mit einer verbind-
lichen Nationalen Biodiversitätsstrategie werden
wir diese Ziele national umsetzen.
Dort, wo wir durch den Artenschutz bereits nach-
haltige Erfolge erzielt haben, sind wir auch offen für
pragmatische Herangehensweisen, um existierenden
Zielkonflikten gerecht zu werden. Indem wir bei-
spielsweise beim Wolf die Regeln für Abschüsse in
problematischen Fällen vereinfacht haben, erhöhen
wir die Akzeptanz des Artenschutzes als Ganzes.
Unsere Wälder sind wichtig für die Artenvielfalt und
Verbündete beim Klimaschutz. Gleichzeitig sind sie
Erholungsraum und Grundlage für die forstwirt-
schaftliche Nutzung. Aber wir erleben ein zweites
Waldsterben. Klimawandel, Trockenheit und Schäd-
lingsbefall haben inzwischen dazu geführt, dass
Wälder mehr CO₂ emittieren als senken. Wir werden
deshalb naturnahe Wälder mit heimischen und
standortgerechten Baumarten erhalten und wieder-
herstellen. Um das Ökosystem Wald zu erhalten,
setzen wir auf ein modernes Bundeswaldgesetz,
das natur- und klimaverträgliche Holznutzung zum
Standard macht.
Für eine gesunde Umwelt
Die zunehmende Verschmutzung und Vermüllung
ist neben der Klima- und Biodiversitätskrise die
dritte große Herausforderung für den Schutz unse-
rer natürlichen Lebensgrundlagen. Mit sauberen
Böden, frischer Luft und Rückzugsorten, an denen
man auch mal seine Ruhe genießen kann, sorgen
wir für mehr Lebensqualität. Ob dreckige Luft oder
Lärm, wir wollen die Leitlinien der Weltgesund-
heitsorganisation (WHO) zum gesetzlichen Maßstab
für ein gesundes Leben in Deutschland und Europa
machen. Durch einen stärker vorsorgenden Ansatz
bringen wir den Schutz unserer Böden ins 21. Jahr-
27Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
hundert. Dies bedeutet weniger giftige Rückstände
im Boden und einen insgesamt rücksichtsvolleren
Umgang aller Nutzer*innen, um die Kraft unserer
Böden zu entfesseln.
Unser Ziel ist es, den Verpackungsmüll wirksam zu
reduzieren und die Vermüllung von Landschaft und
Gewässern zu stoppen. Kunststoffhersteller werden
wir stärker an den Umweltkosten ihrer Produkte be-
teiligen. Spätestens ab 2045 soll kein vermeidbarer
Verpackungsmüll mehr anfallen.
Bei der Reform des europäischen Instruments für
die Sicherheit von Chemikalien (REACH-Regelung)
wollen wir schneller vorankommen. Wir unterstüt-
zen einen risikobasierten Ansatz, der die Wechsel-
wirkungen der Chemikalien berücksichtigt. Wichtig
sind uns dabei die Beschleunigung der Verfahren
und die Verbesserung der Sanktionsmöglichkeiten.
Stoffe, die Mensch und Ökosysteme dauerhaft schä-
digen, wie die sogenannten Ewigkeitschemikalien
nehmen wir besonders in den Blick. Überall dort,
wo sie gut ersetzt werden können und insbesonde-
re in verbrauchernahen Produkten, wollen wir aus
ihrer Verwendung rasch aussteigen.
Für die Folgen der Verschmutzung von Wasser
sollen die Verschmutzer aufkommen. Dafür wollen
wir die Hersteller von wassergefährdenden Stoffen
stärker in die Verantwortung nehmen. Der Ver-
müllung von Flüssen und Meeren wollen wir durch
Abwassermanagement entgegentreten, Nährstoff-
einträge reduzieren und die Verhandlungen für ein
internationales Plastikabkommen erfolgreich ab-
schließen. Meere schützen wir auch durch ein Ende
der Öl- und Gasförderung in Nord- und Ostsee bis
2035. Wir wollen Technik fördern, die eine Bergung
der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee und ein
umweltverträgliches Abfischen von Müll aus dem
Meer ermöglicht.
Für sauberes Wasser und
lebendige Meere
Sauberes Wasser ist zentral für unsere Gesundheit,
unsere Lebensqualität und das Funktionieren unse-
rer Ökosysteme. Verschmutzung und die Klimakrise
bedrohen unsere Wasserressourcen. Wir sorgen da-
für, dass wir weiterhin sauberes Trinkwasser haben,
dass die Landwirtschaft versorgt wird und unsere
Flüsse, Seen und Meere intakt bleiben.
Mit der Nationalen Wasserstrategie haben wir einen
Masterplan vorgelegt, wie wir diese Ziele erreichen.
Wir wollen die finanziellen und personellen Be-
dingungen schaffen, damit wir sie – gemeinsam mit
den Ländern, aber auch über unsere Landesgrenzen
hinaus – effektiv umsetzen können.
Wir wollen den natürlichen Wasserhaushalt wieder-
herstellen. Dafür wollen wir Städte und Landschaf-
ten so nutzen und gestalten, dass sie Wasser auf-
nehmen, speichern und bei Bedarf wieder abgeben
können. Durch faire Entgelte, besonders für inten-
sive Nutzer, wollen wir die Nutzung lenken und
Unternehmen zum Wassersparen anregen.
Die verletzlichen Ökosysteme unserer Meere brau-
chen besonderen Schutz – deshalb entwickeln wir
eine ambitionierte Meeresstrategie und schaffen
damit echte Rückzugsgebiete für Fischschwärme
und Meeressäuger. In einem Zehntel der deutschen
Nord- und Ostsee soll die Natur völlig unberührt
bleiben, während neue Schutzregeln auch in den
übrigen Gewässern das Leben im Meer bewahren.
Weltweit setzen wir uns weiter für ein Moratorium
beim Tiefseebergbau ein. Die Einnahmen aus dem
Verkauf von Meeresflächen für Windkraftanlagen
sollen auch künftig direkt in den Meeresschutz flie-
ßen – so verbinden wir umweltfreundliche Strom-
erzeugung mit dem Schutz der Meere.
Wir fühlen uns dem Schutz des Wattenmeers be-
sonders verpflichtet. Das Wattenmeer ist eines der
bioproduktivsten Ökosysteme weltweit. Es ist nicht
nur Lebensraum für Schweinswale und Robben,
sondern auch eine unersetzliche Nahrungsquelle
für zahlreiche Zugvögel und Fischpopulationen.
Dieser Schatz der Natur darf durch Gasbohrungen
um Borkum nicht zerstört werden.
28BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
F. EINE ZUKUNFTSFESTE
LANDWIRTSCHAFT
Für starke Landwirtinnen und Landwirte
Um die Ernährungssicherheit langfristig zu gewähr-
leisten, braucht es krisenfeste Betriebe, die sich
auf die Veränderungen einstellen können und ein
verlässlicher Partner beim Schutz der natürlichen
Grundlagen sind. Auf dem Weg zu einer zukunfts-
festen Landwirtschaft setzen wir auf den Einsatz,
den Unternehmergeist und das Wissen der Land-
wirt*innen.
Die Landwirtschaft bekommt große finanzielle
Unterstützung, insbesondere die Gelder aus der Ge-
meinsamen Agrarpolitik (GAP). Sie muss die finan-
zielle Basis für den Schutz der natürlichen Grundla-
gen werden. Für die anstehende Neugestaltung ab
2027 gilt für uns: öffentliche Gelder für öffentliche
Leistungen.
Die Wettbewerbsposition von Landwirt*innen
gegenüber anderen Akteuren der Wertschöpfungs-
kette soll gestärkt werden. Deswegen führen wir
das Gebot des Kaufs zu kostendeckenden Preisen
entlang der gesamten Lebensmittelkette ein und
verankern verbindliche schriftliche Verträge im
Agrarorganisationen- und Lieferkettengesetz. Wir
wollen eine kartellrechtliche Prüfung, um auch im
oligopolen Lebensmittelhandel faire Erzeugerpreise
und Wettbewerb zu sichern.
Die Wiedervernässung von Mooren ist ein wichtiger
Beitrag zum Klimaschutz. Wir werden die Rahmen-
bedingungen deshalb so gestalten, dass landwirt-
schaftliche Flächen durch die Wiedervernässung an
wirtschaftlicher Attraktivität gewinnen. Zusätzliche
Verdienstmöglichkeiten für die Landwirt*innen
treiben wir etwa durch den Ausbau von Agri-Photo-
voltaik sowie die Stärkung von Hanf und auch
Schilf als Dämmung im Bausektor voran. Und wir
unterstützen Betriebe dabei, in neuen innovativen
Märkten wie alternative und pflanzliche Proteine
Fuß zu fassen.
Für die Tierhalter in Deutschland braucht es eine
Antwort auf die veränderten Konsumgewohnheiten
und den stetig sinkenden Fleischkonsum, der sich
aus tierethischen, gesundheits-, umwelt- und klima-
politischen Gründen vollzieht. Eine gute Prämisse
sowohl im Sinne von Unternehmen als auch Tieren
ist: weniger Tiere besser halten. Dafür haben wir
den Umbau der Ställe für Schweine hin zu einer
tiergerechten Haltung so stark gefördert wie keine
Bundesregierung zuvor. Wir setzen uns dafür ein,
dass es auch in der nächsten Legislatur dafür aus-
reichend Mittel gibt, um die Lebensbedingungen für
alle Tierarten zu verbessern. Wir haben die Hal-
tungskennzeichnung für Schweinefleisch eingeführt
und ermöglichen Verbraucher*innen damit eine
bewusste Kaufentscheidung. Diese Kennzeichnung
werden wir auch auf die anderen Tierarten und die
Außer-Haus-Verpflegung ausweiten. Kleine Gastro-
nomiebetriebe werden wir ausnehmen.
Auch regionale Produkte sind bei immer mehr
Verbraucher*innen gefragt. Deshalb wollen wir
landwirtschaftliche Betriebe mit dem regionalen
Lebensmittelhandwerk zusammenbringen – bei-
spielsweise mit der Förderung regionaler Wert-
schöpfungsketten.
Für die natürlichen Grundlagen
unserer Ernährung
Die Auswirkungen der Klimaerhitzung, des Insek-
tensterbens und unseres Umgangs mit gesunden
Böden sind zentrale Herausforderungen für unsere
Ernährungssicherheit. Zukunftsfeste Landwirtschaft
stellt sich diesen Herausforderungen. Dafür braucht
es neben mehr Wertschätzung auch genügend
Wertschöpfung. Unnötige Bürokratie werden wir
aktiv abbauen, ohne notwendige Standards im Um-
welt- und Verbraucherschutz abzubauen.
Dafür braucht es einen möglichst sparsamen und
bedachten Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln.
Der Pestizideinsatz soll EU-weit bis 2030 halbiert
werden, um die EU-Farm-to-Fork-Strategie umzuset-
zen. Wir setzen hier auf Innovation, Digitalisierung
sowie einkommenswirksame Honorierungen von
Umweltleistungen. Und wir setzen auf marktwirt-
schaftliche Lösungen wie eine Pestizidabgabe, die
wirksam und unbürokratisch ist. Außerdem schaffen
wir genügend geschützte Rückzugsräume für die
Natur. Wir bringen Agroforstsysteme raus aus der
29Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Nische und rein in die Fläche. Wir unterstützen die
Landwirt*innen dabei, hier Bäume und Ackerkultur
zu kombinieren. Damit leisten sie einen Beitrag zum
Schutz der Böden und Artenvielfalt.
Eine wichtige Rolle beim Schutz der natürlichen
Grundlagen spielt die ökologische Landwirtschaft.
Naturschonende Erzeugungsformen müssen einen
Vorteil gegenüber Produktionsweisen haben, die
starke Umweltfolgen nach sich ziehen. Wir unter-
stützen sie daher und arbeiten deshalb weiter an
dem Ziel 30 Prozent Ökolandbau bis 2030.
Wir brauchen auch einen sorgsameren Umgang
mit wertvollen Agrarflächen. Dafür führen wir im
Planungsrecht Vorrangflächen für die Nahrungs-
mittelproduktion ein. Bei der Biomasse setzen wir
auf die sorgsame Kaskaden- und Mehrfachnutzung.
Übernutzte und geschädigte Böden gefährden eine
gesunde Ernährung. Sie speichern weniger Wasser
und verlieren relevante Nährstoffe. Dem wollen wir
durch ein neues Bodenschutzgesetz vorbeugen.
Für gute Ernährung
Jede und jeder kann selbst entscheiden, was er oder
sie essen möchte. Aber nicht alle können sich so
ernähren, wie sie gern würden. Das ist auch eine
soziale Frage: Dort, wo Menschen sozial benachtei-
ligt werden, sind ernährungsbedingte Krankheiten
besonders häufig. Deshalb wollen wir die Rahmen-
bedingungen so gestalten, dass die Wahlfreiheit bei
der Ernährung verbessert wird.
Dafür bauen wir auf die Ernährungsstrategie der
Bundesregierung „Gutes Essen für Deutschland“ auf
und schaffen eine bessere Ernährungsumgebung.
Ein besonderes Augenmerk legen wir dabei auf die
Gemeinschaftsverpflegung – von Kitas über Kanti-
nen bis Pflegeeinrichtungen. Außerdem werden wir
Kinder vor Werbung für ungesunde Lebensmittel
schützen und Geschmacksaromen für E-Zigaretten,
die besonders junge Menschen zum Konsum verlei-
ten, vom Markt verbannen. Zudem tragen stark zu-
ckerhaltige Softdrinks wesentlich zu Übergewicht,
Adipositas und Folgeerkrankungen bei. Gerade im
Sinne des Kinder- und Jugendschutzes setzen wir
uns für wirksame Maßnahmen zum Senken des
Zuckergehalts von Softdrinks ein.
Und wir werden weiter daran arbeiten, dass immer
weniger Lebensmittel, die noch gut sind, wegge-
schmissen werden. Wir wollen deshalb, dass die
Rettung und Weitergabe von Lebensmitteln Stan-
dard wird.
Für einen verbesserten Tierschutz
Tierschutz ist für uns eine Frage der Haltung. Die
Tiere, die wir nutzen, schlachten und essen, sollen
keine Qualen erleiden. Das beginnt bei der Zucht
und endet bei der Haltung. Wir wollen die Zucht lei-
densfreier Tiere fördern und Qualzuchten beenden.
Dazu gehören Puten, deren Brustfleisch so schnell
wächst, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen
halten können, und Hunde, die kaum atmen können.
Tierquälerei soll entschieden bestraft werden. Wir
wollen allen Menschen, die Tiere halten, Zugang zu
den notwendigen Kenntnissen geben. Da Tiere ihre
Rechte nicht selbst einklagen können, setzen wir
uns für ihre bessere rechtliche und politische Inter-
essenvertretung ein. Dafür muss eine Tierschutzbe-
auftragte bzw. ein Tierschutzbeauftragter, dieses Amt
wurde in dieser Legislatur geschaffen, verbindlich
verankert und ein Verbandsklagerecht für anerkann-
te Tierschutzorganisationen eingeführt werden.
Die meisten Tiere in Deutschland werden in der
Landwirtschaft gehalten, viele immer noch mit zu
wenig Platz und nicht tiergerecht. Deshalb setzen
wir uns dafür ein, dass dort weniger Tiere besser
gehalten werden, sich frei bewegen können und
ihrer natürlichen Lebensweise nachgehen können.
Die Dauer von Tiertransporten wollen wir europa-
weit effektiv auf vier Stunden begrenzen, Trans-
porte aus der EU heraus verbieten und Wege der
Umgehung durch neue Transitländer verhindern.
Schlachtmethoden wollen wir im Sinne des Tier-
schutzes verbessern.
Tierversuche wollen wir reduzieren und – wo im-
mer möglich – durch innovative, tierversuchsfreie
Methoden ersetzen. Das stärkt auch den modernen
Forschungsstandort Deutschland.
Tierheime sind bundesweit am Limit, sie müssen
finanziell besser unterstützt und entlastet werden.
Illegaler Tierhandel schadet Tieren und erzeugt
Gesundheitsrisiken für den Menschen und gehört
30BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
deshalb beendet. Wildtiere gehören in die Wildnis
und nicht in Zirkusse, sie sollten nicht über gewerb-
liche Onlineseiten und Wildtierbörsen angeboten
werden. Kommerzielle Importe von Wildfängen
wollen wir beenden.
31Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
KAPITEL 2
EINFACH
DABEI SEINFAIR UND BEZAHLBAR
Die Kraft unseres Landes fußt darauf, dass alle
Menschen sich selbstbewusst einbringen und ent-
falten können. Dass ihre Leistung, ihre Erfahrung
und ihre Kompetenzen etwas zählen und sich der
Einsatz lohnt. Die Kraft unseres Landes beruht auf
den Menschen, die jeden Tag anpacken, in Fabriken
und Büros, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in
Kitas und Universitäten.
Es geht darum, die aktuelle Verunsicherung in neue
Sicherheit zu verwandeln. Denn viele Menschen
fühlen sich überfordert: Steigende Mieten und
Lebenshaltungskosten machen das Leben für viele
kaum mehr bezahlbar. Zu wenig Kitapersonal und
-plätze, die aufwendige Suche nach einem Arztter-
min oder langwierige Behördengänge machen das
Leben anstrengend und kompliziert. Die Leute wol-
len gestalten, sich etwas aufbauen, für ihre Familie
sorgen, aus eigener Kraft. Dafür haben sie gute Rah-
menbedingungen verdient. Alle müssen sich darauf
verlassen können, dass der Staat die Institutionen
bereithält, die sie unterstützen.
Ein gutes Bildungssystem ist gleich in mehrfacher
Hinsicht der Zentralschlüssel für eine gute Zukunft
unseres Landes. Hier entwickeln sich individuelle
Freiheit, die Möglichkeit zu persönlicher Selbst-
bestimmung ebenso wie die zu gesellschaftlicher
Teilhabe. Mit der Bildung entscheiden sich die
Lebenschancen junger Menschen: Das fängt grund-
legend mit der Kita an und reicht bis zu Ausbildung
oder Studium – und darf dort nicht enden. Und
das gilt ganz gleich, ob man im späteren Leben im
Handwerk, der Wissenschaft, im Dienstleistungs-
gewerbe oder der Industrie arbeitet. Mit der Bil-
dung entscheidet sich zudem, ob wir unser Land fit
bekommen für die Anforderungen der neuen Zeit.
Wir statten die jungen Menschen mit Fähigkeiten
aus, die in der neuen, digitalen und klimaneutralen
Arbeitswelt unverzichtbar sind. Es ist an der Zeit,
dem endlich auch in der Bundespolitik Rechnung
zu tragen – Hand in Hand mit Ländern und Kommu-
nen in einem modernen Föderalismus. Wir stärken
unsere Bildungssysteme, damit sie besser als heute
Kindern mit Migrationsgeschichte und aus sozio-
ökonomisch benachteiligten Familien die gleichen
Chancen auf Teilhabe und Aufstieg ermöglichen.
Gute Arbeit und faire Löhne sind die Grundla-
ge dafür, sich etwas aufzubauen – in materieller
Sicherheit. Arbeit ist der Ort, an dem die Menschen
viel Lebenszeit verbringen, an dem sie ihren ge-
sellschaftlichen Beitrag messen, an dem sie Stolz
ausprägen – oder auch verlieren. Diesen Stolz in
die Zukunft zu tragen – in einer Gesellschaft, in
der man sich einbringen kann, in der Anstrengung
honoriert wird und das Sicherheitsnetz für alle
funktioniert. Das ist unser Ziel.
Die Frage des Wohnens ist entscheidend für die
Umstände unseres Lebens. Die Wahl eines Arbeits-
platzes, die Möglichkeit einer Familiengründung und
die Gestaltung des sozialen Umfelds hängen maß-
geblich vom Wohnen ab. Es bezahlbar zu machen, ist
also eine entscheidende soziale Herausforderung.
Wir nehmen sie an, begrenzen effektiv Mieten, er-
leichtern das Bauen und den Zugang zu Eigentum.
Wir wollen für die Menschen eine angemessene
und unkomplizierte soziale Absicherung, die die
elementaren Dinge eines Lebens in Würde abdeckt.
Das gilt für ein gutes und solidarisches Gesund-
heitssystem, das für alle da ist. Das gilt für ein
Pflegesystem, das verlässlich und bezahlbar ist und
32BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
allen Menschen ein Alter in Würde ermöglicht. Das
gilt ganz besonders für Kinder und Jugendliche,
deren Zukunft nicht von der Lotterie ihrer sozialen
Umstände abhängen darf. Es gilt für Menschen, die
unverschuldet ihre Arbeit verlieren. Und es gilt für
eine soziale Sicherung im Alter, die Geleistetes wür-
digt und die Angst vor der Armut nimmt.
A. STARKE TEILHABE:
GUTE ARBEIT,
BEZAHLBARES WOHNEN,
FAIRE LÖHNE
Für gute Arbeit und faire Löhne
Gute Arbeit und faire Löhne sind entscheidend dafür,
dass Menschen für sich und ihre Familien sorgen
können, dass sie sich einbringen können und stolz
auf den gemeinsam erreichten Wohlstand sein
können. Wir wollen, dass alle Zugang zu guter Arbeit
haben: durch eine gute Ausbildung, Fort- und Wei-
terbildung, durch bessere Integration in einen in-
klusiven Arbeitsmarkt sowie durch Erleichterung der
Arbeitsaufnahme bzw. Abbau von Arbeitsverboten.
Faire Löhne verlangen nach einem fairen Mindest-
lohn, damit Leistung auch anerkannt wird. Um die
Inflation der vergangenen Jahre auszugleichen,
braucht es jetzt einen Mindestlohn von zunächst 15
Euro im Jahr 2025, der auch für unter 18-Jährige gilt.
Das entspricht auch den Vorgaben, die bei der Um-
setzung der Mindestlohnrichtlinie der Europäischen
Union (EU) einzuhalten sind. Und es braucht eine
stärkere Tarifbindung. Denn wer nach Tarif arbeitet,
verdient im Schnitt mehr und das unter besseren
Arbeitsbedingungen. Deshalb wollen wir die All-
gemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen
erleichtern. Durch ein Tariftreuegesetz werden wir
öffentliche Aufträge des Bundes in der Regel an
Unternehmen vergeben, die nach Tarif bezahlen.
Die betriebliche Mitbestimmung ist gelebte De-
mokratie. Sie macht die Beschäftigten zu aktiven
Akteuren bei der Gestaltung ihrer Arbeitswelt. Wenn
sich die Beschäftigten einmischen können, wenn
sie ihre Arbeitsbedingungen mitgestalten können,
dann entsteht auch in Zeiten von Veränderungs-
prozessen Vertrauen und Akzeptanz. Die betrieb-
liche Mitbestimmung werden wir daher stärken und
auf Mitbestimmungsrechte in Sachen Klima- und
Umweltschutz, Qualifizierungsmaßnahmen sowie
Gleichstellung im Betrieb erweitern. Gegen Schein-
selbstständigkeit, etwa bei Plattformunternehmen,
den Missbrauch von Werkverträgen und Schwarzar-
beit wollen wir entschieden vorgehen. In Branchen,
die von Schwarzarbeit betroffen sind, sorgen wir für
eine digitale und manipulationssichere Erfassung
der Arbeitszeit.
Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit:
Dieser Slogan wird Wirklichkeit, wenn Frauen ihr
Recht auf gleiche Bezahlung auch in der Praxis
umsetzen können. Deshalb werden wir die EU-Ent-
gelttransparenzrichtlinie zügig und vollständig
umsetzen. Wir wollen die Regeln verbindlicher und
besser einklagbar machen und dadurch Gleich-
stellung wirksam voranbringen. Die Erwerbsmög-
lichkeiten für Frauen verbessern wir durch gleiche
Löhne und flexible Arbeitszeitmodelle und durch
das Rückkehrrecht in Vollzeit. Eine gute Kinderbe-
treuung ist dabei wesentliche Voraussetzung für die
Erwerbstätigkeit aller Erziehenden. Es kommt uns
dabei darauf an, Arbeit und Familie vereinbarer zu
gestalten und Sorgearbeit fairer zu verteilen.
Minijobs wollen wir schrittweise in sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung überführen, mit
Ausnahmen für Rentner*innen, Schüler*innen und
Studierende. Denn sie führen vor allem für Frauen
und in Kombination mit dem Ehegattensplitting zu
einer Teilzeitfalle, weil sie den Anreiz setzen, weni-
ger und ohne soziale Absicherung zu arbeiten. Dies
verschärft auch den Arbeitskräftemangel und die
Altersarmut. Um mit marktwirtschaftlichen Mitteln
die Gehälter am unteren Ende zu erhöhen, wollen
wir Gehaltsangebote in Stellenausschreibungen
grundsätzlich transparent machen.
Für bezahlbares Wohnen
Bezahlbares Wohnen ist zu einer der entschei-
denden sozialen Fragen unserer Zeit geworden.
Es ist in der vergangenen Legislaturperiode leider
nicht gelungen, entsprechende Abhilfe zu schaffen.
Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft stehen
vor Fragen wie: Kann ich an meinem Wohnort eine
33Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Familie gründen? Kann ich mir dort eine Wohnung
leisten, wo ich ein Jobangebot habe? Wie kann ich
im Alter wohnen? Wir wollen, dass Menschen in
Deutschland bezahlbaren Wohnraum finden und
sich keine Ängste und Sorgen um den Verbleib in
ihrer Wohnung machen müssen. Es braucht mehr
Wohnungen, kluge und sozialverträgliche Moder-
nisierung und den Schutz vor zu hohen Mietsteige-
rungen im Bestand.
Etwa die Hälfte der Menschen in unserem Land
lebt zur Miete und gibt dafür immer mehr Geld
aus. Die Mietpreisbremse muss verlängert werden.
Sie soll Anstiege der Mieten über die ortsübliche
Vergleichsmiete hinaus zudem stärker begrenzen.
Den Betrachtungszeitraum zur Ermittlung der Ver-
gleichsmiete wollen wir dafür deutlich verlängern.
Wir wollen die Mietpreisbremse außerdem bereits
auf Wohnungen anwenden, die älter als fünf Jah-
re sind. Und wir werden Schlupflöcher schließen,
etwa wenn Wohnungen nicht zu fairen Preisen,
sondern überteuert als möblierte Wohnung oder
Ferienwohnung angeboten werden. Auch einen
Stopp von Mietensteigerungen über die ortsübliche
Vergleichsmiete hinaus wollen wir für sehr ange-
spannte Wohnungslagen regional ermöglichen. Bei
bestehenden Mietverhältnissen, auch bei Staffel-
und Indexmieten, werden wir dafür sorgen, dass die
Menschen nicht durch sehr starke Mietsteigerungen
aus ihren Wohnungen vertrieben werden.
Obdachlosigkeit sollte in einem reichen Land wie
Deutschland nicht vorkommen – ein eigenes Zu-
hause ist eine wichtige Voraussetzung für ein Leben
in Würde und für gesellschaftliche Teilhabe. Mit
dem Housing-First-Ansatz können wir Obdachlose
direkt in eigene Wohnungen vermitteln.
Mieter*innen wollen wir besser schützen, beson-
ders vor dem Missbrauch von Kündigungen wegen
Eigenbedarf oder Mietschulden. Viele Menschen
haben das Interesse, ihre Wohnung zu tauschen,
weil sich ihre Lebensumstände geändert haben.
So könnte Wohnraum besser genutzt werden. Wir
wollen Menschen bei diesen Plänen unterstützen,
indem wir rechtliche Hürden abbauen und Förder-
instrumente anpassen und flexibilisieren.
Ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung gibt
Sicherheit und Freiheit. Deshalb wollen wir die
Chance auf ein Eigenheim leichter zur Realität
werden lassen. Wir wollen den Kauf von selbst
genutztem Wohneigentum und die Modernisie-
rung leer stehender Wohnungen und Ausbauten zu
günstigem Wohnraum stärker fördern. Wir entlasten
bei den Nebenkosten wie den Makler- und Notar-
gebühren. Eine Wohnungsbauprämie, deren Höhe
mit der Inflation steigt und eine Klimakomponente
beinhaltet, erleichtert auch Menschen mit gerin-
gem Einkommen den Zugang zu Wohneigentum.
Wenn Mieter*innen gemeinschaftlich ihr Wohnhaus
übernehmen wollen, beispielsweise durch eine Ge-
nossenschaft, wollen wir das unbürokratisch durch
günstige Kredite oder Bürgschaften unterstützen.
Für schnelles, günstiges und
klimaverträgliches Bauen
Wir wollen da, wo Wohnraum fehlt, die Rahmenbe-
dingungen für schnelles, möglichst preiswertes und
klimaverträgliches Bauen schaffen.
Dafür braucht es eine realistische Strategie. Der
beste Weg liegt darin, vorhandenes Potenzial zu
nutzen: bestehende Gebäude aufstocken, ungenutz-
te Büroflächen zu Wohnraum umwandeln, Dachbö-
den ausbauen und leer stehende Gebäude wieder
aktivieren. Mehrere Millionen Wohnungen könnten
auf diesem Weg bereitgestellt werden. Hier muss
nicht aufwendig neue Infrastruktur gelegt werden,
was das Bauen einfacher und günstiger macht. Das
scheitert bislang oftmals an rechtlichen Hürden
und Bürokratie. Wir wollen dieses Potenzial nutzen.
Dazu werden wir das Baurecht vereinfachen, Ver-
fahren digitalisieren und bundesweit angleichen –
davon profitieren alle Formen des Bauens. Übertrie-
bene Anforderungen an bauliche Standards werden
wir auf ein sinnvolles Maß zurückführen. Wir wollen
es erleichtern, dass die Sanierung von Wohnungen
mit Aufstockung oder Erweiterung verbunden wird.
Wohnraum und Bauflächen dürfen kein Spekula-
tionsobjekt sein. Steuerschlupflöcher bei Immobi-
liengeschäften, etwa über sogenannte Share Deals,
sind deshalb zu schließen. Stattdessen stärken wir
das Vorkaufsrecht von Kommunen. Den sozialen
und gemeinnützigen Wohnungsbau unterstützen
34BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
wir, indem im Bund die Fördermittel für sozialen
Wohnungsbau erhöht werden. Gemeinnützige und
genossenschaftliche Wohnungsunternehmen wol-
len wir besonders unterstützen. Die Neue Wohnge-
meinnützigkeit wollen wir weiter stärken.
Klimaverträgliches Bauen und Sanieren nutzt nicht
nur dem Klima, es reduziert auch zukünftige Wohn-
kosten. Damit diese positiven Effekte auch bei Mie-
ter*innen ankommen, wollen wir klare Anreize dafür
setzen, dass Vermieter*innen verfügbare öffentliche
Fördermittel zur Sanierung auch tatsächlich nutzen.
Dazu gibt es viele Wege: Manchmal sind es neue
Technologien, manchmal der Rückgriff auf bewährte
Bautraditionen, die den Schlüssel dazu liefern. Die
Kreislaufwirtschaft beim Bau ist ebenfalls entschei-
dend, damit Bauschutt vermieden, Rohstoffe ge-
schont und Material wiederverwendet werden kann.
Wir reduzieren Vorschriften, die dem im Weg stehen.
Um die Finanzierung von klimafreundlichen Sanie-
rungen zu erleichtern, wollen wir sanierte Gebäude
einfacher als taxonomiekonform anerkennen. Kom-
fortables, preiswertes und klimaverträgliches Bauen
bedarf technischer und rechtlicher Innovationen
– es ermöglicht auch neue Formen des Zusammen-
lebens. Dieses neue Zusammenspiel sollten wir als
Gesellschaft mithilfe des Instruments des Reallabors
unkompliziert ausprobieren und daraus lernen.
Für ein gerechtes Steuersystem
Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Vielen
Menschen geht es gut. Aber es gibt auch diejeni-
gen, die sich außer Miete und Lebensmitteln kaum
etwas leisten können. Diese Menschen haben be-
sonders unter der Inflation der vergangenen Jahre
gelitten. Und der Wohlstand in unserer Gesellschaft
ist ungleich verteilt. Das reichste Prozent der Deut-
schen besitzt mehr Vermögen als 90 Prozent der
Gesellschaft zusammen.
Insbesondere bei der Konzentration von sehr hohen
Vermögen gibt es auch im internationalen Vergleich
große Handlungsnotwendigkeit in Deutschland.
Zum Angehen dieser großen Gerechtigkeitslücken
gehören folgende Möglichkeiten: eine globale Mil-
liardärssteuer, eine fairere Erbschaftssteuer, eine ge-
rechte Immobilienbesteuerung ohne Schlupflöcher
oder eine nationale Vermögenssteuer. Wir wollen die
Ziele Gerechtigkeit, Gemeinwohlfinanzierung und
den Erhalt von Betrieben, ihren Investitionsmöglich-
keiten und ihren Arbeitsplätzen zusammenbringen.
Das ist alles andere als einfach, aber wir möchten
endlich etwas erreichen. Deswegen fokussieren wir
uns auf folgende Maßnahmen: das effektive An-
gehen der Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer für
außerordentlich große Erbschaften, den aktiven
Einsatz für die Einführung der globalen Milliardärs-
steuer sowie das Schließen weiterer offenkundiger
Gerechtigkeitslücken im Steuersystem, vor allem
bei der Immobilienbesteuerung wie Share Deals
und beim Auseinanderklaffen der Besteuerung von
Arbeits- und Kapitaleinkünften.
Um die Erwerbstätigen bürokratisch und finanziell
zu entlasten, werden wir die Arbeitnehmerpausch-
beträge in der Einkommensteuererklärung anheben.
Wir wollen eine Anhebung auf 1.500 Euro. Dies wird
dazu führen, dass mehr als die Hälfte der Arbeit-
nehmer*innen keine Belege für ihre Steuererklärung
mehr sammeln muss. Wer höhere Auslagen hat, kann
sie bei der Steuererklärung wie gewohnt angeben.
Um insbesondere niedrige Einkommen zielge-
nau und unbürokratisch zu entlasten, führen wir
Steuergutschriften ein. Das ist ein Baustein, um die
Arbeitsanreize im Bürgergeldsystem zu erhöhen.
Alleinerziehende entlasten wir gezielt durch eine
Steuergutschrift. Den Grundfreibetrag erhöhen wir.
Den Solidaritätszuschlag werden wir in den Ein-
kommensteuertarif integrieren.
B. EINE GUTE BILDUNG
FÜR GUTE CHANCEN
Für gute und verlässliche Kitas
Gute Kitas und Ganztagsbildung sind der entschei-
dende Grundstein für die Zukunft unserer Kinder.
Eine gute und verlässliche Betreuungsinfrastruktur
mit einem gestärkten Bildungsangebot bietet Kin-
dern gleiche Chancen von Anfang an und ermög-
licht Eltern, Familie und Beruf besser zu vereinba-
ren. Ein Gewinn für unsere Gesellschaft insgesamt.
35Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Leider wird unser Land diesem Anspruch bei Wei-
tem nicht gerecht. Kitaplätze fehlen in weiten Tei-
len des Landes. Dort, wo Eltern einen Platz für ihren
Nachwuchs ergattern, wird der Betrieb regelmäßig
wegen Personalknappheit eingeschränkt oder ganz
eingestellt. Es fehlen schon jetzt Erzieher*innen,
und wir wissen, dass bereits viele an oder über der
Belastungsgrenze arbeiten. Deshalb investieren wir
in gute Kitas und die Gewinnung von Erzieher*in-
nen und unterstützenden Arbeitskräften. Außerdem
setzen wir uns für schulgeldfreie Ausbildungen, be-
rufsbegleitende Anerkennungsverfahren, schnellere
Anerkennung ausländischer Abschlüsse und flexib-
lere Weiterbildungen und Umschulungen ein. Denn
nur wenn ausreichend gut qualifizierte Fachkräfte
ausreichend Zeit für ihre Arbeit haben, können
unsere Kitas dauerhaft Bildung und Betreuung auf
hohem pädagogischen Niveau ermöglichen.
Mit dem Kita-Qualitätsgesetz investiert der Bund
derzeit jährlich rund 2 Milliarden Euro in gute Kitas.
Diesen Weg setzen wir fort, indem wir bundes-
weite Qualitätsstandards im Kitabereich gesetz-
lich festschreiben und im Bund die Investitionen
in frühkindliche Bildung erhöhen und verstetigen.
Ein besonderes Augenmerk haben wir dabei auf
Kitas mit einem hohen Anteil sozioökonomisch
benachteiligter Kinder. Dort wollen wir besonders
unterstützen. Und wir werden steuerliche Anreize
für Unternehmen einführen, die selbst oder in Ko-
operation Kitaplätze schaffen, sodass Kinder von
Beschäftigten in unmittelbarer Nähe zur Arbeits-
stelle betreut werden können.
Für starke Schulen mit starken Kindern
Schulen sind für Heranwachsende neben der Fa-
milie der Mittelpunkt ihres Lebens. Hier entwickelt
sich die Persönlichkeit, hier wird gelebt und ge-
lacht. Daher ist es so wichtig, dass jede bzw. jeder
sich dort zugehörig fühlt und angenommen wird.
Schulen befähigen Kinder und Jugendliche auch
dabei, ihre selbstbestimmte und nachhaltige Zu-
kunft zu gestalten. Daher hat jeder junge Mensch
die beste Bildung verdient – ganz unabhängig von
Herkunft oder Wohnort.
Den Startschuss für einen Bildungsaufbruch haben
wir in der Bundesregierung gegeben: Als größtes
Bund-Länder-Schulprogramm der Geschichte unse-
res Landes haben wir mit dem Startchancen-Pro-
gramm in Höhe von 20 Milliarden Euro gemeinsam
für einen kraftvollen Schub für mehr Bildungsge-
rechtigkeit gesorgt.
Aber unser Land braucht deutlich mehr: Eine ge-
meinsame Bildungsoffensive, um noch mehr Schu-
len, Kinder, Jugendliche und Heranwachsende zu er-
reichen. Mit einem „Zukunftsinvestitionsprogramm
Bildung“ wollen wir Hand in Hand mit Ländern und
Kommunen bundesweit für mehr Chancen- und
Generationengerechtigkeit sorgen.
Dadurch sorgen wir für moderne und barrierefreie
Schulgebäude mit dichten Dächern, funktionieren-
den Toiletten und digital ausgestatteten Klassen-
räumen. Wir schaffen mehr Stellen für Schulsozial-
arbeit, Schulpsychologie und Inklusion. Wir stärken
die Kompetenzen und Leistungen der Kinder und
legen dabei einen Schwerpunkt auf den Erwerb
von Basiskompetenzen, die für einen erfolgreichen
Bildungsweg unverzichtbar sind. Wir fördern die
digitalen Fähigkeiten, Medienkompetenz, Bildung
für nachhaltige Entwicklung und politische Bildung.
Die Digitalisierung unserer Schulen begreifen wir
als Daueraufgabe von Bund, Ländern und Kommu-
nen, in die wir weiter investieren werden. Genau
wie in den Ausbau guter ganztägiger Bildungs- und
Betreuungsangebote.
Diese Unterstützung soll dort ankommen, wo sie be-
sonders gebraucht wird. Statt nur nach dem König-
steiner Schlüssel nach Einwohnerzahl und Finanz-
kraft zu finanzieren, wollen wir die Finanzierung
stärker an den tatsächlichen Bedarfen ausrichten. Wir
brauchen eine engere Kooperation zwischen Bund
und Ländern in der Bildungspolitik. Wo verfassungs-
rechtliche Beschränkungen zuverlässige und not-
wendige Investitionen in Bildung aktuell verhindern,
werden wir mit den Ländern gemeinsame Ziele und
tragfähige Lösungen vereinbaren, um die großen
Herausforderungen im Bildungssystem erfolgreich
gemeinsam zu bewältigen und auch über neue Ge-
meinschaftsaufgaben im Grundgesetz sprechen.
Einen besonderen Schwerpunkt werden wir außer-
dem auf den Spracherwerb legen. Denn Sprache
ist der Schlüssel zum Erfolg. Wir wollen erreichen,
36BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
dass alle Kinder am Ende der Grundschule sicher
lesen, schreiben und rechnen können, weil nur wer
die deutsche Sprache versteht und beherrscht, am
Unterricht und der Gemeinschaft teilhaben, sich
entfalten und lernen kann. Die Sprachförderung
muss deshalb als durchgängiger Prozess angelegt
werden, der in der Kita beginnt und sich in der
Schule fortsetzt.
Für eine gute Bildung, die allen
offensteht
Unser Land braucht weitere energische Schritte für
mehr Fachkräfte – in Industrie und Handwerk eben-
so wie in Kitas, Schulen oder in der Pflege. Nur so
können wir den notwendigen Umbau der Wirtschaft
und den demografischen Wandel bewältigen. Oft
bleiben Ausbildungsplätze aber unbesetzt, offene
Stellen können nicht nachbesetzt werden. Dabei
stehen 2,9 Millionen junge Menschen in Deutsch-
land heute ohne Berufsabschluss da.
Eine gute Ausbildung ist ein attraktives Versprechen
für die berufliche Zukunft junger Menschen. Auf
dem Weg dahin schaffen wir gute finanzielle und
rechtliche Rahmenbedingungen für Auszubildende.
Durch eine deutliche Anhebung der Mindestaus-
bildungsvergütung werden wir die Attraktivität der
Ausbildung erhöhen. Wir wollen für Azubis auch
den Führerscheinerwerb fördern und eine Lösung
für ein Azubi-Deutschlandticket finden. Mit einer
solidarischen Ausbildungsumlage sorgen wir dabei
für einen finanziellen Ausgleich, um die Ausbil-
dungsbereitschaft kleiner und mittlerer Betriebe zu
fördern. Zur Unterstützung des Handwerks erhöhen
wir die Förderung der überbetrieblichen Lehrlings-
unterweisung weiter. Außerdem stärken wir Ausbil-
dungsverbünde, um die Anzahl passender Stellen
für Auszubildende und Betriebe zu erhöhen.
Wir verbessern die Berufsorientierung für junge
Menschen und informieren dort, wo junge Menschen
sind, insbesondere an Schulen. Dies erfordert die
aktive Einbeziehung von Ausbildungsbetrieben und
Hochschulen, Eltern sowie Vorbildern aus der beruf-
lichen Bildung. Mehr praxisnahe Angebote können
helfen, den Horizont für die Berufswahl zu weiten.
Eine berufliche Ausbildung oder ein Studium ebnet
gleichwertig einen starken Weg in die berufliche
Zukunft. Wir wollen nicht, dass finanzielle Gründe
oder die soziale Herkunft darüber entscheiden,
welcher der beiden Wege eingeschlagen wird.
Nach dem größten Update für das BAföG in dieser
Wahlperiode machen wir es jetzt zukunftsfest, für
Studium und berufliche Bildung: Das BAföG soll
existenzsichernd sein, auch bei steigenden Lebens-
haltungskosten. Wir erhöhen die Freibeträge bei
den elterlichen Einkommen und öffnen das BAföG
für mehr Menschen. Für Berufstätige, die beispiels-
weise einen Meister machen wollen, reformieren
wir das Aufstiegs-BAföG und ermöglichen den Be-
zug in Teilzeit, die Förderung gleichwertiger Fort-
bildungsabschlüsse sowie ein vollständig digitali-
siertes Antragsverfahren.
Für mehr bezahlbaren Wohnraum für Auszubil-
dende und Studierende möchten wir den Bau von
neuen Wohnheimen über das von uns in der lau-
fenden Wahlperiode aufgelegte Programm „Junges
Wohnen“ weiter fördern.
Wir werden die Angebote der Alphabetisierung und
Grundbildung ausbauen und dafür sorgen, dass die
allgemeine Weiterbildung als wichtige Säule des
lebensbegleitenden Lernens weiter gestärkt wird.
Für eine starke Hochschul- und
Wissenschaftslandschaft
Hochschulen sind Orte der Bildung, Wissenschaft
und Forschung. Sie sind Triebfedern unserer Gesell-
schaft, indem sie Ideen und Lösungen für die gro-
ßen und die ganz konkreten Probleme unserer Zeit
entwickeln. Sie sind Orte der freien und kritischen
Debatte und der produktiven Reibung, ohne die
kein wissenschaftlicher Fortschritt möglich ist. Gute
Ausstattung und Arbeitsbedingungen, Geschlechter-
gerechtigkeit und Vielfalt garantieren den gerech-
ten Zugang.
Mit einer „Innovationsinitiative Zukunfts-Campus“
wollen wir Hörsäle, Labore und Bibliotheken, die
oftmals baufällig oder veraltet sind, gemeinsam mit
den Ländern modernisieren und zu Experimentier-
räumen für den nachhaltigen, digitalen Wandel
machen. Die bestehenden Bund-Länder-Pakte für
37Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Hochschule, Wissenschaft und Forschung wollen wir
fortführen, weiterentwickeln und gezielt ergänzen.
Eine auskömmliche Grundfinanzierung stärkt die
Hochschulen als Orte von Bildung, guter Arbeit und
innovativer Forschung. Wenn sie richtig eingesetzt
werden und die tatsächlich anfallenden Kosten
abdecken, können Drittmittel zusätzliche Dynami-
ken entfachen. Damit sich Wissenschaftler*innen
auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können,
wollen wir in diesem Kontext Bürokratie abbauen
und vereinfachen.
Gute Arbeitsbedingungen sind entscheidend für
eine chancengerechte, zukunftsfeste Wissenschaft.
Wir wollen den Anteil befristet Beschäftigter deut-
lich senken, indem wir wissenschaftliche Quali-
fikation als Sachgrund enger und klarer fassen, die
Tarifsperre abschaffen und gemeinsam mit den
Ländern mehr Dauerstellen neben der Professur
garantieren. Wir wollen Frauen in der Wissenschaft
gezielt fördern und Machtmissbrauch und Diskrimi-
nierung entgegenwirken.
Auch in Zeiten zunehmender geopolitischer Span-
nungen wollen wir den internationalen Austausch
der Wissenschaft fördern und vereinfachen, etwa
durch schnellere Visavergaben, die Stärkung der
Mittlerorganisationen und bessere Beratung für
Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Wir
wollen mehr Menschen den akademischen und
beruflichen Austausch über Erasmus+ ermöglichen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Grund-
lage verantwortungsbewusster Politik und es ist
zugleich Aufgabe der Politik, die Freiheit der Wis-
senschaft zu verteidigen. Der Verächtlichmachung
ganzer Forschungsfelder wie etwa der Klima- oder
Geschlechterforschung stellen wir uns entschieden
entgegen, stärken die Wissenschaftskommunikation
und schützen Betroffene vor Anfeindungen.
C. MITTEN IM LEBEN –
IN JEDER LEBENSPHASE
Für starke Familien
Steigende Mieten und Energiekosten, veränderte
Anforderungen in der Arbeitswelt, die Angst, nicht
mehr mitzukommen – diese Sorgen treffen Fami-
lien in besonderem Maße. Und die vielerorts man-
gelnde Kinderbetreuung kommt als weitere Belas-
tung hinzu. Alle Familien sollen sich daher auf gute
und unterstützende Rahmenbedingungen verlassen
können, die zu ihrem Leben passen. Dafür braucht
es finanzielle Unterstützungen, die Familien fördern
und in schwierigen Lebensphasen Sicherheit geben.
Kindergeld und Kinderfreibetrag sind die Basis für
die Unterstützung von Familien. Mit der stärksten
Erhöhung des Kindergeldes in den vergangenen
30 Jahren und der Einführung des Kindersofort-
zuschlags konnten wir Millionen von Familien auf
dem Höhepunkt der Inflation gezielt entlasten. Per-
spektivisch koppeln wir die Erhöhung des Kinder-
geldes an die regelmäßige Erhöhung des Kinder-
freibetrages und sorgen dafür, dass alle Kinder das
gleiche Maß an finanzieller Unterstützung erhalten
– egal wie viel ihre Eltern verdienen.
Mit dem Start ins Familienleben stellen viele Paare
bereits die Weichen für die spätere Aufgabenteilung.
Teilen sich Eltern ihre Elternzeit gerecht auf, setzt sich
das häufig später auch in der familiären Aufgaben-
verteilung fort. Deshalb gestalten wir das Elterngeld
attraktiver und setzen Anreize für eine partnerschaftli-
chere Aufteilung. Den Mindest- und Höchstbetrag, der
seit der Einführung des Elterngeldes unverändert ist,
wollen wir auf 400 bzw. 2.400 Euro erhöhen.
Wir werden Vätern oder Co-Müttern die Möglichkeit
geben, sich die ersten zwei Wochen nach der Geburt
eines Kindes mit einer Lohnersatzleistung von der
Arbeit freizustellen. So können Eltern gemeinsam
ins Familienleben starten. Durch die Einführung ei-
nes gestaffelten Mutterschutzes wollen wir Frauen,
die eine Fehlgeburt erleiden, besser unterstützen,
wenn sie dies möchten.
Für selbstständige Frauen ist der Sprung in die
Familiengründung oft mit besonderem Wagnis
verbunden. Doch auch sie brauchen Sicherheit und
Schutz bei der Familiengründung. Wir setzen uns
dafür ein, dass auch für Selbstständige die Wochen
rund um die Geburt durch Mutterschaftsgeld finan-
ziell abgesichert werden. Hierzu sollen sich künftig
auch Selbstständige an der dafür vorgesehenen
Umlagefinanzierung beteiligen.
38BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Auch über 2025 hinaus sollen Eltern jeweils an 15
Tagen Kinderkrankengeld beziehen können, Allein-
erziehende an 30 Tagen.
Allein- und getrennt erziehende Familien leben in
vielfältigen Konstellationen. Viele Alleinerziehen-
de stemmen Kinderbetreuung, Job und Haushalt
und kommen finanziell kaum über die Runden. Wir
wollen die Steuerlast von Alleinerziehenden durch
einen Freibetrag senken und ihnen das Kindergeld
nur noch zur Hälfte auf den Unterhaltsvorschuss
anrechnen. Damit entlasten wir Alleinerziehende
und ihre Kinder gezielt. Insbesondere für junge Al-
leinerziehende mit kleinen Kindern wollen wir die
Arbeitsmarktchancen verbessern – mit Rechtsan-
sprüchen auf Beratung und Qualifizierungsmaßnah-
men. Wächst ein Kind in einer Trennungsfamilie bei
beiden Elternteilen auf, wollen wir den sogenann-
ten Umgangsmehrbedarf im Steuer- und Sozialrecht
berücksichtigen.
Für die Teilhabe der Jüngsten – gegen
Kinderarmut
Kinderarmut bedeutet Ausgrenzung, Diskriminie-
rung und schlechtere Bildungschancen. Jedes fünfte
Kind in Deutschland lebt in Armut oder ist armuts-
gefährdet. Wir sind fest davon überzeugt, dass es
keine Rolle spielen darf, in welchem Elternhaus ein
Kind aufwächst oder woher es kommt.
Mit der von uns angestoßenen breiten öffentlichen
Debatte über Kinderarmut in Deutschland haben
wir es geschafft, dass mehr Familien als bisher
ihnen zustehende Leistungen wie den Kinderzu-
schlag auch tatsächlich beantragen und erhalten.
Auch konnten sich Millionen von Familien über die
stärkste Erhöhung des Kindergeldes in den vergan-
genen 30 Jahren und die Einführung des Kinderso-
fortzuschlags freuen.
Da unsere Sozialleistungen aber weiterhin nicht
von allen Anspruchsberechtigten abgerufen werden,
müssen sie einfacher, digitaler, bürgerfreundlicher
und transparenter werden. Das gilt insbesondere für
den bisherigen Kinderzuschlag und die Leistungen
der Bildung und Teilhabe. Das Ziel der Kindergrund-
sicherung ist deshalb klar: Wir wollen Leistungen
bündeln, Antragsverfahren weiter verschlanken und
stetig automatisieren, damit Kinder und ihre Fami-
lien die ihnen zustehenden Leistungen auch tat-
sächlich erhalten. Eltern müssen von Anfang an, bei
Geburt ihres Kindes, über ihre Ansprüche informiert
werden. Unser Ziel ist die Hilfe aus einer Hand, da-
mit jede Familie nur noch eine zentrale Ansprech-
stelle für Leistungen für Familien von Bund, Land
und Kommune hat, die sowohl digital als auch vor
Ort erreichbar ist. Die Beantragung und Auszahlung
soll, soweit möglich und kosteneffizient, pauschal
und automatisiert erfolgen, um den Zugang zu er-
leichtern. Die Überwindung von unterschiedlichen
Rechtskreisen und Zuständigkeiten der verschiede-
nen staatlichen Ebenen muss dabei im Hintergrund
automatisiert stattfinden.
Diesen Ansatz wollen wir auch als Vorlage für die
weitere Modernisierung unseres Sozialstaates neh-
men. Die verschiedenen Sozialleistungen müssen
besser aufeinander abgestimmt werden und inei-
nandergreifen. Dafür wollen wir die notwendigen
rechtlichen und technischen Grundlagen schaffen.
Neben der Modernisierung der Verwaltung wollen
wir weiterhin insbesondere das soziokulturelle
Existenzminimum für Kinder neu berechnen und
Alleinerziehende bei der Anrechnung von Unterhalt
und Einkommen entlasten.
Für einen guten Start der jungen
Generation
Junge Menschen haben in der Pandemie verantwor-
tungsvoll und solidarisch mit älteren und vulne-
rablen Teilen unserer Gesellschaft zurückgesteckt
und auf Freiheiten verzichtet – und die großen
Herausforderungen der vergangenen Jahre beson-
ders gespürt. Deswegen legen wir ein besonderes
Augenmerk darauf, der jungen Generation Gehör zu
verschaffen, sie zu unterstützen und zu entlasten,
sie in ihren Rechten zu stärken und ihre Beteili-
gungsmöglichkeiten auszubauen.
In den vergangenen Jahren sind viele Angebote der
Kinder- und Jugendarbeit vor Ort weggebrochen.
Damit sind besonders im ländlichen Raum wichti-
ge Begegnungsorte verloren gegangen. Mit einem
Sonderprogramm wollen wir über zehn Jahre Kom-
munen dabei unterstützen, Strukturen für Kinder-
39Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
und Jugendarbeit aufzubauen und zu stärken. Die
Mittel des Kinder- und Jugendplans und der soge-
nannten Frühen Hilfen wollen wir aufstocken.
Migrantische Jugendverbände wollen wir gezielt
unterstützen und Mehrsprachigkeit als eine wert-
volle Kompetenz fördern und damit jungen Men-
schen unabhängig von Herkunft oder Aufenthalts-
status faire Chancen und Teilhabe bieten.
Die psychische Gesundheit junger Menschen hat
sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Das
nehmen wir ernst. Mit den Mental Health Coaches
und ihren Gruppenangeboten an weiterführenden
Schulen konnten wichtige Anlaufstellen geschaffen
werden, die wir ausbauen wollen. Bewährte Anlauf-
stellen wie die Nummer gegen Kummer und andere
Beratungsstellen brauchen eine bedarfsgerechte
finanzielle Ausstattung.
Wichtig ist, dass wir Verbesserungen für junge Men-
schen mit jungen Menschen zusammen gestalten
und sie stärker beteiligen. Damit junge Menschen
ihre Ideen und Rechte auch wirksam einbringen
und einfordern können, wollen wir Beteiligungs-
gremien wie Kinder- und Jugendparlamente, ins-
besondere auf kommunaler Ebene, stärken. Partei-
übergreifend wollen wir darauf hinarbeiten, die
Kinderrechte endlich ins Grundgesetz zu schreiben
und das Wahlalter auch auf Bundesebene auf 16
Jahre zu senken.
Mit der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe im SGB
VIII sorgen wir dafür, dass alle Kinder und Jugend-
lichen mit und ohne Behinderung eine zentrale An-
sprechstelle haben und ganzheitlich und individuell
gefördert werden. Junge Menschen, die die Jugend-
hilfe verlassen, wollen wir im Übergang ins Erwach-
senenleben besser unterstützen und Maßnahmen
der Ausbildungsbegleitung fördern.
Junge Menschen haben auch das Anrecht auf einen
besonderen Schutz. Besonders wichtig sind der
Schutz und ein entschiedenes Vorgehen gegen
sexualisierte Gewalt. Wir werden die vorhandenen
Strukturen zum Kinder- und Jugendschutz stärken
und denken Maßnahmen vom Kind aus – durch
einheitliche Kinderschutzstandards, gesetzlich ge-
regelte Mindeststandards für Gutachter*innen, eine
gesetzliche Grundlage für die Arbeit der Unabhängi-
gen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindes-
missbrauchs, Strafverfolgung durch die Polizei im
Netz und offline, bessere Meldestellen und gezielte
Löschungen von Missbrauchsdarstellungen sowie
Prävention in Schule, Jugendhilfe und Familie.
Für ein aktives und selbstbestimmtes
Leben im Alter
Ältere Menschen stehen mitten im Leben – heute
mehr denn je. Ältere sind wichtige Säulen in unse-
rer Gesellschaft. In unzähligen Vereinen, Nachbar-
schaftstreffs und Initiativen teilen sie ihre Zeit,
Erfahrung und Lebensklugheit und bringen sich
durch ihr Ehrenamt ein. Großeltern unterstützen in
der Kinderbetreuung und sorgen in vielen Familien
dafür, dass Kinder und Beruf gut miteinander ver-
einbart werden können. Das schätzen und unter-
stützen wir.
Engagementstrukturen für Ältere wollen wir aus-
bauen, damit sich auch diejenigen einbringen
können, die bislang schwerer Zugang finden. Und
wir erleichtern den selbstbestimmten Übergang
vom Arbeitsleben in den Rentenbezug durch flexib-
lere Übergänge und investieren in Präventions- und
Rehamaßnahmen. Das ist auch ein wichtiger Bei-
trag gegen Einsamkeit im Alter. In den vergangenen
Jahren ist es gelungen, das Thema Einsamkeit aus
der Tabuecke zu holen. Mit der nationalen Strategie
gegen Einsamkeit binden wir auch Länder, Kommu-
nen und Verbände ein.
Mehrgenerationenhäuser sind wichtige Treffpunkte
für Jung und Alt und sorgen für Zusammenhalt und
Gemeinschaft, die wir unterstützen wollen. Doch
auch das Mehrgenerationenwohnen, das gemein-
schaftliches Wohnen mehrerer Generationen zum
Ziel hat, wollen wir fördern.
Damit auch ältere Menschen die vielfältigen Mög-
lichkeiten der digitalen Welt nutzen können, arbei-
ten wir an Strukturen, die digitale Kenntnisse ver-
mitteln oder erneuern können. Mit Maßnahmen wie
dem DigitalPakt Alter sorgen wir dafür, dass Ältere
lange selbstbestimmt und aktiv am gesellschaftli-
chen Leben teilnehmen können.
40BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
D. IN JEDER LEBENSPHASE
ABGESICHERT
Für eine gute
Gesundheitsversorgung überall
Viele Menschen sind heutzutage bis ins hohe Alter
aktiv. Zugleich sind ältere Menschen aber auch häu-
fig auf Behandlungen und Pflege angewiesen. Das
stellt uns vor eine doppelte Herausforderung: Denn
wir brauchen Fachkräfte für eine angemessene Ver-
sorgung und würdevolle Pflege. Und wir müssen die
gestiegenen Kosten schultern, ohne dass die Versi-
cherten zu große Lasten tragen müssen.
Dabei wollen wir, dass die Patient*innen zur richti-
gen Zeit am richtigen Ort eine optimale Versorgung
erhalten, statt lange und aufwendig nach Behand-
lungsterminen zu suchen und darauf zu warten.
Deshalb wollen wir die Primärversorgung insbeson-
dere durch Hausärzt*innen stärken, um eine bessere
Behandlungsqualität zu erreichen.
Unterversorgte Gebiete wollen wir stärker unter-
stützen. Die Verteilung von niedergelassenen
Ärzt*innen muss enger mit der Krankenhauspla-
nung der Länder verknüpft werden. Die bestehende
Trennung der Finanzierungssysteme von ambulan-
ter und stationärer Versorgung wollen wir über-
winden, um bessere Kooperation und Koordination
zu fördern. Durch regionale Verbünde (Gesundheits-
regionen) sowie gemeinsame Versorgungszentren,
in denen verschiedene Therapie- und Pflegeberufe
unter einem Dach zusammenarbeiten, sorgen wir
für eine gute Versorgung vor Ort. Und wir wollen
Maßnahmen ergreifen, um Fehl- und Überversor-
gung abzubauen.
Vertragsärzt*innen wollen wir von unnötiger Büro-
kratie entlasten und den Sprechstundenanteil für
gesetzlich Versicherte erhöhen, damit Patient*innen
schneller Termine erhalten.
Die Krankenhausreform werden wir nachbessern,
zusammen mit den Ländern umsetzen und nicht
nur die gesetzlichen, sondern auch die privaten Ver-
sicherungen an den Kosten beteiligen. Wir werden
gemeinsam eine gute Krankenhausreform um-
setzen. Oberste Priorität hat für uns dabei, dass für
alle Menschen in unserem Land Krankenhäuser und
bestmögliche Grundversorgung schnell erreichbar
sind. Die Notfallversorgung, den Rettungsdienst und
die Finanzierung der Apotheken wollen wir im Hin-
blick auf eine gute, flächendeckende und effiziente
Versorgung reformieren. Für die Gesundheitsberufe
wollen wir mehr Kompetenzen und so eine bessere
Arbeitsteilung und eine Zusammenarbeit auf Au-
genhöhe erreichen. Auch in der Geburtshilfe wollen
wir attraktive Arbeitsbedingungen für Hebammen,
besonders im Krankenhaus.
In den ländlichen Regionen – gerade in Ostdeutsch-
land – ist das Durchschnittsalter in den vergange-
nen Jahren kontinuierlich gestiegen. Darauf müs-
sen wir reagieren. Daher schaffen wir zusätzliche
Programme für Gemeindegesundheitspfleger*innen,
früher die Gemeindeschwester, und „Medizin auf Rä-
dern“. Auch bei der Digitalisierung im Gesundheits-
wesen wollen wir weiter vorankommen. Unnötige
Bürokratie, die heutzutage digital und effizienter
laufen könnte, muss abgebaut und der Nutzen für
Patient*innen erhöht werden, auch durch den Ein-
satz Künstlicher Intelligenz. Die Nutzung von Daten
für Forschung und Versorgung haben wir verbessert
und werden auf diesem Wege weitergehen.
Für eine verlässliche und würdige Pflege
Alle pflegebedürftigen Menschen sollen die Pflege
erhalten, die sie benötigen, egal ob durch Fach-
kräfte oder nahestehende Mitmenschen, ob zu
Hause oder in einer Einrichtung. Wir wollen, dass
Menschen sich darauf verlassen können, würdevoll
behandelt zu werden, wenn sie der Pflege bedürfen.
Wir wollen Angebote im Quartier, also vor Ort, för-
dern und so auch Pflegebedürftigkeit hinauszögern.
Für uns ist es wichtig, dass die Pflege wieder bezahl-
bar wird. Es ist eines Sozialstaates unwürdig, wenn
Menschen am Ende eines langen Arbeitslebens
aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit auf Sozialhilfe an-
gewiesen sind. Wir haben die Leistungen der Pflege-
versicherung erhöht und sorgen weiter für dringend
benötigte Entlastung der Pflegebedürftigen.
Wir wollen die Situation der Menschen verbessern,
die selbst Angehörige oder nahestehende Personen
41Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
pflegen. Eine Aufgabe, die erfüllend sein kann, aber
auch Kraft und Zeit kostet und ohne die die Versor-
gung der pflegebedürftigen Menschen in Deutsch-
land nicht möglich wäre. Wer die eigene Arbeitszeit
für die Pflege reduziert, braucht finanzielle Unter-
stützung in Form eines zeitlich begrenzten Aus-
gleichs der entgangenen Einkünfte. Die Leistung
soll so ausgestaltet sein, dass mehrere Personen
sich die Pflege teilen können. Berufliche Freistel-
lungen sollen besser und flexibler möglich sein.
Den Zugang zur Tagespflege wollen wir verbessern
und Angebote ausbauen. Pflegebedürftige sollen
Pflege, therapeutische Leistungen oder Unterstüt-
zung bei der Haushaltsführung flexibler als bisher
in Anspruch nehmen und miteinander kombinieren
können, zum Beispiel in Form eines Pflegebudgets.
Pflegekräfte brauchen Arbeitsbedingungen, die ih-
nen die Zuwendung zu ihren Patient*innen möglich
machen. Fachkräfte, die aufgrund von Überlastung
den Job verlassen haben, wollen wir mit einer Rück-
kehroffensive zurückgewinnen. Hunderttausende
wären dazu bereit, wenn sich die Arbeitsbedingun-
gen verbessern – dazu zählt auch eine bessere Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf. Dieses Potenzial
wollen wir durch Beratung, die weitere Umsetzung
höherer Personalschlüssel, mehr Kompetenzen für
den Pflegeberuf und bessere Aufstiegschancen
nutzen. Wir wollen die Ausbildungsbedingungen
verbessern und für die Pflegeassistenz vereinheit-
lichen. Und wir wollen Dokumentationspflichten
und Bürokratie in der Pflege auf ein Mindestmaß
reduzieren, damit Pflegekräfte wieder dafür Zeit
haben, wofür sie ihren Beruf gewählt haben: den
Menschen.
Für eine solidarische Kranken- und
Pflegeversicherung
Unser Gesundheits- und Pflegesystem ist dafür da,
kranke Menschen zu heilen und Pflegebedürftige
gut zu pflegen. In den vergangenen Jahren wur-
den den Versicherungen jedoch viele Kosten zu-
geschoben, die aus Steuermitteln hätten finanziert
werden sollen. Diesen Trend wollen wir umkehren
und damit die Versicherten und die Arbeitgeber von
versicherungsfremden Leistungen entlasten. Dazu
gehört, dass wir die Finanzierung der Rentenbeiträ-
ge von pflegenden Angehörigen oder die Beiträge
für Empfänger*innen von Bürgergeld angemessener
über den Staat finanzieren. Damit bleibt auch mehr
Geld im System, um in gute Gesundheit und Pflege
zu investieren.
In Zeiten steigender Pflegekosten und Versiche-
rungsbeiträge müssen wir auch dafür sorgen, dass
öffentliches und beitragsfinanziertes Geld in der
Versorgung bleibt und für die Menschen arbeitet.
Wir wollen den Einfluss von Finanzinvestoren auf
unsere Gesundheits- und Pflegeversorgung begren-
zen. Deshalb wollen wir öffentliche und gemein-
nützige Träger stärken und für eine bezahlbare und
gerechtere Kranken- und Pflegeversorgung sorgen.
Wir setzen uns für eine Finanzierung von Gesund-
heit und Pflege unserer Gesellschaft ein, die ver-
lässlicher und gerechter ist als der Status quo.
Basis hierfür ist eine faire Beteiligung aller Ver-
sicherten an der Finanzierung. Auf dem Weg hin zu
einer Bürgerversicherung werden wir neben den
gesetzlich Krankenversicherten auch die Privat-
versicherten in den solidarischen Finanzausgleich
des Gesundheitssystems einbeziehen. Auch in der
Pflege wollen wir auf dem Weg hin zu einer Pflege-
bürgerversicherung mit einem Ausgleich zwischen
gesetzlicher und privater Pflegeversicherung dafür
sorgen, dass sich alle gerecht an der Finanzierung
des Pflegerisikos beteiligen. So tragen Versicherte
mit finanziell starken Schultern stärker zur Finan-
zierung von Pflege und Gesundheit bei als sol-
che, die nur über geringe Einkünfte verfügen. Die
Beitragsbemessung werden wir reformieren und
beispielsweise auch Kapitaleinnahmen zur Finan-
zierung unseres Gesundheits- und Pflegesystems
heranziehen. Damit schützen wir auch Löhne und
Gehälter vor höheren Beitragsabgaben. Um freiwil-
lig versicherte, geringverdienende oder in Teilzeit
beschäftigte Soloselbstständige besser abzusichern,
werden wir die Mindestbemessungsgrenze in der
gesetzlichen Krankenversicherung reformieren.
Für die Beamt*innen werden wir die Wahlfreiheit
stärken.
42BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Für eine vorausschauende
Gesundheitspolitik
Für eine gesunde Gesellschaft braucht es eine vor-
sorgende Politik, die die Ursachen von Krankheiten
in den Blick nimmt und angeht. Prävention und
Gesundheitsförderung wollen wir grundsätzlich als
Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen ver-
folgen. Wir wollen den öffentlichen Gesundheits-
dienst stärken und dabei vor allem Menschen in
sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen in
den Blick nehmen.
Seelische Gesundheit ist ein Fundament für Lebens-
qualität und körperliche Gesundheit. Es ist nicht
zumutbar, dass viele Menschen in einer psychischen
Krise monatelang auf therapeutische Hilfe warten
müssen. Wir schlagen daher einen Bund-Länder-
Pakt für mentale Gesundheit vor. Alle Menschen,
insbesondere Kinder und Jugendliche, sollen im Be-
darfsfall niedrigschwellige Zugänge zu passgenau-
en psychosozialen und therapeutischen Angeboten
haben. Therapieplätze, Beratungsstrukturen und die
Ausbildung von Fachpersonal werden wir ausbauen.
Mit Blick auf die steigende Anzahl von Betroffenen
von ME/CFS und Long Covid müssen Projekte zur
Ursachen- und Versorgungsforschung ausreichend
finanziert und vorangetrieben werden. Betroffene
wurden oft viel zu lang stigmatisiert – wir wollen
eine bestmögliche Versorgung nach dem Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnisse sicherstellen.
Wir wollen unser Gesundheitswesen auf Epidemien,
große Katastrophen und militärische Bedrohungen
besser vorbereiten. Das betrifft zum Beispiel den
Vorrat an Arzneimitteln und Medizinprodukten
sowie regelmäßige Katastrophenschutzübungen.
Auch den öffentlichen Gesundheitsdienst wollen
wir weiter stärken.
Mit dem Cannabisgesetz haben wir den Schutz von
Gesundheit, Jugend und Verbraucher*innen in den
Mittelpunkt gestellt und setzen auf Vernunft statt
Kriminalisierung. Diesen Wechsel in der Drogen-
politik, der die Befähigung zum eigenverantwortli-
chen Umgang mit Risiken in den Mittelpunkt stellt,
wollen wir fortführen. An dem Ziel des Verkaufs von
Cannabis in lizenzierten Fachgeschäften halten wir
weiter fest und setzen uns auf europäischer und
internationaler Ebene dafür ein, auch um damit
den Schwarzmarkt und die Organisierte Kriminali-
tät weiter einzudämmen. Mit Blick auf die enormen
Mengen an Kokain, Crack und synthetischen Opioi-
den, die in vielen deutschen Großstädten ankom-
men, werden wir die Ressourcen der Polizei und
des Zolls auch im Hinblick auf die Bekämpfung der
dahinterstehenden Strukturen der Organisierten
Kriminalität stärken. Gleichzeitig wollen wir die
Angebote für Prävention, Therapie und Schadens-
minderung ausbauen, damit Menschen gar nicht
erst abhängig werden oder ihnen besser geholfen
werden kann, wenn sie suchtkrank sind.
Für eine zukunftsfeste und
würdige Rente
Die Sicherheit ihrer Altersvorsorge ist für viele
Menschen gerade in Krisenzeiten ein entscheiden-
der Stabilitätsanker. Die Menschen in diesem Land
sollen sich auf stabile Renten verlassen können. Das
gilt heute und morgen, für aktuelle und zukünftige
Generationen, also auch und erst recht für diejeni-
gen, die jetzt in ihre Rentenkasse einzahlen. Gleich-
zeitig werden wir die Kosten des demografischen
Wandels gerecht über die Generationen verteilen.
Langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung
Versicherte dürfen im Alter eine auskömmliche
Rente erwarten, daher werden wir das gesetzliche
Rentenniveau bei mindestens 48 Prozent halten.
Das beste Mittel für eine verlässliche Altersvorsorge
und einen möglichst geringen Rentenbeitragssatz
sind gute Löhne und eine breite Basis derer, die in
die Rente einzahlen. Deshalb fördern wir sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigung und verbessern
insbesondere die Erwerbsmöglichkeiten für Frauen
durch gleiche Löhne, gute Kinderbetreuung, flexible
Arbeitszeitmodelle, das Rückkehrrecht in Vollzeit
und eine faire Verteilung von Sorgearbeit. Durch
qualifizierte Zuwanderung stärken wir unsere Wirt-
schaftskraft und steigern die Beitragszahlungen in
die Rente. Und wir schaffen Anreize, um ältere Be-
schäftigte gesünder und länger im Erwerbsleben zu
halten. Dafür investieren wir auch in Präventions-
und Rehamaßnahmen und ermöglichen flexible
Übergänge in die Altersrente. Um die Renten zu
stärken, werden wir auch den Mindestlohn anheben
43Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
und prekäre Beschäftigung, insbesondere Minijobs,
abbauen.
Um das Alterssicherungssystem gerechter und zu-
kunftsfest zu machen, wollen wir als ersten Schritt
auf dem Weg zu einer Bürgerversicherung, dass
auch Abgeordnete und perspektivisch Beamte, unter
Beibehaltung des Alimentationsprinzips, in die ge-
setzliche Rente einzahlen. Auch nicht anderweitig
abgesicherte Selbstständige wollen wir unter fairen
Bedingungen einbeziehen.
Wir halten an der Rente mit 67 fest. Aber wir schaf-
fen Anreize und machen es den Menschen leichter,
länger zu arbeiten, wenn sie dies wollen, auch über
die Regelaltersgrenze hinaus. Wir schaffen daher
einen flexibleren Übergang in Altersteilzeit und
Vorteile, damit sich die Weiterarbeit neben dem
Rentenbezug noch mehr lohnt. Dafür werden wir
den Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosen- und Ren-
tenversicherung an die Arbeitnehmer*innen auszah-
len, falls sie sich gegen freiwillige Beiträge in die
Rentenversicherung entscheiden.
Wir schaffen in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung den Einstieg in eine notwendige ergänzende
Kapitaldeckung – und zwar mittels Darlehen aus
dem Bundeshaushalt und der Übertragung von
Eigenmitteln vom Bund. Hierfür führen wir einen
öffentlich verwalteten Bürger*innenfonds ein, der
Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigt und sich am
1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens ausrich-
tet. Der Bürger*innenfonds soll auch in europäische
und deutsche Start-ups und Wachstumsunterneh-
men investieren. Mit den daraus resultierenden
Erträgen werden wir geringe und mittlere Renten
stärken, was insbesondere Frauen und Menschen in
Ostdeutschland unterstützt.
Darüber hinaus wollen wir, dass mehr Menschen als
bisher von einer privaten Altersvorsorge profitieren.
Auch hierfür greifen wir auf den Bürger*innenfonds
zurück, der kostengünstig die Vorteile des Kapital-
marktes erschließt. Dafür werden wir die Freibe-
träge für Kleinsparer*innen erhöhen, sie dynamisch
an die Inflation anpassen und die öffentliche
Zulagenförderung auf niedrige und mittlere Ein-
kommen fokussieren. Wer nicht teilnehmen möchte,
kann widersprechen. Den Bürger*innenfonds öffnen
wir als fairen und transparenten Weg auch für die
betriebliche Altersversorgung, damit noch mehr Be-
schäftigte, insbesondere von kleinen und mittleren
Unternehmen, von Betriebsrenten profitieren.
Auch Menschen mit geringem Einkommen unter-
stützen wir dabei, auskömmliche Rentenansprüche
zu erwerben und so Altersarmut zu vermeiden.
Die Grundrente werden wir zu einer Garantierente
nach 30 Versicherungsjahren weiterentwickeln, die
deutlich mehr Menschen als bisher einbezieht und
finanziell besserstellt. Zur Finanzierung dieses Ins-
truments können auch Erträge des Bürger*innen-
fonds beitragen.
Menschen, die lange in die Rentenkasse eingezahlt
haben, aber aus gesundheitlichen Gründen nicht
länger arbeiten können, verdienen unsere solidari-
sche Unterstützung. Deshalb wollen wir die Er-
werbsminderungsrente verbessern. Für besonders
langjährig Versicherte wollen wir die sogenannte
Rente mit 63 beibehalten, welche insbesondere
denjenigen zugutekommt, die nach jahrzehntelan-
ger, anspruchsvoller und körperlicher Arbeit ihre
Belastungsgrenze erreicht haben.
Für verlässliche soziale Sicherung
In schwierigen Zeiten braucht es einen verläss-
lichen Sozialstaat, der Menschen unter die Arme
greift, wenn sie in Not geraten. Denn jeder Mensch
hat das Recht auf soziale Teilhabe, auf ein würde-
volles Leben. Deswegen haben wir Hartz IV über-
wunden und es durch das Bürgergeld ersetzt. Es
schützt vor Armut und ermöglicht die Teilhabe an
unserer Gesellschaft. Statt arbeitslose und arbeiten-
de Menschen gegeneinander auszuspielen, unter-
stützen wir und sorgen gleichzeitig für gute und
auskömmliche Arbeit. Das heißt: Diejenigen, die
arbeiten, sollen mehr haben. Zu einer verlässlichen
sozialen Sicherung gehört für uns daher auch, den
Mindestlohn zu erhöhen und prekäre Beschäftigung
abzubauen. So stärken wir Menschen in Zeiten des
Wandels, geben Sicherheit und eröffnen Perspekti-
ven für ein selbstbestimmtes Leben.
Wir stehen dafür ein, dass Menschen existenz- und
teilhabesichernde Leistungen so lange erhalten, bis
sie in Arbeit sind. Unser Ziel ist es, so viele Men-
44BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
schen wie möglich in zumutbare Arbeit oder Selbst-
ständigkeit zu führen. Auf dem Weg dahin unter-
stützen wir sie durch Qualifizierung, Ausbildung,
Weiterbildung und vor allen Dingen durch schnelle
und nachhaltige Vermittlung. Wir fordern dabei ihre
aktive Mitwirkung ein. Wir wollen den Arbeitsagen-
turen und Jobcentern die Instrumente an die Hand
geben, diesen Auftrag zu erfüllen.
Wir verbessern die Anreize zur Aufnahme von Arbeit
und schaffen Arbeitsgelegenheiten, um Menschen
wieder zurück an den Arbeitsmarkt heranzuführen.
Wenn Menschen trotz Arbeit auf zusätzliche Unter-
stützung angewiesen sind, soll es sich für sie noch
mehr als bisher lohnen, ihren Stundenumfang zu
erhöhen.
Zu den staatlichen Sozialversicherungssystemen
sollen alle Zugang haben – unabhängig davon, ob
sie selbstständig oder abhängig beschäftigt arbei-
ten. Für Selbstständige vereinfachen wir daher den
Zugang zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung.
45Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
KAPITEL 3
FRIEDEN IN
FREIHEIT SICHERNINNEN UND AUSSEN
Unsere Demokratie ist das Fundament unseres
Landes. Sie stellt das in den Mittelpunkt, was uns
zusammenhält: die Freiheit und die Würde der
Menschen. Unsere Demokratie ist Gemeinsamkeit
in Vielfalt und sie ist wehrhaft. Sie lebt von einer
gemeinsamen demokratischen Kultur ebenso wie
von starken Institutionen. Und sie lebt von einem
starken Europa.
Demokratie geht von den Bürger*innen aus – und
hat deshalb die Kraft des Zusammenhalts. Liberale
Demokratie heißt freier Wettbewerb um die beste
Idee und Lösung - und hat deshalb die Kraft zur
Erneuerung, die Kraft, die drängenden Probleme
zu lösen. Sie lebt von gegenseitiger Zuwendung,
vom Streit in Respekt, von der Kompromiss – und
Koalitionsbereitschaft unter Demokrat*innen. Im
Angesicht der Bedrohungen für unsere Demokratie
kommt es darauf an: Wir müssen uns als Land auf
unsere demokratische Kraft neu besinnen. Unsere
Demokratie stärken heißt, sie nach innen lebendig
zu halten. Demokratie stärken heißt, jetzt die drän-
genden Zukunftsfragen anzugehen.
Unser Land weiß um seine Kraft als Einwande-
rungsland, das Menschen willkommen heißt und
Schutz bietet – im Inneren vereint und mit der Welt
verbunden, streitbar unter Demokrat*innen, aber
mit klarer Kante gegen Diskriminierung. Unsere
Demokratie entfaltet ihre Stärke dann, wenn alle
Menschen gleichberechtigt teilhaben und mitbe-
stimmen können.
Eine starke Demokratie verbindet Freiheit und
Sicherheit. Sie steht auf dem Fundament eines ver-
lässlichen Rechtsstaats, einer unabhängigen Justiz.
Sie schützt unsere Rechte und unsere Freiheiten.
Sie wird geschützt durch Demokratinnen und
Demokraten – und zugleich durch handlungsfähige
Sicherheitsbehörden, engagierte Polizist*innen und
einen starken Bevölkerungsschutz.
Zu lange haben wir in Deutschland geglaubt, unse-
re Sicherheit in Europa sei selbstverständlich. Aber
unsere Sicherheit wird von außen und innen ange-
griffen, und beide Dimensionen greifen zunehmend
ineinander über. Sicherheit im 21. Jahrhundert
bedeutet, dass unsere Bundeswehr gut ausgerüs-
tet ist, und ebenso, dass wir unsere Bahnstrecken,
Häfen und Stromleitungen schützen, Lieferengpäs-
se vermeiden, Cyberangriffe verhindern und unsere
Demokratie wehrhaft machen. Sicherheit bedeutet:
uns unabhängiger machen von autoritären Regimen
wie Russland oder China.
Dafür sind wir angewiesen auf ein starkes ge-
meinsames Europa. Die Europäische Union ist
das erfolgreichste Friedensprojekt seit Ende des
Zweiten Weltkriegs. Wo uns einst Frontlinien und
Stacheldraht trennten, später dann Mauern und
Grenzposten, verbindet uns heute das Bekenntnis
zu Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie. Deshalb
wollen wir die EU stärken, erweitern und reformie-
ren. Als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land
tragen wir dafür besondere Verantwortung.
Wir arbeiten an starken globalen Partnerschaften
– für eine Welt in Frieden und Freiheit, in der sich
Kooperation gegen Konkurrenz und Krieg behaup-
tet und die Stärke des Rechts über das Recht des
Stärkeren triumphiert. Der russische Angriffskrieg
gegen die Ukraine, der Konflikt in Nahost, humani-
täre Notlagen wie in Gaza oder im Sudan, aber auch
die Klimakrise erfordern höchste Aufmerksamkeit.
46BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Auch das Weltmachtstreben Chinas ist eine Heraus-
forderung für die internationale Zusammenarbeit.
Mit der ganzen Kraft der Diplomatie stellen wir
Kooperation und eine regelbasierte internationale
Ordnung dem gefährlichen Modell der Autokra-
ten entgegen. Wir setzen auf einen zukunftsfesten
Multilateralismus und Partnerschaften zunehmend
auch im Globalen Süden.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist auch
ein Angriff auf die europäische Friedensordnung
– und damit auf unser Fundament aus Frieden,
Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Diese
Werte müssen wir in einem starken Europa und
in einer starken NATO schützen und verteidigen
können. Sicherheit denken wir von jedem einzel-
nen Menschen aus, dessen Würde und Freiheit im
Zentrum unserer Politik steht. Deshalb ist Frieden
mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden schafft
Raum für Freiheit und Wohlstand, Teilhabe und
Selbstbestimmung.
A. EINE LEBENDIGE
DEMOKRATIE
Für demokratischen Zusammenhalt
Zusammenhalt entsteht dort, wo Menschen zu-
sammenkommen, bei der Arbeit oder in der Schule,
beim Sport oder Musik machen oder beim Einsatz
für gute Zwecke oder dem gemeinsamen Feiern. Im
Dorfgemeinschaftshaus, auf dem Fußballplatz oder
in Kirchen, Moscheen oder Synagogen kann Demo-
kratie lebendig werden. Dazu gehören auch kultu-
relle Einrichtungen wie Theater, Kinos, Bibliotheken
oder Clubs, die Raum für neue Begegnungen und
gemeinsame Erfahrungen oder Projekte geben.
Damit wir gut zusammen leben, müssen Straßen,
Parks und Bahnhöfe nicht nur funktional und sauber,
sondern für alle Menschen sicher sein. Wir schaffen
öffentliche Räume, an denen Menschen gern zusam-
menkommen, weil sie Zugang haben und sich wohl-
fühlen. Auch Kulturorte, Geschäfte und Gastronomie
sind Teil davon: Wir wollen diese Orte im Gewerbe-
mietrecht vor Verdrängung schützen.
Vielfältige Medien sind zentrale Räume für den
gesellschaftlichen Austausch und für unsere Demo-
kratie. Hier entsteht ein gemeinsamer Informations-
stand – lokal und mit der ganzen Welt. Hier wird Kri-
tik geäußert und nach Lösungen gesucht. Deshalb
müssen wir ihre Zukunft unter den neuen Bedin-
gungen von Digitalisierung sichern. Wir setzen uns
ein für eine lebendige regionale Medienlandschaft
– und fördern gezielt den Lokaljournalismus. Eine
kluge und mit den Ländern abgestimmte Förderung
zielt auf die Unterstützung der Arbeit von Journa-
list*innen, stärkt die Medienvielfalt und schützt
funktionierende Märkte – auch durch gemeinnützige
Ansätze. Gleichzeitig machen wir den Journalismus-
beruf attraktiver und sicherer, um gut ausgebildete
Nachwuchskräfte für die Zukunft zu gewinnen.
Wir würdigen den Beitrag der Kirchen sowie der Re-
ligions- und Weltanschauungsgemeinschaften zum
demokratischen und sozialen Zusammenhalt.
Für eine Erinnerung, die uns wach hält
Wir müssen unsere Erinnerung wach halten – auch
damit sie uns und unsere Demokratie wach hält. Wir
tragen Verantwortung für unsere Geschichte – auch
weil aus ihr die Chance auf eine gute Zukunft er-
wächst. Deshalb zählt ein guter Geschichtsunterricht
an den Schulen zum Fundament unserer Demokra-
tie. Deshalb pflegen wir unsere Erinnerungsorte – in
denen wir etwas über das Menschheitsverbrechen
der Shoah erfahren, aber auch über demokratische
Aufbrüche und bürgerschaftlichen Mut.
Die Massenverbrechen des Nationalsozialismus
sind uns Mahnung: Nie wieder! Deswegen ist es
wichtig, die KZ-Gedenkstätten mit ausreichend
Mitteln auszustatten. Besonders nach dem Ver-
schwinden der Zeitzeug*innen sind sie wichtige
Orte der Vermittlung eines kritischen Geschichts-
bewusstseins an kommende Generationen. Deswe-
gen wollen wir es allen Schüler*innen ermöglichen,
einmal in ihrer Schulzeit eine NS-Gedenkstätte zu
besuchen und das auch finanziell unterstützen.
Wir intensivieren die Beschäftigung mit dem Antizi-
ganismus und dem aus ihm resultierenden histori-
schen Unrecht, das die Betroffenen erfahren haben.
Dabei nehmen wir explizit auch das fortgesetzte
47Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Unrecht nach 1945 in den Blick. Die Verbrechen der
deutschen Geschichte gegenüber Menschen mit
Behinderung werden wir weiter aufarbeiten und die
Opfer angemessen entschädigen.
Wir wollen auch neue Formen des Erinnerns entwi-
ckeln und unterstützen. Wir stehen zur Realisierung
des geplanten Dokumentationszentrums „Zweiter
Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft“ und
des Projekts „Deutsch-Polnisches Haus“. Die Aus-
einandersetzung mit dem DDR-Unrecht werden
wir konsequent fortführen und die Errichtung des
Mahnmals für die Opfer kommunistischer Gewalt-
herrschaft vorantreiben. Die Opfer der SED-Diktatur
leiden bis heute an den oft schwerwiegenden Fol-
gen, sie müssen besser unterstützt werden. Opfer
des DDR-Doping-Systems wollen wir in den Kreis
der Anspruchsberechtigten aufnehmen.
Gleichzeitig erinnern wir uns an das einzigarti-
ge Glück Deutschlands, die friedliche Revolution
geschafft zu haben, weshalb wir heute in einem
vereinten Deutschland im Herzen Europas leben
können. Das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit
und Europäische Transformation in Halle wollen wir
als einen Ort der Würdigung, des Austausches der
Erfahrungen und der Forschung unterstützen.
In der Bundesregierung haben wir die Aufarbeitung
der deutschen Kolonialvergangenheit im Dialog mit
den betroffenen Ländern vorangetrieben und wollen
dies durch ein Lern- und Erinnerungszentrum und
mithilfe lokaler Initiativen in die Gesellschaft tragen.
Wir wollen die deutsche Erinnerungskultur weiter
für die Realität der Einwanderungsgesellschaft
öffnen und die Erinnerung an die Opfer von rechter
Gewalt dauerhaft darin aufnehmen.
Für handlungsfähige Kommunen
Staatliche Leistungen müssen funktionieren – von
Krankentransporten bis zu Kindergärten. In den
Kommunen zeigt sich unmittelbar, ob der Staat
seinen Aufgaben hinreichend nachkommt und
Bürger*innen verlässliche öffentliche Infrastruktur
und soziale Dienstleistungen ermöglicht. Wenn
diese Aufgabe gelingt, stärkt dies das Vertrauen
der Menschen in die Demokratie. Die Kraft unseres
Landes liegt in erster Linie in den Kommunen, bei
den Menschen vor Ort.
Aktuell ist jede zweite Kommune nicht mehr in der
Lage, notwendige Vorhaben zu finanzieren. Allein
zum Erhalt und zur Sanierung der kommunalen
Infrastruktur, dazu zählen zum Beispiel Straßen,
Schwimmbäder, Jugendclubs, Sportplätze und
Kultureinrichtungen, fehlen bundesweit 186 Milliar-
den Euro. Durch den Deutschlandfonds geben wir
Kommunen endlich die Möglichkeit, diese dringend
notwendigen Investitionen zu finanzieren.
Viele finanzschwache Kommunen stecken in einem
Teufelskreis. Um ihnen wieder eine Perspektive zu
geben, setzen wir uns für eine faire Unterstützung
bei kommunalen Altschulden ein. An die Kommunen
übertragene Aufgaben wie die Bereitstellung von
Rettungsdiensten, die Unterbringung von Geflüchte-
ten oder Jugendsozialarbeit müssen vollständig von
Bund und Ländern übernommen werden.
Über die Bedürfnisse vor Ort sollen die Kommunen
entscheiden – nicht allein die Vorgaben aus den
Hauptstädten. Wir haben die Möglichkeiten der
Kommunen, von Energieprojekten zu profitieren,
gestärkt und werden sie weiter ausbauen. Förder-
programme für die Kommunen werden wir daher
weiter vereinfachen und nach klaren Regeln gestal-
ten. Indem wir die Gelder den Kommunen künftig
direkt zur Verfügung stellen und die ungebundenen
kommunalen Mittel stärken, richten sich die Pro-
gramme stärker nach den tatsächlichen Bedürfnis-
sen vor Ort. Für mehr Transparenz im Umgang mit
Fördergeldern bauen wir die Förderdatenbank aus.
Für eine starke demokratische
Gesellschaft
Das Fundament unserer Demokratie sind starke
Institutionen und eine lebendige Zivilgesellschaft.
Die gemeinsame Trägerschaft unserer Demokratie
lebt von Bürger*innen, die sich informieren und
einbringen. Diese Möglichkeit braucht Zeit und
Ressourcen – und ist deshalb auch eine Frage der
Gerechtigkeit. Durch eine verlässliche Förderung
der demokratischen Zivilgesellschaft stärken wir
unsere demokratische Kultur. Der Schutz der Demo-
kratie ist eine zentrale Aufgabe des Staates, deswe-
48BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
gen wollen wir Programme wie „Demokratie leben!“
mit einem Demokratiefördergesetz absichern.
Menschen, die sich zivilgesellschaftlich oder kom-
munalpolitisch engagieren, werden immer wieder
Ziel von Angriffen und Anfeindungen. Wir alle, Staat
und Gesellschaft, müssen diese Menschen besser
schützen. Üble Nachreden, Verleumdungen und Be-
drohungen müssen sowohl im kommunalpolitischen
Alltag als auch im Internet stärker geahndet werden.
Politische Bildung ist für die demokratische De-
batte von entscheidender Bedeutung. Neben den
Landeszentralen spielt dabei die Bundeszentrale
für politische Bildung eine wichtige Rolle, die wir in
ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit stärken
wollen. Auch die politischen Stiftungen liefern
einen wichtigen Beitrag für die politische Bildungs-
arbeit in unserer pluralen Demokratie, soweit sie
auf dem gemeinsamen Boden unserer demokrati-
schen Grundordnung stehen.
Mit Bürgerräten besteht die Möglichkeit, den Rat
der Menschen als „Expert*innen des Alltags“ in
einem repräsentativen Verfahren einzuholen. Auch
das gilt es zu stärken.
Wer dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt in
Deutschland hat, muss die Möglichkeit haben, an
Wahlen, Abstimmungen und allen anderen demo-
kratischen Prozessen gleichberechtigt teilzuneh-
men. Deshalb wollen wir in einem ersten Schritt
das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehöri-
ge einführen.
Wir sind überzeugt: Transparente und nachvollzieh-
bare Politik stärkt das Gemeinwohl, dafür müssen
mögliche finanzielle Interessen offengelegt und
Karenzzeiten für ausscheidende Regierungsmit-
glieder erhöht werden. Wir stehen für ein starkes
Parlament. Parlamentsarbeit und Gesetzgebungs-
verfahren wollen wir transparenter gestalten und
Lobbytreffen der Regierung wie in der Europäischen
Kommission sichtbar machen. So sollen die Sit-
zungen der Fachausschüsse in der Regel öffentlich
stattfinden und gestreamt werden. Parteispenden
und -sponsoring wollen wir durch einen jährlichen
Höchstbetrag deckeln.
Die systematische Unterstützung von Organisatio-
nen an Parteien soll klarer geregelt werden, so dass
die wesentlichen Transparenzregeln für Parteien
auch für diese Organisationen gelten.
Solange es keine gesetzliche Regelung gibt, wen-
den wir die über das Parteiengesetz hinausgehen-
den Regelungen unseres Spendenkodex an.
Für die Unterstützung von freiwilligem
Engagement
In Deutschland engagieren sich knapp 30 Millionen
Menschen freiwillig. Sie engagieren sich im Sport-
verein, organisieren Kulturveranstaltungen oder
unterstützen die Nachbarschaftshilfe. Sie bringen
sich ehrenamtlich in die freiwillige Feuerwehr oder
das Rote Kreuz ein. Viele junge Menschen entschei-
den sich, ein Jahr ihres Lebens nach der Schule in
den Dienst der Gesellschaft zu stellen.
All dieses Engagement der Menschen in unserem
Land ermöglicht überhaupt erst unser Zusam-
menleben. Es hält uns zusammen und stärkt auch
unsere demokratische Gemeinsamkeit in Vielfalt.
Wir wollen deshalb Engagement unterstützen und
Leistung anerkennen. Wenn für Ehrenämter Auf-
wandsentschädigungen gezahlt werden, sollen sie
einheitlich pauschal steuerfrei sein. Zusammen mit
Ländern und Kommunen wollen wir eine bundes-
weite Engagementkarte einführen, um den Besuch
von Schwimmbädern und Kultureinrichtungen oder
die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs
(ÖPNV) zu vergünstigen. Wir werden die Zugänge
zum freiwilligen Engagement auch für Menschen
mit geringem Einkommen, Migrationsgeschichte
oder Behinderungen verbessern.
Wir wollen ein Recht auf einen Freiwilligendienst
verankern und Plätze im Bundesfreiwilligendienst
ausreichend und verlässlich finanzieren. Viele Men-
schen – ob jung oder alt – möchten sich im Freiwil-
ligendienst engagieren und wir müssen die Türen
dafür weiter aufmachen. Dafür wollen wir auch die
Bedingungen für Freiwillige verbessern.
Zivilgesellschaftliche Organisationen tragen das
gemeinnützige Engagement. Ihre Arbeit wollen
wir von überflüssiger Bürokratie entlasten. Zudem
49Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
erweitern wir den Katalog gemeinnütziger Zwe-
cke. Wir werden zudem gesetzlich klarstellen, dass
gemeinnützige Zwecke auch durch Teilnahme an
der politischen und öffentlichen Willensbildung
verfolgt werden können und sich Organisationen
gelegentlich auch außerhalb ihres gemeinnützigen
Zwecks politisch äußern dürfen.
Für Sport, der verbindet
Eine herausragende Säule für das gesellschaftliche
Zusammenleben ist der Sport. Bewegung und Sport
verbindet Menschen, schafft und vermittelt regio-
nale Identitäten und trägt zur Gesundheit bei. Sport
vermittelt Grundwerte der Demokratie, Toleranz und
fördert Integration.
Wir unterstützen eine deutsche Bewerbung für
Olympische und Paralympische Spiele, denn Sport-
großereignisse müssen auch in den demokratischen
Ländern Europas eine Zukunft haben. Wir wollen so
zeigen, dass Menschenrechte und Nachhaltigkeits-
ziele fester Bestandteil der Sportpolitik sein müs-
sen. Wir wollen mit einer Agentur wirksam gegen
Korruption in internationalen Sportverbänden vor-
gehen und mehr Transparenz schaffen.
Mit dem Ausbau des Bundesprogramms zur Sanie-
rung von Sportstätten und Schwimmbädern werden
wir den Breitensport stärken und gute Bedingungen
für die Schwimmausbildung oder das Training vor
Ort schaffen. Die Belange von Mädchen und Frau-
en sowie Inklusion fördern wir gezielt mit unserer
Sportpolitik. Mit einer nationalen Spitzensportstra-
tegie wollen wir die Förderung von Leistungssport-
ler*innen verbessern und die Mittelvergabe trans-
parenter gestalten. Wir wollen, dass der E-Sport
stärkere Beachtung findet und anerkannt wird.
Sport lebt von Fair Play – Maßnahmen gegen Do-
ping und Korruption im Sport müssen ausgebaut
und konsequent durchgesetzt werden.
Fans sind essenziell. Deswegen wollen wir die
Fanhilfen in ihrer Arbeit stärken. Gerade in dem
Engagement gegen Rechtsextremismus nehmen die
Fanprojekte eine wichtige Bedeutung ein.
Für gute Justiz und einen
handlungsfähigen Rechtsstaat
Vertrauen in unseren Rechtsstaat entsteht, wenn
die Justiz handlungsfähig ist, schnell entscheidet
und Recht effektiv durchgesetzt wird. Dafür braucht
es genügend Richter*innen und Staatsanwält*innen,
gut ausgestattete Gerichte sowie eine entschiedene
Digitalisierung der Justiz.
Mit einer Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat
wollen wir gemeinsam mit den Bundesländern
die Modernisierung unserer Justiz fortsetzen. Wir
wollen ein deutschlandweites Onlineverfahren für
Zivilprozesse, das medienbruchfrei von Klage bis
Urteil arbeitet. Mit der Gruppenklage wollen wir
ermöglichen, dass mehrere Kläger*innen gleich-
artige Ansprüche gemeinsam gegen eine Beklagte
bzw. einen Beklagten durchsetzen können und die
Zivilgerichte in Massenverfahren entlasten. Wir
wollen zusammen mit den Ländern mehr Schwer-
punktstaatsanwaltschaften schaffen, die sich auf
komplexe Rechtsfelder spezialisieren. Umweltkri-
minalität gewinnt zunehmend an Bedeutung und
ist ein wichtiges Betätigungsfeld der Organisierten
Kriminalität. Dagegen gehen wir mit einem Natio-
nalen Aktionsplan vor.
Wir wollen weiter daran arbeiten, dass die Belange
von Kindern als Geschädigte oder Zeug*innen vor
Gericht besser berücksichtigt werden.
Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut.
Um sie zu schützen, werden wir das ministerielle
Weisungsrecht an Staatsanwält*innen transparent
ausgestalten. Weisungen müssen frei von politi-
scher Einflussnahme sein. Eine gute Justiz muss
auch widerstandsfähig gegen Extremist*innen sein.
Daher werden wir rechtsstaatliche Regelungen er-
greifen, damit die Justiz vor Verfassungsfeind*innen
geschützt ist.
Menschen sollten nicht im Gefängnis landen, weil
sie geringe Geldstrafen nicht begleichen können.
Wir modernisieren das Strafrecht mit dem Ziel,
die Justiz zu entlasten. Hierfür wollen wir prüfen,
welche geringfügigen Delikte außerhalb des Straf-
rechts geregelt werden können.
50BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Wir machen Europa zu einem starken und ge-
meinsamen Raum des Rechts. Dafür stärken wir
die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) und
die Agentur der Europäischen Union für justiziel-
le Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) und
harmonisieren Recht auf Basis hoher verfassungs-
rechtlicher Grundsätze.
Für digitale Bürger*innenrechte
Freiheitsrechte und Bürger*innenrechte müssen
auch im Digitalen durchgesetzt werden. Durch die
rasanten Fortschritte von Künstlicher Intelligenz
(KI) entstehen große Chancen, aber auch Risiken.
Wir wollen KI im Rahmen unserer gemeinsamen
Werte einsetzen, um große Innovationspotenziale
zu heben und einen effektiven Schutz der Men-
schenrechte und Diskriminierungsfreiheit zu ge-
währleisten. Die Europäische Union (EU) hat mit
der KI-Verordnung einen wichtigen Grundstein der
Regulierung vorgenommen. Diese muss nun mög-
lichst unbürokratisch umgesetzt werden.
Meinungsfreiheit ist die Grundvoraussetzung einer
freiheitlichen Demokratie. Ihre Grenzen findet
sie, wenn Straftatbestände wie Beleidigung oder
Volksverhetzung erfüllt sind. Solche Hassrede muss
konsequent gelöscht und Accounts, die Hetze ver-
breiten, schneller gesperrt werden. Dafür sorgen wir
mit einem digitalen Gewaltschutzgesetz und stär-
ken die Rechte der Nutzer*innen. Die algorithmi-
sche Verstärkung von Hass und Hetze nehmen wir
ins Visier. Mit dem Digitale-Dienste-Gesetz (DSA)
und dem Digitale-Märkte-Gesetz (DMA) haben wir
wichtige Grundsteine für ein demokratisches Netz
gelegt. Wir treten für eine konsequente Umsetzung
und – wo nötig – für Verbesserungen in Europa und
Deutschland ein. Wir wollen, dass Straftaten auch
im Netz beharrlich und rechtsstaatlich von Polizei
und Staatsanwaltschaft verfolgt werden.
Wir stehen für einen effektiven und zugleich prakti-
kablen Datenschutz. Ausufernde Bürokratie werden
wir abbauen. Wir setzen auf bürgerrechtsschonende
Instrumente wie das sogenannte Quick-Freeze zur
Verfolgung von Straftaten. Anlasslose Vorratsdaten-
speicherung und Chatkontrolle lehnen wir ab.
Für eine vielfältige Gesellschaft ohne
Diskriminierung
Deutschland lebt von seiner Vielfalt und dem Mit-
einander verschiedener Menschen. Wir stehen dafür
ein, dass sich alle Menschen entfalten und gleich-
berechtigt Teil unserer Gesellschaft sein können.
Wir wollen Antisemitismus, Rassismus, Queer- und
Behindertenfeindlichkeit überwinden, denn sie
schwächen unseren Zusammenhalt.
Damit Menschen, die zum Beispiel auf dem Woh-
nungsmarkt oder bei der Arbeit Diskriminierung
erfahren, den Rechtsstaat auf ihrer Seite wissen,
werden wir das Allgemeine Gleichbehandlungsge-
setz reformieren, den Anwendungsbereich auswei-
ten und Schutzlücken schließen. Dazu gehört auch
der Schutz vor Diskriminierung durch staatliche
Stellen. Deutschland soll seinen Vorbehalt gegen
die 5. Europäische Antidiskriminierungsrichtlinie
aufgeben. Wir wollen, dass Beratungsstellen und
Selbstorganisationen langfristig abgesichert und
ausgebaut werden sowie die Antidiskriminierungs-
stelle des Bundes gestärkt wird. Mit einem Nationa-
len Aktionsplan Antidiskriminierung wollen wir eine
wirksame Antidiskriminierungspolitik umsetzen. Mit
der Schaffung der Beauftragten für Antidiskriminie-
rung, Queeres Leben, Antirassismus und Antiziganis-
mus haben wir die politische Stärkung von Vielfalt
noch stärker verankert. Wir wollen ihre und die
Arbeit der weiteren Beauftragten für gesellschaft-
liche Vielfalt weiter stärken.
Wir gehen entschlossen gegen den zunehmenden
Antisemitismus in unserer Gesellschaft vor – egal
von wem er ausgeht. Wir sorgen dafür, dass Jüdin-
nen und Juden in Sicherheit leben können und ihre
Einrichtungen geschützt werden. Antisemitische
Vorfälle müssen konsequent verfolgt und dokumen-
tiert werden. Die älteren jüdischen Generationen
wollen wir stärker sozial absichern.
Mit einem Aktionsplan gegen Islamfeindlichkeit
gehen wir gegen die Diskriminierung von muslimi-
schen Menschen vor. Die Imam*innenausbildung in
Deutschland treiben wir voran und stärken damit
die Unabhängigkeit der islamischen Gemeinden.
51Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Um Antiziganismus zu bekämpfen, werden wir die
Empfehlungen der Expertenkommission Antiziga-
nismus umsetzen und einen Staatsvertrag mit der
Minderheit auf Bundesebene schließen.
Die Vielfalt unserer Gesellschaft soll sich auch in
ihren Institutionen widerspiegeln. Wir setzen uns
deshalb dafür ein, dass Vielfalt – sowohl personell als
auch strukturell – in Behörden strategisch und kon-
sequent gefördert wird und schaffen dafür auch die
rechtlichen Grundlagen. Mit einem Bundespartizipa-
tionsgesetz und einem Partizipationsrat stärken wir
die Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte.
Für Frauenrechte
Eine gerechte Gesellschaft ermöglicht allen Men-
schen, unabhängig vom Geschlecht, ein selbst-
bestimmtes Leben. Feminismus und der Einsatz
für Frauenrechte sind dafür essenziell. Nur wenn
Diskriminierung, Sexismus und Frauenfeindlichkeit
konsequent bekämpft werden, können Frauen alle
Chancen nutzen. Gerade weil rückwärtsgewandte
Kräfte stärker werden, müssen wir das Erreichte
sichern und weiter voranschreiten.
Unsere Priorität ist, das Leben für Frauen gerechter
und besser zu machen. Das bedeutet, den gleichen
Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit durchzu-
setzen. Dazu gehört, dass frauendominierte Berufe
nicht schlechter bezahlt werden als männerdomi-
nierte. Frauen tragen den Großteil der Sorgearbeit
und arbeiten daher oft in Teilzeit, was Aufstieg und
Einkommen beeinträchtigt. Wir fördern eine bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch verlässli-
che Betreuung und hochwertige Bildungseinrichtun-
gen. Auf der Straße, in der U-Bahn und erst recht zu
Hause: Alle Frauen müssen sicher sein und sich sicher
fühlen können. Im Alltag sind sie aber täglich von
Frauenfeindlichkeit, Sexismus und Gewalt bedroht.
Um Betroffene bei Partnerschaftsgewalt, häusli-
cher und geschlechtsspezifischer Gewalt besser zu
schützen, sollen alle Betroffenen und ihre Kinder
einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung
erhalten. Durch eine Bundesbeteiligung stellen wir
gemeinsam mit den Ländern kostenfreie Hilfen
wie Frauenhäuser, Beratungsstellen und Schutz-
wohnungen flächendeckend sicher. Das muss auch
einen Ausbau von Angeboten für Menschen mit
Behinderung oder mit Sprachbarrieren beinhalten.
Nach einer Trennung muss Partnerschaftsgewalt in
Sorge- und Umgangsverfahren verpflichtend be-
rücksichtigt werden. Dazu müssen Justiz sowie Poli-
zei umfassend geschult werden. Um Annäherungs-
verbote in Fällen von häuslicher Gewalt besser zu
kontrollieren, kann der Einsatz der elektronischen
Fußfessel ein sinnvolles Instrument sein. Opfer von
Vergewaltigungen brauchen flächendeckend quali-
fizierte medizinische Notfallversorgung – inklusive
anonymer Spurensicherung und der „Pille danach“.
Viele geflüchtete Frauen und Mädchen sind vor,
während und/oder nach der Flucht von Gewalt be-
troffen, deshalb müssen alle Aufnahmeeinrichtun-
gen entsprechende Schutzkonzepte verpflichtend
etablieren. Frauen, deren Aufenthaltsstatus von
ihrem gewalttätigen Partner abhängt, sollen einen
eigenständigen Aufenthaltstitel erhalten.
Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung stellt
eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung
dar, die vor allem Frauen betrifft. Wir wollen den
ressortübergreifenden Nationalen Aktionsplan um-
setzen und weiterentwickeln.
Die Rechte und die Gesundheitsversorgung von
Sexarbeiter*innen werden wir stärken. Denn so wie
die Zustände zurzeit sind, können sie nicht bleiben.
Gezielte Unterstützung, insbesondere für Prosti-
tuierte in prekären Situationen, muss auch durch
aufsuchende Hilfen und Beratungen, gerade beim
Ausstieg aus der Prostitution, verstärkt werden.
Prostitutionsstätten müssen strenger kontrolliert,
die Standards zur Betriebserlaubnis erhöht und
die Befugnisse des Zolls erweitert werden, um
gesetzlich vorgeschriebene Arbeitsbedingungen
zu gewährleisten und die Selbstbestimmung und
Sicherheit der Betroffenen sicherzustellen. Eine
Kriminalisierung und Stigmatisierung von Betrof-
fenen schützt diese nicht, sondern verweist sie in
die Illegalität, in der sie kaum von Hilfsangeboten
erreicht werden können.
Für Selbstbestimmung
Frauen machen über die Hälfte der Bevölkerung
aus, sind aber noch weit von der Hälfte der wirt-
52BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
schaftlichen und politischen Macht entfernt – in
Führungspositionen, in Wirtschaft und Gesellschaft,
aber auch in Parlamenten und Kommunalvertretun-
gen. Wir sind daher für Frauenquoten in Aufsichts-
räten und Vorständen von großen Unternehmen.
Die bereits bestehenden Regelungen wollen wei-
terentwickeln und stärken, wo sie sich als nicht als
effektiv genug erweisen.
Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist
ein Grundrecht, das für alle gelten muss. Dazu
gehört das Recht auf Zugang zu sicheren und
legalen Schwangerschaftsabbrüchen. Wir wollen,
dass selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche
grundsätzlich außerhalb des Strafrechts geregelt
werden. Wir treten dafür ein, dass die notwendige
Beratung durch ein abgesichertes Angebot von Be-
ratungsstellen in vielfältiger Trägerschaft garantiert
ist. Zudem muss es genügend Einrichtungen geben,
die den Eingriff mit der gewünschten Methode vor-
nehmen, denn das Angebot für Abbrüche hat sich in
den vergangenen Jahren halbiert. Die Kosten sollen
von den Krankenkassen übernommen und teleme-
dizinische Betreuung ausgebaut werden.
Selbstbestimmung über den eigenen Körper setzt
ein geschlechtergerechtes Gesundheitssystem
voraus: Forschung, Ausbildung und medizinische
Praxis müssen geschlechtsspezifische Aspekte zur
Verbesserung der Frauengesundheit zwingend be-
rücksichtigen. Auch im Gesundheitswesen wollen
wir durch Quoten und bessere Arbeitsbedingungen
mehr Frauen in die Führungsgremien holen.
Für queeres Leben: sicher
und selbstbestimmt
Als Gesellschaft verbindet uns der Wunsch, frei und
selbstbestimmt zu leben. Politik muss den Rahmen
dafür schaffen. Noch zu häufig erleben lesbische,
schwule, bi, trans*, inter* und queere Menschen
(LSBTIQ*) Gewalt und Diskriminierung. Das nehmen
wir nicht hin.
Mit dem Aktionsplan „Queer leben“ haben wir in
der Bundesregierung einen Plan zur Stärkung von
queerem Leben vorgelegt. Diesen wollen wir ver-
stetigen. Zur weiteren Umsetzung wollen wir mit
einem Bundesförderprogramm die nötigen Mittel
bereitstellen. So stärken wir queere Beratungs- und
Projektstrukturen. Wir wollen den Schutz vor Dis-
kriminierung aufgrund der sexuellen Identität in
Artikel 3 des Grundgesetzes verankern und Hasskri-
minalität gegen LSBTIQ* entschlossen bekämpfen.
Dazu verbessern wir die Erfassung von queerfeind-
lichen Straftaten.
Queere Menschen haben ein Recht auf gute und
diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung. Des-
halb soll es unter anderem einen Anspruch auf bei
einer Transition notwendige medizinische Maßnah-
men geben und die Kosten von den Krankenkassen
übernommen sowie Beratungsangebote ausgebaut
werden. Wir schließen die Gesetzeslücken, um nicht
notwendige Operationen an intergeschlechtlichen
Kindern zu verbieten. Zudem wollen wir das Un-
recht gegenüber trans- und intergeschlechtlichen
Menschen, deren körperliche Unversehrtheit ver-
letzt oder Ehen zwangsgeschieden wurden, end-
lich anerkennen. Lücken beim Verbot sogenannter
Konversionstherapien werden wir schließen und die
Aufklärungsarbeit über HIV sowie anderer sexuell
übertragbarer Krankheiten und aktuelle Behand-
lungs- und Präventionsmöglichkeiten bei Ärzt*innen
vorantreiben. Wir ermöglichen den diskriminie-
rungsfreien Zugang zu reproduktionsmedizinischen
Leistungen für alle.
Familie ist, wo Menschen füreinander Verantwor-
tung übernehmen. Das gilt auch für Regenbogen-
familien. Wir passen deshalb das Familienrecht
an, beenden schnellstmöglich die Diskriminierung
von Regenbogenfamilien im Abstammungsrecht
und berücksichtigen dabei die Elternschaft von
trans*, inter* und nicht binären Menschen. Wir ver-
bessern die rechtliche Situation von Familien mit
mehr als zwei Eltern. Außerdem ermöglichen wir es
Menschen, jenseits einer Ehe rechtlich verbindlich
füreinander sorgen zu können. Wir werden zudem
queeres Leben im Alter stärker in den Mittelpunkt
rücken. So wollen wir die Bedürfnisse von älteren
LSBTIQ*-Personen auch in der Altenhilfe und in der
Pflege besser berücksichtigen, damit sie auch im
Alter diskriminierungsfrei teilhaben können.
53Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Für gleichberechtigte Teilhabe von
Menschen mit Behinderung und eine
inklusive Gesellschaft
Wir wollen eine inklusive Gesellschaft schaffen, in
der Menschen mit Behinderung gleichberechtigt
und selbstbestimmt teilhaben können. Wir setzen
uns dafür ein, dass dieses Recht endlich Wirklichkeit
wird. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten
Nationen (UN) ist dabei Maßstab unseres Handelns.
Um das zu erreichen, richten wir eine Enquetekom-
mission Inklusion ein, die unter Beteiligung von Be-
troffenen umfassende Vorschläge erarbeiten soll.
Barrierefreiheit soll endlich in allen Bereichen
konsequent umgesetzt werden: Die Gebäude des
Bundes wollen wir innerhalb von zehn Jahren
barrierefrei machen. Auch Anbieter*innen öffentlich
zugänglicher Angebote und Dienstleistungen sollen
Vorkehrungen zur Barrierefreiheit treffen, wobei wir
kleine Unternehmen mit einer Überforderungsklau-
sel schützen und sie mit einem digitalen Barrieref-
reiheitstool unterstützen.
Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung ihre
Potenziale gleichberechtigt auch auf dem ersten
Arbeitsmarkt einbringen und zu unserem Wohlstand
beitragen können. Wir wollen deshalb das heutige
ausgrenzende Werkstättensystem in Richtung In-
klusionsunternehmen weiterentwickeln, in denen
Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam
arbeiten, mindestens nach Mindestlohn entlohnt
werden und Rentenansprüche erwerben können.
Auch die inklusive Aus- und Weiterbildung wollen
wir fördern. Die ergänzenden Beratungsstellen wol-
len wir in allen Regionen verfügbar machen.
Die Eingliederungshilfe mit ihren Schnittstellen –
insbesondere zu Sozialhilfe, Behandlung und Pflege
– wollen wir verbessern und vereinfachen, damit
Betroffene niedrigschwellig und schnell Zugang
zu Leistungen erhalten. Dazu gehört es auch, die
Durchsetzung sozialrechtlicher Ansprüche auf Teil-
habe bei Behörden und Gerichten zu beschleunigen.
Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung selbst
entscheiden können, wo und wie sie wohnen. Auch
deshalb wollen wir den Ausbau inklusiver Wohn-
formen vorantreiben und fördern und die Beratung
dazu verbessern. Hürden, die das Wunsch- und
Wahlrecht von Menschen mit Behinderung ein-
schränken, wollen wir abbauen. Deshalb stärken
wir das persönliche Budget, mit dem Menschen mit
Behinderung anstatt Dienst- oder Sachleistungen
Geldleistungen oder einen Gutschein erhalten. Wir
gehen weitere Schritte bei der Freistellung von Ein-
kommen und Vermögen.
Menschen mit Behinderung sind häufiger von Ge-
walt betroffen als nicht behinderte Menschen. Wir
wollen, dass der Schutz vor Gewalt für alle Men-
schen gilt und bauen den Gewaltschutz in Einrich-
tungen der Behindertenhilfe aus.
Für lebendige Kunst und Kultur
Kunst und Kultur handeln davon, was uns als Men-
schen ausmacht – von der Realität und anderen
Möglichkeiten, vom Denken und Fühlen, von Erinne-
rungen und Zukünften. Eine freie Kultur ist deshalb
ein unverzichtbarer Bestandteil unseres demokrati-
schen Zusammenlebens. Gegen antidemokratische
Bewegungen, die einen ideologischen Kampf gegen
unsere offene Gesellschaft führen, arbeiten wir für
die Unabhängigkeit und Freiheit der Kultur, der
Künstler*innen und ihrer diversen Ausdrucksformen
– ob Literatur, Film, Musik, Theater, Tanz oder bilden-
de Kunst, ob Mode, Architektur oder Design, ob Club
oder Oper, ob öffentliche Einrichtung oder Teil der
großen Kultur- und Kreativwirtschaft. Indem wir ein
Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankern, stärken
wir Kunst und Kultur umfassend und in der Breite.
Clubs und Livemusikstätten sind Kulturorte. Wir
schaffen Rahmenbedingungen dafür, dass sie auch
in Innenstädten zu einem attraktiven Kulturangebot
beitragen können. Die großen Bundeskulturinstitu-
tionen wollen wir als Stabilitätsanker der Kultur-
landschaft stärken und weiter öffnen. Es kommt
darauf an, diese Vielfalt der Kultur für die Menschen
zugänglich zu machen. Deshalb werden wir den
Kulturpass ausbauen. Mit ihm bekommen 18-Jähri-
ge ein Guthaben, um Kultur zu entdecken. Gleich-
zeitig stimulieren wir damit die Nachfrage und un-
terstützen so verschiedene Kulturanbieter in Stadt
und Land. Durch die Green Culture Anlaufstellen,
die wir erfolgreich gestartet haben, unterstützen
wir das gesamte Spektrum der Kulturlandschaft bei
der Umstellung auf einen nachhaltigen Betrieb.
54BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Kulturproduzent*innen brauchen nicht nur Frei-
heit, sondern auch Sicherheit. Wir helfen der freien
Szene durch den Ausbau der Bundeskulturfonds.
Die begonnene Reform der Filmförderung für ver-
lässliche, schnelle und auskömmliche Finanzierung
durch eine Investitionsverpflichtung und eine
Steueranreizförderung werden wir abschließen.
Auch den Games-Standort Deutschland stärken wir
mit einer steuerlichen Games-Förderung. Für die
kleinen Verlage werden wir eine Verlagsförderung
einführen. Sowohl auf nationaler als auch auf euro-
päischer Ebene ist die Vielfalt der kleinen und mitt-
leren Kulturunternehmen Teil unserer europäischen
Identität und muss deshalb durch die richtigen
politischen Rahmenbedingungen gestärkt werden.
Kultur ist auch harte Arbeit. Deshalb wollen wir die
soziale Lage der Künstler*innen und Kulturprodu-
zent*innen nachhaltig verbessern, indem wir die
Künstlersozialversicherung zukunftsfest machen,
die soziale Absicherung für Soloselbstständige ver-
bessern und an den in dieser Wahlperiode von der
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien eingeführten Honoraruntergrenzen in der
Bundeskulturförderung verstetigen.
Im Urheberrecht werden wir weiter für die ange-
messene Vergütung von Künstler*innen kämpfen.
Wir haben im EU-KI-Gesetz die Stellung von Urhe-
ber*innen gestärkt. Bei der Verwendung von künst-
lerischen Werken als Trainingsdaten für KI-Systeme
wollen wir prüfen, wie eine angemessene Vergü-
tung von Urheber*innen, zum Beispiel durch Lizenz-
modelle, ermöglicht werden kann.
Für die Gestaltung der
Einwanderungsgesellschaft
Deutschland ist und bleibt ein Einwanderungsland.
Einwanderung ist Teil unserer gesellschaftlichen
und ökonomischen Stärke. Sie ist deshalb für uns
eine Gestaltungsaufgabe, der wir uns annehmen. Wir
schotten uns nicht ab, schon gar nicht in Europa.
Wir sind auf die Einwanderung von dringend be-
nötigten Fach- und Arbeitskräften angewiesen, um
unseren Wohlstand zu sichern und als Wirtschafts-
standort attraktiv zu bleiben. Dabei stehen wir
auch im internationalen Wettbewerb um Fach- und
Arbeitskräfte, weswegen es so wichtig war, endlich
ein Einwanderungssystem auf der Höhe der Zeit zu
schaffen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz
und zahlreichen Erleichterungen beim Arbeits-
marktzugang Geflüchteter haben wir hierfür den
Grundstein gelegt. Damit sich Fach- und Arbeits-
kräfte für unser Land entscheiden, stellen wir nach
Jahrzehnten der Abschottung unseres Arbeitsmark-
tes endlich die Digitalisierung der Visavergabe
vom Kopf auf die Füße. Das heißt: Visa komplett zu
digitalisieren und Wartezeiten zu verkürzen. Darauf
wollen wir weiter aufbauen, indem wir mehr Berufs-
und Bildungsabschlüsse noch leichter anerkennen
sowie die Anrechnung von Berufserfahrung ent-
bürokratisieren und vereinfachen – für eine echte
Willkommenskultur. Mit der Einführung eines mo-
dernen Staatsangehörigkeitsrechts haben wir der
Realität unserer vielfältigen Gesellschaft endlich
Rechnung getragen. Die Staatsbürgerschaft stellt
für Menschen, die schon lange hier leben – zum
Beispiel die Generation der Gastarbeiter*innen –,
ein dauerhaftes Band rechtlicher Gleichheit, Teilha-
be und Zugehörigkeit sicher.
Dabei sind Flucht und Arbeitsmigration grund-
sätzlich zu unterscheiden, denn sie folgen unter-
schiedlichen Logiken. Arbeitsmigration folgt der
Nachfrage nach Arbeitskräften, die Aufnahme von
Schutzsuchenden den humanitären Verpflichtun-
gen. Gleichzeitig vertreten wir den pragmatischen
Ansatz des „Spurwechsels“, wo immer er sinnvoll
ist. Außerdem braucht es für beides – Arbeits-
migration und Asylrecht – wirksame Instrumente
der Integration. Mit dem Chancenaufenthaltsrecht
haben wir viele gut integrierte Menschen aus der
Duldung geholt, ihnen eine echte Bleibeperspektive
gegeben und gleichzeitig die Ausländerbehörden
stark entlastet. Wir wollen eine funktionierende
und pragmatische Flucht- und Migrationspolitik, die
Humanität und Ordnung verbindet. Dafür wollen
wir wissenschaftliche Expertise stärker in politische
Entscheidungen einbeziehen und ein beratendes
Gremium mit Expert*innen aus Wissenschaft, For-
schung, der kommunalen Praxis und mit Betroffe-
nen einrichten.
Eine Einwanderungsgesellschaft muss Perspektiven
schaffen und Ankommen ermöglichen. Sie stellt
aber auch Anforderungen an die, die zu uns kom-
55Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
men, sowie an alle, die schon länger hier leben, und
gelingt nur, wenn wir zusammenkommen und einen
gemeinsamen Weg einschlagen. Damit das gelingt,
braucht es auch dauerhafte Strukturen. Insbesonde-
re dort, wo es schon bisher an bezahlbarem Wohn-
raum fehlte, an Personal bei der Kinderbetreuung
und in Behörden, haben sich die Herausforderungen
verstärkt. Die Situation ist für viele herausfordernd,
für einige überfordernd. Wir wollen für mehr be-
zahlbaren Wohnraum sorgen und die Kommunen
mit einer Integrationsoffensive stärker und verläss-
licher finanziell unterstützen. Dazu zählt das Ange-
bot von bedarfsgerechten und guten Integrations-
und Sprachkursen. Ergänzend wollen wir digitale
Angebote zum Spracherwerb vom ersten Tag an
schaffen. Bund, Länder, Kommunen und die Zivil-
gesellschaft haben in den zurückliegenden Jahren
hart daran gearbeitet, den Menschen, die zu uns
kommen, eine Unterkunft zu geben und sie zu ver-
sorgen. Insbesondere die Verantwortlichen in Politik
und Verwaltung der Kommunen sowie die vielen
Freiwilligen haben dabei Unschätzbares geleistet.
Der stärkste Motor für Integration sind Arbeit und
Beschäftigung. Denn dort, wo Menschen gemein-
sam etwas schaffen, wächst unsere Gesellschaft
zusammen. Wer arbeiten kann, soll arbeiten dürfen.
Das haben wir geändert und werden bestehende
Arbeitsverbote weiter abbauen sowie die Verfah-
ren vereinfachen und beschleunigen. Wenn sich
Arbeitgeber und Geflüchtete einig sind, sollte der
Staat nicht mit unnötiger Bürokratie im Weg stehen.
Deswegen werden wir kurze Fristen einführen, nach
denen arbeitsbezogene Genehmigungen als er-
teilt, wenn durch die Ausländerbehörde nicht aktiv
Widerspruch eingelegt wird. So schaffen wir auch
Planungssicherheit für Arbeitgeber und Geflüchtete.
Mit frühzeitiger Beratung und einem Kompetenz-
check wollen wir sicherstellen, dass Menschen gute
Perspektiven bekommen und ihre Qualifikationen
einbringen können.
Für ein Land, das Schutz bietet
Weltweit fliehen so viele Menschen vor Krisen und
Konflikten wie nie zuvor – die meisten innerhalb
ihres Landes oder in Nachbarregionen. Hinzu kom-
men die sich verschärfende Klimakrise sowie wirt-
schaftliche und soziale Umstände, die Menschen
zum Verlassen ihrer Heimat zwingen. Deswegen
wollen wir Fluchtursachen bekämpfen. Mit voraus-
schauender Diplomatie, verlässlicher und ausrei-
chend finanzierter humanitärer Hilfe in Krisenlagen,
einer nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit
und fairen Handelsbedingungen leisten wir hier-
zu unseren Beitrag und setzen uns dafür ein, dass
andere Länder ebenso Verantwortung übernehmen.
Deutschland bietet vielen Menschen Schutz, die vor
Krieg und Verfolgung fliehen. So wie andere Län-
der für Deutsche zur Heimat wurden, verteidigen
wir heute das Grundrecht auf Asyl und stehen zu
unseren völkerrechtlichen Verpflichtungen wie der
Genfer Flüchtlingskonvention. Wir wollen schnelle
und faire Verfahren und damit Klarheit für Betrof-
fene und für die Kommunen schaffen. Wir stehen
weiterhin zum Kirchenasyl. Asylrechtsänderungen
sollen Integration unterstützen und nicht behin-
dern. Kinder brauchen ihre Eltern, Eltern brauchen
ihre Kinder – auch um anzukommen und sich zu
integrieren. Daher wollen wir weiter den Familien-
nachzug ermöglichen und existierende Einschrän-
kungen aufheben.
Nicht jede bzw. jeder, die bzw. der nach Deutschland
kommt, kann bleiben. Wer nach individueller Prü-
fung auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Vorausset-
zungen sowie nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel
kein Aufenthaltsrecht hat und bei dem keine Ab-
schiebungshindernisse entgegenstehen, muss zügig
wieder ausreisen. Die freiwillige Rückkehr hat für
uns Vorrang. Ausreisepflichtige, die schwere Strafta-
ten begangen haben, müssen nach Verbüßung ihrer
Straftaten prioritär zurückgeführt werden.
Für eine europäische und internationale
Flucht- und Migrationspolitik
Wir wollen eine gemeinsame europäische Migra-
tionspolitik vorantreiben – mit einer fairen, verbind-
lichen und solidarischen Verteilung von Schutzsu-
chenden in Europa.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asyl-
systems (GEAS) setzen wir auf nationaler Ebene
grund- und menschenrechtskonform um. Men-
schenrechte müssen überall in der EU eingehalten
werden – auch an den Außengrenzen. Dafür setzen
56BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
wir uns für ein effektives Menschenrechtsmonito-
ring und ein konsequentes Vorgehen gegen illegale
Pushbacks ein. Die besonderen Bedürfnisse vulnera-
bler Gruppen wie Frauen, Kinder, queere Menschen
oder Menschen mit Behinderung müssen im Asyl-
verfahren berücksichtigt werden.
Unsere Haltung ist klar: Das Recht auf Einzelfallprü-
fung und das Nichtzurückweisungsgebot gelten im-
mer und überall. Der Asylantrag von Menschen, die
in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss
in der EU inhaltlich geprüft werden. Wir stellen uns
der Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten
entgegen, denn immer wieder hat sich gezeigt, dass
diese Initiativen am Ende viel Steuergeld kosten,
vor Gerichten scheitern und von tatsächlichen
Lösungen ablenken. Daher setzen wir auf die Zu-
sammenarbeit mit Dritt- und Transitstaaten und auf
Modelle, die sichere Migrationswege ermöglichen
und ungeordnete Migration reduzieren.
Zugleich sehen wir, dass Putins Russland und Lu-
kaschenkos Belarus das Recht auf Asyl auf dem Rü-
cken von Geflüchteten für geopolitische Interessen
missbrauchen. Wir werden alle rechtsstaatlichen
und politischen Möglichkeiten ausschöpfen, um die
Instrumentalisierung von Schutzsuchenden, ins-
besondere durch Staaten wie Russland und Belarus,
zu verhindern. Die Entrechtung von Menschen, die
durch autoritäre Staaten instrumentalisiert werden,
lehnen wir ab.
Das Recht auf Freizügigkeit und der Abbau von
Schlagbäumen an den Binnengrenzen zählen zu
den größten Errungenschaften in Europa. Der of-
fene europäische Binnenmarkt ist ein Grundpfeiler
unserer Wirtschaft. Dauerhafte stationäre Binnen-
grenzkontrollen lehnen wir deshalb ab. Für Freiheit
und Sicherheit in Europa müssen wir aber wissen,
wer nach Europa kommt. Daher sind rechtsstaatliche
Kontrollen an den Außengrenzen und eine zuverläs-
sige Registrierung der Menschen unabdingbar.
Seenotrettung ist eine humanitäre Verpflichtung.
Wir treten weiter für eine staatliche EU-Seenotret-
tungsmission ein. Solange dies nicht erreicht ist,
wollen wir die Förderung der zivilen Seenotrettung
fortführen. Der Kriminalisierung der Seenotrettung
oder humanitären Hilfe stellen wir uns entgegen.
Wir wollen Migration besser ordnen bzw. steuern
und hierfür weitere menschenrechtsbasierte Migra-
tionsabkommen abschließen und bestehende zügig
umsetzen. Das heißt: Wir schaffen durch Visaab-
kommen und Ausbildungspartnerschaften für Stu-
dierende, Auszubildende und Fachkräfte geregelte
Migrationswege. Dafür nehmen die Partnerländer
Staatsangehörige zurück, die bei uns kein Aufent-
haltsrecht haben. Hierfür arbeiten wir stärker mit
Herkunftsländern und Transitstaaten zusammen.
Migrationsabkommen sollen auch bessere Lebens-
bedingungen vor Ort schaffen.
Wir wollen, dass besonders gefährdete Gruppen
Schutz finden, ohne lebensgefährliche Fluchtrouten
wählen zu müssen. Dazu wollen wir humanitäre
Aufnahme- und Resettlementprogramme unter-
stützen und sichere und geordnete Migrationswege
ermöglichen. Dabei braucht es eine kooperative
Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Städten und
Gemeinden.
B. EIN LEBEN IN
SICHERHEIT
Für gute Polizeiarbeit gegen Kriminalität
Die Freiheit aller bedeutet uns alles. Aber ohne
Sicherheit ist Freiheit wenig wert. Damit alle Men-
schen am gesellschaftlichen und politischen Leben
teilhaben können, müssen sie sicher sein und sich
auch sicher fühlen. Eine gut ausgestattete, moderne
Polizei ergänzt dabei eine wirksame Kriminalprä-
vention. Engagierte Polizist*innen leisten ihre wich-
tige Arbeit für unser Zusammenleben und unsere
Bürger*innenrechte, häufig unter hohem persön-
lichen Einsatz.
Wir wollen die Bundespolizei und das Bundeskri-
minalamt (BKA) so aufstellen, dass sie das Personal,
die Technik und auch die rechtsstaatlichen Befug-
nisse haben, die sie für eine effektive Aufgabener-
füllung benötigen. Die gesetzlichen Grundlagen der
Polizeien des Bundes wie das Bundespolizeigesetz
werden wir modernisieren und dabei auch Antwor-
ten auf neue Bedrohungen geben.
57Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Wir wollen mit Investitionen auch dafür sorgen,
dass die Polizei in modernen Liegenschaften und
mit guter Ausrüstung arbeiten kann, auch digi-
tal. Kriminalität verlagert sich zunehmend in den
digitalen Raum – die Polizei muss hier technisch
mithalten können.
Um Kriminalität vorzubeugen, wollen wir ihre Ent-
wicklung im Blick behalten und wissenschaftliche
Expertise einbeziehen. Den periodischen Sicher-
heitsbericht, der diese Arbeit bündelt, wollen wir
daher gesetzlich verankern.
Wir haben dafür gesorgt, dass es für Extremist*in-
nen in Zukunft schwieriger wird, legal in den Besitz
von Waffen zu kommen. Die Anzahl an legalen und
illegalen Schusswaffen hat in den vergangenen
Jahren zugenommen. Noch immer werden zu viele
Gewalttaten mit Schusswaffen begangen, gerade im
häuslichen Bereich. Daher werden wir die Verfüg-
barkeit von tödlichen Schusswaffen und anderer
gefährlicher Waffen weiter einschränken.
Polizeiarbeit beruht auf Vertrauen. Mit dem Polizei-
beauftragten des Bundes haben wir eine Anlaufstel-
le für Polizist*innen und Bürger*innen geschaffen,
die wir stärken wollen. Mit einem Ticketsystem für
Kontrollen, das die Gründe für Kontrollen darlegt,
wollen wir polizeiliches Handeln transparenter
machen. In der Aus- und Fortbildung wollen wir für
Diversität sensibilisieren.
Wenn die Sicherheitsbehörden in Europa zusam-
menarbeiten, schaffen sie mehr Sicherheit für die
Menschen in einem zusammenwachsenden Europa.
Hierfür bauen wir die gemeinsamen Zentren der
Polizei in den Grenzregionen aus. Die europäische
Polizeibehörde Europol wollen wir zu einem Euro-
päischen Kriminalamt weiterentwickeln und mit
eigenen operativen Möglichkeiten ausstatten.
Für einen verstärkten Einsatz gegen
Organisierte Kriminalität
Der Kampf gegen die Organisierte Kriminalität ist
für uns ein Schwerpunkt. Kriminelle Gruppen be-
drohen Menschen mit Gewalt und verursachen in
Deutschland wirtschaftliche Schäden in Milliarden-
höhe. Ihre Auswirkungen sind weltweit zu spüren
und zersetzen auch durch Gewalt und Korruption
ganze Staaten. Eine wesentliche Triebfeder für die
Organisierte Kriminalität ist der illegale Drogen-
handel. Der Schaden für die Gesellschaft ist enorm,
wenn kriminelle Gruppierungen legale Wirtschafts-
bereiche wie zum Beispiel die Bauwirtschaft oder
den Immobilienhandel unterwandern und so Preise
in die Höhe getrieben werden.
Um dem entgegenzutreten, stärken wir die zustän-
digen kriminalpolizeilichen Bereiche des BKA, der
Bundespolizei sowie des Zolls. Wir verbessern die
Zusammenarbeit und den Informationsaustausch
der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern
mit der Einrichtung eines Gemeinsamen Zentrums
Organisierte Kriminalität auf gesetzlicher Grund-
lage. Auch internationale Kooperationen werden
wir stärken, zum Beispiel durch gemeinsame Ermitt-
lungen oder den Einsatz von Kontaktbeamt*innen
in anderen Staaten. Die Kompetenzen der EUStA
wollen wir auf die grenzüberschreitende Bekämp-
fung der Organisierten Kriminalität ausweiten.
Wir wollen, dass Organisierte Kriminalität härter
bestraft wird. Deswegen wollen wir den Straftatbe-
stand der kriminellen Vereinigung weiterentwickeln,
damit er ein scharfes und zielgenaues Instrument
wird. Ein nachhaltiges Vorgehen gegen kriminelle
Aktivitäten kann nur in Zusammenarbeit mit der
Zivilgesellschaft gelingen und muss auf Prävention
und Aufklärung setzen.
Für eine klare Kante gegen Geldwäsche
und organisierten Steuerbetrug
Deutschland wird häufig als Geldwäscheparadies
bezeichnet. Rund 100 Milliarden Euro aus schweren
Straftaten werden jährlich in Deutschland „gewa-
schen“. Dem stellen wir uns entgegen: Mit klaren
Regeln und schlagkräftig aufgestellten Behör-
den wie dem Bundesamt für die Bekämpfung der
Finanzkriminalität, das wir zu einer Finanzpolizei
ausbauen.
Wir müssen die Kriminellen dort treffen, wo es
ihnen weh tut – beim Geld. Deswegen müssen wir
es einfacher machen, Vermögen einzuziehen, das
durch kriminelle Machenschaften erlangt wurde.
Mit einer bundesweiten Servicestelle wollen wir die
58BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Expertise über den Missbrauch von Kryptowährun-
gen bündeln und für die Länder nutzbar machen.
Wir wollen es Kriminellen schwerer machen, ihr
Geld mithilfe komplizierter Unternehmensstruk-
turen zu verstecken. Deswegen entwickeln wir das
Transparenzregister für Unternehmen weiter.
Steuerhinterziehung und Manipulationen im
Finanzmarkt kosten unsere Volkswirtschaft Mil-
liardenbeträge. Wir werden Steuerschlupflöcher
schließen, damit Betrugsfälle wie Cum-Ex und Cum-
Cum der Vergangenheit angehören. Die Kapazitäten
und Kompetenzen der Bundesebene zur Verfolgung
schwerer Finanzkriminalität wollen wir deutlich
steigern. Mehr Transparenz zu Unternehmens-
steuern und Eigentumsverhältnissen und bessere
Kapazitäten im Steuervollzug helfen dabei.
Für ein entschiedenes Vorgehen gegen
Extremismus und Terror
Extremismus – egal ob politisch oder religiös moti-
viert – sät Hass, spaltet unsere Gesellschaft und ist
der Wegbereiter für Gewalt und Terror. Weil er sich
stetig wandelt und durch Radikalisierung im digita-
len Raum komplexer wird, müssen wir ihm aufmerk-
sam und energisch entgegentreten und Instrumente
entsprechend anpassen. Gerade junge Leute radikali-
sieren sich heute vermehrt im digitalen Raum.
Die größte Gefahr geht aktuell laut Bundesamt für
Verfassungsschutz vom Rechtsextremismus aus.
Und der Islamismus ist eine sehr ernste Bedrohung.
Mit frühzeitiger Prävention verhindern wir, dass
Menschen in den Extremismus abrutschen – diese
Arbeit wollen wir durch eine starke, dauerhafte
Finanzierung sichern. Wir brauchen Programme wie
„Demokratie leben!“, die über Islamismus aufklären,
Angebote für Aussteiger*innen aus der rechtsext-
remen Szene oder Deradikalisierungsprogramme
für den Justizvollzug. Diese Arbeit wollen wir mit ei-
nem Demokratiefördergesetz gesetzlich absichern.
Extremistische Netzwerke müssen von den Sicher-
heitsbehörden intensiv beobachtet und Vereinsver-
bote konsequent ausgesprochen werden. Der Staat
muss sicherstellen, dass Extremist*innen keine
öffentlichen Ämter bekleiden oder in Sicherheitsbe-
hörden tätig sind. Verfassungsfeind*innen müssen
konsequent entwaffnet werden.
Wir werden unsere Sicherheitsbehörden im Kampf
gegen den Terrorismus stärken und das BKA und
den Verfassungsschutz dafür mit ausreichend
Personal, Technik und rechtsstaatlichen Befugnis-
sen ausstatten, damit sie Terrorist*innen ausfindig
machen und Anschlagspläne rechtzeitig aufdecken
können. Top-Gefährder*innen müssen stets im Blick
der Sicherheitsbehörden sein, lückenlos überwacht
und – wo immer möglich – aus dem Verkehr ge-
zogen werden. Damit das gelingt, muss europaweit
einheitlich klar sein, wen wir als Gefährder*innen in
den Blick nehmen.
Auf nationaler Ebene müssen alle zuständigen
Behörden von Bund und Ländern engstens in den
Gemeinsamen Zentren zur Terrorismusbekämpfung
zusammenarbeiten – mit klar geregelten Verant-
wortlichkeiten und einer soliden gesetzlichen Basis.
Wir werden prüfen, ob die Sicherheitsbehörden alle
notwendigen Befugnisse haben, um Terrorismus
effektiv zu bekämpfen.
Deutschland wurde in den vergangenen Jahren
durch viele furchtbare rechtsextreme und islamis-
tische Terrorakte erschüttert. Im Umgang mit deren
Opfern wurden viele Fehler gemacht. Daher wollen
wir, dass die Unterstützung für die Opfer und deren
Angehörige vom Staat weiter gestärkt wird. Damit
sie eine zuverlässige Anlaufstelle haben, haben
wir das Amt des Opferbeauftragten geschaffen. Wir
wollen die Aufarbeitung von Terroranschlägen fort-
führen und der Opfer angemessen gedenken.
Für einen krisenfesten
Bevölkerungsschutz
Naturkatastrophen oder schwere Unglücke: Außer-
ordentliche Ereignisse können das Leben Tausender
Menschen im Handumdrehen auf den Kopf stellen,
Existenzen vernichten und enorme Umweltschäden
verursachen. Durch die Klimakrise werden Stürme,
Überschwemmungen oder Dürreperioden weiter
zunehmen.
Ein leistungsfähiger Bevölkerungsschutz und eine
gute Krisenprävention können dazu beitragen,
59Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Schäden abzuwenden oder zu verringern. Deutsch-
land verfügt mit rund 1,7 Millionen Freiwilligen im
Bevölkerungsschutz und seiner dezentralen Struk-
tur über ein leistungsfähiges Hilfenetz. Wir wollen
das Ehrenamt bei der freiwilligen Feuerwehr, dem
Technischen Hilfswerk oder den Hilfsorganisationen
unterstützen und fördern – zum Beispiel mit guten
Freistellungsregelungen oder Erleichterungen für
Ehrenamtliche.
Ein leistungsfähiger Bevölkerungsschutz braucht
gute Liegenschaften, zeitgemäße Ausrüstung und
moderne Fahrzeuge. Wir werden weiter in den
Bevölkerungsschutz investieren und die Warninfra-
struktur ausbauen. Wir wollen, dass sich der Bund
stärker engagiert, das Bundesamt für Bevölkerungs-
schutz und Katastrophenhilfe (BBK) mehr Kom-
petenzen bekommt und die länderübergreifende
Zusammenarbeit ausgebaut wird.
Für die Verbindung von innerer und
äußerer Sicherheit
Damit unser Land sicher bleibt, damit unsere
Stromnetze, Mobilfunkdienste oder Server ge-
schützt sind – unsere Kritische Infrastruktur (KRI-
TIS), die für unseren Wohlstand entscheidend ist
–, müssen wir die innere und äußere Sicherheit
stärker zusammendenken. Denn Grenzen zwischen
kriminellen oder terroristischen Organisationen und
Staaten verschwimmen immer mehr. Länder wie
Russland nutzen gezielt hybride Angriffe, Sabotage-
aktionen und Einflusskampagnen, um in Deutsch-
land und Europa Angst zu schüren, Bündnisse zu
destabilisieren und Schaden zuzufügen. Beschädi-
gungen von Datenkabeln und KRITIS, Drohnenüber-
flüge an Bundeswehrstandorten oder Brandsätze in
der Luftfracht haben gezeigt, wie verletzlich unsere
Infrastruktur bzw. wie konkret die Bedrohung ist.
Für uns ist ein integrierter Sicherheitsbegriff lei-
tend, den wir in der Nationalen Sicherheitsstrategie
verankert haben.
Die Nachrichtendienste spielen in der inneren und
äußeren Sicherheit eine wichtige Rolle. Sie müs-
sen angemessen ausgestattet sein und brauchen
dringend eine gute Gesetzesgrundlage, damit sie
Gefahren erkennen und bewältigen können. Das
Bundesamt für Verfassungsschutz werden wir in
der Spionageabwehr und den Bundesnachrichten-
dienst in der Auslandsaufklärung so aufstellen, dass
sie besser als bisher die Demokratie vor Angriffen
schützen können. Den Militärischen Abschirmdienst
wollen wir so aufstellen, dass er seine Aufgaben
wahrnehmen und die Angehörigen der Bundeswehr
weltweit gut schützen kann. Die europäische Zu-
sammenarbeit wollen wir durch die Gründung einer
Europäischen Nachrichtendienstagentur verbessern.
Wir setzen auf rechtsstaatlich handelnde Nachrich-
tendienste und parlamentarische Kontrolle.
Mit dem KRITIS-Dachgesetz, das konkrete Sicher-
heitsstandards formuliert, haben wir einen Grund-
stein gelegt. Es braucht aber eine weitere Stärkung
unserer Infrastruktur und zugleich einer resilienten
Wirtschaft. Wir wollen, dass unsere Infrastrukturen
sicher sind, die Kontrolle darüber hier verbleibt und
unsere Schlüsseltechnologien geschützt werden.
Mit einem Investitionsschutzgesetz wollen wir
Schlupflöcher beim Erwerb von KRITIS durch aus-
ländische Investor*innen schließen.
Für IT-Sicherheit und gegen
systematische Desinformation
Autoritäre Staaten und andere Akteure nutzen
systematisch Desinformationskampagnen, um
unsere Demokratie anzugreifen, unsere Wahlen zu
beeinflussen und unsere Gesellschaften zu spal-
ten. Das ist eine massive Herausforderung, vor
der alle demokratischen Gesellschaften weltweit
stehen und die auch den Zusammenhalt und die
Demokratie in unserem Land gefährdet. Deswegen
braucht es wachsame Institutionen und verlässliche
Informationen, beispielsweise durch unabhängige
Medien. Medienbildung kann die Menschen bei der
Erkennung von Desinformation unterstützen. Zudem
sehen wir in anderen demokratischen Gesellschaf-
ten, wie wichtig es ist, Stellen zu haben, die Deep-
fakes, groß angelegte und gesteuerte Kampagnen
mit Falschnachrichten und andere, die Demokratie
zersetzende Inhalte frühzeitig erkennen. Die großen
Medienplattformen werden wir in die Pflicht neh-
men, wirksame Maßnahmen gegen die Verbreitung
von Desinformation vorzunehmen. Die systemati-
sche Verbreitung von Desinformation im Auftrag
eines fremden Staates wollen wir strafrechtlich
fassen.Wir werden zur Bekämpfung von systemati-
60BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
scher Desinformation und Organisierter Kriminali-
tät sowie dem grenzenlosen Ausweiten von Hass
und Hetze durch Bots anonymisierte Accounts, die
derzeit strafrechtlich kaum verfolgt werden können,
angehen und dafür die effektiven Möglichkeiten der
deutschen Strafverfolgungsbehörden im digitalen
Raum verbessern.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sichert die plu-
ralistische, staatsferne und unabhängige Berichter-
stattung und kann daher ein Punkt der Orientierung
auch im Angesicht von Desinformationskampagnen
sein. Es ist wichtig, dass er diese bewährte Funktion
auch im Digitalen ausfüllen kann. Die dafür nötigen
Reformen sichern wir mit einer auskömmlichen
Finanzierung und verlässlichen Rahmenbedingun-
gen. Auf europäischer Ebene unterstützen wir eine
Plattform, die länderübergreifend die öffentlich-
rechtlichen Informationsangebote zusammenführt
und zugänglich macht.
Die deutsche Wirtschaft erleidet jährlich einen
Schaden von mehr als 200 Milliarden Euro durch
Cyberangriffe, Datendiebstahl und Spionage. Diese
Angriffe kommen hauptsächlich aus dem Ausland,
insbesondere aus China und Russland. Wir werden
mit einem Cybersicherheitsstärkungsgesetz unse-
re IT-Infrastruktur härten und widerstandsfähiger
gegen Angriffe machen. Das Bundesamt für Sicher-
heit in der Informationstechnik muss eine stärkere
Rolle beim Schutz digitaler Infrastruktur bekommen
und zur Zentralstelle ausgebaut werden. Unser Ziel
ist es, digitale Netze und Einrichtungen durch hohe
IT-Sicherheitsanforderungen robust gegen Hacker-
angriffe zu machen. Mit „digitalen Botschaften“
wollen wir relevante öffentliche Datenbanken im
europäischen Verbund absichern, um sie auch in
Krisenfällen vorzuhalten. Wir werden die europäi-
sche Richtlinie zur Cybersicherheit bürokratiearm
und zügig umsetzen.
Für die Verteidigung von Frieden und
Freiheit
Russlands Überfall auf die Ukraine verdeutlicht,
dass Frieden, Freiheit und Demokratie keine Selbst-
verständlichkeit sind. Sie müssen immer wieder
aufs Neue verteidigt und gestärkt werden. Frieden
erfordert gerade in diesen Zeiten Diplomatie und
Kooperation, ebenso wie Widerstands- und Wehr-
fähigkeit. Dafür braucht es eine europäische An-
strengung. Es braucht eine umfassend angelegte
Herangehensweise, um dem Spektrum an Her-
ausforderungen und Bedrohungen zu begegnen.
Sicherheitspolitik ist mehr als die Summe aus Dip-
lomatie und Militär; sie muss alle Stränge unserer
Politik zusammenführen. Integrierte Sicherheit für
Deutschland heißt: innere und äußere Sicherheit
zusammenzudenken sowie den Schutz unserer
Demokratie und unseres Sozialstaates zu sichern
– im Einklang mit einer feministischen Außen- und
Entwicklungspolitik sowie einer starken inter-
nationalen Klimapolitik. All diese Elemente einer
integrierten Sicherheit brauchen eine verlässliche
Finanzierung.
Mit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine
am 24. Februar 2022 sind wir in einer anderen Welt
aufgewacht. Millionen Ukrainer*innen verteidigen
seither Tag für Tag ihr Leben, ihre Freiheit und die
europäische Friedensordnung gegen die brutale Ag-
gression Russlands. Dabei stehen wir fest an ihrer
Seite – mit diplomatischer, finanzieller, humanitärer
und militärischer Unterstützung. Die Ukraine muss
in der Lage sein, sich zu verteidigen und eine starke
Position für einen möglichen Friedensprozess
sicherzustellen. Das ist auch unser bester Eigen-
schutz hier im Herzen Europas. Die Souveränität der
Ukraine in europäischer Solidarität muss sicherge-
stellt sein. Wir unterstützen die vielfältigen diplo-
matischen Friedensbemühungen der Ukraine und
ihrer Partner unter dem Grundsatz: „Nichts über die
Ukraine, ohne die Ukraine“. Zudem bekräftigen wir
das Recht auf freie Bündniswahl und unterstützen
die Ukraine auf ihrem Weg zur Mitgliedschaft in der
EU und NATO.
C. EINE STARKE
EUROPÄISCHE UNION
Für eine EU, die unsere
Demokratie verteidigt
Die EU ist das erfolgreichste Friedensprojekt und
Basis für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Sie ist die
Antwort auf zwei Weltkriege und den Holocaust. Sie
ist unsere Lebensversicherung für Frieden, Sicher-
61Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
heit und Wohlstand. Aber der europäische Zusam-
menhalt ist bedroht: von außen durch Russlands
Angriffskrieg gegen die Ukraine und gegen unsere
europäische Friedensordnung, von innen durch Ex-
tremist*innen und Populist*innen. Deshalb wollen
wir die EU stärken. Als größtes und wirtschaftlich
stärkstes Land tragen wir dafür besondere Ver-
antwortung. Nationale Alleingänge lehnen wir ab
und ein ständiges „German Vote“ ist schädlich. Wir
arbeiten an einem Europa, das nach innen durch
Freiheit und Demokratie geeint ist, das soziale Si-
cherheit garantiert und das nach außen kooperative
Angebote und robuste Antworten auf die großen
Aufgaben gibt, die uns die Entwicklung der Welt
bereithält. Deshalb wollen wir die EU erweitern,
um unsere Nachbarschaft zu stabilisieren. Parallel
werden wir die EU reformieren, um sie handlungs-
fähiger zu machen. Und wir müssen die europäische
Demokratie mit ihrem klaren Wertefundament
wehrhaft machen. Europe United ist auch unsere
Antwort auf Trumps America first.
Unsere Grundwerte bilden das Fundament der EU.
Wenn Mitgliedstaaten dagegen verstoßen, kann
das nicht folgenlos bleiben. Wir wollen das Rechts-
staatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags
nutzbar machen, indem in allen Stufen des Ver-
fahrens Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit
getroffen werden können. Den Rechtsstaatsdialog
möchten wir stärken sowie die Freiräume der Zivil-
gesellschaft gezielter und europaweit schützen. Für
uns gilt außerdem: keine EU-Gelder für Antidemo-
krat*innen. Wir wollen mit dem Konditionalitätsme-
chanismus im nächsten EU-Haushalt sicherstellen,
dass Regierungen, die Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit untergraben, keine europäischen Gelder
mehr bekommen.
Um die EU bürgernäher und demokratischer zu
gestalten, soll das Europäische Parlament ein
vollwertiges Initiativrecht für die Einbringung von
Gesetzen bekommen. In Zukunft soll ein Teil der
Abgeordneten über transnationale Listen gewählt
werden. Bürger*innen sollen breiter und effektiver
beteiligt werden, die Europäische Bürgerinitiative
wollen wir stärken.
Für eine handlungsfähige EU
Die Erweiterung der EU ist eine Erfolgsgeschichte
und liegt in unserem geopolitischen Interesse. Wir
unterstützen den Beitrittswunsch der Westbalkan-
staaten, der Ukraine und Moldaus, sofern sie alle
Beitrittskriterien erfüllen. Wir sehen den mutigen
und unermüdlichen Einsatz der proeuropäischen
Kräfte in Georgien und möchten diese unterstützen,
um Georgien eine Zukunft in der EU zu ermög-
lichen. Auch eine demokratische Türkei hat ihren
Platz in der EU, doch eine Wiederaufnahme der Bei-
trittsgespräche setzt einen glaubhaften Kurswech-
sel bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit voraus.
Mit dem Ziel einer starken, handlungsfähigeren
EU möchten wir die laufende Legislatur zu einer
Reformlegislatur machen. Dafür soll das Prinzip der
Einstimmigkeit in allen Politikbereichen – auch in
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik –
durch Mehrheitsentscheidungen ersetzt werden. Wo
Reformen mit allen Mitgliedstaaten nicht möglich
sind, soll eine „Koalition der Willigen“ vorangehen
können, die stets offen für alle Mitgliedsländer ist.
Besonders mit Frankreich und Polen wollen wir die
EU gemeinsam voranbringen. Deshalb haben wir
so stark in die deutsch-französische Kooperation
und das Weimarer Dreieck investiert. Unsere Vision
ist eine Föderale Europäische Republik mit eige-
ner Verfassung.
Nur ein starkes Europa ist in der Lage, der Wirtschaft
im globalen Wettbewerb den Rücken zu stärken und
damit gute Jobs zu sichern. Für die dringend benö-
tigten Investitionen in Infrastruktur und den klima-
neutralen Ausbau der europäischen Wirtschaft muss
der nächste EU-Finanzrahmen stärker auf Innova-
tion und auf die Zukunftsfähigkeit der europäischen
Wirtschaft ausgerichtet werden. Europäische öffent-
liche Güter wie Infrastruktur, Erasmus, grenzüber-
schreitende Forschung oder gemeinsamen euro-
päischen Grenzschutz werden wir stärken. Daneben
braucht es verbindliche Ziele für den Klima- und
Naturschutz und eine starke soziale Säule.
Dafür braucht es aber auch mehr Finanzkraft auf
europäischer Ebene. Wir wollen die finanzielle Aus-
stattung der EU durch neue Eigenmittel verbessern.
Einnahmen, die durch europäische Instrumente
62BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
entstehen, sollen mehrheitlich dem EU-Haushalt
zugutekommen. Sollten die USA die globalen Ver-
einbarungen über die Besteuerung digitaler Groß-
konzerne nicht mehr umsetzen, setzen wir uns in
der EU für eine Europäische Digitalkonzernsteuer
ein. Für die Bewältigung großer Herausforderungen
haben sich zudem gemeinsame europäische An-
leihen bewährt, etwa im Rahmen der Europäischen
Investitionsbank.
D. AUSSEN- UND
SICHERHEITSPOLITIK IN
VERANTWORTUNG
Für eine aktive Außenpolitik
Als Teil der Bundesregierung haben wir in schwieri-
gen Zeiten Verantwortung übernommen, sind daran
gewachsen und stehen bereit, diese weiterhin zu
tragen. Dieser Verantwortung werden wir mit einer
aktiven Außenpolitik in starken Bündnissen gerecht
– für ein starkes Deutschland, in einem friedlichen
Europa, in einer stabilen Welt.
Die EU ist Garantin für Frieden und Freiheit, Wohl-
stand und Demokratie. Die EU als weltpolitische Ak-
teurin steht im Zentrum unserer Außenpolitik. Ge-
meinsam stehen wir an der Seite der Ukraine – so
lange und so entschlossen, bis die Ukrainer*innen
wieder in Frieden leben können. Frieden ist mehr
als die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist ein Leben
in Freiheit, Sicherheit und Würde.
Putins Russland stellt derzeit die größte Bedro-
hung für Frieden und Sicherheit in Europa dar. Wir
setzen auf wirtschaftliche und sicherheitspolitische
Maßnahmen, die Russlands militärischen Sieg ver-
hindern, den ökonomischen Druck auf das Regime
erhöhen und unsere eigene Handlungsfähigkeit
wahren. Wir reichen denjenigen Russ*innen die
Hand, die sich als Teil der demokratischen Zivilge-
sellschaft glaubwürdig für ein Ende des Kriegs, für
Frieden und Freiheit einsetzen.
Die USA sind Europas zentraler Partner bei globalen
Krisen und Konflikten. Trotz aller Unterschiede und
Unsicherheiten hinsichtlich der künftigen Ausrich-
tung der USA verbinden uns gemeinsame Werte,
Interessen sowie tiefe kulturelle, historische und
gesellschaftliche Bande. Auch zukünftig werden wir
für die USA ein verlässlicher Verbündeter bleiben.
Gleichzeitig müssen wir die europäische Souveräni-
tät stärken, geschlossen und entschlossen für unse-
re Werte und Interessen einstehen und politische
Differenzen ehrlich und offen ansprechen.
Wir bleiben fest in unseren Bündnissen verankert.
Zugleich sind wir auf vielfältige und robuste Part-
nerschaften angewiesen – vor allem im Globalen
Süden. Wir wollen unsere Zusammenarbeit mit
Ländern in Asien, Afrika, Lateinamerika und Nahost
gezielt ausbauen und um Partnerschaften basierend
auf gegenseitigem Vertrauen und gemeinsamen
Interessen werben. So gewinnen wir Verbündete für
die Reform des multilateralen Systems, für globa-
le Herausforderungen wie den Kampf gegen den
Klimawandel und in der systemischen Auseinander-
setzung mit autoritären Regimen.
China versucht zunehmend aggressiv, das interna-
tionale System nach seinen Interessen umzubauen
und den militärischen Druck in der Straße von
Taiwan zu erhöhen. Für uns ist China systemischer
Rivale, Wettbewerber und Partner, doch die Rivali-
tät rückt immer mehr in den Fokus Pekings. Mit der
ersten China-Strategie der Bundesregierung haben
wir begonnen, die jahrelange Naivität in der deut-
schen China-Politik zu beenden – diese gilt es nun
konsequent umzusetzen und weiterzuentwickeln.
Wir stärken unsere Zusammenarbeit mit Partner-
staaten im Indopazifik, insbesondere in den Berei-
chen Sicherheit, Handel und Klima.
Unsere Außenpolitik steht im Bewusstsein für
unsere Geschichte und die Verantwortung, die unser
Land mit dem Grauen des Zweiten Weltkriegs und
dem Holocaust auf sich geladen hat. Das Existenz-
recht Israels ist für uns unverhandelbar. Wir stehen
ein für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden und
das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*in-
nen. Dauerhafte Sicherheit für Israelis und Pa-
lästinenser*innen ist nur durch einen politischen
Prozess und eine verhandelte Zwei-Staaten-Lösung
auf Basis der Grenzen von 1967 möglich. Dafür
setzen wir uns ein. Aus unserer Geschichte ergibt
sich auch die Verantwortung, für das humanitäre
Völkerrecht einzutreten, um menschliches Leid zu
63Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
verhindern und Warnsignale ernst zu nehmen. Des-
wegen haben wir uns so intensiv dafür eingesetzt,
dass die von der Hamas festgehaltenen Geiseln
befreit werden, die Zivilbevölkerung geschützt wird,
die humanitäre Hilfe die Menschen erreicht und es
zu einem Waffenstillstand kommt. Das Leid in Gaza
ist unerträglich. Jedes Menschenleben ist gleich viel
wert. Menschlichkeit ist unteilbar.
Das Ende des Assad-Regimes in Syrien ist ein Aufat-
men der syrischen Bevölkerung nach jahrzehntelan-
ger Unterdrückung, Vertreibung und Folter. Damit
verbunden ist die Hoffnung vieler Syrer*innen auf
ein Leben in Frieden und Freiheit. Auf diesem Weg
wollen wir sie zusammen mit unseren Partnern
unterstützen.
Das iranische Regime begeht massive Menschen-
rechtsverletzungen im eigenen Land und destabili-
siert die ganze Region. Wir werden die Sanktionen
gegen die Verantwortlichen des Regimes fortlaufend
prüfen und weiterentwickeln sowie ihre Einhaltung
streng überprüfen. Dazu gehört auch die rechtssiche-
re Terrorlistung der Revolutionsgarden. Es braucht
zudem weiter diplomatische Anstrengungen, um die
nukleare Bewaffnung des Irans zu verhindern.
Wir setzen uns für eine vorausschauende und kohä-
rente Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik
ein, die Krisen und Konflikte frühzeitig erkennt
und mit gezielten und koordinierten Maßnahmen
menschliches Leid verhindert. Grundlage dafür ist
ein gemeinsames Lagebild über die Bedrohungen,
Risiken und Chancen für unsere Sicherheit sowie
eine starke ressortübergreifende Koordination.
Für einen zukunftsfesten
Multilateralismus
Die regelbasierte internationale Ordnung ist das
Fundament unseres Friedens. Die multilaterale Zu-
sammenarbeit und starke internationale Organisa-
tionen sind der Schlüssel zur Bewältigung globaler
Herausforderungen. Diese Ordnung gerät zuneh-
mend unter Druck: Verstöße gegen die gemeinsa-
men Regeln nehmen zu, Abschottung und Protektio-
nismus sind auf dem Vormarsch. Wir treten ein für
eine Welt, in der sich Kooperation vor Konkurrenz
und Krieg behauptet und die Stärke des Rechts über
das Recht des Stärkeren triumphiert.
Mit dem UN-Zukunftspakt haben wir den Grund-
stein für eine Reform der UN gelegt. Dazu gehört
eine Reform des Sicherheitsrats, mit der wir eine
gerechtere Repräsentanz der Weltregionen gewähr-
leisten wollen. Wir wollen diese Vereinbarungen nun
gemeinsam mit den UN-Mitgliedstaaten umsetzen.
Mehr Verantwortung in den UN erfordert von
Deutschland und der EU, ihr Engagement diploma-
tisch, finanziell und personell weiter zu verstärken.
Mittel für humanitäre Hilfe sollen flexibler einge-
setzt und mehrjährig vergeben werden, um Her-
ausforderungen in fragilen Kontexten gerecht zu
werden und die Planbarkeit zu verbessern. Während
die UN eine unverzichtbare Rolle in der humanitä-
ren Hilfe einnehmen, wollen wir auch lokale huma-
nitäre Organisationen weiter stärken. Durch huma-
nitäre Diplomatie tragen wir dazu bei, dass die Hilfe
bei der notleidenden Bevölkerung ankommt und
Helfer*innen geschützt sind.
Aus unserer historischen Verantwortung für die
Verbrechen der Nazi-Herrschaft sowie der Kolonial-
vergangenheit ergibt sich für uns eine besondere
Verpflichtung zum Schutz des Völkerrechts. Als
internationale Gemeinschaft tragen wir Verant-
wortung, gegen schwerste Menschenrechtsver-
letzungen vorzugehen und diese strafrechtlich zu
ahnden. Deswegen wollen wir die internationale
Strafgerichtsbarkeit und das Völkerstrafrecht stär-
ken und seine Fortentwicklung aktiv vorantreiben.
Denn niemand steht über dem Völkerrecht. In enger
Abstimmung mit unseren internationalen Partnern
setzen wir uns für die strafrechtliche Verfolgbarkeit
des Verbrechens der Aggression ein.
Für Menschenrechte und demokratische
Entwicklung
Eine starke Zivilgesellschaft ist das Rückgrat einer
wehrhaften Demokratie und eines nachhaltigen
Friedens. Menschen, die sich weltweit für Demokra-
tie, Frauen- und Menschenrechte einsetzen, geraten
zunehmend unter Druck. Autoritäre Regime schrän-
ken die Meinungs- und Pressefreiheit ein, unter-
drücken zivilgesellschaftliches Engagement, bedro-
64BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
hen Aktivist*innen und verfolgen Dissident*innen
– auch im Ausland. In diesem Systemwettbewerb
setzen wir uns entschlossen für die liberale Demo-
kratie ein und stärken dadurch auch unsere Sicher-
heit, unsere Freiheit und unseren Wohlstand.
Wir wollen zivilgesellschaftliche Organisationen
in ihrem Kampf für Meinungsfreiheit und Rechts-
staatlichkeit gezielt und unkompliziert unterstützen.
Dazu gehören auch Schutzprogramme für Men-
schenrechtsverteidiger*innen – vor Ort oder notfalls
im Exil. Auch Deutschland ist ein sicherer Zufluchts-
ort für viele verfolgte Menschenrechtsverteidi-
ger*innen. Wir wollen die Aufnahme von besonders
gefährdeten Aktivist*innen durch humanitäre Visa
und beschleunigte Verfahren weiter unterstützen
sowie den Schutz vor transnationaler Repression
durch gemeinsame europäische Ermittlungen und
Sanktionen gegen die Verantwortlichen verbessern.
Gerade in Krisenzeiten kann Kultur Brücken bauen
und gegenseitiges Verständnis fördern. Deswegen
wollen wir Mittlerorganisationen der auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik stärken und internatio-
nale Forschungskooperationen ausbauen. Mit ehe-
maligen deutschen Kolonien wie Namibia haben
wir den Versöhnungs- und Aufarbeitungsprozess
vorangetrieben und Verantwortung für unsere Ver-
gangenheit übernommen. Diese Schritte werden wir
konsequent fortführen.
Gleichberechtigung macht Gesellschaften fried-
licher, gerechter, resilienter und wirtschaftlich
erfolgreicher. Eine feministische Außen- und Ent-
wicklungspolitik bedeutet, die Rechte, Ressour-
cen und Repräsentanz von Frauen, Mädchen und
marginalisierten Gruppen weltweit zu stärken. Wir
wollen unseren Einsatz gegen sexualisierte und ge-
schlechtsspezifische Gewalt verstärken, Überlebende
besser unterstützen, den Schutz von queeren Men-
schen vor Diskriminierung und Gewalt vorantreiben,
Geschlechtergerechtigkeit in allen Projekten der
internationalen Zusammenarbeit stärker verankern
und mehr Mittel für Frauenrechtsorganisationen
bereitstellen. Denn Gesellschaften sind immer nur
so stark, wie Frauen an der Gesellschaft teilhaben.
Das sehen wir insbesondere in den Ländern, in
denen Frauenrechte mit Füßen getreten werden
– wie in Afghanistan, im Iran oder unter der Schre-
ckensherrschaft des sogenannten Islamischen
Staates (IS). Wir setzen uns weiterhin für die Rechte
und Unterstützung von Frauen in Afghanistan ein,
stehen an der Seite der feministischen Protest-
bewegung im Iran und wollen Jesid*innen, die
besonders schlimmes Leid und Vertreibung durch
den IS erfahren haben, weiter schützen. Wir fordern
die Innenminister*innen der Länder dazu auf, einen
bundesweiten Abschiebestopp in den Iran und von
Jesid*innen zu beschließen.
Für die Sicherheit und Frieden in Europa
und der Welt
Unsere Sicherheit ist eingebettet in der EU und
der NATO. Wir stärken den europäischen Pfeiler der
NATO. Deutschland und Europa müssen unabhän-
gig von der US-Politik mehr Verantwortung für ihre
Sicherheit und darüber hinaus übernehmen. Das
können wir wirksamer und kosteneffizienter bewerk-
stelligen, je enger wir in der EU zusammenarbeiten.
Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen
und dem damit verbundenen notwendigen Ausbau
unserer Fähigkeiten. Dafür braucht es verlässliche
Finanzierung mit einem Verteidigungsetat, der
dauerhaft die in der NATO vereinbarten und auch
national definierten Ziele und Bedarfe erfüllt und
dafür dauerhaft deutlich mehr als 2 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts in unsere Sicherheit und
Verteidigungsfähigkeit investiert. Dies wird nicht
allein aus laufenden Einnahmen finanzierbar sein,
sondern wird mittelfristig auch über eine höhere
Kreditaufnahme finanziert werden müssen. Wie
zu Zeiten der Eurokrise und der Pandemie braucht
es auch auf europäischer Ebene eine gemeinsame
finanzielle Kraftanstrengung zur Friedenssicherung
in Europa, wie es die Europäische Kommission vor-
geschlagen hat. Damit wollen wir auch europäische
Synergieeffekte nutzen.
Es ist in unserem Interesse, auch global für Frieden
und Stabilität zu wirken und menschliche Sicher-
heit in den Fokus zu rücken. Dabei setzen wir auf
zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung,
die eng mit unseren europäischen Partnern abge-
stimmt ist. Die Fähigkeiten von zivilgesellschaftli-
chen Akteuren, der EU und UN, der Organisation für
65Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
sowie von Regionalorganisationen wie der Afrikani-
schen Union wollen wir dahingehend stärken.
Gerade in diesen Zeiten, in denen einige wenige
wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen, ist
es entscheidend, dass wir Abrüstungsinitiativen und
Rüstungskontrollen vorantreiben. Nur mit gemein-
samen Abrüstungsschritten schaffen wir dauerhaft
mehr Sicherheit für alle und wahren Frieden und
Stabilität. Dieser Einsatz ist und bleibt Pfeiler jeder
Friedenspolitik.
Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist durch
den aggressiven Imperialismus Russlands in weite
Ferne gerückt. Dennoch bleibt es richtig. Wir werden
den Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen
stärken, den Atomwaffenverbotsvertrag weiterhin
konstruktiv begleiten und die Zusammenarbeit mit
zivilgesellschaftlichen Organisationen ausbauen.
Es braucht dringend neue Regeln in den Bereichen
autonome Waffen, Cyber und Weltraum. Entwick-
lungen in diesen Bereichen verändern grundlegend,
wie Kriege geführt werden. Für uns ist klar: Wir
halten die Entwicklung und den Einsatz von letalen
vollautonomen Waffensystemen, die gänzlich ohne
menschliche Kontrolle über Leben und Tod entschei-
den, für falsch. Deswegen setzen wir uns intensiv auf
internationaler Ebene für eine Ächtung ein.
Die internationale Rüstungskontrollarchitektur wird
in Zeiten von Krieg und Krisen extrem herausge-
fordert. Wir stärken die Sicherheit aller Menschen,
indem wir mit unseren Partnern unsere Verpflich-
tungen zu völkerrechtlichen Verträgen auch in
schwierigen Zeiten aufrechterhalten.
Für eine moderne, verteidigungsfähige
Bundeswehr
Die Bundeswehr ist ein Grundpfeiler unserer Wehr-
haftigkeit. Als fest in die NATO integrierte Armee
dient sie der Wahrung von Frieden und Stabili-
tät. Angesichts der veränderten Sicherheitslage in
Europa rückt der Kernauftrag der Bundeswehr – die
Landes- und Bündnisverteidigung – wieder ins
Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Es geht wieder
darum, unseren Frieden und unsere Sicherheit im
äußersten Notfall auch militärisch verteidigen und
potenzielle Aggressoren wirksam abzuschrecken
und von Angriffen abzuhalten.
Auch global wachsen die sicherheitspolitischen
Herausforderungen. Unsere internationale Verant-
wortung werden wir deshalb auch weiterhin in inter-
nationalen Friedenseinsätzen annehmen. Auslands-
einsätze der Bundeswehr müssen in multilateralen
Bündnissen verankert und in ein politisches Gesamt-
konzept eingebettet sein, bei dem diplomatische,
entwicklungspolitische und militärische Maßnahmen
ineinandergreifen. Wir wollen die parlamentarische
Mitbestimmung und Kontrolle weiter verbessern und
dafür die Evaluierung von Einsätzen verstetigen.
Als einer der größten Arbeitgeber der Bundesrepu-
blik hat die Bundeswehr eine große gesellschaft-
liche Verantwortung für alle, die in ihr dienen und
dienten. Wir stehen ein für eine Bundeswehr, die die
Vielfalt unserer Gesellschaft abbildet und für alle
Menschen ein sicherer Ort ist. Auch nach dem Aus-
scheiden aus dem Dienst muss klar sein: Wer bereit
war, sein Leben für den Frieden einzusetzen, hat
unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung verdient.
Um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sicher-
zustellen, wollen wir den freiwilligen Wehrdienst
und die Reserve für eine breite Zielgruppe attrak-
tiver machen und durch gute Lebens- und Arbeits-
bedingungen für Soldat*innen Personal langfristig
binden. Für den potenziellen Verteidigungsfall
braucht es schnelle Rekrutierungsmechanismen
– unterstützt durch eine neue Form der Wehrerfas-
sung, die auch den Zivil- und Heimatschutz stärkt.
Darüber hinaus wollen wir die Kooperation von
Streitkräften innerhalb der EU und NATO zur Regel
machen, beispielsweise durch ständige multinatio-
nale Einheiten.
Wir wollen unsere Verteidigungsfähigkeit sicher-
stellen und unsere Bundeswehr mithilfe einer leis-
tungsfähigen europäischen Rüstungsindustrie gut
und modern ausstatten. Ineffiziente Doppelstruktu-
ren unter EU-Mitgliedstaaten wollen wir zugunsten
gemeinsamer Entwicklung, Produktion und Beschaf-
fung von Rüstungsgütern abbauen. Dafür braucht es
finanzielle Anreize, gemeinsame Investitionen und
den politischen Willen, um nationale industriepoli-
tische Interessen in den Dienst von mehr gemein-
66BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
samer Sicherheit zu stellen. Ein bedarfsorientierter
europäischer Rüstungsmarkt und eine restriktive
gemeinsame Exportpolitik sind zwei Seiten einer
Medaille. Wir wollen klare, transparente und an
Menschenrechten, unseren Werten und Sicherheits-
interessen orientierte Kriterien für Rüstungsexporte
auf nationaler und europäischer Ebene gesetzlich
verankern – mit vorangehenden Risikoanalysen,
einklagbaren Sanktionsmöglichkeiten und Endver-
bleibskontrollen.
Für globalen Klimaschutz
Die Klimakrise ist eine der größten Sicherheitsrisi-
ken des 21. Jahrhunderts: Sie zerstört Lebensgrund-
lagen, verstärkt Konflikte und zwingt Menschen zur
Flucht. Es ist in unserem unmittelbaren Interesse,
die Klimakrise und ihre Folgen abzumildern.
Viele Staaten haben die Chancen ambitionierter
Klimapolitik erkannt: Die Energiewende und nach-
haltige Technologien stabilisieren nicht nur das
Klima, sie schaffen auch massive wirtschaftliche
Wachstumsmöglichkeiten. Mit konsequenter Kli-
mapolitik hierzulande und effektiver Klimaaußen-
politik machen wir Deutschland zum Vorreiter und
unterstützen gleichzeitig andere Staaten auf ihrem
Weg zu klimaneutralem Wohlstand.
Im Rahmen der Klimakonferenzen haben wir trotz
widrigster Umstände erfolgreich für eine Abkehr
von den fossilen Energien gestritten, die Energie-
wende beschleunigt und Klimagerechtigkeit ent-
schieden vorangetrieben. Wir haben gezeigt: Es
macht einen Unterschied, wenn Grüne am Verhand-
lungstisch sitzen. Diesen Weg wollen wir fortsetzen.
Wir setzen uns dafür ein, dass Deutschland und
Europa ihren fairen Beitrag zur internationalen
Klimafinanzierung leisten, entsprechend der Be-
schlüsse der internationalen Klimakonferenz COP.
Dafür wollen wir innovative Finanzierungsinstru-
mente nutzen und gemeinsam mit unseren Part-
nern darauf hinwirken, dass Investitionen mit den
Zielen der Klimaneutralität und der Agenda 2030 in
Einklang gebracht werden. Im Sinne der Klimage-
rechtigkeit gilt besondere Unterstützung den vom
Klimawandel besonders betroffenen Staaten und
Gemeinschaften, gerade in Afrika und den kleinen
Inselentwicklungsstaaten. Wir unterstützen unsere
Partner zudem beim Schutz der Biodiversität.
Wir nutzen die Chancen einer ambitionierten Kli-
mapolitik auch für unsere Wirtschafts-, Finanz- und
Handelspolitik. Dabei setzen wir auf Instrumente
wie die Außenwirtschaftsförderung oder das dichte
Netz an Klima- und Energiepartnerschaften mit
mittlerweile über 30 Ländern im Globalen Norden
und Süden. Wir setzen uns dafür ein, dass in die-
sem Rahmen auch Technologiepartnerschaften mit
unseren Unternehmen geschlossen werden. Dazu
gehört, dass Know-how transferiert wird und lokale
Produktionskapazitäten aufgebaut werden, auch
um zu verhindern, dass durch andere Kräfte neue,
fatale Abhängigkeiten entstehen. Klimaaußenpolitik
kann auch Brücken zu Partnern bauen, die nicht alle
unsere Werte teilen.
Für robuste Partnerschaften und
internationale Gerechtigkeit
Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind
global. Wir gehen sie an durch internationale Part-
nerschaften in gegenseitigem Interesse: für Klima
und Biodiversität, für globale Gesundheit, für nach-
haltigen Wohlstand, für menschliche Sicherheit und
für Menschenrechte. Damit stellen wir nicht zuletzt
ein dringend benötigtes glaubhaftes Gegenangebot
zum Einfluss insbesondere Chinas und Russlands.
Wir stehen zu unserer historisch gewachsenen Ver-
antwortung für die ärmsten Länder und der Ver-
wirklichung sowie Weiterentwicklung der Agenda
2030 für nachhaltige Entwicklung. Es braucht
einen Endspurt und ambitionierte Folgeziele. Unser
Ansatz dafür ist feministisch und dekolonial. Wir
wollen eine eigenständige Entwicklungspolitik, die
strukturelle Ungerechtigkeiten abbaut und weltweit
gleichberechtigte Partnerschaften gestaltet.
Wir unterstützen Länder des Globalen Südens bei
ihrem Streben nach gerechter Repräsentanz in
internationalen Organisationen – nur so bleiben
multilaterale Foren zukunftsfähig. Reformen bei
den internationalen Finanzinstitutionen treiben wir
voran und gestalten Handelsabkommen fair und
nachhaltig. Wir setzen uns für solide Schuldenre-
strukturierungen und -erlasse für besonders belas-
67Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
tete Länder ein, um ihre Autonomie und Handlungs-
fähigkeit zu stärken. Daran arbeiten wir gemeinsam
mit Partnern in der EU, den G20 und G7, interna-
tionalen Organisationen, dem Privatsektor und der
Zivilgesellschaft.
Wir wollen das Recht auf Wasser und Nahrung
verwirklichen. Dafür fördern wir beispielsweise
agrarökologische Ansätze, schützen Landrechte
von Kleinbäuer*innen und unterstützen wirksame
Mechanismen gegen exzessive Finanzmarktspeku-
lationen mit Wasser, Land und Lebensmitteln. Die
Covid-19-Pandemie hat erneut gezeigt, dass Gesund-
heit globale und vorausschauende Zusammenarbeit
erfordert. In diesem Sinne wollen wir Partnerländer
im Aufbau ihrer Gesundheitssysteme unterstützen, die
Weltgesundheitsorganisation stärken und langfristige
Forschungs- und Entwicklungskooperation fördern.
Wir setzen uns dafür ein, dass Deutschland seine
internationalen Zusagen einhält und mindestens
die in der Organisation für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung (OECD) vereinbarte
Quote von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-
mens in Entwicklungszusammenarbeit investiert.
Darüber hinaus stellen wir zusätzliche Mittel für die
internationale Klima- und Biodiversitätsfinanzie-
rung bereit und setzen uns für ambitionierte neue
Finanzierungsziele für Klima und die Agenda 2030
ein. Um zur Deckung des massiven Investitionsbe-
darfs beizutragen, wollen wir auch den deutschen
Entwicklungsbanken einen verstärkten Zugang zum
Kapitalmarkt ermöglichen, insbesondere durch die
Erhöhung des Gewährleistungsrahmens des Bundes.
Wirkungsorientierung und Kohärenz sind der An-
spruch unseres gesamten internationalen Handelns.
68BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
NOTIZEN
69Entwurf zum Regierungsprogramm 2025
70BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
72BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Wahlprogramm 2021
https://www.bundestagswahl-bw.de/wahlprogramm-gruene-1
Deutschland.
Alles ist drin.Bundestagswahlprogramm 2021
Bereit, weil Ihr es seid.
Dieses Bundestagswahlprogramm wurde auf der 46. Bundesdelegiertenkonferenz
von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN beschlossen, die vom 11. bis 13. Juni 2021 digital
stattgefunden hat.
Herausgeber*in:
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
Telefon: 030 28442-0
Fax: 030 28442-210
E-Mail: info@gruene.de
Internet: gruene.de
V. i. S. d. P.:
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Annkathrin Schäfer
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
Layout und Satz:
Twentyfour Seven Creative Media Service GmbH, Berlin
twentyfour-7.de
Titelgestaltung:
neues tor eins Kommunikationsberatung GmbH, Berlin
Druck:
Frank Druck GmbH & Co. KG, Preetz
www.eversfrank.com
Bundestagswahlprogramm 2021
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN4Inhalt
Bereit, weil Ihr es seid.
Eine Einladung 9
Kapitel 1:
Lebensgrundlagen schützen 12
Wir schaffen klimagerechten Wohlstand 14
Wir schaffen Versorgungssicherheit
mit Erneuerbaren 21
Wir sorgen für nachhaltige Mobilität 29
Wir schützen Natur und Umwelt für ein
gutes Leben 40
Wir stärken Bäuer*innen, Tiere und Natur 48
Wir ermöglichen Tieren ein besseres Leben 53
Kapitel 2:
In die Zukunft wirtschaften 57
Wir fördern Unternehmer*innengeist,
Wettbewerb und Ideen 60
Wir geben dem Markt einen sozial-
ökologischen Rahmen 72
Wir bringen die Digitalisierung voran 74
Wir kämpfen für einen fairen und
nachhaltigen Handel 79
Wir machen die Finanzmärkte stabiler
und nachhaltiger 83
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN5Inhalt
Bundestagswahlprogramm 2021
Wir vollenden die Europäische Wirtschafts-
und Währungsunion 87
Wir haushalten solide, weitsichtig und gerecht 89
Kapitel 3:
Solidarität sichern 95
Wir fördern Kinder, Jugendliche und Familien 97
Wir sorgen für gute Arbeit und faire Löhne 103
Wir schaffen Gerechtigkeit zwischen den
Geschlechtern 109
Wir sichern die sozialen Netze 111
Wir geben Gesundheit und Pflege einen
neuen Wert 116
Wir schaffen bezahlbaren Wohnraum 130
Wir investieren in lebenswerte Dörfer
und Städte 135
Kapitel 4:
Bildung und Forschung ermöglichen 141
Wir fördern gute Bildung von Anfang an 144
Wir stärken Ausbildung und Studium 150
Wir ermöglichen lebensbegleitendes Lernen 152
Wir verbessern die Bedingungen für die
Wissenschaft 154
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN6Inhalt
Bereit, weil Ihr es seid.
Kapitel 5:
Zusammen leben 160
Wir machen den Staat effektiver und
bürger*innennäher 162
Wir treten ein für Vielfalt, Anerkennung und
gleiche Rechte 169
Wir erneuern das demokratische Fundament 175
Wir gestalten die vielfältige Einwanderungs-
gesellschaft 183
Wir rücken Feminismus, Queerpolitik und
Geschlechtergerechtigkeit in den Fokus 188
Wir stärken Sicherheit und Bürger*innenrechte 193
Wir garantieren den Rechtsstaat und stärken
den Verbraucherschutz 201
Wir fördern die Kultur, die Künste und den Sport 205
Wir bauen Europa weiter 211
Kapitel 6:
International zusammenarbeiten 217
Wir treiben die sozial-ökologische Trans-
formation voran 220
Wir stärken die multilaterale Zusammenarbeit 224
Wir arbeiten an guten Beziehungen in einer
multipolaren Welt 226
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN7Inhalt
Bundestagswahlprogramm 2021
Wir verteidigen die Menschenrechte 234
Wir schützen Geflüchtete 238
Wir streiten für eine gerechte
Weltwirtschaftsordnung 244
Wir treten ein für Frieden und Sicherheit 245
Regieren auf Augenhöhe
mit der Zukunft 255
Stichwortregister 259
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN8Bereit, weil Ihr es seid.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN9Einleitung
Bundestagswahlprogramm 2021
Eine Einladung
Liebe Wähler*innen,
durch Wahlen entscheidet eine Gesellschaft, wer sie sein will. Das
gilt erst recht für diese Bundestagswahl am 26. September. Mit ihr
endet eine Ära und eine neue kann beginnen. Zukunft ist aber nichts,
was uns einfach widerfährt. Sie, liebe Wähler*innen, können mit Ihrer
Stimme selbst entscheiden, welche Richtung sie nimmt.
Wir, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, legen mit diesem Programm unser
inhaltliches Angebot an Sie vor. Wir tun dies in einer Zeit des globalen
Ausnahmezustands. Die Pandemie hat uns alle bis ins Mark getroffen.
Sie hat im Guten gezeigt, zu welcher Gemeinsamkeit, Innovations-
kraft und Widerstandsfähigkeit wir Menschen erreichen können. Sie
hat aber auch die Schwachstellen unserer Gesellschaft schonungslos
offengelegt, und das in einer ohnehin verwundbaren Welt. Die globa-
len Krisen dieser Zeit – zuallererst die Klimakrise als wahre Mensch-
heitskrise – wirken in unser aller Leben hinein und gefährden Freiheit,
Sicherheit und Wohlstand.
Wir haben aber die Wahl: Wir können entscheiden, ob uns die Kri-
sen über den Kopf wachsen oder wir über sie hinaus. Die Erfahrungen
in der Pandemie zeigen, dass wir Krisen in gemeinsamer Kraftanstren-
gung bewältigen können. Durch die Solidarität, mit der unsere Gesell-
schaft den Verletzlichsten den stärksten Schutz gegeben hat. Durch
Rücksichtnahme, die so viele Menschen an den Tag legen. Durch Wis-
senschaft und Fortschritt. Täglich wachsen in der Pandemie Menschen
über sich hinaus – im Krankenhaus, im Altersheim, im Supermarkt, im
Labor, Kinder, Eltern und Lehrkräfte im Distanzunterricht, Jugendliche
allein zu Hause, Selbständige, die größte Anpassungsfähigkeit zeigen.
Jetzt ist es Zeit, dass die Politik über sich hinauswächst.
Wir können aus Fehlern lernen. Wir haben erlebt, wie fragil der
Status quo ist, wie zerbrechlich eine rein auf Profit ausgerichtete
Wirtschaft, aber auch, welche Bedeutung Grundrechte haben und wie
stark unsere Gesellschaft ist. Wir haben erfahren, wie begrenzt natio-
nale Antworten auf globale Fragen sind, gesehen, wie viel Unsicher-
heit entsteht, wenn man nur auf Sicht fährt, und wie notwendig eine
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN10Einleitung
Bereit, weil Ihr es seid.
Politik mit Weitblick und für Frieden ist. Je besser wir vorsorgen, je
widerstandsfähiger wir werden, je besser wir schützen, umso freier
können wir leben.
Als Gesellschaft haben wir den Schlüssel für so vieles schon in
der Hand. Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins
Zeitalter der Klimaneutralität führt. Wie man dafür den Kohleausstieg
beschleunigt und Versorgungssicherheit gewährleistet, wie viel mehr
Strom aus Wind und Sonne gewonnen werden kann und der Natur-
schutz gestärkt wird. Wir wissen, wie man eine sozial-ökologische
Marktwirtschaft entwickelt, die zukunftsfähige Jobs, sozialen Schutz
und fairen Wettbewerb in Deutschland und Europa zusammenbringt,
wie man der Globalisierung klare Regeln setzt und multinationale
Konzerne angemessen besteuert. Wir wissen, wie wir in eine starke
Gesundheitsversorgung und eine moderne Infrastruktur, in gute Schu-
len und öffentliche Räume, in einen gut funktionierenden und bür-
ger*innennahen Staat investieren können. Es ist möglich, Ungleich-
heit zu verringern, gleichwertige Lebensverhältnisse auf dem Dorf,
in der Kleinstadt und in der Metropole herzustellen und Kinder ins
Zentrum zu rücken. Wir können eine volle Gleichberechtigung der
Geschlechter erreichen und eine vielfältige Einwanderungsgesell-
schaft gestalten. Wir sind in der Lage und fest entschlossen, Europa
als Wertegemeinschaft demokratisch zu stärken und im globalen Sys-
temwettbewerb gerechter und handlungsfähiger zu machen. Das lässt
sich mit internationaler Solidarität meistern und wenn wir unsere Art,
zu leben und zu wirtschaften, so gestalten, dass wir Krisen an anderen
Orten der Welt nicht verschärfen. Aber Worte allein reichen nicht, wir
müssen es auch tun. Jetzt ist die Zeit fürs Machen.
Reaktive Politik hat die letzten Jahre über versucht das Schlimmste
zu verhindern. Aber es geht darum, das Beste zu ermöglichen. In kur-
zer Zeit eine klimaneutrale Gesellschaft zu werden, ist eine epochale
Aufgabe mit inspirierender Kraft. Wir wollen einen Aufschwung schaf-
fen, der über das rein Ökonomische hinausgeht. Einen Aufschwung,
der das ganze gesellschaftliche Leben in seiner Stärke und Vielfalt
erfasst: Bildung und Kultur, Arbeit und Digitalisierung, Wissenschaft
und Innovation.
Dieses Programm ist dafür ein Anfang. Es schlägt konkrete und
ehrgeizige Projekte für politisches Handeln in einer Bundesregierung
in den kommenden vier Jahren vor. Die Aufgaben sind groß, die Wider-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN11Einleitung
Bundestagswahlprogramm 2021
stände ebenfalls. Aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass viele
Menschen in der Gesellschaft der Politik weit voraus sind. Lassen
Sie uns also gemeinsam die politische Arbeit auf die Höhe der Zeit
bringen. Wenn Sie, liebe Wähler*innen, uns das Mandat dafür erteilen
und wir diese Projekte mit Ihnen Schritt für Schritt umsetzen dürfen,
schaffen wir zusammen die Grundlagen für ein Jahrzehnt des mutigen
Vorangehens, des Machens, des Gelingens. Macht ist in einer Demo-
kratie nur geliehen. Diese Leihgabe verpflichtet zu sauberer Politik –
zu einer Politik, die das Wohl der Bürger*innen über das persönliche
Interesse stellt, die Rechenschaft ablegt und sich selbst Grenzen setzt.
In diesem Sinne werden wir handeln.
Wir werden manch gute Tradition auf neue Weise zum Tragen
bringen, manch Neues begründen, manch Gewohntes ablösen, aber
wir schaffen Sicherheit im Übergang. Nach einer Ära der politischen
Kurzfristigkeit bringen wir den langen Atem, den klaren Kompass
und die Durchsetzungsfähigkeit mit, um unser Land – im Herzen
Europas, der Welt zugewandt – in eine bessere Zukunft zu führen. Ja,
zu führen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik kämpfen
wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, um die politische Führung in diesem
Land, inhaltlich und personell. Wir stehen auf einem festen Werte-
fundament und sind tief verwurzelt in der Gesellschaft. Wir haben
ein klares Ziel für dieses Jahrzehnt vor Augen: klimagerechten Wohl-
stand. Wir sind gewachsen und gestärkt durchs Regieren in Kommu-
nen, Ländern und im Bund. Mit Erfahrung und Kompetenz, mit Herz
und Weitblick, mit Zuversicht und Leidenschaft, offen und lernfähig,
so gehen wir in dieses Jahrzehnt. Das ist unser Angebot und so wer-
ben wir um Mehrheiten für die kommenden vier Jahre. Wir laden Sie
ein, mit uns diesen Weg zu gehen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN12Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Kapitel 1:
Lebensgrundlagen schützen
Die Klimakrise ist die Existenzfrage unserer Zeit. Daher ist Klima-
schutz keine Zukunftsaufgabe, sondern Klimaschutz ist jetzt. Wenn wir
zu Beginn dieses Jahrzehnts konsequent handeln und die sozial-öko-
logische Transformation einläuten, können wir die Klimakatastrophe
noch verhindern und zu einer klimagerechten Welt beitragen. Klima-
neutralität ist dabei eine große Chance für höhere Lebensqualität,
mehr soziale Gerechtigkeit und einen klimagerechten Wohlstand. Sie
gilt es zu ergreifen.
Wir haben in den vergangenen Jahren mit Hitzesommern, Wald-
sterben, Überschwemmungen und Dürren die Klimakrise bereits zu
spüren bekommen. Sie hat dramatische Konsequenzen bei uns und
auf der ganzen Welt: etwa für die Gesundheit der Menschen – und es
sind vor allem die mit den geringsten Einkommen und insbesondere
die Menschen im globalen Süden, die den Preis dafür zahlen, dass der
ökologische Fußabdruck der Reichsten am größten ist. Oder für die
Bäuer*innen, denen zunehmend die Grundlage entzogen wird. Und für
den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Alle diese Folgen werden
sich vervielfachen, wenn wir jetzt nicht umsteuern. Je entschiedener
wir handeln, desto mehr Freiheiten und Alternativen sichern wir für
jetzige und künftige Generationen. Wir werden deshalb konsequent
den Weg zur Klimaneutralität gehen.
Das verlangt Können, Mut und Machen. Wir stellen in einer künftigen
Regierung das Pariser Klimaabkommen in den Mittelpunkt und richten
das Handeln aller Ministerien danach aus. Wir lenken all unsere Kraft
darauf, Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die uns auf den 1,5-Grad-
Pfad führen. Klimagerechtigkeit ist eine Frage des politischen Kanons.
Wir begreifen es als unsere Aufgabe, bessere Regeln zu schaffen, nicht
den besseren Menschen. Solch klare politische Ordnungsrahmen ent-
lasten auch uns als Menschen im Alltag und schaffen Freiheit.
Natürlich bedeutet Klimaneutralität Veränderung, aber diese Ver-
änderung schafft Halt in der Zukunft. Denn sie bewahrt uns davor,
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN13Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Kipppunkte zu überschreiten, und ermöglicht ein klimagerechtes,
ein besseres Leben. Wir bringen deshalb Strom, Wärme, Verkehr und
Industrie zusammen, beenden Energieverschwendung und sorgen so
für eine effiziente Verzahnung dieser Bereiche. Statt auf Kohle, Öl und
fossilem Gas wird das Energiesystem auf Sonnen- und Windenergie
basieren. Statt an fossilen Verbrennungsmotoren festzuhalten, schaf-
fen wir eine neue Mobilität mit der Bahn, dem Rad, zu Fuß oder mit
emissionsfreien Autos. Statt Öl und Erdgas wärmt uns künftig die Kraft
der Erneuerbaren. Die Zukunft wird damit leiser, sauberer, gesünder,
günstiger und sozial gerechter. Weniger Autos in der Stadt bedeuten
mehr Platz für uns Menschen. Leisere Straßen und saubere Luft die-
nen besonders jenen, die sich nicht die Villa am ruhigen Stadtrand
leisten können. Mehr Angebote an klima- und umweltfreundlichen
Verkehrsmitteln, zum Beispiel Rufbussen oder Carsharing, erleichtern
zu pendeln und befördern ein gutes Leben auf dem Land.
Mit dieser großen Veränderung entstehen neue Geschäftsfelder,
neue Industriezweige, neue Arbeitsplätze. Andere Bereiche werden
sich wandeln, einige werden verschwinden. Für viele Menschen ist das
auch eine große Herausforderung, ja Zumutung. Die sozial-ökologi-
sche Transformation gelingt nur, wenn wir gemeinsam alles dafür tun,
Verluste zu verringern und Brücken zu bauen. So müssen diejenigen,
die neue Chancen oder Weiterbildung brauchen, sie auch bekommen.
Und es ist unsere Aufgabe, Sorge dafür zu tragen, dass die Kosten und
Belastungen dieser Veränderung gerecht verteilt sind. Klimagerechter
Wohlstand bedeutet Ökologie und Soziales zusammenzudenken und
den Übergang gut zu gestalten: für Menschen in der Stadt und auf
dem Land. Für die Handwerkerin wie für den Stahlarbeiter.
Der Verlust an intakter Natur und Umwelt ist ebenso dramatisch
wie die Klimakrise und eine der größten Bedrohungen für ein gutes
und gesundes Leben. Wenn wir unsere Lebensgrundlagen schützen
wollen, wenn wir auch die zweite große ökologische Krise, das Arten-
sterben, eindämmen wollen, dann bedarf es mehr als einer Kurskor-
rektur, dann brauchen wir einen neuen Kurs. Wir machen die plane-
taren Grenzen zum Leitprinzip unserer Politik und tragen so auch
zu mehr Umweltgerechtigkeit bei. Entsprechend verändern wir die
Wirtschaftsweise, denn auf einem endlichen Planeten kann es kein
unendliches Wachstum geben. Wir setzen Prioritäten. Von jetzt an
wird belohnt und gefördert, was Mensch und Tier, Klima und Natur
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN14Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
schützt. Und was zerstörerisch wirkt, muss dafür auch die Kosten tra-
gen und so schnell wie möglich überwunden werden. Indem wir den
Schutz der Meere und Gewässer, des Klimas und der Böden, der Tiere
und der Pflanzen zum Bestandteil unseres Wirtschafts- und Rechts-
systems machen, kann es gelingen, die Stabilität der Ökosysteme und
unserer Lebensgrundlagen zu gewährleisten. Und damit auch unsere
Grundlagen für ein gutes und friedliches Zusammenleben.
Wir schaffen klimagerechten Wohlstand
Mehr Lebensqualität durch Klimaneutralität
Der Weg in die Klimaneutralität bietet riesige Chancen auf mehr Lebens-
qualität: Städte mit weniger Staus und Abgasen, mit Platz, um sicher
Rad zu fahren und zu Fuß zu gehen, zu spielen und zu leben. Dörfer,
die endlich angebunden sind an den öffentlichen Nahverkehr. Wälder,
in denen auch unsere Kinder noch die Schönheit der Natur entdecken
können. Gesundes Essen, hergestellt unter Wahrung von Tierrechten
und Umweltschutz. Klimaschutz ist so viel mehr als reine Technik, er
ist die Voraussetzung für ein gesundes Leben auf einer gesunden Erde.
Die Energierevolution: erneuerbar heizen, wohnen, wirtschaften
Klimaneutralität heißt: raus aus den fossilen Energien. Nicht nur der
Strom, auch das Benzin in unseren Autos, das Kerosin im Flugzeug-
tank, das Schweröl im Schiff, das Öl für die Heizung und das Gas im
Industriebetrieb müssen auf erneuerbare Energien umgestellt wer-
den. Das ist nichts weniger als eine Energierevolution. Dazu braucht
es zuallererst eine massive Ausbauoffensive für die Erneuerbaren, die
so schnell wie möglich umgesetzt wird. Daran hängen die Zukunft
unseres Industriestandortes und unsere Versorgungssicherheit. Der
Ausbaupfad wird durch die Kraft und Kapazität von Industrie und
Handwerker*innen beschränkt, darf aber nicht von den politischen
Rahmenbedingungen begrenzt werden. Daher beseitigen wir in einem
kontinuierlichen Prozess bestehende Ausbauhemmnisse – naturver-
träglich und zugunsten der Bürger*innen. Unser Ziel ist ab sofort ein
jährlicher Zubau von mindestens 5 bis 6 Gigawatt (GW) Wind an Land,
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN15Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
ab Mitte der 20er Jahre von 7 bis 8 GW, bei Wind auf See wollen wir
35 GW bis 2035. Im Bereich Solarenergie werden wir den Ausbau von
beginnend 10 bis 12 GW auf 18 bis 20 GW pro Jahr steigern ab Mitte
der 20er. Mit einer umfassenden Steuer- und Abgabenreform wollen
wir dafür sorgen, dass die Sektorenkoppelung vorankommt und Strom
zu verlässlichen und wettbewerbsfähigen Preisen vorhanden ist. Das
Energiemarktdesign ändern wir, sodass erneuerbarer Strom nicht
länger ausgebremst wird. Wir stellen Sonne und Wind ins Zentrum
und ermöglichen es Industrie, Gewerbe und Handel, über flexibleren
Verbrauch besonders viel zur Integration der Erneuerbaren beizutra-
gen. Erzeugungsspitzen machen wir nach dem Prinzip „nutzen statt
abschalten“ für Speicher und die Produktion von Wärme oder grünem
Wasserstoff nutzbar. Doppelte Belastungen und andere Bremsklötze
schaffen wir ab. Kritische Infrastrukturen sichern wir mit notstrom-
fähigen Solaranlagen. Verteilnetze und Verbraucher*innen statten
wir mit intelligenter Technik aus, damit sie flexibel reagieren können,
wenn gerade viel erneuerbarer Strom produziert wird.
Energieeffizienz – weniger ist mehr
Auch in einer Welt der Erneuerbaren ist Energie ein wertvolles Gut,
mit dem wir sparsam und effizient umgehen müssen. Das gilt umso
mehr, solange wir noch Kohle, Öl und fossiles Gas verbrennen. Unser
Ziel sind Gebäude, die gut gedämmt sind, verbrauchsarme Autos, auch
wenn sie elektrisch betrieben werden, effiziente Gewerbe- und Indus-
trieprozesse sowie Weitergabe und Nutzung von Abwärme. Dafür
machen wir klare ordnungsrechtliche Vorgaben. Strompreisvergünsti-
gungen für Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen,
sollen an die Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen geknüpft
werden. Denn je weniger Energie benötigt wird, desto schneller schaf-
fen wir 100 Prozent Erneuerbare, erreichen die Klimaziele und sparen
Kosten für Energieinfrastruktur. Klimaschutz lohnt sich.
Ein Ordnungsrahmen für eine sozial-ökologische
Marktwirtschaft
Wir müssen unsere Wirtschaft auf Klimaneutralität und die plane-
taren Grenzen ausrichten und eine Kreislaufwirtschaft etablieren.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN16Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Den wirtschaftlichen Aufbruch nach der Corona-Krise und die öko-
logische Modernisierung wollen wir zusammenbringen. Dazu braucht
es eine sozial- ökologische Neubegründung unserer Marktwirtschaft.
Wir wollen mit ehrgeizigen Vorgaben in Form von Grenzwerten, CO2-
Reduktionszielen und Produktstandards der deutschen und europäi-
schen Wirtschaft Planungssicherheit geben und Impulse für neue
Investitionen setzen. Faire Preise sorgen dafür, dass sich klimagerech-
tes Handeln lohnt. Forschung und Innovationen für klimagerechtes
Wirtschaften wollen wir stärker fördern. Die öffentliche Beschaffung
richten wir konsequent auf die ressourcenschonendsten und sozial
verträglichsten Produkte und Dienstleistungen aus. So machen wir
unsere Wirtschaft zur Spitzenreiterin bei den modernsten Technolo-
gien und schützen unsere natürlichen Lebensgrundlagen.
Grüne Digitalisierung
Ob vernetzte Fahrzeuge, effiziente Industrie, punktgenaue Verteilung
regenerativer Energie oder intelligente Bewässerung auf Feldern: Mit
digitalen und datengetriebenen Innovationen können wir den Energie-
und Ressourcenverbrauch besser reduzieren und bei Zukunftstechno-
logien führend werden. Hierzu fördern und priorisieren wir digitale
Anwendungen und Lösungen, die einen Beitrag zur Ressourcenscho-
nung leisten oder nachhaltiger sind als analoge. Rebound-Effekte
gilt es generell zu vermeiden, Suffizienz zu unterstützen. Wir fördern
Alternativen zu kritischen Rohstoffen wie seltene Erden und deren
menschenrechtskonforme Gewinnung. Ausschreibungs- und Beschaf-
fungskriterien sind so anzupassen, dass möglichst sozial-ökologisch
nachhaltige Technologien vorrangig zum Einsatz kommen. Bei IT-
Beschaffungen des Bundes müssen Faktoren wie Herstellerabhängig-
keit, Folgebeschaffung, technische Offenheit, Sicherheit, Datenschutz,
Reparaturfähigkeit, Nachhaltigkeit und soziale Kriterien zwingend in
die Bewertungen einfließen und Zertifizierungen wie der Blaue Engel
für IT-Produkte zum Standard werden. Wir wollen alle Rechen- und
Datencenter des Bundes nachhaltig umstellen, mit erneuerbarer Ener-
gie betreiben und zertifizierte umweltfreundliche Hardware einset-
zen. Zugleich gilt es, Anreize zu schaffen, um den Stromverbrauch von
Rechenzentren zu reduzieren, einschließlich Umstellung auf Wasser-
kühlungssysteme, und CO2-neutrale Rechenzentren zu fördern.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN17Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Neue Arbeitsplätze mit guten Bedingungen
Eine ambitionierte Klimaschutzpolitik und der klimaneutrale Umbau
der Wirtschaft sind die beste Chance, bestehende Arbeitsplätze in
Deutschland und anderen Ländern zu erhalten und neue zu schaf-
fen. Die sozial-ökologische Modernisierung stärkt die Wettbewerbs-
fähigkeit der hiesigen Unternehmen und kann zu einer Renaissance
von Industriearbeitsplätzen führen. Auf dem Weg zur Klimaneutrali-
tät werden in den kommenden Jahren hunderttausende neue Jobs
entstehen – Green Jobs. Sie entstehen im Handwerk und in der Bau-
wirtschaft, in neuen Industriebereichen und der Kreislaufwirtschaft,
in der Batteriezellenproduktion und der Wasserstoffindustrie sowie
in neuen Dienstleistungsfeldern. Wir wollen, dass die neuen Jobs
nach Möglichkeit einem Tarifvertrag oder mindestens gleichwertigen
Bedingungen unterliegen. Darauf werden wir auch bei der Förderung
von neuen Wirtschaftsfeldern achten.
Sicher im Wandel mit einem Qualifizierungs-Kurzarbeitergeld
Wir sehen es als unsere Verpflichtung, Unternehmen und ihre Beschäf-
tigten auf dem Weg hin zu einem klimaneutralen Wirtschaftssystem
zu unterstützen. Gerade auch dort, wo sich Jobprofile grundlegend
verändern oder Arbeitsplätze verloren gehen. Es braucht in der ökolo-
gischen Transformation ein noch viel besseres Angebot an Weiterbil-
dung und Qualifizierung. Dazu wollen wir ein Recht auf Weiterbildung
einführen und mit einem Weiterbildungsgeld auch für Erwerbstätige
in Qualifizierungsphasen eine soziale Absicherung schaffen. Mit einem
neuen Qualifizierungs-Kurzarbeitergeld ermöglichen wir Unterneh-
men, in Phasen der Transformation ihre Beschäftigten im Betrieb
zu halten und nachhaltig zu qualifizieren. Die Qualifizierungs-Kurz-
arbeit koppeln wir eng an die Sozialpartnerschaft. Zudem wollen wir
die betriebliche Mitbestimmung bei Entscheidungen über die öko-
logische Transformation stärken. Unternehmen, Gewerkschaften und
Betriebsräte wissen gemeinsam am besten, wie die Transformation zu
gestalten ist.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN18Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Transformationsfonds für die Regionen
Die ökologische Modernisierung ist gerade für viele industriell
geprägte Regionen eine große Herausforderung. Um Regionen und
insbesondere die dort ansässigen kleinen und mittleren Unterneh-
men zu unterstützen, wollen wir regionale Transformationsfonds auf-
legen. Die Förderung richtet sich an Unternehmen, die aus eigener
Kraft den ökologischen Strukturwandel nicht bewältigen können, mit
ihrem Standort aber fest in der Region verankert sind und dort blei-
ben wollen. Regionale Akteur*innen aus Wissenschaft, Politik, Wirt-
schaft und Gewerkschaften sollen eingebunden werden und gemein-
same Visionen erarbeiten, wo die Region sozial und wirtschaftlich in
Zukunft stehen sollte. Gleichzeitig wollen wir neue Formate wie Real-
labore und Experimentierräume fördern, in denen Zivilgesellschaft,
Wissenschaft, Wirtschaft und Kommunen gemeinsam an Lösungen für
Herausforderungen vor Ort arbeiten und forschen.
Klimaschutz-Sofortprogramm auflegen
Zentrale Grundlagen unserer Politik sind das Klimaabkommen von
Paris sowie der Bericht des Weltklimarates zum 1,5-Grad-Limit, der
verdeutlicht, dass jedes Zehntelgrad zählt, um das Überschreiten von
relevanten Kipppunkten im Klimasystem zu verhindern. Es ist daher
notwendig, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Dafür ist unmittelba-
res und substanzielles Handeln in den nächsten Jahren entscheidend.
Doch aktuell lahmt der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Koh-
leausstieg kommt zu spät, im Verkehrs- und Gebäudesektor geht es
kaum voran. Gemäß der Klimaentscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts, die auch auf den Sachverständigenrat für Umweltfragen ver-
weist, müssen wir unsere Klimapolitik am Budgetansatz orientieren.
Der Weltklimarat beziffert das globale CO2-Budget ab dem Jahr 2018
für das 1,5-Grad-Ziel mit einer 67-prozentigen Wahrscheinlichkeit
der Zielerreichung auf 420 Gigatonnen CO2. Der Sachverständigenrat
hat daraus ein verbleibendes nationales Kohlenstoffbudget von 6,6
Gigatonnen CO2 ab 2020 abgeleitet. Bei fortdauernden Emissionen
auf heutigem Niveau wäre das deutsche CO2-Budget in weniger als
neun Jahren verbraucht, bei einer linearen Reduktion rund um 2035.
Ein längerer Zeitverlauf zur Treibhausgasneutralität erfordert über-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN19Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
proportionale Reduktionserfolge in den nächsten Jahren. Deswegen
werden wir ein Klimaschutz-Sofortprogramm auf den Weg bringen,
das in allen Sektoren sofort wirksame Maßnahmen anstößt, beste-
hende Ausbauhindernisse beseitigt, naheliegende Einsparmöglichkei-
ten umsetzt und auch die Klima-und Entwicklungspartnerschaften
im Sinne des globalen Budgetansatzes stärkt. Wir werden das noch
immer ungenügende Klimaschutzgesetz generationen- und budget-
gerecht nachschärfen, jahres- und sektorenscharf ausbuchstabieren,
die Rolle des Expertenrates für Klimafragen stärken und das deutsche
Klimaziel 2030 auf mindestens minus 70 Prozent anheben. Unser Ziel
ist es, 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2035 zu erreichen. So
kann Deutschland in 20 Jahren klimaneutral werden.
Klimagerechtes Wirtschaften belohnen
Effektiver und sozial gerechter Klimaschutz muss sich auch ökono-
misch lohnen. Derzeit sind die Kosten der Schäden, die durch den
Ausstoß einer Tonne CO2 entstehen, nur sehr gering eingepreist. Nach
aktuellen Berechnungen des Umweltbundesamtes verursacht die
Emission einer Tonne CO2 Schäden von rund 195 Euro. Unser Ziel ist
eine Wirtschaft, in der die nachhaltigsten Produkte auch die güns-
tigsten sind. Das wollen wir durch einen klugen Mix aus CO2-Prei-
sen, Anreizen und Förderung sowie Ordnungsrecht und Abbau von
umweltschädlichen Subventionen ändern. Wollte man die Klimaziele
allein über die Bepreisung von CO2 erreichen, würde das unweiger-
lich zu erheblichen sozialen Unwuchten führen. Einige könnten sich
rauskaufen, andere nicht mehr teilhaben. Wir sehen in der CO2-Beprei-
sung also ein Instrument von vielen – und werden es wirksam und
sozial gerecht einsetzen. Das EU-Emissionshandelssystem (ETS) ist
im Lichte des neuen EU-Klimaziels für 2030 zu reformieren, um seine
Lenkungswirkung endlich voll und ganz zu erfüllen. Mit einer deut-
lichen Reduktion von Emissionszertifikaten und der Löschung über-
schüssiger Zertifikate vom Markt erreichen wir einen CO2-Preis im
Bereich Strom, Industrie und europäischem Luftverkehr, der dafür
sorgt, dass erneuerbare Energien statt Kohle und Kerosin zum Einsatz
kommen, die Industrie Planungssicherheit bekommt und einen Anreiz
hat, in Dekarbonisierung und Technologieführerschaft zu investieren.
Für die Bereiche Verkehr und Wärme wurde in Deutschland auf Druck
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN20Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
der Klimabewegung und von uns Grünen zudem ein CO2-Preis einge-
führt, dessen Lenkungswirkung aber weiter sozial gerecht verbessert
werden muss. Wir wollen die Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro
auf das Jahr 2023 vorziehen. Danach soll der CO2-Preis so ansteigen,
dass er im Konzert mit den Fördermaßnahmen und ordnungsrecht-
lichen Vorgaben die Erreichung des neuen Klimaziels 2030 absichert.
Die Einnahmen aus dem nationalen CO2- Preis geben wir als Energie-
geld pro Kopf an die Menschen zurück.
Energiegeld einführen
Damit Klimaschutz sozial gerecht ist, wollen wir die Einnahmen aus
dem nationalen CO2-Preis direkt an die Bürger*innen zurückgeben.
Dazu streben wir neben der Senkung der EEG-Umlage ein Energie-
geld an, das jede*r Bürger*in erhält. Über das Energiegeld geben wir
alle zusätzlichen Einnahmen transparent an die Menschen zurück und
entlasten sie direkt, indem sie eine Rückerstattung pro Kopf bekom-
men. So wird klimafreundliches Verhalten belohnt und es findet ein
sozialer Ausgleich im System statt. Unterm Strich werden so Gering-
verdiener*innen und Familien entlastet und vor allem Menschen mit
hohen Einkommen belastet. Bezieher*innen von Transferleistungen
wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe profitieren ebenfalls, da das
Energiegeld nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden soll.
Um zum Beispiel Pendler*innen mit niedrigen Einkommen bei der
Anpassung zu unterstützen, legen wir einen Klimabonus-Fonds auf,
der mit großzügigen Hilfen unterstützt, etwa beim Umstieg auf Bus
und Bahn oder ein emissionsfreies Fahrzeug.
CO2-Bremse für alle Gesetze
Wir wollen Klimaschutz systematisch in unsere Rechtsordnung auf-
nehmen. Die Vorgaben des Pariser Klimavertrages sowie den Atom-
ausstieg wollen wir im Grundgesetz verankern und Ökologie als wei-
teres Grundprinzip staatlichen Handelns stärken. Dem Staat geben
wir mehr Möglichkeiten, durch eine intelligente Steuergesetzgebung
ressourcenschonendes Verhalten zu belohnen und die Erzeugung von
CO2 mit einem Preis zu versehen. Für Genehmigungsprozesse füh-
ren wir eine Klimaverträglichkeitsprüfung ein. Mit einer CO2-Bremse
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN21Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
machen wir Klimaschutz zur Querschnittsaufgabe, indem wir Gesetze
auf ihre Klimawirkung hin prüfen, die Vereinbarkeit mit den nationa-
len Klimaschutzzielen und dem CO2- Budget sicherstellen und den
möglichen Einsatz von klimafreundlichen Alternativen gewährleisten.
Wir schaffen Versorgungssicherheit
mit Erneuerbaren
Schneller raus aus der Kohle
Nach dem Willen der Großen Koalition werden in Deutschland Kohle-
kraftwerke noch bis 2038 dem Klima und unserer Gesundheit scha-
den. Das ist mit den Klimazielen von Paris und dem 1,5- Grad-Pfad
nicht vereinbar. Wir setzen uns dafür ein, den Kohleausstieg bis 2030
zu vollenden. In diesem Sinne werden wir alle Möglichkeiten – auch
auf EU-Ebene – nutzen. Um nicht erneut den Kohlekonzernen Mil-
liarden an Steuergeldern zu schenken, werden wir die massiven Kli-
maschäden der Kohleverstromung einpreisen. Das gelingt am bes-
ten über den EU- Emissionshandel – mit einem lenkenden CO2-Preis.
Sollte dieser auf europäischer Ebene nicht schnell genug erreicht
sein, setzen wir auf einen nationalen CO2-Mindestpreis im ETS für
Industrie und Strom von 60 Euro pro Tonne CO2. Ein beschleunigter
Kohleausstieg bedarf im Sinne der Versorgungssicherheit eines mas-
siven Ausbaus der erneuerbaren Energien und einer Ausrichtung des
Energiemarktdesigns auf Sonne und Wind. Zugleich wollen wir für den
Gesundheitsschutz die Grenzwerte für den Ausstoß von Schadstoffen,
insbesondere Quecksilber, aus Großfeuerungsanlagen anschärfen.
Niemand soll mehr für einen Tagebau sein Zuhause verlassen müssen.
Den durch den Braunkohletagebau Garzweiler von Enteignung und
Vertreibung bedrohten Menschen muss das Land Nordrhein-Westfa-
len endlich Planungs- und Rechtssicherheit für Erhalt und Zukunft
ihrer Dörfer geben. Dies wollen wir im Bund mit den richtigen Rah-
menbedingungen unterstützen. Das Bergrecht werden wir grundle-
gend überarbeiten und Betroffenenrechte, Umwelt- und Naturschutz
stärken. Naturholz ist als Rohstoff vielfältig einsetzbar und zu wert-
voll, um es in Großkraftwerken zu verbrennen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN22Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Solardächer zum Standard machen
Wir wollen eine Energiewende, bei der alle mitmachen können – Mie-
ter*innen wie Hausbesitzer*innen. Unsere Dächer, Fassaden und Bal-
kons können zu Kraftwerken werden – jede Fläche mit Solaranlage
hilft dem Klimaschutz. Die eigene Strom- und Wärmeenergie wird
dezentral und vor Ort erzeugt und genutzt. Unser Ziel sind 1,5 Millio-
nen neue Solardächer in den kommenden vier Jahren. Deshalb wer-
den wir Solardächer fördern und zum Standard machen. Beginnend
mit Neubauten, öffentlichen und Gewerbegebäuden sowie Dachsa-
nierungen wollen wir diesen neuen Standard perspektivisch auf den
Bestand ausweiten. Leasing-, Pacht- und Contractingmodelle können
hier unterstützend wirken. Für besonders erhaltenswerte Bausubs-
tanz werden wir Lösungsansätze erarbeiten. Die Mieterstrom-Regeln
werden wir deutlich vereinfachen und Mieterstromprojekte fördern.
Bürokratische Hürden für die Nutzung des Stroms vom eigenen Dach
wollen wir abbauen, Eigenverbrauch und Direktvermarktung stärken.
Photovoltaik auf dem Land
Die Photovoltaik wollen wir nicht nur auf die Dächer, sondern auch
in die Fläche bringen, indem wir die politischen und rechtlichen Rah-
menbedingungen verbessern und den Bau erleichtern. Der Ausbau
soll vorzugsweise auf versiegelten Flächen, etwa über Parkplätzen,
neben Autobahnen und Schienen und auf Konversions- oder Berg-
baufolgeflächen, erfolgen und nicht auf wertvollem Ackerland. Neue
Flächenkonkurrenzen wollen wir vermeiden und stellen den Mehr-
fachnutzen für Energieerzeugung, Biodiversität und Landwirtschaft
in den Vordergrund. Agri-Photovoltaikanlagen, d. h. Stromproduktion
und landwirtschaftliche bzw. gartenbauliche Nutzung auf einer Flä-
che, können einen wichtigen Beitrag für Klimaschutz und Ökologie
leisten. Wenn man es richtig anstellt, können Freiflächenanlagen zu
Lebensräumen werden. Landwirtschaftsbetriebe sollen für ökologi-
sche Leistungen Geld erhalten und so zusätzliche Erträge erzielen.
Wichtig ist zudem die Möglichkeit, direkte langfristige Stromlieferver-
träge abschließen zu können. Bei der Planung gilt es die Bürger*innen
frühzeitig einzubeziehen und zu beteiligen, von den Erlösen müssen
die Kommunen profitieren.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN23Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Mit Windenergieausbau den Wirtschaftsstandort
Deutschland sichern
Auch bei der Windkraft müssen wir schneller vorankommen, zum Bei-
spiel indem wir den Ausbau außerhalb der Ausschreibungen stärken.
Beim Windausbau gilt es den Konflikt mit Natur- und Artenschutz
zu minimieren, Anwohner*innen zu schützen und die Verfahren zur
Genehmigung, auch durch den Abbau bürokratischer Hürden und
klare Rahmenbedingungen, zu beschleunigen. In einem ersten Schritt
wollen wir die erneuerbaren Energien als zwingend für die Versor-
gungssicherheit definieren und dafür 2 Prozent der Fläche bundes-
weit nutzen. Alle Bundesländer haben hierfür ihre entsprechenden
Beiträge zu leisten. Verhinderungsplanungen lehnen wir ab. Exzessive,
pauschale Mindestabstände zu Siedlungen leisten keinen Beitrag zur
Akzeptanzsteigerung. Wir sorgen mit frühzeitiger Bürger*innenbetei-
ligung vor Ort, klaren Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für Wind sowie
mit Ausschlussgebieten und gezielten Artenschutzprogrammen für
eine anwohner*innenfreundliche und naturverträgliche Standort-
wahl und stärken zugleich den Schutz von Vögeln und Fledermäusen.
Wir werden die Planungen und Genehmigungen durch vereinfachte
Verfahren, mehr Personal und einheitliche Bewertungsmaßstäbe
beschleunigen. Repowering wollen wir erleichtern, sodass alte Wind-
energieanlagen am gleichen Standort zügig durch leistungsstärkere
ersetzt werden können. Über 20 Jahre alten Anlagen werden wir einen
Weiterbetrieb ermöglichen. Den Bau von Windenergieanlagen auch in
direkter Nähe zu Industrie und Gewerbe wollen wir unterstützen, um
Strom dort zu produzieren, wo er gebraucht wird und wo der Lärm-
schutz von Anwohner*innen leichter zu gewährleisten ist. Wir bauen
unsere Offshore-Parks weiter aus und verbinden sie in der Europäi-
schen Energieunion mit den Solarparks der Mittelmeerstaaten, mit
der Wasserkraft Skandinaviens und der Alpen. Je vernetzter, desto
stärker. Ein Kontinent ist für die Energiewende eine gute Größe.
Die Bürger*innen an der Energiewende beteiligen
Wir wollen, dass von der Energiewende möglichst viele profitieren.
Deshalb werden wir Bürger*innen-Projekte bei Wind- und Solarparks
besonders fördern und alle europarechtlich garantierten Möglich-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN24Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
keiten für Bürger*innen-Energiegemeinschaften vollumfänglich aus-
schöpfen. Die Kommunen beteiligen wir verbindlich an den Einnah-
men aus den Erneuerbaren- Anlagen, sodass gerade der ländliche
Raum von den Gewinnen profitiert. Zudem wollen wir Mieterstrom
fördern, entbürokratisieren und so weiterentwickeln, dass Mieter*in-
nen stärker vom Ausbau der Erneuerbaren profitieren.
Unsere Energieinfrastruktur klimaneutral machen
Klimaneutralität in weniger als 30 Jahren heißt, dass die eine fos-
sile Infrastruktur nicht einfach durch eine andere fossile Infrastruktur
ersetzt werden darf. Wir leiten daher den Einstieg in den Ausstieg aus
den Fossilen ein: Die Planung unserer Infrastruktur für Strom, Wärme
und Wasserstoff braucht ein Update und muss Klimaneutralität in den
Mittelpunkt stellen. Neue Gaskraftwerke oder Infrastrukturen, die wir
für den Kohleausstieg brauchen, darf es deshalb überhaupt nur geben,
wenn sie aktuell zwingend notwendig sind und bereits Wasserstoff-
ready geplant und gebaut werden. Wir werden die rechtlichen Grund-
lagen dafür schaffen, dass neue Betriebsgenehmigungen zeitlich
befristet erteilt werden und den Wechsel von Erdgas zu erneuerbaren
Energieträgern enthalten. Denn auch Erdgas ist ein klimaschädlicher
Brennstoff, sein Gebrauch muss immer weiter abnehmen. Die extrem
klimaschädlichen Emissionen, die bei Erdgasförderung und -transport
entstehen, wollen wir schnellstmöglich reduzieren. Neue Hafenter-
minals zur Anlandung von Flüssigerdgas sollen nicht mehr geneh-
migt werden. Neue Erdgas-Pipelines wie Nord Stream 2, die nicht
auf grünen Wasserstoff ausgerichtet sind, zementieren auf Jahrzehnte
Abhängigkeiten von klimaschädlichen Ressourcen, konterkarieren die
Energiewende und sollten gestoppt werden.
Eine grüne Wasserstoffstrategie
Wasserstoff aus erneuerbaren Energien, sogenannter grüner Wasser-
stoff, ist zentral für die Versorgungssicherheit in einer klimaneutralen
Welt. Denn Wasserstoff ist gut speicherbar und, wenn er mit Strom
aus erneuerbaren Energien hergestellt wird, auch klimafreundlich.
Deutschland ist bei den Technologien zur Erzeugung von Wasserstoff
weit vorne. Diese Führungsrolle wollen wir weiter ausbauen und die
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN25Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
entsprechende Infrastruktur dafür schaffen. Mit Marktanreizen und
einem umfassenden Förderprogramm werden wir die Kapazitäten zur
Wasserstoffherstellung in Deutschland schaffen. Auch wenn grüner
Wasserstoff prioritär bei uns produziert werden sollte, werden wir zur
Bedarfsdeckung Wasserstoff importieren müssen. Die Infrastruktur für
Wasserstoffimporte müssen wir jetzt etablieren. Für die Importe wer-
den wir faire Kooperationen mit wind- und sonnenreichen Ländern
anstoßen und ausbauen und die Exportländer bei der Energiewende
unterstützen. Für den Erfolg dieser Kooperationen ist es unabding-
bar, die lokale Bevölkerung einzubeziehen, Menschenrechte zu schüt-
zen, sich an den nachhaltigen Entwicklungszielen zu orientieren und
dafür auch verbindliche Standards einzuführen. Damit Wasserstoff zur
Klimaneutralität beiträgt, muss er aus erneuerbaren Energien herge-
stellt werden. Das gilt auch für Wasserstoffimporte. Unser Ziel ist, dass
erneuerbare Energien effizient und wirtschaftlich genutzt und Elek-
trolyseure systemdienlich eingesetzt werden. Wasserstoff oder syn-
thetische Kraftstoffe dürfen nicht Teil einer Verzögerungstaktik sein,
sondern sollen aktiv zu Klimaneutralität beitragen. Die direkte Nut-
zung von Strom über Batterien oder Wärmepumpen ist in der Regel
viel effizienter. Es gilt daher, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe
gerade dort zum Einsatz zu bringen, wo sie wirklich gebraucht wer-
den: etwa in der Industrie, in der Schifffahrt oder beim Flugverkehr.
Einen Markt für Ökostrom schaffen
Die Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) vor über
20 Jahren war der Startschuss für die Energiewende in Deutschland,
inzwischen sind Sonne und Wind zu den günstigsten Energiequel-
len geworden. Doch jetzt, bei einem Erneuerbaren-Anteil von fast
50 Prozent im Strombereich, brauchen wir ein Marktdesign, das die
Rahmenbedingungen für ein klimaneutrales Energiesystem richtig
setzt: Es sichert den schnellen und günstigen Ausbau der Erneuer-
baren, den wirtschaftlichen Betrieb von Speichern, flexiblen Erzeu-
gern und Verbrauchern sowie einen ausreichenden Netzausbau. Dafür
treiben wir eine grundlegende Reform des Energierechts voran. Die
Sektorenkopplung unterstützen wir, indem die systemdienliche Nut-
zung von erneuerbarem Strom gestärkt wird und regionale Unter-
schiede berücksichtigt werden. Erste Wind- und große Solaranlagen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN26Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
benötigen bereits heute keine EEG- Zahlungen mehr, und der Trend
zu langfristigen Lieferverträgen zwischen Ökostromerzeugern und
Verbraucher*innen unterstützt diese Entwicklung. Ebenso sollen
Endkund*innen den Strom künftig besser direkt von Ökostromerzeu-
gern kaufen können. Das EEG entwickeln wir so von einem Förder- zu
einem Absicherungsinstrument des Erneuerbaren-Ausbaus weiter. Die
EEG- Umlage wird damit langfristig automatisch auslaufen.
Netzausbau beschleunigen
Um die Energiewende zum Erfolg führen zu können, müssen wir auch
die Netze schneller ausbauen. Sie sorgen dafür, dass die Energie von
dort, wo sie erzeugt wird, so schnell wie möglich dorthin gelangt, wo
sie benötigt wird. Ein kluger Mix aus lokaler Erzeugung, Speichern und
flexiblen Verbrauchern senkt die Kosten und erhöht die Versorgungs-
sicherheit. Voraussetzung für einen weiteren Netzausbau ist, dass er
systemdienlich erfolgt und alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden,
die bestehenden Netze optimal auszunutzen und durch intelligente
Systeme und Speicher zu ergänzen. Wesentlich ist eine frühzeitige
Bürger*innenbeteiligung. Sie erhöht die Qualität der Planung und
trägt nachweislich dazu bei, dass potenzielle Klagegründe bereits
zu Beginn gemeinsam ausgeräumt statt am Ende vor Gericht geklärt
werden. Klar ist auch: Die Erneuerbaren genießen Vorrang im Netz.
Da Stromübertragungsnetze natürliche Monopole und kritische Infra-
struktur darstellen, wollen wir den öffentlichen Einfluss darauf stär-
ken. Dazu wollen wir nach Möglichkeit die staatlichen Anteile an den
vier Übertragungsnetzbetreibern in Deutschland erhöhen und sie in
eine Bundesnetzgesellschaft in Bundeshand überführen. Wir treiben
außerdem eine Reform der Netzentgelte voran, die die Transparenz
stärkt, die Kosten der Energiewende fair verteilt und eine Benachteili-
gung ländlicher Regionen – insbesondere im Norden und Osten – bei
der Finanzierung notwendiger Netzausbaukosten beseitigt.
Klima-Sanierungsoffensive bei Gebäuden
Es ist höchste Zeit, dass alle Neubauten und Bauwerke inklusive der
Baustoffe im gesamten Lebenszyklus klimaneutral geplant werden
und entsprechend umfassende energetische Sanierungen erfolgen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN27Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Dreh- und Angelpunkt ist die Festlegung hoher Bau- und Sanierungs-
standards: bei Neubauten KfW 40, was in etwa dem Passivhausstan-
dard entspricht, im Gebäudebestand nach Sanierung KfW 55 – mit
Ausnahmen für denkmalgeschützte Gebäude. Die KfW-Förderpro-
gramme werden wir weiterentwickeln, auch in Bezug auf die Ver-
wendung nachhaltiger Baustoffe. Für die Aussöhnung von Baukultur
und energetischer Sanierung wollen wir klare Regelungen schaffen,
die beiden Zielen angemessen sind. Die Sanierungsquote muss sehr
schnell verdoppelt und weiter gesteigert werden. Der Einsatz von
serieller Sanierung kann hier ein Weg sein. Die öffentliche Hand muss
mit ihren Gebäuden als Vorbild vorangehen. Für den Bestand muss
gelten: Bei jedem Eigentümerwechsel muss ein Sanierungsfahrplan
vorgelegt werden. Bei der Umsetzung des Sanierungsfahrplans kön-
nen Förderprogramme unterstützend wirken. Wenn im Gebäudebe-
stand ein Heizungsaustausch ansteht oder umfassend saniert wird,
aber auch im Neubau, sollen, wo möglich, ausschließlich erneuerbare
Wärmequellen zum Einsatz kommen. Wir legen dazu ein Investitions-
programm für zwei Millionen hocheffiziente Wärmepumpen bis 2025
auf. Auch die Fern- und Nahwärme wollen wir dekarbonisieren und
richten die Förderung an klimaneutralen Lösungen aus. Für die Ener-
gieeffizienz ist es maßgeblich, von der Einzelbefeuerung weg und hin
zu verknüpften Systemen zu kommen, in denen aus verschiedenen
Erneuerbaren-Quellen wie Abwärme, Geo- oder Solarthermie Wärme
eingespeist und gespeichert wird. Dabei werden wir auch Industrie
und Wirtschaft in die Wärmesysteme einbinden. Solche verbundenen
klimaneutralen Energiesysteme werden wir fördern, besonders in
städtischen Gebieten.
Wärmewende fair gestalten
Die Wärmewende muss mit wirksamem Mieter*innenschutz und
gezielter Förderung einhergehen. Wir wollen mit dem sogenannten
Drittelmodell die Kosten für klimafreundliche Modernisierungen fair
zwischen Vermieter*innen, Staat und Mieter*innen verteilen, sodass
sie für alle bezahlbar und für die Vermieter*innen angemessen wirt-
schaftlich werden. Die Modernisierungsumlage wollen wir strikt
begrenzen, damit Kosten nicht einfach auf die Mieter*innen abge-
wälzt werden können. Mit einem Zuschuss zum Wohngeld, dem Kli-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN28Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
mawohngeld, ermöglichen wir auch Empfänger*innen von Wohngeld,
in klimafreundlichen Wohnungen zu leben. Bei der CO2-Bepreisung im
Wärmebereich erreichen wir Lenkungswirkung, wenn diejenigen dafür
aufkommen, die die Klima-Investitionen auch tätigen: die Hauseigen-
tümer*innen. Denn sie sind es, die etwas am Zustand der Gebäude und
der Wärmeversorgung ändern können, während sie zugleich von der
Wertsteigerung durch die Modernisierung profitieren. Für Kommunen
sollen regionale Wärme- und Energie- sowie integrierte Quartiers-
planungen verbindlich gelten. Dabei unterstützen wir durch das Akti-
onsprogramm Faire Wärme mit Steuervergünstigungen, kostenloser
Beratung und zielgerichteten Förderprogrammen den Umbau hin zu
einer klimaneutralen Wärmeversorgung.
Atomausstieg vollenden – Endlagersuche zum Erfolg führen
Atomkraft ist nicht geeignet, die Klimakrise zu bekämpfen. Wir wer-
den den Atomausstieg in Deutschland vollenden. Doch obwohl Atom-
kraft eine Hochrisikotechnologie ist, wird bei uns immer noch Uran
angereichert, werden Brennstäbe hergestellt und exportiert. Unser
Ziel ist es, die Atomfabriken in Gronau und Lingen schnellstmöglich
zu schließen. Der Betrieb des Forschungsreaktors Garching mit hoch-
angereichertem Uran gehört beendet. Zum Erbe der Atomenergienut-
zung gehört die Endlagersuche. Wir bekennen uns zum verabredeten
Pfad der Standortsuche mit höchsten Sicherheitsstandards bei größt-
möglicher Transparenz und Beteiligung der Bevölkerung. Der Rückbau
der bestehenden Atomkraftwerke muss schleunigst und ohne Zeit-
verzögerung auf höchstem Sicherheitsniveau erfolgen. Auch hier gilt,
dass wir mit diesen Altlasten nicht die nachfolgenden Generationen
belasten dürfen. Voraussetzung dafür ist eine Zwischen- und Endlage-
rung von schwach-, mittel- und vor allem von hochradioaktivem Abfall
bei höchsten Sicherheitsstandards. Dafür ist ein Gesamtkonzept Vor-
aussetzung. Vor allem die Sicherheit gegen Terroranschläge muss
gewährleistet sein, da die Zwischenlager noch lange Zeit benötigt
werden. Wir werden dafür sorgen, dass die Lagerung und die Trans-
porte streng überwacht werden. Auch in der EU wollen wir den Ein-
stieg in den Ausstieg vorantreiben. Wir setzen uns für eine Reform
von Euratom, gegen die weitere Privilegierung oder neue Förderun-
gen der Atomkraft, und für verbindliche Sicherheitsstandards aller
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN29Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Atomanlagen in Europa ein. So können alte und unsichere Reakto-
ren an Deutschlands Grenzen schnell vom Netz genommen werden.
Einspruchsmöglichkeiten bei Neubau oder Laufzeitverlängerung von
Atomanlagen in Europa wollen wir ausschöpfen und aus der gemein-
samen Haftung der Staaten für Atomunfälle aussteigen.
Wir sorgen für nachhaltige Mobilität
Der Mobilitätswende eine Grundlage geben
Der Weg zur Klimaneutralität erfordert, unsere Mobilität im 21. Jahr-
hundert grundlegend neu zu denken. Darin liegt eine große Chance:
Städte und Dörfer mit mehr Lebensqualität, Mobilität ohne Klima-
zerstörung, ohne Staus und Verkehrstote, mehr Freiheit, Teilhabe und
Wohlstand sind möglich. Mit einem Bundesmobilitätsgesetz wollen
wir eine neue Grundlage für die Verkehrspolitik und -gesetzgebung
schaffen. Statt eines Verkehrsmittels, des Autos, stellen wir den Men-
schen und seine vielfältigsten Bedürfnisse in den Mittelpunkt, vor
allem die der Verletzlichsten in unserer Gesellschaft, also der Kinder,
Jugendlichen, Senior*innen und Menschen mit Handicaps. Mobilitäts-
politik wird konsequent an den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen,
an Sicherheit, Klimaschutz, Verkehrsvermeidung, Flächengerechtig-
keit, Lärmschutz und Luftqualität, sozialer Teilhabe und Geschlechter-
gerechtigkeit ausgerichtet. Statt wie seit Jahrzehnten einen Verkehrs-
träger einseitig zu bevorzugen, sorgen wir für eine faire Balance – mit
einer starken Bahn, einem modernen ÖPNV und besten Bedingun-
gen für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen. Die Mobilitätswende
braucht nicht nur eine bessere gesetzliche Grundlage, sondern auch
eine Beschleunigung in der Umsetzung. Dazu wollen wir eine umfas-
sende Ausbildungs- und Forschungsoffensive starten.
Investitionen für starke Bahnen
Eine leistungsfähige, verlässliche Bahn ist das Rückgrat einer nach-
haltigen Verkehrswende. Wir wollen den Deutschlandtakt weiterent-
wickeln und realisieren, um den Menschen mit mehr, resilienteren und
besser aufeinander abgestimmten Bahnangeboten in Stadt und Land
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN30Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
attraktive und für alle bezahlbare Mobilitätsangebote zu machen.
Dafür wollen wir alle deutschen Großstädte regelmäßig an den Fern-
verkehr anbinden, die Takte im Regionalverkehr verdichten und den
Zugverkehr wieder stärker in die Fläche bringen. Stillgelegte Bahn-
strecken wollen wir schnellstmöglich reaktivieren. Ergänzen wollen
wir diese Angebote durch schnelle Sprinterzüge und Nachtzüge, die
alle großen europäischen Metropolen bezahlbar miteinander ver-
binden. Lücken und Engpässe sowohl im innerdeutschen als auch
im grenzüberschreitenden Schienennetz sowie in den Bahnknoten
wollen wir schließen. Den Aus- und Neubau, die Elektrifizierung und
Digitalisierung des Netzes treiben wir zügig voran. Die bundeseigene
Infrastruktur wollen wir vom Druck, Gewinne erzielen zu müssen,
und von der chronischen Unterfinanzierung befreien und dafür ent-
sprechende Strukturen schaffen. Wir wollen 100 Milliarden Euro, ver-
teilt auf die Jahre bis 2035, zusätzlich in Schienennetz und Bahnhöfe
investieren und im Zusammenwirken mit den Ländern die Regionali-
sierungsmittel zweckgebunden noch einmal erhöhen, sodass sich die
Pro-Kopf-Investitionen an das europäische Niveau angleichen. Um die
Investitionen langfristig und zuverlässig zu finanzieren, schaffen wir
einen Infrastrukturfonds, der sich auch aus Einnahmen aus der Lkw-
Maut speist. Die Trassenpreise wollen wir deutlich senken, um Anreize
für Verkehrsverlagerungen auf die Schiene zu verstärken. Bahnhöfe
wollen wir zu modernen, barrierefreien Mobilitätsstationen aufwer-
ten. Die Kombination von Bahn mit dem Fahrrad- und Busverkehr wird
dadurch deutlich verbessert, dazu sollen auch die Mitnahmemöglich-
keiten für Fahrräder im Zug erweitert werden. Den Lärmschutz auch
an dichtbefahrenen Bestandsstrecken verstärken wir, Barrierefreiheit
der Bahn wollen wir in zehn Jahren erreichen. Wir sorgen dafür, dass
Bahnfahren für alle bezahlbar ist. Gerade junge Menschen in Ausbil-
dung oder Studium wollen wir bei klimafreundlicher und bezahlbarer
Mobilität besonders unterstützen. Wir wollen, dass in Zukunft auch
alle Freiwilligendienstleistende wie Soldat*innen kostenfrei mit der
Deutschen Bahn fahren dürfen. Den Deutsche-Bahn-Konzern wollen
wir transparenter und effizienter machen und auf das Kerngeschäft
ausrichten, die Eisenbahn in Deutschland und im benachbarten euro-
päischen Ausland. Wir setzen auf starke Verlagerungen von Straßen-
und Flugverkehr auf die Schiene. Mit uns wird die Bahnbranche ein
noch stärker wachsender Jobmotor mit sicheren Arbeitsplätzen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN31Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
ÖPNV ausbauen
Busse und Bahnen sind für alle da, bieten preiswerte Mobilität und
verringern den Autoverkehr. Wir wollen die Fahrgastzahlen im ÖPNV
bis 2030 verdoppeln. Dazu muss der öffentliche Personennahverkehr
attraktiver, innovativer und vollständig barrierefrei werden. Wir wol-
len den ÖPNV zudem besser verknüpfen – vom Fernverkehrsnetz bis
hin zu Bike & Ride – und regionale Kooperationen stärken. Zusam-
men mit den Ländern werden wir eine Zukunfts- und Ausbauoffensive
starten, durch eine Mobilitätsgarantie flächendeckende Anbindungen
schaffen, Investitionen in Fahrzeuge und das ÖPNV-Netz erhöhen und
Finanzierungsinstrumente wie das Gemeindeverkehrsfinanzierungs-
gesetz und die Regionalisierungsmittel für diese Ziele ausbauen. Den
Einsatz von emissionsfreien Bussen wollen wir durch ansteigende
Quoten und durch attraktive Förderung für die Kommunen vorantrei-
ben sowie, wo möglich, vorrangig den Ausbau und die Reaktivierung
von Straßenbahnen unterstützen. Mobilität darf nicht vom Geldbeu-
tel abhängen: Länder, Kommunen und Verbünde wollen wir dabei
unterstützen, attraktive Preisangebote bis hin zu ticketlosem ÖPNV
zu machen und neue Finanzierungsquellen wie eine Umlagefinanzie-
rung zu erschließen.
Deutschland wird Fahrradland und stärkt die Fußgänger*innen
Das Fahrrad hat für die Mobilitätswende riesiges Potenzial. Bereits
jetzt boomt die Fahrradindustrie und schafft Arbeitsplätze. Um diese
Potenziale auszuschöpfen, wollen wir Deutschland zum Fahrradland
machen. Radfahren muss sicher und attraktiv sein – überall. Radwege
in Städten, Pendelstrecken oder Verbindungen von Dorf zu Dorf wie
auch touristische Radwege sollen sich durch hohe Qualität und hohe
Sicherheitsstandards, wie eine separierte Radinfrastruktur, sowie eine
gute Beschilderung und Kartierung auszeichnen. Unsere Vision ist ein
lückenloses Fahrradnetz in ganz Deutschland mit Anschlüssen in den
Grenzregionen. Die Empfehlungen des Nationalen Radverkehrsplans,
die sich an den Bund richten, werden von uns schnellstmöglich umge-
setzt; Kommunen, Länder und Unternehmen werden bei der Umset-
zung ihres Teils der Aufgaben umfassend unterstützt. Die Anzahl der
Wege mit Rad und zu Fuß soll bis 2030 verdoppelt werden. Um diese
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN32Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Ziele zu erreichen, wollen wir die Pro-Kopf-Investitionen gemein-
sam mit Ländern und Kommunen deutlich erhöhen. Wir verstärken
die Bundesförderung und Beratungsangebote für den Ausbau und
die Modernisierung der Radinfrastruktur, schaffen ein schlagkräftiges
Kompetenzzentrum Radverkehr und bezuschussen die Anschaffung
von Job- und Lastenrädern sowie S-Pedelecs. Das Straßenverkehrs-
recht reformieren wir, damit Radfahrer*innen besser geschützt sind
und einen gleichberechtigten Platz im Straßenraum bekommen. An
Verkehrswegen des Bundes sollen gut ausgebaute Radwege nach
niederländischem Vorbild im Bestand und bei Baumaßnahmen zur
Regel werden. Mit einer nationalen Fußmobilitätsstrategie schaffen
wir Barrierefreiheit, Verkehrssicherheit und mehr Aufenthaltsqualität
für Fußgänger*innen.
Mobilpass einführen
Autonomes Fahren, vernetzte Mobilitätsangebote, nutzen statt besit-
zen – der digitale Fortschritt wird unseren Alltag in den nächsten
Jahren grundlegend verändern. Wir wollen die deutsche Mobilitäts-
wirtschaft zur Vorreiterin für neue Mobilitätslösungen machen und
die Digitalisierung nachhaltig, inklusiv und ausgewogen für die Ver-
kehrswende nutzen. Echtzeitinformationen und ein einheitliches
Ticketsystem müssen im ÖPNV Standard werden. Damit man prob-
lemlos überall von A nach B kommt, wollen wir mit dem Mobilpass
die Angebote von 120 Verkehrs- und Tarifverbünden in Deutschland
vereinfachen und verknüpfen und Sharing- und Ridepooling-Dienste
so integrieren, dass Sozial- und Umweltdumping ausgeschlossen sind.
Bei der Vernetzung sind das Open-Data-Prinzip und offene Schnitt-
stellen zu beachten. Wir wollen den Wechsel zu Fahrrad, Bus und Bahn
für alle attraktiv machen und auch finanziell fördern. Der Mobilpass
soll ebenso Sozialtarife und ticketlose Nutzung fördern. Alle Mobili-
tätskonzepte müssen barrierefrei sein und eine Teilnahme auch ohne
eigene digitale Endgeräte ermöglichen. Für autonomes Fahren ver-
bessern wir den Rechtsrahmen mit Schwerpunkt auf dem öffentlichen
Verkehr. Fahrgastrechte wollen wir durch automatisierte Entschädi-
gungsverfahren stärken.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN33Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Mehr Sicherheit durch die Mobilitätswende
Alle Menschen sollen sich in ihrem Alltag angstfrei fortbewegen und
unversehrt ihre Ziele erreichen können. Gerade Kinder, ältere Men-
schen oder Menschen mit Behinderung brauchen eine besondere Auf-
merksamkeit bei der Verkehrsplanung. Damit mehr Menschen auf das
Fahrrad steigen oder öfter zu Fuß gehen, sind zeitgemäße Verkehrsre-
geln, eine sichere Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur und eine Neu-
verteilung der Flächen entscheidend. Unser Ziel ist die Vision Zero,
d. h. keine Toten und Schwerverletzten mehr im Straßenverkehr. Um
mehr Sicherheit auf den Straßen zu erreichen, wollen wir in geschlos-
senen Ortschaften das Regel- Ausnahme-Verhältnis umkehren. Tempo
30 ist dann die Regel, Abweichungen wie Tempo 50 werden vor Ort
ausgewiesen. Für die Autobahnen wollen wir ein Sicherheitstempo
von 130 km/h. Wenn besondere Gründe es notwendig machen, wie
beispielsweise in Städten oder Ballungsgebieten oder um sie herum,
dann gelten maximal 120 km/h. Um die vielen Unfälle von Fahrrad-
fahrer*innen und Fußgänger*innen in Innenstädten zu verhindern,
wollen wir verbindlich technische Lösungen wie Lkw-Abbiegeassis-
tenzsysteme, vollautomatische Assistenzsysteme oder Warnsysteme
voranbringen. Wir setzen uns ein für eine Reduzierung von unnötigem
und mutwilligem Lärm, wie er zum Beispiel auch von zu lauten Motor-
rädern und Pkws ausgeht.
Den Autoverkehr klimaneutral gestalten
Der Automobilverkehr muss in den nächsten zehn Jahren endlich
einen starken Beitrag zum Klimaschutz leisten. Bisher sind dort die
Emissionen immer weiter gestiegen, es braucht jetzt die Trendwende.
Zum Erreichen der Klimaneutralität muss der Autoverkehr abneh-
men und gleichzeitig emissionsfrei werden. Wir werden dafür sorgen,
dass dank besserer Züge, Busse, Rad- und Fußwege und flankierender
Maßnahmen bis 2030 mehr als die Hälfte der Wege im Umweltver-
bund zurückgelegt werden. Das Auto wird aber für viele weiterhin
wichtig sein. Die Autos müssen in der Summe im Sinne der Lebens-
qualität aller digitaler, leiser, kleiner und leichter sowie klimaneu-
tral und besser recycelbar sein. Dabei geht es uns auch darum, mit
Hilfe von Digitalisierung, autonomem Fahren und der Stärkung neuer
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN34Kapitel 1
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Mobilitätsdienstleistungen Autos effizienter zu nutzen und auf diese
Weise mehr Mobilität bei weniger Verkehr zu fördern. Ab 2030 dür-
fen deshalb nur noch emissionsfreie Autos neu zugelassen werden;
den Weg dorthin bereiten europäische CO2-Flottengrenzwerte und
eine ansteigende nationale Quote, die sich am 1,5-Grad-Pfad orien-
tieren. Bis 2030 müssen aber bereits in relevantem Maße bisherige
Verbrennerfahrzeuge durch E-Autos ersetzt werden, deren Anteil soll
daher bis 2030 auf mindestens 15 Millionen Fahrzeuge steigen. So
sorgen wir für saubere Luft, erfüllen unsere Klima- und Umweltziele
und die Automobilindustrie kann ihre Entwicklungsarbeit und ihre
Investitionen verlässlich planen. Das sichert zukunftsfähige Arbeits-
plätze und neue Geschäftsmodelle. Die Kaufförderung emissions-
freier Autos wollen wir in ein Bonus-Malus-System überführen und
für Elektro- Leichtfahrzeuge öffnen. Klimafreundliche Autos werden
billiger, klimaschädliche teurer. Auch die Umrüstung bestehender
Verbrenner zu emissionsfreien Autos wollen wir fördern. Zudem nut-
zen wir Regulierung, verpflichtende Verbraucherinformationen und
Anreize, um Autos insgesamt leichter und effizienter zu machen. Wir
beenden schrittweise die Dieselsubvention und gestalten die Dienst-
wagenbesteuerung sozial-ökologisch um. Wir beschleunigen den flä-
chendeckenden Ausbau einer einheitlichen Ladeinfrastruktur, beson-
ders im ländlichen Raum, inklusive Schnellladesäulen. Laden muss
flächendeckend in Deutschland und Europa schnell, ökologisch, güns-
tig und bequem möglich sein.
Moderne Verkehrsinfrastruktur
Die Verkehrspolitik hat jahrzehntelang einseitig Straßenbau und Pkw-
Verkehr gefördert. Sie reißt damit alle Klima- und Nachhaltigkeitsziele
und führt doch tagtäglich zu Staus. Das hat keine Zukunft – moderne
Mobilität für dieses Jahrhundert verlangt neue Prioritäten. Deutsch-
land braucht eine Infrastrukturentwicklung, die den 1,5-Grad-Pfad
einhält und allen Menschen zukunftsfähige und sichere Mobilität
ermöglicht. Wir legen den Fokus auf den Ausbau von Geh-, Rad- und
Schienenwegen, eine gleichberechtigte Verteilung von Flächen, die
Umnutzung bestehender Infrastrukturen sowie eine intelligente
barrierefreie Vernetzung umweltfreundlicher Verkehrsmittel. Auch
die Vermeidung von Verkehr und daraus resultierenden Belastun-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN35Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
gen, unter anderem durch bessere Bedingungen für Homeoffice und
die Wiederkehr der Nahversorgung in Orte und Stadtviertel, werden
wir unterstützen. An den Verkehrswegen wollen wir für zusätzliche
Bäume und ihren Bestandserhalt als Teil einer grünen Infrastruktur
sorgen. Der bisherige Bundesverkehrswegeplan wird diesen Ansprü-
chen überhaupt nicht gerecht. Trotz Klima- und Artenkrise und obwohl
Deutschland eines der dichtesten Straßennetze der Welt hat, enthält
der Bundesverkehrswegeplan noch hunderte weitere Straßenbaupro-
jekte, die unsere Landschaften und unsere Natur zerschneiden und den
Klimaschutz gefährden. Deutschland hat keinen Mangel an Straßen,
erst recht keinen an Autobahnen. Wir wollen deshalb den Bundesver-
kehrswegeplan schnellstmöglich durch einen neuen Bundesnetzplan
ersetzen, der die Verkehrsinfrastrukturplanung systematisch an den
Erfordernissen der Mobilitätswende ausrichtet und die bis 2030 vor-
gesehenen Neu- und Ausbauten von Autobahnen und Bundesfernstra-
ßen deutlich reduziert. Dies erfordert eine grundsätzliche Änderung
der bisherigen standardisierten Bewertungsverfahren, Berechnungs-
grundlagen und Kriterien unter Berücksichtigung der tatsächlichen
Klima- und Umweltkosten, die gründliche Prüfung von Alternativen,
die auch andere Verkehrsträger einbezieht, eine Verbesserung der
bisher unzureichenden Beteiligung der Bürger*innen und Verbände
sowie die Abkehr vom sogenannten Finanzierungskreislauf Straße.
Wir schützen damit unsere Wohngebiete, Wald und Wasser, Moore und
Artenvielfalt und so unsere eigenen Lebensgrundlagen. Angesichts
der Klimakrise darf nicht gelten: Nur weil es schon immer so geplant
war, muss das jetzt auch gemacht werden. Die anstehende Überprü-
fung des aktuellen Bundesverkehrswegeplans werden wir zudem nut-
zen, um alle nicht im Bau befindlichen Abschnitte sowie besonders
umweltschädliche Straßenneubau- und Straßenausbauprojekte einer
Klima-, Umwelt- und Bedarfsprüfung zu unterziehen und sie dadurch
deutlich zu reduzieren. Bis zum Abschluss der Überprüfung dürfen
bei diesen Projekten keine irreversiblen Fakten geschaffen werden.
Das gilt umso mehr, weil der ausufernde Straßenneubau Mittel bin-
det, die wir anderswo viel dringender brauchen. Die Mittel für den
Straßenneu- und -ausbau werden wir deshalb weitgehend umschich-
ten – zugunsten der Sanierung maroder Infrastruktur und des Aus-
baus der Schienen- und Radwegeinfrastruktur. Dazu gehört auch eine
gründliche Bewertung der finanziellen Risiken des Straßenbaus und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN36Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
der neuen Autobahngesellschaft. Straßenfahrzeuge und Züge sollen
leiser werden, durch mehr aktiven Lärmschutz auch im Bestand. Dort,
wo wir den Lärm nicht direkt an der Quelle mindern können, sorgen
wir für besseren Lärmschutz.
Mobil auf dem Land durch eine Mobilitätsgarantie
In ländlichen Räumen ist die Mobilitätswende am anspruchsvollsten,
denn viele Menschen sind dort auf das Auto angewiesen. Zugleich
schränkt diese einseitige Autozentrierung die Autonomie von Kin-
dern, Jugendlichen und Menschen ohne Auto besonders stark ein. Wir
wollen erreichen, dass Mobilität auch auf dem Land ohne Auto und
barrierefrei möglich ist. Wir wollen mit den Ländern eine Mobilitäts-
garantie mit gesetzlich definierten Standards für Erreichbarkeit und
Erschließung einführen, erweiterte Angebote an öffentlicher Mobilität
in ländlichen Räumen entwickeln, lokale Initiativen unterstützen und
Radwege ausbauen. Gerade in strukturschwachen Regionen braucht
es eine regelmäßige, verlässliche und barrierefreie Anbindung an den
ÖPNV, zum Beispiel durch Schnellbuslinien, und an Mobilitätsdienst-
leistungen wie Ridepooling- und On-Demand-Verkehre. Dennoch ist
das Auto für viele Menschen im ländlichen Raum unverzichtbar und
dort gerade für viele Familien kaum wegzudenken. Deshalb setzen wir
hier auch besonders auf die Chancen der Antriebswende. Das E-Auto
ist insbesondere im Paket mit Solaranlagen auf dem Dach, einem
Stromspeicher im Keller und einer Wandladestation in der Garage
eine zukunftsfähige Lösung. Zugleich wollen wir Carsharing flächen-
deckend verfügbar machen und die Errichtung von Carsharing-Statio-
nen fördern, auch an zunächst weniger rentablen Standorten.
Mobilitätswende in der Stadt
Nirgendwo wird die Mobilitätswende sehnlicher erwartet als in den
Innenstädten: Unfälle, Staus, Abgase, Lärm, zu wenig Platz für Kinder
zum Spielen und für Begegnungsräume – die autozentrierte Stadt ist
nicht nur klimaschädlich, sondern auch kein schöner Ort zum Leben.
Wir wollen unsere Städte lebenswerter machen und sie dazu bei der
Mobilitätswende gezielt unterstützen. Wir werden es ihnen erleichtern,
den Raum Straße vielfältig nutzbar zu machen, attraktive Rad- und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN37Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Fußwege anzulegen, verkehrsberuhigte oder autofreie Innenstädte
und Stadtviertel voranzutreiben und mehr Grünflächen auch durch
Entsiegelung zu schaffen. Temporäre Umgestaltungen wie Pop-up-
Bikelanes sollen erleichtert werden, um Best-Practice- Lösungen tes-
ten zu können. Den Städten und Kommunen wollen wir die Planungs-
hoheit zurückgeben, damit sie öffentlichen Raum gerecht aufteilen
können, zum Beispiel durch eine stringente Parkraumbewirtschaf-
tung, indem Autos nicht mehr überall, sondern nur noch auf expli-
zit dafür ausgewiesenen Flächen geparkt werden dürfen, oder durch
bessere Möglichkeiten, Fahrradparkplätze vorzugeben und Auto- in
Fahrradparkplätze umzuwidmen. Wir wollen, auch durch angemes-
sene Bußgelder, Schluss machen mit Falschparken auf Radwegen
und Fußwegen und zugestellten Straßenkreuzungen. Zudem stärken
wir die Möglichkeiten, auch durch europäische Erfolgsmodelle wie
eine City-Maut oder eine Nahverkehrsabgabe die Mobilitätswende zu
finanzieren, zu fördern und aktiv zu gestalten. Die Ausweitung von –
insbesondere stationsbasierten – Carsharing-Angeboten werden wir
fördern, da diese für eine Verringerung des Pkw-Bestands in den Städ-
ten sorgen.
Flugverkehr zukunftsfähig ausrichten
Fliegen bringt unsere Welt näher zusammen, ist aber eine der klima-
schädlichsten Fortbewegungsarten. Nach der Pandemie wollen wir
kein Zurück zum unbegrenzten Wachstum des Luftverkehrs, sondern
diesen am Ziel der Klimaneutralität ausrichten. Kurzstreckenflüge
wollen wir ab sofort Zug um Zug verringern und bis 2030 überflüs-
sig machen, indem wir massiv Bahnangebote – gerade Direkt- und
Nachtzugverbindungen – ausweiten und für faire Wettbewerbsbedin-
gungen zwischen den Verkehrsmitteln sorgen, die die ökologischen
Kosten wiederspiegeln. Die Zahl von Mittel- und Langstreckenflügen
gilt es zu vermindern, zum Beispiel indem öffentliche und privatwirt-
schaftliche Geschäftsreisen durch die Nutzung von Videokonferenzen
entfallen. Das Fliegen wollen wir nachhaltig, zukunftsfähig und lang-
fristig unabhängig von fossilen Treibstoffen machen. Dafür sorgen ein
strikter europäischer Emissionshandel, die Förderung moderner Flug-
zeugtechnologien und die Erhöhung der Beimischungsquoten mit
einem klaren Anstiegspfad, der fossiles Kerosin durch strombasierte
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN38Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Kraftstoffe aus Erneuerbaren Schritt für Schritt ersetzt. Bis 2030 soll
die Quote statt 2 Prozent mindestens 10 Prozent betragen und im Fol-
gejahrzehnt deutlich anwachsen. Den Aufbau von Produktionsanlagen
dafür fördern wir. Umweltschädliche Subventionen sind abzubauen
und fortlaufende Finanzhilfen für Flughäfen zu beenden. Außerdem
setzen wir uns für die Einführung einer europäischen Kerosinsteuer
ein. Bis diese in der EU umgesetzt ist, werden wir auf nationaler Ebene
eine Kerosinsteuer für innerdeutsche Flüge einführen. Lohndumping
durch Billigflüge muss beendet werden. Einen weiteren Ausbau der
Flughafeninfrastruktur lehnen wir ab. Neue Entwicklungen im Flug-
verkehr, wie zum Beispiel Drohnen, müssen sich daran messen lassen,
ob sie einen Beitrag zu einer nachhaltigen Mobilitätswende leisten
können. Zur Reduktion von Fluglärm braucht es weniger Flugzeuge,
eine Pflicht zum aktiven Schallschutz für leisere Flugzeuge, ein ech-
tes Nachtflugverbot, die Gleichstellung von militärischen und zivi-
len Flughäfen sowie eine Novellierung der gesetzlichen Grundlagen
mit strengeren Grenzwerten. Für den Gesundheitsschutz wollen wir
außerdem Grenzwerte für Ultrafeinstaub festlegen.
Zukunftsfähiger Güterverkehr
Jeden Tag werden durch Deutschland Millionen Tonnen an Gütern
transportiert, heute zumeist in Form endloser Lkw-Karawanen auf
unseren Straßen. In einem klimaneutralen Deutschland muss auch
der Güterverkehr zukunftsfähig, emissionsfrei und weniger lärminten-
siv sein. Für weniger Lkw-Verkehr wollen wir den Güterverkehr von
der Straße auf die Schiene verlagern. Dafür werden wir die Kombina-
tion von Straße, Schiene und Wasser ertüchtigen und Industrie und
Gewerbe wieder ans Bahnnetz anschließen – auch in der Fläche. Wir
fördern Investitionen in moderne Güterverkehrstechnik, intermodale
Güterverkehrszentren und Umschlagterminals für den kombinierten
Güterverkehr. Wir setzen zudem auf regionale Wirtschaftskreisläufe
und die Chancen der Digitalisierung und Vernetzung bei der Organisa-
tion der Logistik. Den ausufernden Lkw-Verkehr wollen wir durch eine
CO2-orientierte Maut so regulieren, dass die entstehenden Kosten von
den Verursacher*innen getragen werden. Zusammen mit ambitionier-
ten CO2-Flottengrenzwerten und Quoten, der Förderung klimafreund-
licher Antriebe und dem schnellen Aufbau der entsprechenden Infra-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN39Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
strukturen werden auch Lkw absehbar lokal emissionsfrei. Für mehr
Sicherheit im Lkw-Bereich braucht es eine bessere Durchsetzung von
Arbeitszeitvorschriften. Auch die Arbeitsbedingungen der Lkw-Fah-
rer*innen müssen erheblich verbessert werden. Dafür werden wir das
Bundesamt für Güterverkehr personell aufstocken und diesem mehr
Befugnisse erteilen. In der städtischen Logistik wollen wir den Einsatz
von Lastenrädern und Cargo-Trams fördern sowie neue Verteilkon-
zepte wie Cityhubs und die Güterbeförderung auf der letzten Meile
per Konzession vorantreiben.
Die Schifffahrt klima- und umweltverträglich machen
Für ein außenhandelsorientiertes Land wie Deutschland ist eine inter-
national wettbewerbsfähige maritime Wirtschaft von entscheidender
Bedeutung. Wir setzen uns für die Entwicklung eines gemeinsamen
Seehafenkonzepts durch Bund und Länder ein, das auf Kooperation
der Standorte statt auf Konkurrenz setzt. Die Schifffahrt wollen wir
durch verbindliche Emissionsminderungsziele und eine Einbeziehung
in den EU-Emissionshandel klimaneutral machen. Wir setzen die poli-
tischen Rahmenbedingungen dafür, dass die Schifffahrt schnellst-
möglich wegkommt vom Schweröl mit seinen giftigen Abgasen und
dass sich stattdessen Landstromanlagen, emissionsarme Terminals,
alternative Schiffsantriebe und klimaneutrale Treibstoffe ebenso wie
faire Arbeitsbedingungen für alle an der Seefahrt Beteiligten durch-
setzen. Dafür drängen wir auf weltweit höhere Standards. Moderni-
sierte Binnenschiffe müssen künftig einen wichtigen Beitrag zum
klimaneutralen Gütertransport liefern. Wir sehen uns in der Verant-
wortung für einen guten ökologischen Zustand aller Wasserstraßen.
Marode Wasserstraßen müssen umweltverträglich saniert werden,
für Flussvertiefungen soll es ein Moratorium und eine grundsätzliche
Überprüfung im Rahmen der Neuaufstellung des Bundesnetzplans
im Sinne der neuen UN-Dekade für die Wiederherstellung von Öko-
systemen geben.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN40Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir schützen Natur und Umwelt
für ein gutes Leben
Artensterben stoppen
Biologische Vielfalt sichert das Leben auf der Erde. Ökologische Leit-
planken müssen daher unser Handeln definieren – als „Barometer
des Lebens“. Um die Krise der Artenvielfalt zu überwinden und das
massenhafte Artensterben zu beenden, brauchen wir vor allem eine
andere Landnutzung. Wie beim Klimaschutz zählt auch beim Natur-
schutz jeder Tag. Deshalb werden wir ein Sofortprogramm Artenschutz
auflegen, mit dem wir den Pestizideinsatz deutlich verringern und den
Einsatz besonders schädlicher Umweltgifte wie Glyphosat untersagen.
Wir wollen den Verkauf von naturwertvollen bundeseigenen Flächen
sowie die Entwässerung von Moorstandorten stoppen und militärische
Konversionsflächen dem Naturschutz zur Verfügung stellen. Zur bes-
seren Vernetzung der Schutzgebiete wollen wir Naturschutzkorridore
schaffen. Gemeinsam mit den Ländern werden wir die Naturschutzwir-
kung der Natura-2000-Gebiete verbessern, wo möglich Nationalparks
und andere Schutzgebiete vergrößern bzw. neue schaffen sowie das
nationale Naturerbe stärken. Damit der Naturschutz endlich ausrei-
chend finanziert wird, werden wir neue Wege gehen: 10 Prozent der
Gelder aus dem Energie- und Klimafonds sollen für Klimaschutz durch
Naturschutzmaßnahmen eingesetzt werden. Wir werden den Wildnis-
fonds ausbauen, damit sich auf mindestens 2 Prozent der Landesflä-
che wieder echte Wildnis entwickelt, wo Pflanzen und Tiere ungestört
leben können. Wir wollen erreichen, dass vor jeder Planung von Inf-
rastrukturvorhaben die Auswirkungen auf Klima, Natur und Umwelt
umfassend geprüft und berücksichtigt werden. Auch einer vielfälti-
gen Kulturlandschaft kommt eine große Bedeutung für den Schutz
unserer Natur zu. Deshalb wollen wir wertvolle Landschaftselemente
wie artenreiche Blumenwiesen, Streuobstbestände, Weinbau-Terras-
sen, Alleen, Einzelbäume und Blühstreifen entlang von Straßen und
auf kommunalen Flächen besser schützen und neu schaffen. Den Ver-
brauch an Boden in Natur und Landwirtschaft werden wir endlich
drastisch reduzieren – in einem ersten Schritt auf unter 30 Hektar pro
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN41Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Tag deutlich vor 2030. Dazu werden wir gemeinsam mit den Ländern
und Kommunen Instrumente umsetzen, mit denen Bauen auf jetzigem
Ackerland und Naturboden wirksam begrenzt wird.
Unseren Wald retten
Unser Wald ist durch die Klimakrise – durch Hitzewellen, Dürre und
Stürme – stark bedroht. Wir erleben heute schon ein Waldsterben, das
weitaus größere Schäden anrichtet, als in den 80er Jahren durch den
sauren Regen entstanden sind. Naturnahe, artenreiche und klimasta-
bile Waldökosysteme sind widerstandsfähiger als Monokulturen. Sie
halten den Wasserkreislauf in Balance und die Böden fruchtbar, spei-
chern Kohlenstoff, reinigen die Luft, sind der Lebensraum zahlreicher
bedrohter Tiere, Pflanzen und Pilze, produzieren Rohstoffe und dienen
der Erholung und Gesundheitsvorsorge. Wir fördern die Entwicklung
gesunder Wälder, die mehr Kohlenstoff binden, als aus ihnen heraus-
geholt oder freigesetzt wird. Wir wollen gesetzliche Mindeststandards
festlegen, damit die Waldbewirtschaftung naturnah wird, den Umbau
und die Wieder- und Neubewaldung nach ökologischen Bewirtschaf-
tungsvorgaben ausrichten und die Waldbesitzer*innen dabei mit qua-
lifizierter Förderung und Beratung unterstützen. Das dient auch dem
ökonomischen Mehrwert. Im Einklang mit Naturschutz- und Wald-
besitzerverbänden setzen wir uns für wald-, natur- und tierschutzge-
rechte Bejagungsmethoden ein. Die Bewirtschaftung aller Flächen der
öffentlichen Hand soll an ökologische Kriterien geknüpft werden –
im Wald nach FSC- oder Naturlandstandards, in der Landwirtschaft
nach Ökolandbau zertifiziert. Wir wollen als ersten Schritt mindestens
5 Prozent unserer Wälder der Natur überlassen. So schaffen wir die
Urwälder von morgen. Weitere Dürrejahre vergrößern die Waldbrand-
gefahr. Gemeinsam mit Kommunen und Ländern wollen wir eine bun-
desweite Präventions- und Bekämpfungsstrategie erarbeiten.
Biologische Vielfalt an Land und im Meer schützen
Der Artenrückgang und die Zerstörung natürlicher Lebensräume schrei-
ten auch global weiter voran. Wir werden uns für ein ambitioniertes
Abkommen der Vereinten Nationen zum Erhalt der biologischen Viel-
falt einsetzen und es in Deutschland umsetzen. Entsprechend der
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN42Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Biodiversitätsstrategie der Europäischen Union sollen mindestens 30
Prozent der Landfläche und 30 Prozent der Meere wirksam geschützt
werden. Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung wollen wir über-
all als neue Leitprinzipien verankern und für eine kohärente Politik
sorgen. Im Meeresbereich verfolgen wir eine gemeinsame internatio-
nale Meeresstrategie. Wir werden uns dafür einsetzen, den Schutz der
Meere über verbindliche Abkommen zu schärfen, Vollzugsdefizite und
Regellücken zu schließen und damit in den Fokus zu rücken, damit
auch bisher legale Verschmutzung, wie zum Beispiel Tankwäschen auf
hoher See, verboten und Übernutzung verhindert wird. Wir unterstüt-
zen Programme zum Stopp der globalen Entwaldung und zum Schutz
oder zur Wiedereinwanderung oder -ansiedlung besonders bedrohter
Arten. Landnutzer*innen, deren Lebensunterhalt durch Schutzmaßnah-
men bedroht wird, müssen einen Ausgleich erhalten. Gezielte Arten-
schutzprogramme von Zoos und wissenschaftlichen Instituten wollen
wir unterstützen und zugleich die Haltung der Tiere dort verbessern.
Lebensräume, für die wir in Deutschland internationale Verantwor-
tung tragen, wie das Wattenmeer und alte Buchenwälder, wollen wir
gemeinsam mit den Ländern besser als bisher schützen und entwi-
ckeln. Bei Eingriffen in die Natur müssen nicht verantwortbare Risiken,
wie die Manipulation oder Ausrottung ganzer Populationen oder Arten
durch gentechnische Methoden, sogenannte Gene Drives, ausgeschlos-
sen werden. Es braucht eine umfassende Biomassestrategie, damit die
Produktion und der Import von Biomasse zur Energieerzeugung oder
für Tierfutter nicht zur Zerstörung der Artenvielfalt führt.
Flüsse und Moore schützen und renaturieren
Die Renaturierung von Flüssen, Auen und Wäldern und die Wiederver-
nässung von Mooren – all das schützt nicht nur seltene Lebensräume
und die biologische Vielfalt, sondern auch das Klima. Deshalb werden
wir eine Renaturierungsoffensive starten. Naturnahe Bäche und die
letzten frei fließenden Flüsse wie die Elbe müssen erhalten bleiben,
einen Ausbau der Oder lehnen wir ab, das gilt auch für die Tideelbe.
Maßnahmen, die den ökologischen Zustand unserer Fließgewässer
verschlechtern, sind nicht erlaubt. Diese Vorgabe aus dem europäi-
schen Recht werden wir durchsetzen. Flüsse mit weiten Auen und
Überschwemmungsgebieten sind auch der beste Schutz gegen Hoch-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN43Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
wasser und halten das Wasser in der Landschaft. Wir werden des-
halb die Aufgaben der Bundeswasserstraßenverwaltungen nach öko-
logischen Kriterien neu ausrichten. Spezifische Programme für wilde
Bäche, naturnahe Flüsse, Seen, Auen und Feuchtgebiete wie das Blaue
Band wollen wir stärken und gemeinsam mit den Ländern die EU-
Wasserrahmenrichtlinie endlich konsequent umsetzen. Moorschutz ist
Klimaschutz. Daher wollen wir ein Ende der Torfnutzung und unsere
Moore so schnell und umfassend wie möglich wiedervernässen. Dazu
legen wir gemeinsam mit den Ländern ein großflächig wirksames
Moor- Renaturierungsprogramm auf. Um die noch intakten Moore vor
Torfabbau, Überdüngung und Entwässerung zu retten, werden wir sie
unter strengen Schutz stellen. Für genutzte Moorböden wollen wir
ökonomische Perspektiven für eine nachhaltige nasse Landwirtschaft
ermöglichen und extensive Weidewirtschaft und Paludikultur stärken.
Sauberes Wasser ist Leben
Wasser ist unser wichtigstes Lebensmittel. Düngemittel, Pestizide,
Waschmittelrückstände und Medikamentenreste gehören nicht in
unser Wasser. Zum Schutz unseres Grundwassers, der Seen, Flüsse
und Meere wollen wir deshalb klare gesetzliche Vorgaben, etwa
zur Flächenbindung der Tierhaltung und des Pestizid- und Dünge-
mitteleinsatzes, verankern sowie die Kläranlagen verbessern. Ein
Verursacherfonds und eine Reform der Abwasserabgabe sollen so
zu einer fairen Verteilung der Kosten von Abwasser- und Trinkwas-
seraufbereitung führen. Wir wollen die Produktverantwortung von
Hersteller*innen stärken. So verringern wir etwa durch verbesserte
Genehmigungs- und Entsorgungsvorschriften für Medikamente die
Bildung von Resistenzen und andere Gefahren von Arzneimittelrück-
ständen im Wasser. Besonders gefährliche und schlecht abbaubare
Schadstoffe dürfen nicht mehr in den Wasserkreislauf gelangen. Wir
setzen das EU-Wasserrecht endlich konsequent um und reduzieren
den Eintrag von hormonverändernden Stoffen und Mikroplastik ins
Wasser deutlich. Den Vorrang der Trinkwasserversorgung gegenüber
gewerblicher Nutzung gilt es sicherzustellen, Wiederverwendung von
Abwässern und Speicherung von Regenwasser wollen wir fördern
und Anreize zum Wassersparen schaffen. Wir machen das Vorsorge-
prinzip auch im Gewässerschutz zur Richtschnur, deswegen wollen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN44Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
wir im Bergrecht Fracking und künftige Projekte zur Förderung von
Erdöl und Erdgas ausschließen.
Meere schützen, Plastikmüllflut stoppen
Die Meere befinden sich in einem katastrophalen Zustand – und
dieser droht sich durch weitere Versauerung, Überdüngung, Überfi-
schung, Verschmutzung und Plastikmüll noch zu verschlechtern. Um
der Plastikmüllflut Einhalt zu gebieten, wollen wir ein international
verbindliches Abkommen zum Stopp der Plastikvermüllung unserer
Meere auf den Weg bringen sowie ein Sofortprogramm mit ehrgei-
zigen Müllvermeidungszielen auflegen. Wir wollen Technik fördern,
die eine Bergung der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee und
ein umweltverträgliches Abfischen von Müll aus dem Meer ermög-
licht. Aus den Erdölförderanlagen in der Nordsee treten durch Unfälle,
ölhaltigen Bohrschlamm mit Bohrabfällen und auch durch die Abfa-
ckelung von Gas giftige Stoffe aus. Wir setzen uns für ein Ende der
Förderung fossiler Energieträger ein. In der deutschen Ausschließ-
lichen Wirtschaftszone wollen wir einen sofortigen Stopp neuer
Öl- und Gasbohrungen umsetzen sowie ein Förderende bis 2025.
Auf europäischer und internationaler Ebene setzen wir uns für ein
Ende der Öl- und Gasförderung in der gesamten Nord- und Ostsee
ein. Wir wollen auch den Ausstieg aus dem Kies- und Sandabbau in
Schutzgebieten vorantreiben und zugleich Raubbau in Ländern des
globalen Südens durch Importstandards verhindern. Um die Überfi-
schung zu beenden, die Fischbestände zu stabilisieren und Fischer*in-
nen eine nachhaltige Perspektive zu geben, wollen wir Fangquoten
und Fischereiabkommen anpassen, Schonzeiten ausdehnen und die
Umstellung der Fischerei auf umwelt-, klima- und artenschonende
Fangmethoden erreichen. Dazu gehören auch ein schnellstmöglicher
Ausstieg aus der klima- und umweltschädlichen Grundschleppnetz-
fischerei und eine naturschutzgerechte Regulierung von Stellnetzen.
Wir wollen die Fischereisubventionen auf eine ökologische Meeres-
nutzung ausrichten. Regionale Fischereibetriebe werden wir bei der
Umstellung ebenso unterstützen wie beim Aufbau von Alternativen
durch umweltfreundliche touristische Angebote. Ein wichtiger Schritt,
um ökologische Fischerei und Aquakultur auskömmlich zu honorie-
ren, ist eine verbindliche und für die Verbraucher*innen transparente
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN45Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Kennzeichnung. Für lebendige Weltmeere sind die Umsetzung der
EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, ein Tiefseebergbaumorato-
rium sowie die Ausweisung von großflächigen nutzungsfreien Mee-
resschutzgebieten notwendig.
Das Ende des Mülls
Der Plastikmüll wird immer mehr, der Mehrweganteil bei Geträn-
ken sinkt seit Jahren. Einwegbecher werden nur für wenige Minuten
genutzt, bevor sie zu Müll werden. Ausgediente Handys und Tablets
verstauben in Schubladen, obwohl sie wiederverwendet oder recycelt
werden könnten. Unser Ziel ist Zero Waste. Es soll kein Müll mehr
verursacht und die Ressourcenverschwendung gestoppt werden. Das
kann nur gelingen, wenn Hersteller*innen und Müllverursachende
stärker in die Verantwortung genommen werden und das Konzept
der Kreislaufwirtschaft ganzheitlich bei Design, Herstellung, Nutzung
und Entsorgung von Produkten berücksichtigt wird. Unerwünschte,
oft sogar noch in Plastikfolie eingepackte Werbung gehört nicht in
unsere Briefkästen. Wir werden das komplizierte Pfandsystem ent-
wirren. Jede Flasche soll in jeden Pfandautomaten passen, den To-
go-Mehrwegbecher machen wir bis 2025 zum Standard. Wir fördern
Mehrweg bei Transport, Online-Handel, Einkauf und Lebensmittel-
verpackungen. Wir treten für ein EU-weites Pfandsystem ein. Damit
Ressourcenschätze aus alten Elektrogeräten zurück in den Kreislauf
finden, schaffen wir in einem ersten Schritt ein Pfand auf Handys,
Tablets und energieintensive Akkus. Das bisherige Lizenzgeld für
Plastikverwertung entwickeln wir zu einer Ressourcenabgabe weiter.
Bei der Ausgestaltung der Müllsammlung wollen wir die Position der
Kommunen stärken. Das Verpackungsgesetz wird zum Wertstoffge-
setz, das allen ökologisch vorteilhaften Mehrwegprodukten Vorrang
einräumt sowie Müllvermeidung und hochwertiges Recycling fördert.
Dazu müssen Kunststoffsorten und Verbundstoffe reduziert und gift-
frei werden. Biowertstoffe gehören nicht in die Verbrennung, sondern
müssen verwertet werden. Plastikmüll soll nicht mehr exportiert wer-
den, wenn er nicht hochwertig recycelt wird. Stoffe im Kreislauf zu
führen, wird auch ökonomisch vorteilhafter werden, als sie wegzu-
werfen. Kreislaufwirtschaft wird das neue Normal.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN46Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Giftfreie Produkte im Alltag
Plastik- und Schadstoffrückstände finden sich mittlerweile sogar
schon in den Körpern von Kindern und Jugendlichen. Die Weltge-
sundheitsorganisation sieht in hormonstörenden Chemikalien eine
globale Gesundheitsbedrohung. Wir wollen giftige Chemikalien, die
Erkrankungen wie Krebs, Diabetes oder Allergien und ungewollte
Kinderlosigkeit auslösen können, aus allen Alltagsprodukten verban-
nen, indem wir das EU-Recht im Chemikalienbereich verbessern und
schnell und konsequent durchsetzen. Der Eintrag von Mikroplastik,
das sich heute schon überall in unserer Umwelt findet, muss dringend
minimiert werden. In Kosmetika und Pflegeprodukten hat Mikroplas-
tik nichts verloren. Besonderes Augenmerk richten wir auf Spielzeug,
Kinderpflegeprodukte und andere Alltagsprodukte wie Textilien,
Möbel oder Elektronik. Deutschland sollte dem Beispiel Frankreichs
folgen und nachgewiesen giftige Chemikalien wie Bisphenol A in
Kochgeschirr und Lebensmittelverpackungen oder per- und polyfluo-
rierte Kohlenwasserstoffe in Papier und Pappe verbieten. Wir wollen
Verbraucher*innen besser schützen, indem wir gemeinsam mit den
Ländern importierte Güter stärker auf Giftstoffe kontrollieren, die
Produktkennzeichnung verbessern und Produktrückrufe erleichtern.
Unser Ziel ist, dass die Menschen gesund in einer gesunden Umwelt
leben können.
Saubere Luft zum Atmen
Wir alle brauchen saubere Luft zum Atmen. Doch Abgase aus dem
Verkehr, aus Kohlekraftwerken oder alten Ölheizungen machen krank.
Schlimmer noch: Nach Berechnung der Europäischen Umweltagen-
tur sterben allein in Deutschland pro Jahr 70.000 Menschen vorzeitig
durch von Luftverschmutzung verursachte Krankheiten. Die ökologi-
sche Modernisierung bietet riesige Chancen, die Luft zu verbessern.
E-Autos, Solar- und Windenergie schützen unsere Luft. Wir wollen
diese Entwicklung beschleunigen und die Grenzwert-Empfehlungen
der Weltgesundheitsorganisation für Luftschadstoffe schnellstmög-
lich umsetzen. Auch durch mehr Grün in unseren Städten verbessern
wir dort die Luftqualität. Um diese Ziele zügig zu erreichen, werden
wir alle Emissionsquellen wie Verkehr, Industrie und Landwirtschaft
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN47Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
in den Blick nehmen und in diesem Zusammenhang die Entschei-
dung darüber, ob und wie Feuerwerk im Einzelnen zu regeln ist, dahin
geben, wo sie hingehört – vor Ort.
Klimaanpassung und mehr Natur in der Stadt
Die Klimakrise verändert zunehmend die Rahmenbedingungen unse-
res Zusammenlebens. Schon heute hat sich die Erde um 1,2 Grad
erhitzt. Die Folgen sind mit Hitzesommern, Überschwemmungen und
Stürmen längst auch in unserem Land spürbar und treffen oft die
am härtesten, die in schwierigsten Umständen leben. Während wir
um jedes Zehntelgrad weniger an Erderhitzung kämpfen, müssen wir
uns zugleich an diese Veränderungen anpassen. In ländlichen Räu-
men gilt es insbesondere Land- und Forstwirtschaft, Tourismus und
Fischerei bei der Anpassung zu unterstützen, um Schäden durch Dür-
ren, Ernteausfälle und Waldsterben zu verringern. Unsere Städte wol-
len wir besser gegen Hitzewellen und Starkregen wappnen – mit Hit-
zeaktionsplänen und einem Stadtumbau im Großen wie im Kleinen:
mehr Stadtgrün, Bodenentsiegelung, Frischluftschneisen, Gebäudebe-
grünung, Wasserflächen und öffentliche Trinkbrunnen. Als Schwamm-
städte sollen sie künftig mehr Wasser aufnehmen, speichern und im
Sommer kühlend wirken. Das erhöht auch die Lebensqualität gerade
für all jene, die sich keinen eigenen Balkon oder Garten leisten kön-
nen: Dachgärten sind natürliche Klimaanlagen für Wohnungen und
Büros, Parks und Stadtwälder spenden Schatten und frische Luft. Wir
wollen durch Verbesserungen im Baurecht und in der Städtebau-
förderung Stadt und Land helfen, all das schnellstmöglich vor Ort
umzusetzen. Auch für Tiere und Pflanzen sind unsere Städte immer
wichtigere Lebensräume. Deshalb wollen wir die Natur in der Stadt
ausweiten. Das vorhandene Grün werden wir schützen und ökologisch
aufwerten, Gärtner*innen und Kleingärtner*innen wollen wir dabei
als Verbündete gewinnen. Wir werden die Lichtverschmutzung ein-
dämmen, die Menschen, Tiere und Pflanzen schädigt und wesentlich
zum Verschwinden von Insekten und Vögeln beiträgt.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN48Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir stärken Bäuer*innen, Tiere und Natur
Landwirtschaft fit für die Zukunft machen
Wir wollen Klima-, Umwelt-, Tier- und Gewässerschutz und landwirt-
schaftliche Erzeugung miteinander versöhnen. Die Landwirtschaft fit für
die Zukunft zu machen – das begreifen wir als Aufgabe für die nächsten
Jahre. Das geht nur mit der Natur zusammen und mit einem Verständ-
nis von Natur, das sich an Kreisläufen orientiert und sich dem Ressour-
censchutz verpflichtet sieht. Das bedeutet fruchtbare kohlenstoffspei-
chernde Böden, sauberes Wasser und intakte Ökosysteme, aber auch
ein faires Auskommen von Landwirt*innen und eine gute und gesunde
Ernährung für alle. Das können und werden wir nur gemeinsam mit
den Bürger*innen und Bäuer*innen erreichen. Insbesondere kleine
Betriebe wollen wir bei der notwendigen Transformation unterstützen
und pragmatische Lösungen für sie finden. Unser Leitbild ist eine sich
weiterentwickelnde ökologische Landwirtschaft mit ihren Prinzipien
Tiergerechtigkeit, Gentechnikfreiheit und Freiheit von chemisch-syn-
thetischen Pestiziden. Dafür wollen wir den Ökolandbau umfangreich
fördern und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass künftig immer
mehr Bäuer*innen und Lebensmittelhersteller*innen umstellen. Ziel
sind 30 Prozent Ökolandbau bis 2030. Die Agrarforschung für eine
Ökologisierung der Landwirtschaft werden wir deutlich ausweiten. Wir
werden vielfältige Fruchtfolgen und widerstandsfähige Anbausysteme
wie Agroforst ebenso stärken wie die Nutzung von robusten Pflanzen-
sorten und Tierrassen. Stickstoffüberschüsse werden wir deutlich redu-
zieren. Auch digitale Anwendungen können bei entsprechender Aus-
richtung die Landwirtschaft umwelt- und klimafreundlicher machen,
müssen aber auch – zum Beispiel über Sharing-Konzepte – kleineren
Betrieben offenstehen und bezahlbar sein. Monokulturen, Pestizide
und chemisch-synthetischer Dünger führen auch im globalen Süden zu
erheblichen Schäden für Gesundheit und Umwelt, während Kleinbäu-
er*innen durch europäische Dumpingexporte, patentiertes Saatgut und
Landraub weiter in die Abhängigkeit getrieben werden. Das Recht auf
Nahrung muss garantiert sein, kleinbäuerliche Strukturen wollen wir
stärken. Dafür unterstützen wir mit unserer Agrar- und Entwicklungs-
politik eine globale sozial-ökologische Agrarwende.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN49Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Öffentliches Geld für öffentliche Leistung
Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU sollte zu einem Instrument für
eine sozial- ökologische Agrarpolitik werden – und nicht wie bisher
für die Industrialisierung der Landwirtschaft. Das muss der Ausgangs-
punkt für einen Gesellschaftsvertrag zwischen Bäuer*innen, Verbrau-
cher*innen und Politik für Klima- und Naturschutz sein. Wir wollen
eine Reform, damit die Milliarden an öffentlichen Geldern künftig
für öffentliche Leistungen wie Klima-, Umwelt- und Tierschutz ein-
gesetzt werden und dabei die regionale Landwirtschaft stärken. Um
den nachhaltigen Umbau der Landwirtschaft gemeinsam mit den
Bäuer*innen voranzutreiben, gilt es, die nationalen Spielräume für
die bevorstehende Förderperiode bestmöglich für diese Ziele zu nut-
zen. Wir wollen das System der Direktzahlungen schrittweise durch
eine Gemeinwohlprämie ablösen, die konsequent gesellschaftliche
Leistungen honoriert. Wir setzen uns für innovative Instrumente der
Agrarumweltförderung ein, bei denen Klima- und Naturschutz sowie
agrarökologische Ziele gemeinsam gedacht werden. Bis zum Jahr
2028 wollen wir für mindestens die Hälfte der Gelder eine ökologi-
sche Zweckbindung erreicht haben.
Pestizide reduzieren
Es gibt viele Gründe, den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft
deutlich herunterzufahren. Der Schutz der menschlichen Gesundheit
gehört dazu. Vor allem sind weniger Pestizide der wichtigste Hebel,
um den Rückgang der Artenvielfalt zu stoppen. Wir wollen den Aus-
stieg aus der Pestizidabhängigkeit unserer Landwirtschaft schnell
und machbar gestalten: durch eine systematische Pestizidreduktions-
strategie, ein Sofortverbot für besonders umwelttoxische Wirkstoffe
und das immer noch häufig eingesetzte Pestizid Glyphosat. Um den
Einsatz von Pestiziden insgesamt zu reduzieren, führen wir eine Pes-
tizidabgabe ein. Um wirksamen Artenschutz zu betreiben und unser
Trinkwasser zu schützen, wollen wir die Ausbringung von Pestiziden
in Naturschutzgebieten und Trinkwasserschutzgebieten untersagen
und ein flächendeckendes Pestizidmonitoring einführen. Betroffene
Landwirt*innen werden wir bei der Umsetzung finanziell unterstüt-
zen. Wir werden außerdem den Export von Pestiziden beenden, die
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN50Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
in Deutschland oder der EU aufgrund von Umwelt- und Gesundheits-
risiken nicht zugelassen oder verboten sind. Wir wollen die Zulas-
sungsverfahren für Pestizide verbessern, indem wir Transparenz und
Unabhängigkeit stärken. Für ökologischen Pflanzenschutz werden wir
in Kooperation mit den Ländern ein umfassendes, kombiniertes For-
schungs-, Umsetzungs- und Beratungsprogramm für nicht chemisch-
synthetischen Pflanzenschutz auflegen.
Vielfältiges Saatgut ohne Patente
Eine vielfältige, gerechte und nachhaltige Landwirtschaft beginnt
beim Saatgut. Angesichts der Klima- und Biodiversitätskrise wollen
wir die Züchtung von robusten Sorten und die Forschung für öko-
logisches Saatgut vorantreiben sowie die Forschung zu alternativen
Ansätzen stärken, die auf traditionelle und ökologische Züchtungs-
verfahren setzen. Dabei muss wie bei jeder Technologie der Umgang
mit alten wie neuen gentechnischen Verfahren einerseits die Freiheit
der Forschung gewährleisten und andererseits bei der Anwendung
Gefahren für Mensch und Umwelt ausschließen. Nicht die Techno-
logie, sondern ihre Chancen, Risiken und Folgen stehen im Zentrum.
Wir werden daher an einem strengen Zulassungsverfahren und am
europäisch verankerten Vorsorgeprinzip festhalten. Dazu bleiben
Risikoprüfungen auf umfassender wissenschaftlicher Basis und eine
Regulierung, die unkontrollierbare Verbreitung ausschließt, sowie
eine verbindliche Kennzeichnung, die gentechnikfreie Produktion
und die Wahlfreiheit der Verbraucher*innen schützt, nötig. Entspre-
chend braucht es eine Stärkung der Risiko- und Nachweisforschung.
Wir wollen das Patentrecht so ausrichten, dass es keine Patente auf
Lebewesen und ihre genetischen Anlagen mehr gibt.
Gerechte Einkommen und Arbeitsbedingungen für Bäuer*innen
Bäuer*innen müssen von ihrer Arbeit leben können. Wir wollen daher
gegen Dumpingpreise, den Verkauf von Lebensmitteln unter Erzeu-
gerpreis und Konzentration in der Lebensmittelbranche vorgehen und
dazu die Möglichkeiten des Wettbewerbs- und Kartellrechts sowie der
EU-Richtlinie gegen unlautere Handelspraktiken nutzen. Wir wollen
Junglandwirt*innen und Neueinsteiger*innen unterstützen und Maß-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN51Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
nahmen gegen Bodenspekulation und den Ausverkauf ländlicher
Fläche ergreifen. Dazu gehört, dass künftig die Flächen der bundes-
eigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH nicht mehr pri-
vatisiert, sondern vorzugsweise an ortsansässige, bäuerliche Betriebe
und Existenzgründer*innen verpachtet werden, mit dem Ziel, die Flä-
chen klima- und naturfreundlich zu bewirtschaften. Share Deals bei
landwirtschaftlichen Betrieben werden wir regulieren, um den Aus-
verkauf von Boden an außerlandwirtschaftliche Investoren zu unter-
binden. Auch in der Lebensmittelerzeugung und -verarbeitung müssen
faire Bedingungen herrschen. Ein besserer Arbeits- und Gesundheits-
schutz für Beschäftigte in Landwirtschaft und Fleischindustrie sind
ebenso notwendig wie mehr Rechte für die Arbeitnehmer*innen, tarif-
liche Löhne und starke Gewerkschaften. In der Saisonarbeit gibt es
zu viel prekäre Beschäftigung ohne Sozialversicherungsschutz. Hier
trifft häufig körperlich schwere Arbeit auf karge Löhne und schlechte
Unterkünfte. Diese sozialen Ungerechtigkeiten wollen wir beenden.
Regionale Produktion, Verarbeitung und Vermarktung stärken
Der Wunsch, wieder mehr regional und handwerklich erzeugte Lebens-
mittel zu kaufen, in der Bäckerei, der Metzgerei, auf dem Bauernhof,
wächst stetig. Gleichzeitig hat uns die Corona-Krise vor Augen geführt,
wie wichtig regional funktionierende Lieferketten sind. Wir wollen die
regionale Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung stärken und so
dem Betriebesterben der letzten Jahre entgegentreten. Dazu gehö-
ren auch faire Wettbewerbsbedingungen gegenüber importierten
Lebensmitteln. In öffentlichen Einrichtungen wollen wir verstärkt
regionale und ökologische Produkte, auch Umstellungsware, einset-
zen – so schaffen wir Nachfrage und faire Preise. Wir unterstützen
Regionalsiegel und Direktvermarktungen der Betriebe durch lokale
Einkaufs-Apps und Regionalwerbung und sorgen mit einer klaren
Definition von regionalen Produkten für Schutz vor Betrug. Öffent-
liche Gelder und gezielte Beratung zum Umgang mit Auflagen und
Kennzeichnungsvorschriften sollen vorrangig kleinen und mittleren
bäuerlichen Betrieben und Handwerker*innen zugutekommen. For-
schung und Beratung zur Regionalvermarktung und für innovative
und partizipative Ansätze wie Erzeuger*innengemeinschaften, solida-
rische Landwirtschaft oder Ernährungsräte unterstützen wir.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN52Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
Gute Ernährung fördern – Lebensmittel retten
Gesunde und ökologisch wertvolle Lebensmittel sollen allen Menschen
in Deutschland leicht zugänglich sein, gesunde Ernährung darf nicht
vom Geldbeutel abhängen. Ernährungsbedingte Krankheiten wollen
wir gezielt eindämmen. Deshalb werden wir umsteuern und viele
Stellschrauben neu justieren – sich gut und gesund zu ernähren, muss
einfacher werden. Kitas, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeheime, Mensen
und Kantinen unterstützen wir dabei, mehr gesundes regionales und
ökologisch erzeugtes Essen anzubieten; auch vollwertiges vegetari-
sches und veganes Essen soll zum täglichen Angebot gehören. Gutes
Essen scheitert allzu oft an unzureichendem Angebot und mangelnder
Transparenz. Um das zu ändern, nehmen wir die Lebensmittelindustrie
in die Pflicht. Wir brauchen verbindliche Reduktionsstrategien gegen
zu viel Zucker, Salz, Fett und Zusatzstoffe in Fertiglebensmitteln und
ökonomische Anreize für gesündere Produkte. Für Lebensmittelwer-
bung, die sich an Kinder richtet, wollen wir klare Regeln, die sich an
den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation orientieren. Umwelt-
gerechte Ernährung gehört in die Lehrpläne aller relevanten Ausbil-
dungsbereiche. Auch die Ernährungspolitik muss sich an den Pariser
Klimaschutzzielen ausrichten. Klimaschutz heißt auch, dass wir als
Gesellschaft weniger tierische Produkte produzieren und konsumie-
ren werden. Wir wollen vegetarische und vegane Ernährung attrakti-
ver und zugänglich für alle Menschen machen. Die Markteinführung
von pflanzlichen Alternativen und Fleischersatzprodukten wollen wir
fördern und sie steuerlich besserstellen. So sollen pflanzliche Milchal-
ternativen mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz verkauft werden.
Auch für fair gehandelten Kaffee wollen wir die Steuer runtersetzen.
Insgesamt wollen wir die Forderung der EU-Kommission, Umweltfol-
gekosten auch im Lebensmittelbereich steuerlich zu berücksichtigen,
mit einer ökologischen Steuerreform aufgreifen, damit sich auch bei
pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln der Preis ökologisch und
sozial gerecht darstellt. Gegen die Lebensmittelverschwendung gehen
wir entschlossen vor. Wir wollen mit einem Rettet- die-Lebensmittel-
Gesetz verbindliche Reduktionsziele einführen, Lebensmittelhandel
und produzent*innen verpflichten, genusstaugliche Lebensmittel wei-
terzugeben, statt sie wegzuwerfen. Lebensmittel aus dem Müll zu ret-
ten – das sogenannte Containern – muss entkriminalisiert werden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN53Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
Klare Lebensmittelkennzeichnung
Gutes, nachhaltiges und gesundes Essen soll leicht zu erkennen sein.
Mit verständlichen Informationen über Zutaten, Herkunft, Herstellung
und zum ökologischen Fußabdruck wollen wir für die nötige Transpa-
renz sorgen. Wir werden eine verpflichtende Tierhaltungskennzeich-
nung mit anspruchsvollen Kriterien für Fleisch und andere Lebens-
mittel aus oder mit tierischen Bestandteilen einführen und uns dafür
einsetzen, dass dies auch EU-weit verbindlich wird. Dabei soll der Wei-
terentwicklung von Tierschutzstandards Rechnung getragen werden.
Die Nährwertkennzeichnung Nutriscore wollen wir weiterentwickeln
und EU-weit für alle Fertigprodukte anwenden. Außerdem wollen wir
die Transparenz über die Herkunft von Lebensmitteln verbessern. Ent-
haltene Allergene sollen besser gekennzeichnet werden. Zur einheit-
lichen Kennzeichnung von vegetarischen und veganen Lebensmitteln
brauchen wir eine EU-weite rechtsverbindliche Definition von „vege-
tarisch“ und „vegan“. Transparenz muss auch bei der Lebensmittelhygi-
ene gelten, deshalb sollen die Ergebnisse von Lebensmittelkontrollen
für alle erkennbar sein.
Wir ermöglichen Tieren ein besseres Leben
Tierhaltung mit mehr Platz für weniger Tiere
Das System des „Immer billiger, immer mehr“ hat die Landwirtschaft
in einen Teufelskreis getrieben: Bäuer*innen werden von Dumping-
preisen erdrückt und müssen immer mehr produzieren, um zu überle-
ben, die Tiere werden immer mehr auf Leistung gezüchtet und leben
immer kürzer, die ökologischen und gesellschaftlichen Probleme
wachsen. Industrielle Massentierhaltung und Billigfleischexport in
alle Welt sind mit einer klimagerechten Zukunft nicht vereinbar. Es
braucht einen Ausweg. Ein Teil der Lösung ist, dass deutlich weniger
Tiere gehalten werden als bisher und diesen Tieren ein wesentlich
besseres Leben ermöglicht wird. Tiere brauchen mehr Platz, Auslauf
im Freien und Beschäftigung – das wollen wir artspezifisch verbind-
lich regeln und uns auch auf EU-Ebene für eine deutliche Anhebung
der Tierschutzstandards einsetzen. Damit Tierschutz wirtschaftlich
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN54Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
machbar ist, wollen wir die Landwirt*innen unterstützen: durch eine
Umbauförderung, die durch einen Tierschutz-Cent auf tierische Pro-
dukte finanziert wird, durch faire Preise und durch eine verpflichtende
Haltungskennzeichnung für tierische Produkte. Die Tierhaltung soll
so an die Fläche und an Obergrenzen pro Stall gebunden werden,
dass eine umwelt- und tiergerechte Bewirtschaftung gewährleistet
ist. Den tiergerechten und brandsicheren Umbau von Ställen werden
wir zum Standard machen, an den sich alle halten müssen. Das wer-
den wir ebenso gezielt fördern wie die Weidetierhaltung, die ökolo-
gisch wertvolles Grünland erhält und sinnvoll nutzt. Ställe, in denen
Tiere nicht zumindest entsprechend der EU-Ökoverordnung gehalten
werden können, sollen nicht mehr gebaut werden. Statt tierquäleri-
sche Züchtung auf Hochleistung wollen wir robuste Rassen und Zwei-
nutzungsrassen fördern. Amputationen, Eingriffe ohne Betäubung und
qualvolle Betäubungsmethoden sowie Käfig- und Anbindehaltung
wollen wir beenden. Den Einsatz von Antibiotika in der landwirt-
schaftlichen Tierhaltung werden wir deutlich senken. Um diese Medi-
kamente gezielt einzusetzen und Resistenzen zu vermeiden, sollen
vorrangig kranke Einzeltiere behandelt werden. Reserveantibiotika
sollen der Humanmedizin vorbehalten werden. Um Lebendtiertrans-
porte zu vermeiden, ziehen wir die regionale und mobile Schlach-
tung dem Schlachten im zentralen Schlachthof vor und werden diese
fördern. Wir wollen Tiertransporte auf vier Stunden begrenzen und
besser kontrollieren, Lebendtiertransporte in Drittstaaten außerhalb
der EU sollen ganz verboten werden.
Tiere schützen und respektieren
Tiere sind fühlende Lebewesen und brauchen Schutz, deshalb wer-
den wir die gesetzlichen Regelungen zur Tierhaltung verbessern. Für
alle Tiere, die wir Menschen halten, haben wir eine besondere Ver-
antwortung. Wir wollen ihnen ein würdevolles, gutes und gesundes
Leben frei von Schmerzen, Angst und Stress ermöglichen. Dafür gilt
es, wirkungsvolle Sanktionen bei Tierschutzvergehen im Tierschutz-
und Strafrecht zu verankern und gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen auf einen effektiven Vollzug hinzuwirken. Wir werden ein
umfassendes Verbandsklagerecht für anerkannte Tierschutzorgani-
sationen einführen. Die anerkannten Tierschutzorganisationen und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN55Kapitel 1
Bundestagswahlprogramm 2021
ein*e unabhängige*r Bundestierschutzbeauftragte*r sollen Auskunfts-
und Akteneinsichtsrechte wahrnehmen und Rechtsverstöße bean-
standen können. Der oder die Tierschutzbeauftragte soll zudem die
zuständigen Bundesbehörden unterstützen sowie bei Gesetzesvor-
haben und Tierschutzangelegenheiten beteiligt werden. Wir wollen
bessere Regeln für Zucht, Haltung und Handel mit Tieren. Die Haltung
von Wildtieren in Zirkussen werden wir beenden. Wir streben die wei-
tere konsequente Reduktion von Tierversuchen in der Wissenschaft
an und wollen sie mit einer klaren Ausstiegsstrategie und innovati-
ven Forschungsmethoden schnellstmöglich ersetzen. Dafür arbeiten
wir mit allen beteiligten Akteur*innen an einer zukunftsorientierten
tierfreien Forschung, fördern Investitionen in tierfreie Innovationen
sowie die Weiterentwicklung von verbesserten Medikamenten- und
Sicherheitsprüfungen und beschleunigen die Zulassung tierversuchs-
freier Verfahren. Die EU-Vorgaben für Tierversuche werden wir end-
lich in deutsches Recht umsetzen.
Wildtierhandel an die Leine legen
Die Covid-19-Pandemie hat deutlich gemacht, dass die Gesundheit
von Umwelt, Tier und Mensch zusammengedacht werden und die-
ser Planetary-Health-Ansatz zum Prinzip unseres Handelns werden
muss. Der Raubbau an der Natur hat keine Zukunft. Die Pandemie
basiert auf einer Zoonose, einer vom Tier auf den Menschen über-
tragenen Infektionskrankheit. Solche Krankheiten werden immer
häufiger, sie werden durch die fortschreitende Zerstörung der Natur
und das Vordringen der Menschen in die letzten natürlichen Lebens-
räume begünstigt. Dem gilt es überall auf der Welt entgegenzuwirken.
Wildtiere gehören in die Wildnis, der Handel mit ihnen muss stren-
ger reguliert, existierende Regularien müssen konsequent umgesetzt
werden. In den Herkunftsländern müssen wirtschaftliche Alternativen
aufgebaut werden. Wildtierhandel auf Online-Portalen und gewerb-
lichen Börsen sowie kommerzielle Importe von Wildfängen und die
Einfuhr von Jagdtrophäen müssen ganz verboten werden. Die Haltung
von Tieren aus Wildtiernachzuchten sollte an eine Positivliste und
einen Sachkundenachweis geknüpft werden, der sich an der Schwie-
rigkeit der Haltung der jeweiligen Tierart bemisst. Auch die indust-
rielle Tierhaltung kann zu Pandemien beitragen, wie sich an coronain-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN56Kapitel 1
Bereit, weil Ihr es seid.
fizierten Nerzen gezeigt hat. Die Tierhaltung ist deshalb auch an den
Notwendigkeiten zur Eindämmung möglicher Zoonosen auszurichten.
Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Haltung von Tieren in und
der Handel mit Pelzen aus Pelztierfarmen beendet werden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN57Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
Kapitel 2:
In die Zukunft wirtschaften
Klimaneutralität ist die große Chance für den Industriestandort
Deutschland. Grüne Technologien aus Deutschland werden weltweit
nachgefragt. Beim erneuerbaren Wasserstoff sind wir Europäer*innen
noch führend. Für große Teile der deutschen Industrie ist das Pariser
Klimaabkommen fester Bestandteil der Planungen geworden, unter-
nehmerische Investitionsstrategien sind auf Klimaschutz ausgerich-
tet. Die meisten wissen, dass die Märkte der Zukunft klimaneutral sind.
Und sie wissen: Deutschland kann so viel mehr. In den Unternehmen,
den Köpfen und den Strukturen stecken die Innovationskraft und der
Wille, in die Zukunft zu wirtschaften. Wir sehen, mit welcher Agilität
Unternehmer*innen neue Ideen oder Geschäftsmodelle entwickeln
und dabei auch ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden wol-
len. Und wir sind überzeugt, dass das freie und kreative Handeln, die
Dynamik eines fairen Wettbewerbs und die Stärke von gesellschaft-
licher Kooperation innovativ Probleme lösen.
Die Digitalisierung bedeutet einen weiteren großen Umbruch, der
unsere Wirtschaft und die Gesellschaft maßgeblich prägt. Wir wollen
die Digitalisierung gestalten und dafür sorgen, dass notwendige Inno-
vationen in Europa entwickelt und marktfähig werden. Deutschland
und Europa sollen auch bei Zukunftstechnologien die Spitze bean-
spruchen. Dafür nutzen wir auch die Gestaltungsmöglichkeiten der
deutschen G7-Präsidentschaft 2022.
Allerdings steht die deutsche und europäische Wirtschaft unter gro-
ßem Druck: Unser Industrieland muss sich im globalen Wettbewerb mit
autoritärem Staatskapitalismus und weitgehend unregulierten Tech-
giganten behaupten. Die Pandemie hat viele Wirtschaftszweige hart
getroffen, einige Sektoren hatten schon zuvor die Transformation ver-
schlafen. Die Klimakrise und die Endlichkeit von Ressourcen verlangen
ein Umsteuern. Zugleich ist unser Verständnis von dem, was Wohlstand
ist, im Wandel. Wenn wir es jetzt aber klug anstellen, können wir unser
Wirtschafts- und Finanzsystem neu eichen. Dann können wir dafür sor-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN58Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
gen, dass Wachstum nur im Einklang mit den planetaren Grenzen statt-
findet, statt unsere natürlichen Ressourcen zu übernutzen.
Unsere Sozialsysteme, den Arbeitsmarkt und die Staatsfinanzie-
rung richten wir darauf aus, auch beim Wirtschaften innerhalb die-
ser Grenzen stabil zu bleiben. Wir können eine sozial-ökologische
Marktwirtschaft im Sinne des Gemeinwohls in Europa begründen, die
Wohlstand mit Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit versöhnt und den
Menschen dient. Sie ist Ausgangspunkt für eine neue wirtschaftli-
che Dynamik, die zukunftsfähige Jobs schafft, im Handwerk, bei Start-
ups oder in der Dienstleistungsbranche, die Lebensqualität sichert,
uns Menschen freie Entfaltung ermöglicht und einen klimagerechten
Wohlstand schaffen kann.
Dafür ist eine Politik nötig, die will, die nach vorne führt und ver-
lässlich steuert. Nicht weil der Staat besser wirtschaften kann, sondern
weil die Wirtschaft klare Verhältnisse, verlässliche politische Rahmen-
bedingungen und Anreize braucht. Nur dann haben Unternehmen Pla-
nungssicherheit und wissen, dass sich klimaneutrales, nachhaltiges
Wirtschaften lohnt. Und nur dann kann sich die Innovationskraft von
Beschäftigten und Unternehmer*innen entfalten in einzelbetrieblich
sinnvollen Entscheidungen für nachhaltigen Wohlstand.
Ungeregelte Märkte können sehr viel zerstören. Wenn wir Märkte
aber nachhaltig und sozial gestalten, können sie Innovationen ent-
fachen, die wir für die Transformation brauchen. Damit das gelingt,
stellen wir die Weichen konsequent auf Klimaneutralität und Kreis-
laufwirtschaft und ermöglichen der Wirtschaft neue Spielräume
innerhalb der planetaren Grenzen. Wir schaffen Anreize, streichen
umweltschädliche Subventionen und setzen ordnungspolitische
Regeln, damit nachhaltig produziert, gehandelt und konsumiert wird.
Wir nutzen Konzepte wie Wachstum, Effizienz, Wettbewerb und Inno-
vation als Mittel zum Zweck und bemessen klimagerechten Wohl-
stand, das eigentliche Ziel von Politik, neu. Wir starten eine umfas-
sende Investitionsoffensive, öffentlich wie privat, um dem immensen
Investitionsstau in unserem Land zu begegnen und Klimaschutz, Digi-
talisierung und Bildung deutlich zu stärken. Dafür setzen wir auf eine
vorsorgende Haushaltspolitik.
Wir gehen die Ungerechtigkeiten im Steuersystem entschlossen
an und nutzen die Lenkungswirkung von Steuern für Klimaschutz
und Kreislaufwirtschaft. Wir sorgen dafür, dass sich sehr wohlha-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN59Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
bende und reiche Menschen und große Konzerne ihrer Verantwor-
tung stärker stellen. Globale Konzerne sollen nicht mächtiger sein als
Staaten – es gilt das Primat der demokratischen Politik zu behaup-
ten. Wir wollen die enorme Kluft zwischen Arm und Reich verrin-
gern, denn Gesellschaften, in denen die Ungleichheit gering ist, sind
insgesamt zufriedenere Gesellschaften. Hohe Einkommen und Ver-
mögen sollen deshalb mehr zur Finanzierung unseres Gemeinwe-
sens beitragen und niedrige werden entlastet. Anhaltende schwere
wirtschaftliche Ungleichgewichte in Europa und weltweit wollen
wir ebenfalls helfen abzubauen, indem wir in Deutschland verstärkt
öffentlich investieren und gute Löhne durchsetzen.
Wirtschafts- und Finanzpolitik muss europäisch gemacht werden.
Als Europäer*innen können wir mit unserem starken gemeinsamen
Binnenmarkt internationale Standards setzen und Innovationen vor-
antreiben. Solange es Wettbewerbsverzerrung gibt, braucht es auch
den Schutz des EU-Binnenmarktes und vor allem der kritischen Infra-
struktur. Zugleich setzen wir uns für eine gemeinsame strategische
Außenwirtschaftspolitik ein, die Fairness zu einem Gebot des inter-
nationalen Wettbewerbs und des freien Welthandels macht und welt-
weit nachhaltiges und menschenrechtskonformes Wirtschaften beför-
dert. Als Europäer*innen investieren wir gemeinsam in Klimaschutz,
Forschung und den Wohlstand der Zukunft, den Weg dahin bereit ein
Green New Deal. In einer Bundesregierung werden wir alles dafür tun,
dass die Europäische Union der erste CO2-freie Wirtschaftsraum wird.
So legen wir die Grundlagen dafür, dass Deutschland und Europa
erfolgreiche Industriestandorte mit einem leistungsfähigen Mittel-
stand, hoher Wertschöpfung, starkem Sozialstaat und guten Arbeits-
plätzen bleiben – in traditionsreichen und innovativen Industrie-
unternehmen, im Maschinenbau, in kleinen und mittelständischen
Betrieben. Mit einer aktiven Wirtschafts- und Industriepolitik zeigen
wir eine Richtung auf und bieten zukunftsfähigen Unternehmen gute
Bedingungen. So machen wir aus der Marke „Made in Germany“ ein
Gütesiegel für eine zukunftsfähige Wirtschaft in einem klimaneut-
ralen und sozialen Europa. Außerdem fördern wir eine kooperative
und fürsorgende Wirtschaftsweise. So entstehen viele Arbeitsplätze
in regionalen Wertschöpfungsketten, gemeinwohlorientiert statt
gewinnorientiert. Wir brauchen eine vielfältige Wirtschaft, die wider-
standsfähig gegenüber Krisen wird.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN60Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir fördern Unternehmer*innengeist,
Wettbewerb und Ideen
Ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen
Nach der Corona-Pandemie braucht unser Land einen neuen wirt-
schaftlichen Aufbruch. Das Beste, was die Politik dazu beitragen kann,
ist, das zu tun, was sie die letzten zehn Jahre sträflich versäumt hat:
in unsere gemeinsame Zukunft zu investieren. Nur wenn auch der
Staat seinen Teil beiträgt, wenn öffentliche und private Investitio-
nen gemeinsam auf ein Ziel ausgerichtet werden, wird Europa den
Anschluss im Bereich moderner Zukunftstechnologien halten und
sich im Wettbewerb mit den USA und China behaupten können. Wir
starten in der nächsten Legislaturperiode eine Investitionsoffensive.
Mit Investitionen in schnelles Internet, überall. Spitzenforschung vom
Quantencomputer bis zur modernsten Biotechnologie. In klimaneut-
rale Infrastrukturen, in Ladesäulen, einen Ausbau von Bahn-, Fuß- und
Radverkehr, emissionsfreie Busse, in Energiespeichertechnologien,
erneuerbare Energien und moderne Stadtentwicklung. Wir wollen,
dass Deutschland bei den öffentlichen Investitionen im Vergleich
der Industrieländer vom Nachzügler zum Spitzenreiter wird und in
diesem Jahrzehnt pro Jahr 50 Milliarden Euro zusätzlich investieren.
Diese Investitionen sollen auch dem Gender Budgeting unterliegen.
So gelingt die sozial-ökologische Transformation, so schaffen wir
nachhaltigen Wohlstand und sichern die Wettbewerbsfähigkeit unse-
res Landes in einer handlungsfähigen Europäischen Union.
Neustart nach der Corona-Krise
Die Corona-Pandemie hat viele Unternehmen hart getroffen. Wäh-
rend die einen sich hoch verschulden mussten, haben es andere nicht
durch die Krise geschafft und mussten ihr Geschäft aufgeben. Beson-
ders hart sind Restaurants, Gaststätten, Hotels, die Tourismus- und
Veranstaltungsbranche, die Kulturwirtschaft, aber auch viele Einzel-
händler*innen und Solo-Selbständige betroffen. Ein Neustart nach der
Corona-Krise muss daher gezielt den besonders betroffenen Branchen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN61Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
helfen – und zugleich ein Signal für den Richtungswechsel zur Kli-
maneutralität setzen. Damit sichern wir Existenzen, erhalten Arbeits-
plätze und setzen zielgenaue konjunkturelle Impulse. Hierfür dehnen
wir vor allem für kleine und mittlere Unternehmen den steuerlichen
Verlustrücktrag aus, führen attraktive und zeitlich begrenzte Abschrei-
bungsbedingungen ein und helfen kleinen und mittleren Unterneh-
men, sich mit vereinfachten Restrukturierungsverfahren leichter neu
aufzustellen, ohne Insolvenz anmelden zu müssen. Falls Coronahilfen
zurückgezahlt werden müssen, benötigen die Unternehmen groß-
zügige Konditionen. Für viele Selbständige können sichere Aufträge
durch handlungsfähige Kommunen den Neustart nach der Pandemie
unterstützen. Die Kunst- und Kulturbranche wollen wir unter anderem
durch eine abgestimmte Kulturförderpolitik stärken und eine zweite
Gründungschance. In der Corona-Krise wurden viele Aktiengesell-
schaften durch staatliche Hilfen gestützt. Mittels Kurzarbeiter*innen-
geld, Beteiligungen oder anderer Finanzhilfen wurden die Unterneh-
men vor der Pleite bewahrt. Für neue Hilfen muss gelten: Firmen, die
Staatshilfen erhalten, dürfen keine Dividenden ausschütten.
Klimaschutztechnologien made in Germany
Der globale Wettbewerb um die Technologien von morgen ist in vol-
lem Gange. Made in Germany soll zukünftig nicht nur für Qualität,
sondern noch stärker für nachhaltige und innovative Produkte und
Prozesse stehen. Digitalisierung und Klimaneutralität müssen Staat
und Unternehmen gemeinsam in Angriff nehmen. Während der Staat
mehr öffentliche Investitionen realisiert, wollen wir zugleich Anreize
für mehr Investitionen durch Unternehmen setzen. Dafür erweitern
wir zielgerichtet die Spielräume für die Unternehmen: Investitionen
sollen zeitlich befristet degressiv mit mindestens 25 Prozent abge-
schrieben werden können. Die steuerliche Förderung von Forschung
soll künftig gezielter an KMUs und Start-ups fließen, ihre Wirksamkeit
wollen wir evaluieren und erhöhen. Öffentliche Investitionszuschüsse
sollen gerade bei neuen Technologien eine Starthilfe geben; Klima-
verträge helfen, dauerhafte Planungssicherheit für langfristige Klima-
schutzinvestitionen zu geben.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN62Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
Ein Gründungskapital einführen
Um den Wohlstand von morgen zu sichern, brauchen wir eine neue
Gründer*innenwelle. Mit einem Gründungskapital, das für Gründer*in-
nen und Nachfolger*innen einen Einmalbetrag bis maximal 25.000
Euro sicherstellt, wollen wir dafür sorgen, dass keine gute Idee und
kein Neustart an zu wenig Eigenkapital scheitert. Bedingung ist, dass
die geförderte Gründung sich an den UN-Nachhaltigkeitszielen aus-
richtet und eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durch Sachverständige
durchgeführt wird. Gründer*innen sollen es leicht haben: Statt sich
durch ein Verwaltungsdickicht quälen zu müssen, sollen sie Infor-
mation, Beratung und die Möglichkeit zur Anmeldung in einer zen-
tralen Anlaufstelle erhalten – überall in Deutschland. In den ersten
zwei Jahren sollen sie weitgehend von Melde- und Berichtspflichten
befreit werden. Frauen sind bei Gründungen und Nachfolgen noch
unterrepräsentiert, sie wollen wir gezielt fördern mit einem staat-
lichen Wagniskapitalfonds nur für Frauen. Vergabe- und Auswahl-
gremien besetzen wir paritätisch. Hürden sollten auch für Menschen
mit Migrationsgeschichte abgebaut werden, hier lässt unser Land ein
riesiges Potenzial brachliegen. Bei der öffentlichen Vergabe beziehen
wir Start-ups besser ein und vereinfachen dafür Vergabeverfahren
und Regeln zur Eignungsprüfung. Wir werden die Mitarbeiterbeteili-
gung breiter zugänglich machen und erleichtern. Immer mehr Start-
ups wollen mit digitalen Lösungen das Gemeinwohl stärken. Dazu
integrieren wir sozial-ökologische Kriterien stärker in die bestehende
Gründungsfinanzierung.
Fairer Wettbewerb um klimaneutrale Industrietechnologien
Die energieintensiven Industrien – Stahl, Zement, Chemie – stehen
für 15 Prozent des deutschen CO2-Ausstoßes. Zugleich bieten sie hun-
derttausende gute Arbeitsplätze und sind ebenso Eckpfeiler unseres
Wohlstandes. Wir wollen diese Industrien zum Technologievorreiter
bei der Entwicklung klimaneutraler Prozesse machen. Der Maschi-
nenbau kann beim weltweiten Einsatz grüner Technologien made in
Germany eine Schlüsselrolle einnehmen. So bekämpfen wir die Kli-
makrise und tragen zur Sicherung des deutschen Industriestandorts
bei. Damit die Investitionen schon heute in auch langfristig klima-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN63Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
verträgliche Anlagen fließen können, fördern wir mit Investitionszu-
schüssen und degressiven Abschreibungen direkt die Transformation.
Mit dem Abbau von Hürden bei der grünen Eigenstromversorgung
und einem zunehmenden Einsatz von grünem Wasserstoff treiben
wir die Dekarbonisierung der Prozesse voran. Klimaverträge (Carbon
Contracts for Difference), die die Differenz zwischen dem aktuellen
CO2-Preis und den tatsächlichen CO2-Vermeidungskosten finanzie-
ren, sorgen für Investitionssicherheit. Und mit Quoten für den Anteil
CO2-neutraler Grundstoffe schaffen wir Leitmärkte für CO2-freie Pro-
dukte. Pilotanlagen für noch nicht marktreife emissionsarme Techno-
logien wollen wir besonders fördern. Und sofern möglich, sollte das
Ziel sein, dass neue Industrieanlagen bereits emissionsfrei betreib-
bar gebaut bzw. exportiert werden. Bei der Transformation der Che-
mieindustrie setzen wir auf neue innovative Produkte, Prozesse und
Verfahren, die neben der Treibhausgasneutralität auch die Kreislauf-
wirtschaft fördern, die Effizienz steigern, Emissionen und Abfälle von
vornherein vermeiden und uns unabhängig von fossilen Rohstoffen
wie Erdöl oder Erdgas machen.
Zukunftsfähige Automobilindustrie
Die Automobilindustrie steht vor gewaltigen Umbrüchen. Weltweit
läuft der Wettbewerb um das emissionsfreie und digitale Auto der
Zukunft. Nach Jahren des Stillstands hat sich auch die Branche in
Deutschland endlich auf den Weg gemacht. Jetzt braucht es Entschlos-
senheit und Zusammenarbeit, um zukunftsfähige Arbeitsplätze und
klimagerechte Wertschöpfung in der Autoindustrie zu schaffen. Die
Transformation der Automobilwirtschaft hin zum wichtigen Akteur
für nachhaltige Mobilität ist notwendig. Der Politik kommt dabei
eine zentrale Rolle zu, sie muss den Rahmen setzen und den Trans-
formationsprozess gestalten. Klar ist dabei: Der Verbrennungsmotor
hat keine Zukunft. Wir wollen ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos
neu zulassen. Zudem wollen wir auch in der Autoindustrie Standards
für eine Kreislaufwirtschaft und klimaneutrale Produktion sowie die
Dekarbonisierung im Stahlbereich setzen, sodass der ökologische
Fußabdruck der Fahrzeuge immer kleiner wird. Wir unterstützen diese
Transformation mit Forschungs- und Innovationsförderung für alle
Technologieoptionen und wollen den schnellen Aufbau der Ladesäu-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN64Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
leninfrastruktur und den Markthochlauf von emissionsfreien Fahrzeu-
gen im Rahmen eines kostenneutralen Bonus-Malus-Systems fördern.
Die Potenziale neuer Mobilitätsdienstleistungen und des autonomen
Fahrens für den Industriestandort und auch für Klimaschutz und Ver-
kehrssicherheit wollen wir dabei heben. Zudem gilt es, die Chancen für
Wertschöpfung und Arbeitsplätze der Mobilitätswende in den Blick zu
nehmen: von neuen Jobs im ÖPNV bis zur Fahrzeugproduktion. Wich-
tig ist zudem, dass Deutschland und Europa schnell den Anschluss
bei der Batteriezellenproduktion finden. Gerade für die Batterien der
nächsten Generation, die günstiger und ressourcensparender sind,
wollen wir in Europa eine eigene, nachhaltige Batteriezellenproduk-
tion schaffen, zu der ein wirksames Recyclingsystem gehört sowie die
Forschung und Entwicklung der nächsten Batteriegeneration. Dazu
setzen wir auf klare Vorgaben bei den Ökostandards und ein umfas-
sendes Forschungs- und Förderprogramm. Wir wollen die besonders
betroffenen Autoregionen mit regionalen Transformationsdialogen
und -fonds unterstützen. Damit erhalten wir die Wertschöpfungskette
im Mittelstand und sichern Arbeitsplätze vor Ort. Die Beschäftigten
der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer wollen wir mit Qualifizie-
rungsangeboten und Weiterbildung unterstützen.
Europäische Halbleiterindustrie stärken
Eine erfolgreiche und weitsichtige Industriepolitik wird nur dann
funktionieren, wenn auch gesamteuropäisch gedacht wird. Gerade
mit Blick auf eine nötige sektorale Strukturförderung, wie den Aufbau
einer Wasserstoffinfrastruktur, der Solarmodul- und Batteriezellferti-
gung oder die Förderung der Halbleiterindustrie, ist eine europäische
Ausrichtung entscheidend. Um kritische Abhängigkeiten zu verringern,
setzen wir auf europäische Kooperation mit offenen Standards. Die EU-
Kapazität im Bereich der Halbleitertechnologie soll wie von der EU-
Kommission vorgeschlagen auf 20 Prozent der weltweiten Produktion
ausgebaut werden. Das gilt vor allem für die Bereiche, in denen wir
bei der Halbleitertechnologie für industrielle Anwendungen bereits
eine starke europäische Stellung haben oder in denen eine besonders
dynamische zukünftige Entwicklung zu erwarten ist, wie zum Beispiel
bei den erneuerbaren Energien. Hierzu müssen Investitionen entlang
der Halbleiter-Wertschöpfungskette erhöht werden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN65Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
Erneuerbare Energien made in Europe:
Schlüsselbranche für den Klimaschutz
Um klimaneutral zu werden, brauchen wir vor allem eins: richtig viel
erneuerbare Energien. Um die Anlagen dafür bauen zu können, wollen
wir nicht komplett von außereuropäischen Lieferanten abhängig sein
und so in die nächste Importabhängigkeit geraten. Die gute Nachricht
ist: Noch gibt es Hersteller von wichtigen Komponenten wie Windrä-
dern und Wechselrichtern in Europa und auch für die enorm wichtige
PV-Modul-Produktion gibt es wieder erste Investitionen in Produk-
tionskapazitäten. Zahlreiche Innovationen in der Photovoltaik deuten
darauf hin, dass das Potenzial dieser Technologie bei weitem nicht
ausgeschöpft ist. Die deutsche Solarindustrie soll zur Impulsgeberin
werden. Diese Entwicklung wollen wir mit gezielten Investitionshil-
fen unterstützen.
Kreislaufwirtschaft zum Standard machen,
Reparatur- und Recyclingindustrie voranbringen
Müll ist ein Designfehler und eine Verschwendung wichtiger Ressour-
cen und Rohstoffe – die endlich sind und uns abhängig machen. Auf
dem Weg zur Kreislaufwirtschaft brauchen wir eine neue Rohstoff-
politik, die den Einsatz von Primärrohstoffen reduziert, fossile durch
nachwachsende Rohstoffe ersetzt und die globale Rohstoffgewin-
nung an hohe Transparenz-, Sozial- und Umweltstandards bindet. Bei
der Gewinnung heimischer Rohstoffe wollen wir den Dialog zwischen
den beteiligten Akteuren forcieren. Ob Verpackung, Gebäude, Auto
oder Laptop – wir schaffen die gesetzlichen Rahmenbedingungen
und ökonomischen Anreize dafür, dass alle Produkte lange verwen-
det, wiederverwendet, gemeinsam genutzt, repariert und hochwertig
recycelt werden können. Im Ergebnis heißt das bis spätestens 2050:
kein Müll mehr, Schluss mit geplantem Verschleiß, dafür mehr grüne
Jobs vor Ort in einer neuen europäischen Reparatur- und Recyclingin-
dustrie, die die Abhängigkeit von endlichen Ressourcen und Rohstoff-
importen verringert. Den Weg dorthin weisen wir mit verbindlichen
Herstellerverpflichtungen, ambitionierten Recyclingquoten, Steuer-
und Abgaberegelungen, Normen und Standards und gezielten För-
derprogrammen. Bis 2030 werden wir alle Güter und Materialien, die
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN66Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
auf den Markt kommen, mit einem digitalen Produktpass ausstatten,
der Unternehmen und Verbraucher*innen alle für sie wichtigen Infor-
mationen über Design, CO2-Fußabdruck, Reparierbarkeit und Materia-
lien bereitstellt, die für eine klimaneutrale Kreislaufwirtschaft nötig
sind. Effizienter Materialeinsatz und Kreislaufwirtschaft reduzieren
den Energiebedarf und tragen wesentlich zum Gelingen der Energie-
wende bei.
Forschungsergebnisse in die Praxis bringen,
Gründungskultur beleben
An unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen wird nach
höchsten Standards geforscht. Vielversprechende Forschungsergeb-
nisse – gerade auch aus der Grundlagenforschung – müssen aber
noch öfter in die Praxis gelangen. Die Impfstofferfolge machen dabei
Mut: Eine völlig neue Technologie ermöglichte in Rekordzeit die Ent-
wicklung und Produktion gleich mehrerer Corona-Impfstoffe. Struk-
turelle Hemmnisse verhindern aber immer noch Ausgründungen. Die
bestehenden Förderprogramme zum Transfer in die Anwendung rei-
chen nicht aus. Wir wollen den Ausbau von Förderprogrammen für
Hightech-Start-ups, Gründungszentren und Entrepreneurship-Ausbil-
dungen vorantreiben. Die stille Beteiligung der öffentlichen Institu-
tionen soll zum neuen Ausgründungsstandard werden. Zudem wollen
wir die Entwicklung von Impfstoffen, Medikamenten und Medizinpro-
dukten stärker fördern. Wenn sie mit einem erheblichen Anteil öffent-
licher Gelder erforscht und entwickelt werden, sind an die Förderung
klare Bedingungen bezüglich der Transparenz der Forschungskosten,
fairer Preisgestaltung und weltweit gerechten Zugangsmöglichkeiten
zu knüpfen. Zusätzlich setzen wir uns für eine mittelfristige Verein-
heitlichung des Gründungs- und des Gesellschaftsrechts innerhalb
des Europäischen Wirtschaftsraums ein.
Führungsgremien vielfältiger machen
Deutschland ist vielfältig, seine Führungsetagen sind es (noch) nicht.
Dabei führen diverse Teams Unternehmen erfolgreicher. Die Vielfalt
der deutschen Gesellschaft muss sich deshalb auch dringend in den
Führungs- und Entscheidungsgremien und der Wirtschaft abbilden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN67Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
Obwohl Frauen mindestens gleich gut qualifiziert sind wie Män-
ner, fehlen sie dort. Unser Ziel ist und bleibt: die Hälfte der Macht
den Frauen. Freiwillige Regelungen haben nichts gebracht. Deshalb
brauchen wir Quoten, die wirklich die kritische Masse herstellen, um
zu unserem Ziel von 50 Prozent Frauenanteil zu gelangen. So soll
zukünftig verpflichtend mindestens ein Drittel der Vorstandssitze grö-
ßerer und börsennotierter Unternehmen bei Neubesetzung an Frauen
gehen. Um das zu erleichtern, wollen wir auch Hindernisse wie feh-
lende Elternzeitregelungen im Aktienrecht beseitigen. Die Aufsichts-
räte dieser Unternehmen sollen bei Neubesetzungen verpflichtend
einen Frauenanteil von mindestens 40 Prozent anstreben. Unter-
nehmen, die in der Hand des Bundes sind oder an denen der Bund
beteiligt ist, Ministerien und Behörden sollen mit klaren Plänen für
paritätische Betriebsstrukturen als gutes Beispiel vorangehen. Karrie-
reförderung beginnt nicht erst an der Spitze. Wir setzen uns deshalb
dafür ein, in Unternehmen und Organisationen Hürden für den Auf-
stieg von Frauen abzubauen. In Ministerien, Verwaltungen, Anstalten
des öffentlichen Rechts, kommunalen Verbänden und kommunalen
Unternehmen werden perspektivisch ebenfalls 50 Prozent Frauen in
Führungspositionen angestrebt. Die Wirtschaftsförderung wollen wir
geschlechtergerechter ausgestalten und Frauen dort, wo sie unter-
repräsentiert sind, mit gezielten Maßnahmen fördern, zum Beispiel
durch einen staatlichen Wagniskapitalfonds nur für Gründerinnen.
Fachkräftemangel bekämpfen
Durch den demografischen Wandel wird in den kommenden 15 Jah-
ren die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter um sechs Millio-
nen schrumpfen. Gleichzeitig erfordern die Berufe der Zukunft ganz
neue Fähigkeiten. Der Arbeits- und Fachkräftemangel wird sich ver-
stärken. Dem wollen wir entgegenwirken. Dafür investieren wir mehr
in berufliche und berufsbegleitende Bildung. Die duale Berufsaus-
bildung soll durch eine Weiterentwicklung und Modernisierung ins-
besondere der Lehrinhalte und der Ausstattung aufgewertet werden.
Die Finanzierung bedarf der Anpassung. Der Meisterbrief soll wie ein
Studium kostenfrei werden. Wir lassen keine Potenziale mehr unge-
nutzt: Hürden, die Frauen, Älteren, Menschen mit Behinderungen,
Jugendlichen aus einkommensarmen Elternhäusern oder Menschen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN68Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
mit Migrationsgeschichte oft noch im Weg stehen, bauen wir ab und
werden Geschlechterstereotypen entgegenwirken. Einwanderung in
unser Land erleichtern wir mit der Einführung einer Talentkarte und
einer schnelleren Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufs-
abschlüsse, auch wechselseitig in der EU. Allgemein wollen wir die
Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse beschleunigen sowie
das Anerkennungsverfahren kostengünstiger gestalten. Um faire Ver-
fahren bei der Anerkennung akademisch anerkannter Hochschul-
abschlüsse, die bisher ohne staatliche Anerkennung sind, für alle zu
gewährleisten, wollen wir mögliche Anpassungsbedarfe überprüfen
und die Anerkennungspraxis verbessern. Geflüchtete sollen die Mög-
lichkeit zum Spurwechsel bekommen, der ihnen während Ausbildung,
Studium und Arbeit mehr Rechtssicherheit und damit eine berufliche
Perspektive in Deutschland ermöglicht. Wir unterstützen Betriebe, die
Geflüchteten und Einwander*innen eine Chance auf Ausbildung und
Beschäftigung geben, bei Bedarf durch konkrete Ansprechpersonen,
Qualifizierung, Beratung und Begleitung.
Mittelstandspolitik ist Innovationspolitik
Der deutsche Mittelstand ist vielfältig, innovativ und international
wettbewerbsfähig. Hier entstehen die Lösungen für die Herausforde-
rungen der Zukunft, er sichert Wertschöpfung in den Regionen und
für sie. Unsere Mittelstandspolitik setzt auf den Dreiklang aus einer
Verringerung bürokratischer Lasten, einer innovationsfreundlichen
Steuerpolitik sowie einer breitenwirksamen Forschungslandschaft.
Mit schnelleren Planungen und Genehmigungen und einer effizienten,
digitalen Verwaltung unterstützen wir den Mittelstand bei Innovation
und Transformation. Berichtspflichten sollen vereinfacht werden. Dafür
sollten Vorhaben ausgetestet und mit Anwender*innen aus Verwaltung
und Unternehmen aller Größen gemeinsam verbessert werden. Dafür
ist die konsequente Anwendung und Verbesserung sogenannter KMU-
Tests auf nationaler und europäischer Ebene ebenso erforderlich wie
der Ausbau innovationsorientierter öffentlicher Beschaffung. Zur Ent-
lastung und Förderung der Solo-Selbständigen und Kleinstunterneh-
men wird die Gewinngrenze für die Buchführungspflicht angehoben.
Wir setzen uns für gute Bedingungen für kleine Betriebe und Selb-
ständige ein, damit sie im Wettbewerb faire Chancen erhalten. För-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN69Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
derprogramme und Investitionszuschüsse wollen wir nachhaltig aus-
gestalten und dafür sorgen, dass sie vor allem KMUs zugutekommen.
Dafür sollen sie deutlich einfacher zu beantragen und zu dokumen-
tieren sein. Außerdem sollen passgenaue Beratungen für Klimaschutz
und Digitalisierung gefördert werden, auch über längere Zeiträume.
Die Förderung regionaler Innovationsökosysteme aus Hochschulen,
Mittelstand und Zivilgesellschaft wollen wir durch die Gründung einer
eigenständigen Innovationsagentur (D.Innova) konsequent stärken.
Ausgerichtet an den globalen Nachhaltigkeitszielen soll die D.Innova
solche Innovationsnetzwerke systematisch, proaktiv und flexibel för-
dern – von Aachen bis Anklam, von Flensburg bis Füssen. Wir wollen
die regionale Wirtschaft mit den vor Ort agierenden Unternehmen,
Wertschöpfungsketten und Produkten stärken und setzen auf klar defi-
nierte regionale Kennzeichnungen und Förderkonzepte.
Bezahlbare Mieten für kleine und mittlere Unternehmen
Mit der Immobilienspekulation sind in den Städten vielfach auch die
Gewerbemieten wirtschaftlich unverträglich angestiegen und ein
Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Viele kleine Händler*innen
und Gewerbetreibende werden verdrängt. Wir wollen, dass kleine und
mittlere Unternehmen, genau wie soziale Einrichtungen, dauerhaft
einen verbesserten Kündigungsschutz bekommen und mehr Rechte,
befristete Mietverträge zu angemessenen Bedingungen zu verlän-
gern. Darüber hinaus streben wir die Einführung einer Gewerbemiet-
preisbremse an, die in Städten mit angespanntem Gewerberaummarkt
die Begrenzung von Gewerbemieten erlaubt.
Wettbewerbsrecht für das 21. Jahrhundert
Ein starkes Wettbewerbsrecht ist die Voraussetzung für faire Wirt-
schaftsbeziehungen, verhindert Monopole und schützt die Verbrau-
cher*innen. Im Wettbewerb dürfen auch der Umweltschutz und sozi-
ale Standards nicht zum Kollateralschaden werden. Deshalb wollen
wir die nationalen Regeln zu unlauterem Wettbewerb so anpassen,
dass ein Verstoß gegen Umwelt- und Sozialstandards als unlauterer
Wettbewerb verfolgt werden kann. Zudem wollen wir erreichen, dass
Umweltschutzaspekte grundsätzlich im Rahmen von deutschen und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN70Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
europäischen Fusionskontrollverfahren berücksichtigt werden. Den
Verbraucherschutz wollen wir zu einem Zweck des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen machen und seine behördliche Durch-
setzung effektiv stärken. Das umstrittene Ministererlaubnisverfahren
im Rahmen von Fusionskontrollen wollen wir so anpassen, dass Ver-
fahrensgegner*innen wieder ihre vollständigen Klagemöglichkeiten
erhalten. Datenschutzbehörden sollen bei der Zusammenschlusskon-
trolle des Bundeskartellamts konsultiert und ihre Stellungnahmen
bei der Entscheidung über eine Fusion berücksichtigt werden.
Zukunftsfähigkeit eines starken Handwerks sichern
Das Handwerk ist in unserem Alltag überall präsent und unverzicht-
bar. Es zeichnet sich durch eine große Heterogenität aus: vom Hei-
zungsinstallateurbetrieb bis zur Bäckerei, vom mittelständischen
Unternehmen mit hunderten Beschäftigten bis zum Kleinstbetrieb.
Es ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in Deutschland.
Das Handwerk bietet in einer nachhaltigen Wirtschaft krisensichere
Arbeitsplätze und trägt entscheidend zur ökologischen Wende bei.
Es bietet auch im ländlichen Raum jungen Menschen eine Perspek-
tive. Gerade für sie liegen in der ökologischen Transformation riesige
Chancen – von der Gebäudesanierung bis zum Heizungstausch. Durch
Bürokratieabbau, die Unterstützung bei Nachfolgen und die gezielte
Förderung der Ausbildung im Handwerk wollen wir die Rahmenbe-
dingungen verbessern. Oberstes Ziel ist der Erhalt und die Zukunfts-
fähigkeit der Betriebe. In verschiedenen Bereichen wie dem Gebäu-
debereich bedarf es auch der deutlichen Aufstockung der Anzahl der
Aus- und Weitergebildeten. Damit Handwerksberufe noch attraktiver
werden, setzen wir auf eine stärkere Tarifbindung, branchenspezifi-
sche Mindestvergütungen und mehr Gleichwertigkeit von beruflicher
und akademischer Ausbildung. Die Durchlässigkeit vom Studium zum
Handwerk und zurück sollte selbstverständlich werden, genauso wie
internationaler Austausch und Zugang zu Stipendien.
Kultur schafft Wohlstand
Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist eine der am meisten unter-
schätzten Branchen in Deutschland. Vor Corona erzielten die über 1,2
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN71Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
Millionen Kreativen und Kulturschaffenden allein im Jahr 2019 einen
Umsatz von knapp 180 Milliarden Euro – mehr als beispielsweise die
chemische Industrie oder Finanzdienstleister. Doch die Kultur- und
Kreativwirtschaft ist durch die Corona-Krise existenziell bedroht,
besonders auch kleinere Betriebe wie unabhängige Verlage, Privat-
theater, Programmkinos, kleine Clubs und Veranstaltungsorte. Nur mit
gezieltem Schutz und verbesserter Förderung werden wir große Teile
unseres kulturellen Lebens vor dem Wegbrechen retten können. Wir
erweitern den Innovationsbegriff in den Programmen zur Existenz-
gründungsförderung, sodass davon auch die Kultur- und Kreativwirt-
schaft profitiert. Förderprogramme schneiden wir spezifisch auf die
Bedürfnisse der Kultur- und Kreativwirtschaft zu und wir bauen die
Gründungsförderung aus der Arbeitslosigkeit bedarfsgerecht aus.
Der Tourismuswirtschaft nachhaltig auf die Beine helfen
Die Reise- und Tourismuswirtschaft – ein zentraler Wirtschaftsfak-
tor und millionenfache Arbeitgeberin – ist durch die Corona-Krise
schwer getroffen. Wir wollen ihr wieder auf die Beine helfen und
zugleich den Nach-Corona-Tourismus klimaschonender, ökologischer
und sozial nachhaltiger gestalten. Ein ökologisch und sozial blin-
der Massentourismus mit klimaschädlichen Kreuzfahrtschiffen, end-
loser Müllproduktion und riesigem Ressourcenverbrauch hat keine
Zukunft. Im Gegenteil, die Kreuzschifffahrt muss endlich ihren Bei-
trag leisten über neue Antriebe, die Verwendung von Landstrom und
bessere Umweltstandards. In einem nachhaltigen Tourismus liegen
hingegen riesige Chancen. Nachhaltigen oder sanften Tourismus
wollen wir gerade in ländlichen Regionen gezielt entwickeln, zum
Beispiel durch den Ausbau touristischer Rad- und Wasserwege. Mit
einem Shelter-System wie in Dänemark wollen wir Natur für alle
erlebbar machen. Zugleich sollen Nationalparks, Biosphärenreser-
vate und Naturschutzgebiete durch einen regulierten Tourismus
nachhaltig geschützt werden. Die Bahn soll zum Tourismus-Reise-
mittel Nummer 1 werden – durch ein europäisches Nachtzugnetz
und die gezielte Anbindung touristischer Regionen an das Bahnnetz.
So kann der Tourismus dabei mithelfen, eine Welt zu erhalten, die es
sich auch in Zukunft noch zu bereisen lohnt.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN72Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir geben dem Markt einen
sozial-ökologischen Rahmen
Wohlstand und unternehmerischen Erfolg neu bemessen
Wohlstand definiert sich nicht allein durch Wachstum des BIP, son-
dern lässt sich viel breiter als Lebensqualität verstehen. Wir wollen
den Erfolg Deutschlands und der Unternehmen neben ökonomischen
auch anhand inklusiver, sozialer, ökologischer und gesellschaftlicher
Kriterien messen und die politischen Leitplanken wie Anreize und
Wirtschaftsförderung entsprechend neu ausrichten. Dafür soll in
Zukunft gemeinsam mit dem Jahreswirtschaftsbericht ein Jahreswohl-
standsbericht veröffentlicht werden. Dieser berücksichtigt dann zum
Beispiel auch den Beitrag des Naturschutzes, einer gerechten Ein-
kommensverteilung oder auch guter Bildung zum Wohlstand unserer
Gesellschaft. Entsprechend ändern wir die Erfolgsmessung auf Unter-
nehmensebene und ergänzen die Bilanzierungsregeln um soziale und
ökologische Werte, wie beispielsweise ihre Treibhausemissionen, und
setzen uns auch bei internationalen Vorschriften dafür ein. So errei-
chen wir endlich einheitliche Regelungen für die Messung von nach-
haltigem unternehmerischem Erfolg und leisten einen wichtigen Bei-
trag dazu, dass im Wettbewerb Nachhaltigkeit nicht mehr wie heute
eher bestraft, sondern positiv angereizt wird.
Den europäischen Green Deal ambitioniert gestalten
Mit dem Europäischen Green Deal hat die EU-Kommission ein Pro-
gramm vorgelegt, um die Europäische Union zum ersten klimaneu-
tralen Kontinent zu machen. Es umfasst Gesetzesvorschläge in den
Bereichen Klima- und Umweltschutz sowie für eine gestärkte Wett-
bewerbsfähigkeit, Energiesicherheit und Innovationsdynamik einer
dekarbonisierten europäischen Wirtschaft. Wir setzen uns für eine
ambitionierte Ausgestaltung und eine ehrgeizige Umsetzung auf allen
Ebenen ein. Wir machen weiter Druck, damit die ökologische Wende
dazu beiträgt, Ungleichheit zu verringern. Dafür wollen wir den Just
Transition Fund aufstocken und ausbauen. In der Landwirtschaftspoli-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN73Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
tik kämpfen wir dafür, dass die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik
und ihre Umsetzung unter die Ziele des Green Deal und des Pariser
Klimaabkommens gestellt werden, da sie immense Auswirkungen auf
Umwelt- und Artenschutz entfalten. In der Handelspolitik wollen wir
Umwelt- und Sozialkapitel von zukünftigen Handelsverträgen rechts-
verbindlich und sanktionierbar machen.
Die Macht des EU-Binnenmarkts für die Transformation nutzen
Der EU-Binnenmarkt ist eine Erfolgsgeschichte, die gerade im glo-
balen Wettbewerb auf seinen hohen Standards beruht: im Verbrau-
cher- und Datenschutz, im Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie
für die soziale und Produktsicherheit. Diese hohen Standards wollen
wir im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation des Binnen-
markts erhalten und ausbauen, denn sie stärken die Innovationskraft
der Unternehmen, ermöglichen die Ausnutzung von Skaleneffekten
und begünstigen den internationalen Handel. Um die Digitalisierung
zu gestalten, müssen wir Dienstleistungen von Plattformen und ihre
Marktmacht regulieren. Plattformen müssen verpflichtet werden, euro-
päische Qualitäts- und Sicherheitsstandards auch im Online-Handel
zu gewährleisten. Die globale Lenkungswirkung des Binnenmarkts
wollen wir steigern, indem wir sicherstellen, dass Unternehmen auf
dem europäischen Markt auch international Verantwortung für ihre
Produktions- und Vertriebsweise entlang der gesamten Wertschöp-
fungskette übernehmen. Die Handlungsspielräume von Kommunen
in der Europäischen Union wollen wir ausbauen und die Daseinsvor-
sorge vor Liberalisierungsdruck schützen.
Sozialunternehmen und Genossenschaften stärken
Wir wollen die Bereiche der Wirtschaft stärken, in denen langfristige
Nachhaltigkeit mehr zählt als kurzfristige Rendite, und die oft auch einen
Beitrag zur Demokratisierung der Wirtschaft leisten. Wir unterstützen
daher einerseits Genossenschaften, da sie krisenfester und gemein-
wohlorientierter als andere Rechtsformen sind. Andererseits fördern
wir Sozialunternehmen, weil sie gesellschaftliche Anliegen mit unter-
nehmerischem Handeln direkt mit sozial-ökologischen Zielen verbin-
den. Und wir begrüßen das Konzept der Gemeinwohlökonomie, weil es
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN74Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
die Idee des Gemeinwohls in die privatwirtschaftliche Breite trägt. Wir
schaffen zielgruppenspezifische Finanzierungsinstrumente und wollen
die Programme der klassischen Gründungs- und Innovationsfinanzie-
rung ausweiten. Unser Ziel ist eine Gründungswelle neuer Genossen-
schaften und von sozial-ökologisch inspirierter und am Gemeinwohl
orientierter Unternehmen. Dazu werden wir die Rahmenbedingungen
für ihr Wirtschaften systematisch verbessern und bestehende Benach-
teiligungen beseitigen. Den Gründungszuschuss der Arbeitsagenturen
wollen wir nicht allein vom wirtschaftlichen Gewinn, sondern auch
von sozial-ökologischen Wirkungskriterien abhängig machen. Nicht
genutzte Guthaben auf verwaisten Konten wollen wir – sofern keine
Erbansprüche vorhanden sind – für einen Fonds nutzen, der zielgerich-
tet in nachhaltige und soziale Innovationen investiert.
Neue Formen für nachhaltiges Unternehmertum
Wir setzen uns für die Einführung einer Unternehmensform für Ver-
antwortungseigentum ein. Immer mehr Unternehmer*innen verste-
hen ihr Unternehmen nicht als individuell konsumierbares Vermögen.
Sie wollen, dass ihr Unternehmen nicht dem kurzfristigen Sharehol-
der-Value dient, sondern langfristig ausgerichtet und dem Gemein-
wohl verpflichtet ist. Dafür brauchen sie eine Rechtsform, die eine
hundertprozentige Vermögensbindung an das Unternehmen ermög-
licht. Gewinne werden reinvestiert oder gespendet. Die Stimmrechte
können von den Beschäftigten im Kollektiv oder von Einzelnen treu-
händerisch gehalten werden – sie werden nicht an den/die Meist-
bietende*n verkauft, sondern ähnlich wie in anwaltlichen Partner-
schaften, immer an aktiv mit dem Unternehmen verbundene Personen
weitergegeben.
Wir bringen die Digitalisierung voran
Eine europäische Cloud-Infrastruktur
Daten sind eine Schlüsselressource der digitalen Welt, insbesondere
für Anwendungen der Künstlichen Intelligenz. Gerade im industri-
ellen Bereich wollen wir neue Ansätze schaffen, um eine gemein-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN75Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
same, freiwillige Nutzung sowohl von nicht personenbezogenen als
auch von personenbezogenen, aber anonymisierten Daten, zum Bei-
spiel aus Entwicklungs- und Fertigungsprozessen, zu verbessern und
rechtssicher zu gestalten. Davon profitiert vor allem der Mittelstand.
Hierfür braucht es klare gesetzliche Spielregeln für kooperative und
dezentrale Datenpools und Datentreuhandmodelle wie zum Beispiel
Datengenossenschaften, die eine gemeinsame und durch Kartellbe-
hörden überprüfbare Nutzung dieser Daten ermöglichen. Wir wollen
eigene europäische Standards und Regeln setzen. Die eigene kritische
Infrastruktur wollen wir schützen und eine gemeinsame europäische
Cloud-Infrastruktur auf Basis von Open-Source-Technologien reali-
sieren. Europa muss in eigene Expertise im Bereich der Verarbeitung
großer Datenmengen für Künstliche Intelligenz investieren.
Hightech-Standort ausbauen
Die rasante Entwicklung des Corona-Impfstoffs von Wissenschaft-
ler*innen und Unternehmer*innen aus Mainz hat gezeigt, welche
Innovationskraft in unserer Forschungs- und Unternehmensland-
schaft steckt. Eine Innovationskraft, die der Staat mit Tempo und ent-
schlossenen Investitionen unterstützen muss. Vor allem die Bereiche
Künstliche Intelligenz (KI), Quantencomputing-, IT-Sicherheits-, Kom-
munikations- und Biotechnologie oder auch die weitere Entwick-
lung von ökologischen Batteriezellen wollen wir besonders fördern,
damit wir unsere technologische Souveränität sichern können und in
der weltweiten Konkurrenz vorne mitspielen. Dabei legen wir einen
besonderen Fokus darauf, die ökologischen und sozialen Potenziale
der Technologien zu heben. So verbessern Innovationen die Lebens-
bedingungen der Menschheit und sichern den Wohlstand von morgen.
Dafür benötigen wir auch privates Risikokapital, das wir durch staatli-
che Fonds stark hebeln wollen. Um im internationalen Standort-Wett-
bewerb mithalten zu können, bedarf es einer starken europäischen
Vernetzung von Spitzenforschung. Wir investieren in Spitzenforschung
und die Bildung von Clustern in diesen Bereichen. Wir wollen bereits
heute den Grundstein legen für die europäische Souveränität in wei-
teren Trends der KI, etwa mit der Unterstützung eines europäischen
Ökosystems für das Erproben von allgemeiner Künstlicher Intelligenz
(„Artificial General Intelligence“). Den Hightech-Standort auszubauen,
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN76Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
heißt aber auch, die dringend benötigten Talente anzuziehen. In der
Forschung bedeutet das angemessene Finanzierung.
Start-up-Wagniskapital eine Richtung geben
Wir müssen nicht nur technologisch exzellent sein, sondern bahnbre-
chende Technologien auch in neue Geschäftsmodelle, Märkte, Dienst-
leistungen und Produkte umwandeln können. Fördermöglichkeiten
und Netzwerke für Start-ups und junge Unternehmen auf nationa-
ler und europäischer Ebene können den Unterschied zwischen einer
guten Idee auf dem Flipchart und einem weltweit erfolgreichen Unter-
nehmen ausmachen. Ein staatlicher Wagniskapitalfonds kann helfen,
unseren Gründer*innen dauerhaft eine Heimat zu geben. Wir fordern,
noch mehr und noch schneller zu investieren. Dieser Zukunftsfonds
soll verstreute Förderangebote bündeln und ein Vielfaches an privaten
Geldern hebeln. Gleichzeitig sollte auch ein funktionierender Sekun-
därmarkt für Direktinvestitionen und Anteile an Wagniskapitalfonds
aufgebaut werden, etwa durch eine Co-Investing-Plattform. Die Mis-
sion des Zukunftsfonds ist Nachhaltigkeit. Er finanziert insbesondere
Projekte in Bereichen wie Greentech, Künstlicher Intelligenz, nach-
haltiger Mobilität, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft, die wegen
ihres Risikoprofils keine einfache Finanzierung am Markt bekommen.
Wir wollen Finanzierungsformen gezielt für Gründungen von Start-
ups der Green Economy anpassen und Barrieren beim Zugang zu Auf-
trägen der öffentlichen Beschaffung abbauen. Regionale Greentech-
Hubs wollen wir fördern, um die Zusammenarbeit zwischen Start-ups
und etablierten Unternehmen zu erleichtern.
Internetgiganten regulieren
Wir setzen uns für einen funktionierenden und fairen Wettbewerb auf
digitalen Märkten ein. Durch übermäßige Marktmacht einzelner Inter-
net- und Techgiganten wird dieser eingeschränkt oder gar aufgeho-
ben. Relevante Erwerbsvorgänge von Tech-Konzernen sollten durch
das Bundeskartellamt geprüft werden, um den strategischen Aufkauf
von aufkeimender Konkurrenz („Killer Acquisitions“) zu verhindern.
Dabei sollten Datenschutzbehörden eine Gelegenheit zur Stellung-
nahme erhalten. Die Interoperabilität ihrer Software und ihrer digita-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN77Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
len Dienste sowie Datenportabilität und offene Schnittstellen sind wo
immer möglich von bereits marktbeherrschenden Unternehmen ver-
pflichtend zu gewährleisten. Wir setzen uns für eine dementsprechend
ambitionierte Umsetzung des Digital Markets Act auf europäischer
Ebene ein. Unter dem Dach eines eigenständigen europäischen Kar-
tellamts wollen wir deshalb eine europäische Digitalaufsicht etablie-
ren, die als Frühwarnsystem fungiert und sanktionsbewährte Koope-
rations- sowie Transparenzpflichten aussprechen kann. Unternehmen
sollen auch unabhängig von einem Missbrauch aufgespalten werden
können, wenn ihre Marktmacht zu groß wird oder bereits zu groß ist.
Geschlechtervielfalt in der Digitalwirtschaft
Alle sollen an der Gestaltung der digitalen Transformation beteiligt
sein und ihre Potenziale einbringen können. Deshalb werden wir eine
Strategie „Frauen in der Digitalisierung“ vorlegen und umsetzen. Mäd-
chen sollen schon in der Grundschule für Digitalthemen begeistert
werden und ohne Technikgenderstereotype aufwachsen. Wir brauchen
eine geschlechtersensible Lehre, die gezielte Ansprache von Frauen
für MINT-Studiengänge und Ausbildungsberufe sowie mehr Frauen in
den Gremien, wo diese Richtungsentscheidungen getroffen werden.
Darüber hinaus fördern wir familiengerechte Ausbildungswege für
Frauen mit anderem beruflichem Hintergrund als Zugang zur Digital-
branche. In der Digitalbranche ist ein Kulturwandel erforderlich, auch
um unser volles Innovationspotenzial auszuschöpfen. Freiwillige und
verpflichtende Maßnahmen für die Unternehmen sind notwendig,
um diskriminierungsfreie Arbeitsplätze und einen gleichberechtig-
ten Zugang zu Gestaltungspositionen in der digitalen Transformation
zu ermöglichen. Bei der Vergabe von Fördermitteln und öffentlichen
Investitionen muss der Frauenanteil einer Organisation bzw. eines
Start-ups berücksichtigt werden. Für staatliche Institutionen soll
Diversität ein Leitprinzip für alle Digitalstrategien sein.
Transparente Algorithmen
Datenverarbeitende und algorithmische Entscheidungssysteme
haben das Potenzial, neues Wissen zu generieren und so nachhalti-
geres Handeln zu ermöglichen. Datengetriebene Systeme sind nicht
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN78Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
neutral, da sie ein Produkt ihrer zugrunde liegenden Daten sind und
somit diskriminierend und vorurteilsbehaftet sein können. Wir wollen
daher Qualitätskriterien sowie die europäischen Anstrengungen für
Transparenz und Überprüfbarkeit vorantreiben, damit algorithmische
Entscheidungssysteme nicht diskriminierend wirken. Wir setzen uns
ein für einen nach Risiken abgestuften europäischen Ordnungsrahmen
für den Einsatz automatischer Systeme, klare Regeln zur Nachvoll-
ziehbarkeit, zum Datenschutz, zum Arbeitsrecht und zur Datenqualität,
um Kontrolle und Haftung, aber auch Rechtssicherheit für betroffene
Betriebe zu ermöglichen. Hier wollen wir verstärkt gleiche Standards
auf europäischer Ebene definieren und umsetzen. Für eine öffentliche
Kontrolle dieser Regeln müssen Behörden gut geschult und technisch
dementsprechend aufgestellt sein. Das bedeutet auch eine Moderni-
sierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sowie strenge
Kriterien für den Einsatz von algorithmischen und automatischen
Entscheidungen, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung. Auch
Plattformanbieter müssen ihre automatisierten Entscheidungen, Ver-
gleiche oder Preise transparent machen und erklären können.
IT-Sicherheit als Standortfaktor
Gute IT-Sicherheit und klare rechtsstaatliche Standards sichern Grund-
rechte und sind die Voraussetzung, damit der digitale Wandel gelingt.
Der Staat bleibt in der Pflicht, diese zu gewähren. Gerade die kritische
Infrastruktur wie beispielsweise unsere Stromnetze muss besonders
geschützt werden. Gute IT-Sicherheit ist längst auch ein wichtiger
Standortfaktor. Wer digital souverän sein will, muss entsprechend han-
deln und darf die Sicherheit aller nicht unterlaufen. Ein effektiver und
moderner Datenschutz schützt die Menschenwürde und nimmt ver-
stärkt auch die Gesellschaft in Gänze in den Blick, um die Abwehr auch
überindividueller Risiken kollektiv zu gestalten. Wir setzen Anreize für
guten Datenschutz und beste IT-Sicherheit, wollen innovative, tech-
nische Ansätze zum effektiven Schutz der Privatsphäre ausbauen und
Auditierungen und europäisch einheitliche Zertifizierungen voran-
treiben. Vor allem KMUs sollen sehr viel stärker durch ein dezent-
rales und unabhängiges IT-Beratungsnetzwerk unterstützt werden.
Der Staat selbst muss mit gutem Beispiel vorangehen, die wichtige
Arbeit der Aufsichtsbehörden stärker unterstützen sowie ihre Koope-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN79Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
ration im föderalen und europäischen Zusammenspiel verbessern, bis
hin zur gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung und Durchsetzung. Die
Unabhängigkeit des BSI stärken wir. Bei staatlichen IT-Projekten muss
IT-Sicherheit von Anfang an mitgedacht und implementiert werden.
Zudem wollen wir die Entwicklung sicherer Hardware gezielt fördern.
Im Sinne der Nachhaltigkeit digitaler Produkte führen wir eine Ver-
pflichtung zu einer angemessenen, risikoorientierten und benutzer-
freundlichen Bereitstellung von Sicherheitsupdates ein. Beim Ausbau
digitaler Infrastrukturen, wie zum Beispiel 5G, wollen wir die Integrität
unserer kritischen Infrastruktur, die digitale Souveränität Europas und
die Einhaltung der Menschenrechte wie das Recht auf Privatsphäre
sicherstellen. Dafür sind einerseits höchste IT-Sicherheitsstandards
für Komponenten in digitalen Infrastrukturen nötig. Andererseits wol-
len wir die technologische Unabhängigkeit Europas durch verstärkte
Eigenentwicklungen und Produktionen, durch vielfältige digitale
Ökosysteme und offene Standards stärken. Um Gefahrenlagen kon-
kret bewerten zu können, müssen neben technischen auch rechtliche,
rechtsstaatliche, sicherheitsrelevante und geostrategische Aspekte in
die Prüfung einbezogen werden. Eine Beteiligung von nicht vertrau-
enswürdigen Unternehmen, insbesondere aus autoritären Staaten, an
kritischer Infrastruktur lehnen wir ab.
Wir kämpfen für einen fairen
und nachhaltigen Handel
Neustart für gute Handelsverträge
Handel ist eine wichtige Grundlage unseres Wohlstandes: Fairer Han-
del trägt zur Vertiefung internationaler Partnerschaften und damit
auch zu einer sicheren Welt bei. Gerade in Zeiten, die zunehmend
unter den Vorzeichen eines Systemwettbewerbs zwischen demokra-
tischen und autoritären Staaten stehen, setzen wir auf eine proak-
tive Handelspolitik. Wir wollen einen multilateralen Welthandel und
Handelsabkommen, die dem Wohlstand aller Menschen dienen, die
Umwelt- und Klimaschutz sowie die Einhaltung der Menschenrechte
einfordern und die Beziehungen mit unseren Partner*innen im Einsatz
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN80Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
für Demokratie und Freiheit stärken. Eine Zersplitterung von Handels-
beziehungen erschwert ein internationales Miteinander. Eine nach-
haltig und fair reformierte Welthandelsorganisation (WTO) muss zu
einer echten globalen Partnerschaft beitragen. In einem ersten Schritt
wollen wir die WTO-Berufungsinstanz zur Streitbeilegung wiederbe-
leben, um die Multiplizierung von Handelskonflikten nach dem Recht
des Stärkeren einzudämmen. Die Chance, mit der neuen US-Adminis-
tration die Handelskonflikte beizulegen und einen transatlantischen
Markt für klimaneutrale Produkte zu schaffen, wollen wir ergreifen.
Abkommen mit negativen Auswirkungen auf die Umwelt oder die
Ernährungssouveränität wie das EU-Mercosur-Abkommen mit latein-
amerikanischen Staaten lehnen wir ab. Die Europäische Union kann
aufgrund des großen gemeinsamen Binnenmarktes selbstbewusst in
Handelsverhandlungen gehen. Europäische Handelsverträge müssen
verbindliche und durchsetzbare Menschenrechts-, Umwelt- und Sozi-
alstandards enthalten und Marktöffnungen im Dienstleistungsbe-
reich grundsätzlich nur in Positivlisten regeln. Dazu zählt, das Pariser
Klimaschutzabkommen sowie ILO-Kernarbeitsnormen zur Bedingung
und einklagbar zu machen. Das europäische Vorsorgeprinzip ist stets
zu wahren. Gute Handelspolitik muss die kommunale Daseinsvorsorge
und die Möglichkeit der Rekommunalisierung ausreichend schützen.
Handelsabkommen sollten nicht nur Rechte für Unternehmen, son-
dern auch ihre Pflichten regeln. Deshalb setzen wir uns für einen
multilateralen Handelsgerichtshof bei den Vereinten Nationen ein,
der beides abdeckt. Internationale Konzerne dürfen durch Handels-
und Investitionsklagen nicht noch mächtiger werden, daher lehnen
wir Klageprivilegien oder eine Sonderjustiz für ausländische Inves-
tor*innen ab. Wir wollen, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten aus
dem vollkommen aus der Zeit gefallenen Energiecharta-Vertrag aus-
steigen, auch um die Ziele des Green Deal der EU nicht zu gefährden.
Wir lehnen Handelsabkommen ab, die Klima, Umwelt und Verbrau-
cher*innen nicht ausreichend schützen. Das CETA-Abkommen werden
wir deshalb in seiner jetzigen Fassung nicht ratifizieren. Wir werden
so sicherstellen, dass die gefährlichen Investor-Staat-Schiedsgerichte
nicht zur Anwendung kommen. Auch an den derzeit vorläufig ange-
wendeten Teilen von CETA üben wir erhebliche Kritik. Wir wollen das
Abkommen gemeinsam mit Kanada weiterentwickeln und dadurch
neu ausrichten. Wir wollen insbesondere die demokratische Kontrolle
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN81Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
bei der regulatorischen Kooperation verbessern. Hier muss das Euro-
paparlament künftig besser eingebunden werden. Zudem braucht es
stärkere Regelungen zu Umwelt-, Klima- und Verbraucherschutz und
die Sicherung des europäischen Vorsorgeprinzips. Das EU-China-
Investitionsabkommen, das maßgeblich von der deutschen Bundes-
regierung vorangetrieben wurde, ist in den Bereichen Level Playing
Field und Menschenrechte unzureichend. Wir können ihm in seiner
jetzigen Form nicht zustimmen.
Aktive Außenwirtschaftspolitik und fairer Wettbewerb
Um legitime Sicherheitsinteressen zu schützen und gleiche Wettbe-
werbsbedingungen für alle Marktteilnehmer*innen durchzusetzen,
muss die EU reagieren, wenn aus Drittländern mit unfairen Mitteln
auf dem EU-Binnenmarkt agiert wird, sowie eine aktive Außenwirt-
schaftspolitik betreiben. Anti-Dumping- und Anti-Subventions-Instru-
mente müssen weiterentwickelt werden, um ein Level Playing Field
auf globalen Märkten zu erreichen. Die Anti-Dumping-Regeln müssen
noch stärker als bisher auch bei Dumping durch niedrige ökologi-
sche und soziale Standards anwendbar sein. Durch eine Reform des
EU-Beihilferechts können Wettbewerbsverzerrungen durch staatlich
geförderte Konzerne aus anderen Weltregionen verhindert werden.
Der EU-Prüfmechanismus für ausländische Direktinvestitionen muss
verbessert werden, um zu verhindern, dass europäische Unterneh-
men von hochsubventionierten ausländischen Firmen übernommen
werden, und ein neues EU-Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang
soll der EU helfen sich gegen rechtswidrigen ökonomischen Druck
von außen zu wehren. Die deutsche Außenwirtschaftsförderung und
ihre Instrumente müssen in Zukunft – anstelle von fossilen Anlagen
und Kraftwerken – Hidden Champions unterstützen, die beispiels-
weise Hightech für bessere Umwelt- und Lebensbedingungen her-
stellen. Dazu müssen sie konsequent am 1,5-Grad-Ziel, an der Agenda
für nachhaltige Entwicklung und an Menschenrechten ausgerichtet
werden. Mit der EU-Kommission setzen wir uns für einen Grenzaus-
gleich von CO2-Kosten ein, damit ambitionierter Klimaschutz nicht
zum Wettbewerbsnachteil wird. Wir werden uns dafür einsetzen, dass
die EU mit den Einnahmen aus diesem Grenzausgleich auch ärmere
Handelspartnerländer bei der Dekarbonisierung unterstützt.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN82Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
Fairer Handel für eine nachhaltige Entwicklung
im globalen Süden
Die Entwicklungschancen der Länder des globalen Südens sind stark
davon abhängig, wie fair die Handelspolitik gestaltet wird. Fairer Han-
del muss zum Standard werden, auch um postkoloniale Kontinuitäten
zu durchbrechen. Dieser muss sich am Pariser Klimaabkommen, an
der Agenda für nachhaltige Entwicklung sowie an den UN-Kernmen-
schenrechtsverträgen orientieren. Bestehende Fair-Handels-Initiati-
ven müssen gefördert werden. Es braucht im Sinne einer nachhalti-
gen globalen Strukturpolitik dringend eine gerechte Handelspolitik
mit den Ländern des globalen Südens, die regionale Wertschöpfung,
regionalen Handel und Integration fördert und ihnen genügend Raum
lässt, durch Zölle und Quoten ihre Märkte zu schützen sowie durch
Exportsteuern die Ausfuhr heimischer Rohstoffe zu beschränken. So
wird der Aufbau heimischer Industrien gefördert. Zölle für Länder des
globalen Südens auf verarbeitete Produkte sollen gesenkt bzw. abge-
schafft werden. Eine Instrumentalisierung der Entwicklungszusam-
menarbeit zur Flüchtlingsabwehr lehnen wir ab.
Lieferkettengesetz europäisch umsetzen
Viel zu oft kaufen wir Dinge, deren Herstellung auf dem Raubbau an
Mensch und Natur basiert, obwohl wir das gar nicht wollen. Damit
Unternehmen künftig Umwelt- und Sozialstandards, Menschenrechte
sowie Klima- und Artenschutz entlang der gesamten internationa-
len Wertschöpfungskette durchsetzen, braucht es ein verbindliches
und wirksames Lieferkettengesetz auf nationaler wie europäischer
Ebene. Zudem schafft ein solcher verbindlicher Rahmen gleiche Wett-
bewerbsbedingungen am Markt und er schafft Rechtssicherheit. Den
Kern einer solchen Regelung stellt eine zivilrechtliche Haftung dar, auf
deren Grundlage Unternehmen im Schadensfall zur Verantwortung
gezogen werden können. Nachbesserungen am deutschen Lieferket-
tengesetz sind dringend notwendig, zum Beispiel eine Ausweitung
der erfassten Unternehmen, aber auch eine Erweiterung der umwelt-
bezogenen Sorgfaltspflichten. Darüber hinaus setzen wir uns auch auf
europäischer Ebene für eine ambitionierte, verbindliche Regelung in
internationalen Lieferketten ein. Waren, deren Herstellung mit schwe-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN83Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
ren Menschenrechtsverletzungen wie zum Beispiel Kinder- oder
Zwangsarbeit im Zusammenhang steht, soll der Zugang zum EU-Bin-
nenmarkt verwehrt werden. Auf EU-Ebene werden wir uns zudem für
einen Importstopp für Agrarprodukte einsetzen, die im Zusammen-
hang mit illegaler Entwaldung und Menschenrechtsverletzungen wie
Vertreibung stehen. Weltweit wird Wald, insbesondere so wichtiger
Tropen-, Ur- und Mangrovenwald, mit fortschreitender Geschwindig-
keit abgeholzt und abgebrannt – vor allem für die agrarindustrielle
Produktion wie den Anbau von Soja und Palmöl, für Bergbau oder
Holzeinschlag. Ein Großteil der Güter wird in die EU importiert. Die
EU-Holzhandelsverordnung wollen wir stärken, die Verwendung von
Soja und Palmöl als Kraftstoff jetzt stoppen und Strategien zur Reduk-
tion von Palmöl und Soja in anderen Bereichen voranbringen. Wir
schützen hier und weltweit den Wald, fördern die Wiederbewaldung
und Renaturierung zerstörter Flächen und wollen dazu Verträge und
Partnerschaften mit entsprechenden Ländern schließen. Wir setzen
uns zudem für gentechnikfreie Lieferketten ein. Auf internationaler
Ebene muss die Erarbeitung eines rechtsverbindlichen UN-Abkom-
mens zu Wirtschaft und Menschenrechten (Binding Treaty) vorange-
trieben werden.
Wir machen die Finanzmärkte
stabiler und nachhaltiger
Grüne Finanzmärkte
Im Kampf gegen die Klimakrise und beim sozial-ökologischen Umbau
unserer Wirtschaft spielt das Finanzsystem eine bedeutende Rolle.
Noch immer werden Milliarden in fossile Energien und Geschäftsmo-
delle, die auf der Zerstörung der Ökosysteme und der Verletzung der
Menschenrechte aufbauen – und damit gegen unsere Zukunft –, inves-
tiert. Wir werden durchsetzen, dass sich die öffentliche Hand voll-
ständig aus diesen Investitionen zurückzieht, wenn weiterhin keine
verlässlichen Schritte für eine nachhaltige Transformation der dahin-
terstehenden Unternehmen eingeleitet werden. Öffentlich-rechtliche
Banken, Versicherer und Pensionsfonds sowie der Bund als Investor
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN84Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
und Miteigentümer von Unternehmen müssen eine Vorreiterrolle bei
der grünen Finanzwende und der Transformationsfinanzierung ein-
nehmen. Klima- und Umweltrisiken sollen offengelegt und bei Ban-
ken und Versicherungen mit Eigenkapital unterlegt werden sowie bei
Ratings berücksichtigt werden. Alle Anlagen, nicht nur grüne, müs-
sen eine Nachhaltigkeitsbewertung haben, die für alle Anleger*in-
nen transparent ist. Dabei sind neben den Klimazielen auch andere
Umweltwirkungen, Menschenrechte, Arbeitsnormen und Entwick-
lungsziele zu berücksichtigen. Dafür braucht die BaFin eine robuste
ESG-Aufsichtskompetenz gemäß der Sustainable-Finance-Regulie-
rung. Auch in die Anlageberatung muss diese Bewertung einfließen.
Zum Schutz des Klimas, aber auch zum Schutz der Anleger*innen,
brauchen wir eine einheitliche Zertifizierung nachhaltiger Finanzpro-
dukte auf europäischer Ebene. So sorgen wir dafür, dass Kapital von
schmutzigen in grüne und nachhaltige Investitionen umgelenkt wird.
Atomkraft ist keine grüne Geldanlage.
Saubere Bilanzen am deutschen Kapitalmarkt
Beim Bilanzskandal Wirecard sind die zuständigen Wirtschaftsprü-
fer*innen und die staatliche Aufsicht an ihrer Aufgabe gescheitert.
Erst nachdem ein neues Unternehmen auf die Bilanzen geblickt hatte,
wurde ordentlich geprüft, während man die Jahre davor immer wieder
Bilanzen durchwinkte, um die eigenen Versäumnisse der Vorjahre zu
vertuschen. Wir wollen, dass Unternehmen in der Regel nach sechs
Jahren ihre Wirtschaftsprüfer*innen wechseln müssen. Wirtschafts-
prüfungsgesellschaften dürfen nicht gleichzeitig Unternehmen bera-
ten, die sie prüfen. Die Aufdeckung von Bilanzbetrug muss als Ziel
gesetzlich verankert werden. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften müs-
sen wirksam staatlich beaufsichtigt werden. Die persönliche Haftung
von Entscheider*innen in Unternehmen muss bei Rechtsverstößen
tatsächlich wirksam werden. Auch Aufsichtsräte müssen gestärkt und
kompetent besetzt werden. Die Vergütung von Vorständen muss sich
am langfristigen Unternehmenserfolg statt am kurzfristigen Börsen-
kurs orientieren.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN85Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
Eine Finanzaufsicht mit Zähnen
Wir brauchen eine Finanzaufsicht mit Zähnen, die Missstände auf-
zeigt, statt sie zu ermöglichen. Bei Wirecard hat auch die deutsche
Finanzaufsicht (BaFin), wie so häufig zuvor kläglich versagt. Als Aufse-
herin verbot die BaFin Leerverkäufe gegen Wirecard und zeigte Jour-
nalist*innen an, die Unregelmäßigkeiten aufdeckten. Das kam einem
Persilschein für Wirecard gleich. Anleger*innen haben im Ergebnis
nicht nur ihr Geld, sondern zugleich auch das Vertrauen in den Finanz-
platz Deutschland und seine Aufsicht verloren. Für ehrliche Unter-
nehmen wird die Finanzierung so künftig schwieriger und teurer. Kul-
tur und Selbstverständnis der BaFin müssen sich deshalb komplett
ändern. Es braucht eine Fehlerkultur innerhalb der Aufsicht und eine
Kultur der Skepsis und des Hinterfragens. Wir wollen eine Finanz-
polizei mit umfassenden Prüfungsrechten schaffen, die Informationen
mit allen zuständigen Behörden im In- und Ausland austauscht. Dem
Zoll als Bundesbehörde kommen wichtige Aufgaben im Bereich der
Bekämpfung der Finanzkriminalität, Steuerhinterziehung und Geld-
wäsche zu. Momentan ist er personell und organisatorisch nicht in der
Lage, diese Funktion zu erfüllen. Wir werden ihn besser und mit den
notwendigen rechtsstaatlich abgesicherten Befugnissen ausstatten,
damit er künftig schwere Finanzkriminalität effektiv bekämpfen kann.
Das Bankgeschäft muss wieder langweilig werden
Auch über zehn Jahre nach der Finanzkrise geht von Banken noch
immer eine Gefahr für die Wirtschaft aus. Noch immer ist nicht aus-
geschlossen, dass im Falle einer Pleite die Steuerzahler*innen haf-
ten. Wir wollen deshalb zurück zum „Boring Banking“. Banken sollen
nicht spekulieren, sondern die Realwirtschaft finanzieren. Statt der
immer undurchsichtigeren Regulierungsflut wollen wir einfache und
harte Regeln. Die Regulierungslücken bei Schattenbanken, Zahlungs-
dienstleistern und Fintechs schließen wir, jedes Produkt und jeder
Akteur muss reguliert sein. Wir werden die Schuldenbremse (Lever-
age Ratio) für Banken verbindlich machen und schrittweise auf 10
Prozent erhöhen. Das riskante Investmentgeschäft muss vom Einla-
gen- und Kreditgeschäft getrennt werden (Trennbankensystem). Auch
Investmentbanken müssen konsequent beaufsichtigt und Geschäfts-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN86Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
bereiche, die zu Interessenskonflikten führen, ausgegliedert werden.
Es braucht eine starke Fusionskontrolle und zu große Banken sollen
entflochten werden. Für kleine Banken, von denen kein Risiko für das
Finanzsystem ausgeht, sollten hingegen einfachere Regeln gelten.
Spekulation und Kurzfristorientierung werden wir, unter anderem
durch eine EU-weite Finanztransaktionssteuer mit breiter Bemes-
sungsgrundlage, unattraktiv machen. Um die Stabilität und Bere-
chenbarkeit der Finanzmärkte zu erhöhen, werden wir den schäd-
lichen Hochfrequenzhandel eindämmen.
Schmutziges Geld einziehen
Unser Land ist derzeit ein Paradies für Geldwäsche. Wir werden mit
einer umfassenden Strategie gegen Geldwäsche vorgehen. Bei allen
Gesellschaften, Stiftungen und sonstigen Konstrukten muss umfas-
sende Transparenz über die wirtschaftlich Berechtigten bestehen. Wir
befürworten eine Absenkung der Identifizierungspflicht auf 10 Pro-
zent. Lücken und Umgehungsmöglichkeiten des Transparenzregisters
werden geschlossen. Die Finanzaufsicht muss in der Geldwäschebe-
kämpfung eine aktive Rolle spielen, statt Verdachtsmeldungen nur
weiterzureichen. Im Nichtfinanzsektor, gerade bei Immobilien, bleibt
Geldwäsche besonders oft unentdeckt. Wir werden bundesweite
Mindeststandards für Aufsicht, Prüfungen, Ressourcen und Personal
durchsetzen. Die Zuständigkeit für die Bekämpfung der Geldwäsche
soll vollständig auf den Bund übergehen. Illegale Gelder und Vermö-
genswerte werden wir umfassend abschöpfen. Das Einfrieren von ver-
dächtigen Finanztransaktionen wollen wir erleichtern und die Dauer
von Transaktionsverboten verlängern, um die Strafverfolgung zu
sichern. Wir werden die Einführung einer hohen Obergrenze für Bar-
geldzahlungen, wie von der EU-Kommission vorgeschlagen, prüfen.
Digitalen Euro einführen
Digitales Bezahlen gewinnt in unserem Alltag stetig an Bedeutung.
Es ist bequem, schnell und soll noch sicherer werden. Wir befürwor-
ten die Initiative der Europäischen Zentralbank (EZB), einen digitalen
Euro zu schaffen. Sie gewährleistet dabei Daten- und Rechtssicherheit
für Verbraucher*innen und Unternehmen und erhöht die Effizienz der
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN87Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
Euro-Transaktionen. Sie wirkt ungerechtfertigten Kosten durch Oligo-
pole entgegen. Private Firmen können auf dieser Grundlage Produkte
und Apps aufbauen. Ein digitaler Euro löst klassisches Bargeld nicht
ab, sondern ergänzt es. Eine Aushöhlung des Geld- und Währungs-
monopols durch private Währungen mächtiger Großkonzerne leh-
nen wir strikt ab. Bei allen digitalen Zahlungen und Kryptowährun-
gen müssen die tatsächlichen wirtschaftlich Berechtigten analog zu
Regelungen beim Bargeld ab einer gewissen Schwelle ermittelt wer-
den. Zur Bekämpfung von Verbrechen wie Geldwäsche, Darstellung
sexualisierter Gewalt gegen Kinder, Steuerhinterziehung und Terror-
Finanzierung braucht es auch für den Bereich des digitalen Bezahlens
klare Regeln. Bestehende Kooperationspflichten von Kryptotausch-
börsen wollen wir erweitern und Ermittlungsbehörden angemessen
in diesem Bereich schulen. Wir wollen den rasanten Entwicklungen
im Bereich dezentraler Finanzanwendungen gerecht werden und die
Chancen und Risiken von Kryptowährungen und Blockchains differen-
ziert ausloten.
Wir vollenden die Europäische
Wirtschafts- und Währungsunion
In Europas Zukunft investieren
Europas Gesellschaften und Unternehmen leben von einer starken
öffentlichen Infrastruktur. Daher ist es umso gefährlicher, dass in den
letzten Jahren so sehr auf Verschleiß gefahren und nicht investiert
wurde. Wir wollen die Europäische Währungsunion zu einer Sozial-
union ausweiten. In wichtigen Zukunftsfeldern wie der Digitalisierung
oder der Batterieproduktion droht Europa den Anschluss zu verlieren.
Wir werden in der EU konsequent in Klimaschutz, Digitalisierung, For-
schung und Bildung investieren. Dafür wollen wir das neu geschaf-
fene Wiederaufbauinstrument verstetigen und in ein permanentes
Investitions- und Stabilisierungsinstrument unter der Kontrolle des
Europäischen Parlaments überführen. Damit sollte die EU sowohl in
wichtige Zukunftsbereiche investieren als auch in Krisen stabilisie-
rend wirken können. Gleichzeitig stärken wir den EU-Haushalt, indem
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN88Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
wir ihn mit eigenen Einnahmen ausstatten. Die EU soll die Einnah-
men des CO2-Grenzausgleichs erhalten. Auch die Besteuerung von
Plastik und Digitalkonzernen und möglichst auch der Finanztrans-
aktionen soll den EU-Haushalt stärken. Wir wollen gemeinsam mit
unseren europäischen Partnern den Stabilitäts- und Wachstumspakt
so reformieren, dass ein zu hoher Kürzungs- und Privatisierungsdruck
verhindert wird und Zukunftsinvestitionen in allen Mitgliedsländern
weiter erhöht werden können. Öffentliche Daseinsfürsorge, gute
Gesundheitsversorgung und Bildung müssen in allen europäischen
Mitgliedsländern gestärkt werden.
Währungsunion vollenden, Europa krisensicher aufstellen
Es war ein Fehler, dass die Konservativen jahrzehntelang eine eigene
Fiskalpolitik Europas verhindert haben. Wir wollen dafür Sorge tra-
gen, dass die EU mit einem nachhaltigen Investitionsfonds ein Inst-
rument für eine dauerhafte, eigene Fiskalpolitik erhält. Der Fonds sta-
bilisiert im Krisenfall und investiert in europäische öffentliche Güter
wie Klima, Forschung, digitale Infrastruktur, Eisenbahn und Bildung. Er
muss so gestaltet werden, dass er im Krisenfall nicht durch einzelne
Länder blockiert werden kann und eine starke Kontrolle durch das
Europaparlament sichergestellt ist. Der Europäische Stabilitätsme-
chanismus wird zu einem Europäischen Währungsfonds weiterentwi-
ckelt. In ihm erhalten die Länder eine nicht konditionierte kurzfris-
tige Kreditlinie. So wird Spekulation gegen einzelne Staaten schon im
Vorfeld abgewendet. Die Bankenunion wird durch eine gemeinsame
Einlagensicherung als Rückversicherung vollendet, damit jeder Euro
überall gleich sicher ist. Durch eine gemeinsame und stärker antizy-
klische Fiskalpolitik entlasten wir die Zentralbank und sorgen dafür,
dass sie künftige Brände nicht wieder alleine löschen muss. Darüber
hinaus begrüßen wir, dass die EZB ihrer Verantwortung für die Sta-
bilität des Euro in allen Mitgliedstaaten nachkommt, indem sie Zins-
unterschiede innerhalb der Eurozone in Grenzen hält. Wir stehen zur
Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Gleichzeitig begrüßen
wir die Debatte der EZB über ihre neue geldpolitische Strategie. Die
Klimakrise hat massive Rückwirkungen auf unsere Volkswirtschaften,
es ist deshalb sinnvoll, dass alle geldpolitischen Maßnahmen den
Einfluss der Klimakrise auf die Geldwert- und Finanzstabilität berück-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN89Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
sichtigen. Zudem hat die EZB die Aufgabe, die allgemeine Wirtschafts-
politik der EU zu unterstützen. Wie sie den Europäischen Green Deal
mit seinen ökologischen und sozialen Zielen als wirtschaftspolitische
Leitstrategie der EU stärkt, obliegt ihrer unabhängigen Entscheidung.
Euro zur Leitwährung machen
Wir wollen, dass sich der Euro zu einer glaubwürdigen, internationa-
len Leitwährung entwickelt, damit Europa seine Souveränität bewahrt
und ausbaut. Langfristig soll ein starker und stabiler Euro seinen
Platz in einem kooperativen globalen Weltwährungssystem finden.
Der Euro ist ein wesentlicher Baustein einer umfassenden Strategie,
die europäische Werte auf der globalen Ebene stärkt und durchsetzt.
Wir werden sichere europäische Vermögenswerte schaffen, in denen
die Welt sparen kann. In Zukunftsmärkten wie Investitionen in Klima-
schutz soll der Euro das internationale Zahlungsmittel werden. Um
die internationale Rolle des Euro zu stärken, braucht es aber auch
innereuropäische Solidarität: Wir wollen Ungleichgewichte gemein-
sam in Überschuss- und Defizitländern reduzieren sowie wirtschafts-
und finanzpolitische Entscheidungen als Gemeinschaft treffen.
Wir haushalten solide,
weitsichtig und gerecht
Bundeshaushalt wird zukunftstauglich
Wir wollen den Bundeshaushalt nachhaltiger, gerechter und trans-
parenter machen. Nachhaltiger wird er, wenn wir die umweltschäd-
lichen Subventionen endlich beenden. Immer noch subventionieren
die öffentlichen Haushalte des Landes mit über 50 Milliarden Euro
klimaschädliches Verhalten. Wir werden diese Subventionen schritt-
weise abbauen und den Bundeshaushalt klimagerecht machen. In
einem ersten Schritt können wir so über 15 Milliarden Euro jährlich
einnehmen und sie für die Finanzierung von Klimaschutz und sozialer
Gerechtigkeit einsetzen. Für die Ausgaben des Bundes streben wir
eine Klima- und Biodiversitätsquote an, die schrittweise steigen soll.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN90Kapitel 2
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Zur Finanzierung dieser nachhaltigen Ausgaben setzen wir auf grüne
Anleihen. Mit dem Gender Budgeting erreichen wir eine konsequente
Berücksichtigung und Einbeziehung von Gleichstellungsaspekten
bei finanz- und haushaltspolitischen Entscheidungen. Das macht den
Haushalt gerechter. Durch die Gestaltung des Bundeshaushaltes nach
den Grundsätzen der doppelten Buchführung machen wir ihn trans-
parenter und generationengerechter. Unser Steuersystem wollen wir
schrittweise so umbauen, dass Umweltbelastung und Ressourcenver-
brauch stärker besteuert werden und dafür beispielsweise Steuern
und Abgaben auf Arbeit verringert werden, oder die Einnahmen etwa
als Energiegeld zurückgegeben werden.
Sorgsamer Umgang mit Steuergeld
In den vergangenen Jahren wurde im großen Umfang Geld im Bun-
deshaushalt verschwendet. Die Pkw-Maut war ein Desaster mit
Ansage. Das Verteidigungsministerium hat Millionen in teure Bera-
terverträge versenkt. Schlecht gemachte öffentlich-private Partner-
schaften haben sich für die privaten Unternehmen als lukrativ und für
die Steuerzahler*innen als teuer erwiesen. Wir werden sorgsam mit
dem Geld der Steuerzahler*innen umgehen. Das und das Streichen
von überflüssigen Ausgabeposten hat für uns Vorrang vor Kreditauf-
nahme und Einnahmeerhöhungen. Wir werden künftig Transparenz
herstellen und alle ÖPP-Verträge veröffentlichen. Grundsätzlich wol-
len wir, dass ÖPP nur dann in Betracht kommen dürfen, wenn sich
durch sie, langfristig und sicher, ein Mehrwert oder geringere Kosten
für die Steuerzahler*innen ergeben. Im Verkehrsbereich wollen wir
ÖPP-Projekte gesetzlich ausschließen. Die Kontrolle bei Bauvorhaben
und großen öffentlichen Beschaffungen wird verbessert. Weitere Pri-
vatisierungen öffentlicher Unternehmen im Bereich der öffentlichen
Pflichtaufgaben der Daseinsvorsorge lehnen wir ab.
Schuldenbremse reformieren, Investitionsregel einführen
Deutschland verfügt auch nach der Corona-Krise über tragfähige
Staatsfinanzen. Die Zinsen sind historisch niedrig, das Vertrauen in
deutsche Staatsanleihen ist hoch. Wir haben aber ein Zukunftspro-
blem. Die Erde erhitzt sich, die Schulen verfallen und Deutschland
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Bundestagswahlprogramm 2021
gehört beim schnellen Internet zu den Schlusslichtern der EU. Wir
investieren zu wenig in unser Land. Das sind Schulden, die nicht in
den Büchern stehen, aber unseren Wohlstand gefährden. Wir wollen
die Schuldenbremse im Grundgesetz für Bund und Länder zeitgemäß
gestalten, sodass die Tragfähigkeit der zukünftigen Zinslast gewähr-
leistet ist, und zugleich die so dringenden Investitionen zu ermögli-
chen. Bei konsumtiven Ausgaben bleibt es bei den derzeitigen strik-
ten Regelungen; bei Investitionen, die neues öffentliches Vermögen
schaffen, erlauben wir eine begrenzte Kreditaufnahme in Höhe der
Netto-Investitionen. So schaffen wir öffentliches Vermögen, das uns
allen gehört, denn die Rendite öffentlicher Investitionen ist hoch,
während der Bund keine Zinsen für seine Kredite bezahlt.
Mehr Steuergerechtigkeit schaffen
Steuern sind die Grundlage für die Finanzierung unseres Gemeinwe-
sens und zentraler Hebel für Gerechtigkeit. Wir möchten es gerech-
ter und transparenter für die Bürger*innen machen. Angesichts der
Corona-Krise wird die Lage der öffentlichen Haushalte in den kom-
menden Jahren sehr angespannt sein. Daher müssen alle Verände-
rungen im Steuerrecht mindestens aufkommensneutral sein. Ziel ist,
dass alle einen fairen Beitrag leisten. Heute aber tragen die obers-
ten 10 Prozent der Einkommen über Steuern und Abgaben relativ
weniger bei als die mittleren Einkommen. Das ändern wir, indem wir
den Grundfreibetrag der Einkommensteuer erhöhen, um kleine und
mittlere Einkommen zu entlasten. Im Gegenzug wollen wir den Spit-
zensteuersatz moderat anheben. Ab einem Einkommen von 100.000
Euro für Alleinstehende und 200.000 Euro für Paare wird eine neue
Stufe mit einem Steuersatz von 45 Prozent eingeführt. Ab einem Ein-
kommen von 250.000 bzw. 500.000 Euro folgt eine weitere Stufe mit
einem Spitzensteuersatz von 48 Prozent. Zusätzlich werden hohe
Manager*innengehälter oberhalb von 500.000 Euro nicht mehr zum
Abzug als Betriebsausgaben zugelassen. Kapitalerträge werden unter
Beibehaltung des Sparerfreibetrages mit dem individuellen Steuer-
satz veranlagt. Banken und andere Finanzinstitute behalten weiterhin
Kapitalertragsteuer ein, die eine Vorauszahlung auf die persönliche
Einkommensteuer darstellt. Für auf Unternehmensebene bereits ver-
steuerte Einkommen wie Dividenden gilt wieder generell das Teilein-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN92Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
künfteverfahren, das die Kapitalerträge auf Anlegerebene teilweise
steuerlich freistellt. Aktienkleinanleger*innen entlasten wir so spür-
bar und nähern uns dem Ideal eines finanzierungsneutralen Steuer-
systems an. Wir werden die bislang nach einer Zehn-Jahres-Frist gel-
tende Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne von Grundstücken und
Immobilien abschaffen. Auch werden wir die Steuerfreiheit für andere
Veräußerungsgewinne, beispielsweise beim Handel mit Edelmetallen,
Rohstoffen oder Kryptowerten, abschaffen. Untere und mittlere Ein-
kommen entlasten wir unter anderem durch die Einführung einer Kin-
dergrundsicherung und durch unser Energiegeld. Soweit durch mobi-
les Arbeiten Kosten für Arbeitnehmer*innen entstehen, müssen diese
vom Arbeitgeber erstattet werden oder steuerlich als Werbungskos-
ten absetzbar sein. Die Vermögensungleichheit in Deutschland hat
stark zugenommen und liegt weit über dem EU-Durchschnitt. Das
liegt unter anderem daran, dass es sehr reichen Menschen möglich
ist, durch Gestaltungen einer Besteuerung von Vermögen, etwa bei
der Erbschaftssteuer, nahezu komplett zu entgehen. Wir wollen solche
Gestaltungsmöglichkeiten abbauen und große Vermögen wieder stär-
ker besteuern. Dafür gibt es verschiedene Instrumente wie zum Bei-
spiel die Erbschaftssteuer oder die Vermögensteuer. Die Einführung
einer neuen Vermögensteuer für die Länder ist unser bevorzugtes
Instrument. Die Länder sollten die Einnahmen dieser Steuer für die
Finanzierung der wachsenden Bildungsaufgaben einsetzen. Die Ver-
mögensteuer sollte für Vermögen oberhalb von zwei Millionen Euro
pro Person gelten und jährlich 1 Prozent betragen. Begünstigungen
für Betriebsvermögen werden wir im verfassungsrechtlich erlaubten
und wirtschaftlich gebotenen Umfang einführen. Dabei streben wir
Lösungen an, die zusätzliche Anreize für Investitionen schaffen und
die besondere Rolle und Verantwortung von mittelständischen und
Familienunternehmen berücksichtigen. Ungerechtfertigte Ausnah-
men im Bereich der Umsatzsteuer bauen wir ab und sorgen dadurch
auch hier für mehr Fairness bei der Finanzierung staatlicher Aufgaben.
Konsequent gegen Steuerhinterziehung
und -vermeidung vorgehen
Jedes Jahr verlieren die Steuerzahler*innen hohe Milliardenbeträge
durch Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung. Wir
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN93Kapitel 2
Bundestagswahlprogramm 2021
wollen mit einer umfassenden Strategie dagegen vorgehen. Die EU-
weite Anzeigepflicht für Steuergestaltungen muss um eine Verpflich-
tung für rein nationale Gestaltungen ergänzt werden. Wir setzen uns
auf internationaler Ebene für eine globale Allianz gegen Steuerhin-
terziehung ein. Zusätzlich zur bestehenden Steuerpflicht nach dem
Wohnsitz wird eine Steuerpflicht auch nach der Nationalität für Men-
schen mit hohem Einkommen, ähnlich wie in den USA, eingeführt, um
rein steuerlich motivierte Wohnsitzwechsel zu verhindern. Wir werden
regelmäßig die Steuerlücke schätzen lassen. Die Steuerverwaltung
muss deutlich gestärkt werden. Um Vollzugsdefizite bei der Bekämp-
fung von Steuervermeidung großer Konzerne und reicher Bürger*in-
nen zu beheben, schaffen wir eine Spezialeinheit auf Bundesebene.
Steuerhinterziehung ahnden wir härter, die Umgehung der Grund-
erwerbssteuer mit Share Deals muss endlich unterbunden werden.
Cum-ex- und Cum-cum-Geschäfte beenden wir, wo sie immer noch
möglich sind, und kümmern uns mit Nachdruck um eine konsequente
Einziehung der entstandenen Schäden durch die Länder.
Konzerne angemessen besteuern
Durch Buchungstricks verschieben große Konzerne ihre Gewinne in
Steuersümpfe, aus Europa wie aus vielen armen Ländern. So fehlen
Milliarden für unsere Infrastruktur, und die Firmen verschaffen sich
unfaire Wettbewerbsvorteile gegenüber kleineren Unternehmen.
Darum kämpfen wir für ein international verbindliches Regelwerk,
das Mindeststandards für die Steuerpflichten von Unternehmen und
Staaten setzt, sowie die Stärkung des UN-Steuer-Komitees. Die inter-
nationalen Mindeststeuersätze für Großunternehmen wollen wir in
Deutschland und Europa ambitioniert umsetzen. Europa soll die Min-
deststeuersätze Amerikas nicht unterbieten, sondern transatlantisch
für höhere Mindeststeuersätze streiten. Zudem brauchen wir harte
EU-Regeln gegen den Missbrauch von Briefkastenfirmen zur Steuer-
vermeidung. Auch zu Hause werden wir aktiv: Wir wollen dafür sor-
gen, dass Konzerne ihre Gewinne, Umsätze und Steuerzahlungen nach
Ländern umfänglich öffentlich machen müssen. In der EU führen wir
eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Unternehmenssteu-
ern und einen Mindeststeuersatz von mittelfristig 25 Prozent ohne
Ausnahmen ein. Google, Facebook und Co. werden mit einer Digi-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN94Kapitel 2
Bereit, weil Ihr es seid.
talkonzernsteuer endlich angemessen besteuert. Eine Übergewinn-
steuer für andere Sektoren werden wir prüfen. Banken und Steuerbe-
rater*innen verbieten wir, Geschäfte in Steuersümpfen zu tätigen oder
dorthin zu vermitteln. Wir setzen uns dafür ein, auch in Steuerfragen
zu Mehrheitsentscheidungen in der EU überzugehen. Soweit euro-
päische Einigungen nicht gelingen, gehen wir voran, in verstärkter
Zusammenarbeit oder gemeinsam mit einzelnen Staaten. National
gehen wir gegen Gewinnverschiebungen mit einer verschärften Zins-
und Lizenzschranke und mit Quellensteuern vor.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN95Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
Kapitel 3:
Solidarität sichern
Die Pandemie hat uns gezeigt, was eine Gesellschaft stark macht –
dass man sich unterhakt und einander vertraut. Sie hat uns spüren
lassen, wie kostbar Gemeinsamkeit für unser individuelles Glück ist,
wie sehr wir andere Menschen brauchen und wie groß die Gefahr
ist, wenn eine Gesellschaft auseinanderdriftet. Diese alte und doch
noch mal neu erlebte Erfahrung ist Auftrag, Solidarität und Schutz in
konkrete, bessere Politik zu übersetzen. Wir wollen alles dafür tun, die
Bedingungen für ein gutes Leben – von Kindesbeinen an – zu schaf-
fen: materielle Sicherheit, Chancen und Teilhabe zu garantieren und
ein Sicherheitsversprechen für jede Lebenslage zu geben, das umso
stärker ist, je mehr Unterstützung gebraucht wird. Freiheitsrechte
bleiben ein Privileg von wenigen, wenn die sozialen Voraussetzun-
gen dafür nicht für alle gewährleistet werden. Gesellschaften ohne
existenzielle Not sind krisenfester, solidarische und gleichberechtigte
Gesellschaften stärker.
Corona hat uns schonungslos die Stärken und Schwächen unseres
Sozialstaates vor Augen geführt: wie wichtig ein robustes Gesund-
heitssystem für alle ist, wie zentral eine Wirtschaftskraft ist, die für
gesellschaftlichen Wohlstand und damit einen Sozialstaat sorgt, der
Menschen bei Jobverlust oder Wirtschaftseinbruch vor Obdachlosig-
keit bewahrt. Die Pandemie hat aber zugleich bestehende Ungleich-
heiten verschärft. Wer arm ist, wird schneller krank. Frauen tragen
eine besondere Last in den systemrelevanten Berufen der Pflege,
der Erziehung und im Einzelhandel, sind aber deutlich schlechter
bezahlt und in Entscheidungsprozessen weniger repräsentiert. Frei-
berufler*innen und Selbständige, die ohnehin schon größere Risi-
ken eingehen, stürzen ohne Verdienst in Existenzangst oder -not.
Wer Kinder oder Jugendliche allein oder getrennt erzieht, ist durch
Kinderbetreuung, Homeschooling und Homeoffice noch mal mehr
gefordert. Die Pandemie hat uns auf unsere individuellen Lebens-
umstände zurückgeworfen. Wenn die Wohnung eng ist, der Garten
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN96Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
fehlt, aber die Schwimmhalle geschlossen ist, ist es dreifach schwer.
Einsamkeit wird größer.
Jetzt ist die Zeit, die richtigen Lehren zu ziehen. Der Weg aus der
Pandemie muss zu einem neuen sozialen Sicherheitsversprechen füh-
ren. Wir wollen Schritt für Schritt die sozialen Systeme so verändern,
dass sie allen Menschen Sicherheit und Halt geben, auch in Zeiten
persönlicher und gesellschaftlicher Umbrüche, und ihnen Teilhabe
ermöglichen. Unsere Bibliotheken und Bolzplätze, Sport- und Musik-
vereine, Theater und Jugendzentren – kurz, unsere öffentlichen und
sozialen Orte – sollten zu den schönsten und stärksten Räumen des
Miteinanders werden.
Glück und Chancen dürfen nicht davon abhängen, ob man im
Norden oder Süden, Osten oder Westen, in der Stadt oder auf dem
Land lebt, entsprechend sind gleichwertige Lebensverhältnisse Ver-
fassungsgrundsatz. Wir setzen alles daran, aus diesem oftmals noch
unerfüllten Anspruch Realität zu machen. Wer auf dem Land wohnt,
braucht genauso einen Zugang zu Ärzt*innen, schnellem Internet,
öffentlicher Daseinsvorsorge wie Städter*innen. Und wer in der Stadt
lebt, muss auch dort guten und bezahlbaren Wohnraum finden kön-
nen. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit und für viele Menschen,
viele Familien bis weit in die Mittelschicht hinein eine der Existenz.
Unser Gesundheitssystem soll allen eine gleichwertige Gesund-
heitsversorgung garantieren, aber es klaffen Lücken: Gesundheits-
ämter wurden kaputtgespart, in Krankenhäusern und der Verwaltung
fehlt Personal, die, die da sind, arbeiten am Anschlag. Wir wollen die
Vorzeichen ändern und Vorsorge zum Leitprinzip machen: Kliniken
sollen ihrem gesellschaftlichen Auftrag entsprechend finanziert wer-
den, auch auf dem Land braucht es Zugang zu Geburtshilfe und Not-
fallhilfen. In der Pflege setzen wir uns ein für bessere Arbeitsbedin-
gungen, mehr Personal, Sicherheit für Menschen, die Pflege benötigen,
und für diejenigen, die Angehörige oder Freund*innen pflegen.
Digitalisierung, globaler Wettbewerb und der nötige Umbau
der Wirtschaft bedeuten für viele Menschen große Veränderungen,
die mit der Angst vor Verlusten einhergehen. Aber Angst lähmt und
macht mürbe. Menschen benötigen auch im Übergang Sicherheit. Es
gilt die Risiken abzusichern und Perspektiven zu geben, etwa durch
eine Arbeitsversicherung und durch Weiterbildung. Starke Tarifpart-
ner, starke Gewerkschaften und demokratische Mitbestimmung kön-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN97Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
nen ebenfalls dazu beitragen, die großen Herausforderungen beim
Übergang in eine sozial-ökologische Marktwirtschaft gemeinsam zu
bewältigen. Wir werden zeigen, dass Transformation und Digitalisie-
rung hin zu einem klimagerechten Wohlstand zukunftsfähige Jobs
schaffen, mit guten Arbeitsbedingungen und gerecht verteilter Arbeit.
Wir fördern Kinder, Jugendliche und Familien
Kinder in den Mittelpunkt
Kinder müssen sich bestmöglich und frei entfalten können. Dabei
haben sie ein Recht auf besonderen Schutz, Förderung und Betei-
ligung. Kinder sind Menschen mit eigenen Bedürfnissen, die es zu
erkennen und zu stärken gilt. Wir werden sicherstellen, dass die
Rechte und das Wohl von Kindern bei staatlichen Entscheidungen
ein größeres Gewicht bekommen und maßgeblich berücksichtigt
werden. Deshalb müssen starke Kinderrechte entlang der Grundprin-
zipien der UN-Kinderrechtskonvention ins Grundgesetz. Mit einem
Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung wollen
wir sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte
informiert sind und unabhängig vom soziokulturellen Hintergrund
und vom Aufenthaltsstatus altersgerecht und niedrigschwellig Betei-
ligung leben können. Die Jugendarbeit spielt hierbei eine wichtige
Rolle, darum wollen wir die Jugendverbände mit einem Verbands-
klagerecht gegenüber Kommunen stärken. Demokratie darf kein abs-
trakter Begriff sein, sondern muss immer wieder im eigenen Alltag
erfahren und erprobt werden können. Werdende Demokrat*innen
brauchen Mitmach- und Medienkompetenz sowie politische Bildung,
die wir als Querschnittsaufgaben in Kitas, Schulen und Jugendhilfe
konzeptionell und finanziell stärken. Auch wollen wir die Unabhän-
gigkeit der Bundeszentrale für politische Bildung stärken. Bei allen
Angeboten im Sozialraum, bei allen Bau- und Wohnumfeldmaßnah-
men, die Kinder und Jugendliche betreffen, werden wir sie beteiligen,
ihr Wohl sichern und dies im Baugesetzbuch und im Bundesimmis-
sionsschutzgesetz berücksichtigen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN98Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Eine Kindergrundsicherung gegen Kinderarmut
In einem reichen Land wie Deutschland darf kein Kind in Armut auf-
wachsen – doch vor allem bei Ein-Eltern-Familien (Alleinerziehenden),
Geringverdienenden mit Kindern oder Familien mit mehr als zwei Kin-
dern reicht das Geld oft vorn und hinten nicht. Kinderarmut bedeutet
auch Ausgrenzung, Diskriminierung und schlechtere Bildungschan-
cen. Jedes Kind verdient unsere Unterstützung, denn Zukunftschancen
dürfen nicht von der sozialen Herkunft abhängen. Daher werden wir
eine Gesamtstrategie zur Prävention und Bekämpfung von Kinder-
armut entwickeln und umsetzen. Neben hervorragender Infrastruktur
werden wir Familien mit einer einfachen und gerechten Kinder- und
Familienförderung stärken: der Kindergrundsicherung. Unser Vorha-
ben: Kindergeld, Kinderfreibeträge, Kinderzuschlag, das Sozialgeld für
Kinder und die Bedarfe für Bildung und Teilhabe in eine neue, eigen-
ständige Leistung zusammenzufassen. Mit der Kindergrundsicherung
bekommt jedes Kind einen festen Garantie-Betrag, Kinder in Fami-
lien mit geringem oder gar keinem Einkommen erhalten zusätzlich
noch einen GarantiePlus-Betrag. Je niedriger das Familieneinkom-
men, desto höher der GarantiePlus-Betrag. Nach einmaliger Beantra-
gung bei der Geburt wird die Höhe der Kindergrundsicherung auto-
matisch von der Familienkasse berechnet, die sie dann auch auszahlt.
So kommt die Kindergrundsicherung garantiert bei jedem Kind an
und Schritt für Schritt beenden wir Kinderarmut. Sie ist gerecht, denn
Kinder, die mehr brauchen, bekommen auch mehr. Die Kindergrund-
sicherung verbinden wir mit einer Neuermittlung dessen, was Kinder
zum Leben brauchen.
Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder
Ob Kita, Kindertagespflege, Hortbetreuung, Familienberatung, Hilfen
zur Erziehung oder Angebote der Jugendarbeit – die öffentlichen und
freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe begleiten Familien beim
Aufwachsen der Kinder. Sozialarbeiter*innen und pädagogische Mit-
arbeiter*innen leisten dabei unter hohem Zeit- und Arbeitsdruck
Enormes. Durch gesetzliche Vorgaben zur Personalplanung wollen
wir für besser ausgestattete Jugendämter und Entlastung der Fach-
kräfte sorgen. Qualitätsstandards wollen wir überall in der Kinder-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN99Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
und Jugendhilfe verbindlich erstellen und gemeinsam mit Verbänden,
Trägern und Wissenschaft weiterentwickeln. Leistungsansprüche von
Kindern und Jugendlichen mit körperlichen und geistigen Behinde-
rungen werden bisher in einem eigenen Sozialgesetzbuch für Men-
schen mit Behinderungen geregelt. Mit einem Bundesinklusionsge-
setz soll sichergestellt werden, dass alle Angebote der Kinder- und
Jugendhilfe künftig so ausgestaltet sind, dass sie sich auch an Kinder
und Jugendliche mit Behinderungen und ihre Familien richten. Die
bestehenden Rechtsansprüche gelten für sie weiter. Wir wollen auf
dem eingeschlagenen Weg hin zu einem inklusiven SGB VIII zügi-
ger voranschreiten. Daher werden wir die Länder und Kommunen,
die bereits vor Umsetzung des Bundesinklusionsgesetzes alle Kinder
unter dem Dach der Jugendhilfe vereinen wollen, mit einem Bundes-
modellprogramm unterstützen. So können wertvolle Anregungen für
den bundesweiten Umstrukturierungsprozess gewonnen werden. Den
Kostenbeitrag von Jugendlichen in einer vollstationären Einrichtung
oder Pflegefamilie wollen wir abschaffen.
Selbstwirksamkeit und Mitbestimmung –
Jugend als eigenständige Lebensphase stärken
Jugendliche und junge Erwachsene müssen sich frei und selbstbe-
stimmt entwickeln können. Verantwortungsvolle, selbstbewusste
und mündige Jugendliche sollen über alle Angelegenheiten, die sie
betreffen, mitentscheiden und sichere Lernorte und Freiräume haben,
die sie selbst mitgestalten. Damit junge Menschen ihre Ideen und
Rechte auch wirksam einbringen bzw. einfordern können, wollen wir
niedrigschwellige Beteiligungsgremien wie Kinder- und Jugendpar-
lamente, insbesondere auf kommunaler Ebene, stärken. Wir werden
Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit und Demokratiebildung verläss-
lich unterstützen. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit, Jugendsozial-
arbeit, Frühe Hilfen und alle Formen von Hilfen zur Erziehung wer-
den wir gemeinsam mit Ländern und Kommunen sicherstellen und
Räume für Jugendliche nachhaltig fördern. Politik mit und für junge
Menschen braucht in Zeiten der Globalisierung eine internationale
Ausrichtung. Deshalb stärken wir internationale Begegnungen und
Austauschprogramme.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN100Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Teilhabe und Schutz in der digitalen Welt
Viele Kinder und Jugendliche wachsen mit Tablets, Smartphones und
Co. auf – wir müssen sicherstellen, dass sie selbstbestimmt, sicher und
gesund in der digitalen Welt groß werden. Wir stärken die digitale
Bildung als Gemeinschaftsaufgabe von Eltern, Bildungseinrichtungen
und der Jugendhilfe mit Fortbildungen für Fachkräfte und Unterstüt-
zungsangeboten für Eltern. Alle sollen digitale Kompetenzen erwer-
ben können, das geht nur mit entsprechender Hardware und Inter-
netanbindung: Kinder, die in Armut leben, erhalten für die Schule ein
digitales Endgerät, wenn sie dieses benötigen. Auch dem Suchtpo-
tenzial und den Gesundheitsrisiken der übermäßigen Nutzung digi-
taler Anwendungen möchten wir begegnen. Kinder und Jugendliche
brauchen im Netz besonderen Schutz vor Straftaten wie Hassrede,
Cybergrooming oder sexualisierter Gewalt. Dem Mobbing im Netz
wollen wir einen Riegel vorschieben. Dafür setzen wir auf eine Prä-
ventionsstrategie mit verpflichtenden sicheren Voreinstellungen für
Plattformen und altersgerechten und leicht auffindbaren Informati-
ons- und Beschwerdemöglichkeiten. Die Bundeszentrale für Kinder-
und Jugendmedienschutz soll in ihren Kompetenzen gestärkt werden.
Vor kommerziellem Sammeln ihrer Daten durch private Anbieter wer-
den wir Kinder schützen.
Kinder vor Gewalt schützen
Für viele Kinder und Jugendliche ist psychische, körperliche, sexuali-
sierte Gewalt und Vernachlässigung leidvoller Alltag. Dagegen gehen
wir hart vor – mit starker Prävention, konsequenter Aufarbeitung und
Strafverfolgung sowie weiteren Maßnahmen zur Qualitätssicherung
und zum Kinderschutz in familiengerichtlichen Verfahren. Das oberste
Ziel ist es, Taten zu verhindern. Dafür braucht es Aufklärung, Quali-
fizierung, altersgerechte Präventionsprogramme und gelebte Schutz-
konzepte sowie die Kooperation aller Akteur*innen überall dort, wo
Kinder und Jugendliche sich aufhalten und betreut werden. Basis-
wissen über Kinderrechte, insbesondere Beteiligung, Sensibilisierung
und Schutz bei Kindeswohlgefährdung und sexualisierter Gewalt,
gehören in die Curricula für Jura, Medizin, Pädagogik und Polizei. Die
Fortbildungspflicht für Familienrichter*innen und die Anforderungen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN101Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
an die Qualifikation von Verfahrensbeiständen sind klar gesetzlich
zu regeln. Alle zivilgesellschaftlichen und politischen Ebenen und
Kräfte müssen den Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern zu
einem zentralen Thema machen. Organisationen, die Kinder betreuen,
tragen dabei eine besondere Verantwortung. Die wichtige Arbeit des
Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss-
brauchs werden wir auf eine gesetzliche Grundlage stellen und damit
dauerhaft absichern und dabei auch die Zuständigkeiten der Unab-
hängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
adäquat verankern. Wir werden bundesweit spezialisierte Fachbera-
tungsstellen systematisch ausbauen sowie telefonische und Online-
Beratungsangebote finanziell absichern.
Mehr Zeit für Familien
Den Kopf frei haben für die Familie und die Kinder, auch wenn sie
krank sind, das ist unser Ziel. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, der wir uns gemein-
sam mit Wirtschaft und öffentlichen Institutionen stellen. Alle Eltern
sollen Elternzeit unkompliziert in Anspruch nehmen können. Mit der
KinderZeit Plus wollen wir das Elterngeld auf 24 Monate ausweiten:
Pro Elternteil je acht Monate, weitere acht Monate können flexibel
untereinander aufgeteilt werden. Wird die KinderZeit Plus Teilzeit in
Anspruch genommen, verlängert dies entsprechend den Bezugszeit-
raum. Sie kann bis zum 14. Geburtstag des Kindes genommen werden,
denn auch bei älteren Kindern kann zeitweise mehr Aufmerksamkeit
nötig sein. Die Bedarfe der Familien von Kindern mit Behinderung
sollen zusätzlich Berücksichtigung finden. Wir unterstützen Eltern
dabei, Familie und Arbeit mit einer neuen Arbeitszeitkultur und einem
flexiblen Vollzeitkorridor in eine ausgewogene Balance zu bringen,
Familien- und Hausarbeit partnerschaftlich zu teilen und Teilzeit-
fallen zu vermeiden. Niemand soll sich zwischen Kind und Job, Aus-
bildung oder Studium entscheiden müssen, darum soll der Anspruch
auf ein Kinderkrankengeld auf 15 Tage im Jahr pro Kind und Eltern-
teil steigen, Alleinerziehende bekommen 30 Tage. Weil gerade in den
ersten Lebensjahren viele Infekte mitgenommen werden, sollte es in
dieser Zeit einen zusätzlichen erhöhten Anspruch auf Kinderkranken-
geld geben. Die Altersgrenze wollen wir auch hier auf 14 Jahre anhe-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN102Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
ben, ein ärztliches Attest wird erst ab dem vierten Erkrankungstag des
Kindes verpflichtend. Für die besondere Zeit direkt nach der Geburt
wollen wir neben dem Mutterschutz auch für den zweiten Elternteil
eine 14-tägige Freistellung einrichten. Die Mutterschutzregelungen
sollen auch nach einer Totgeburt ab der 20. Schwangerschaftswoche
möglich sein.
Alleinerziehenden den Rücken stärken
Ein-Eltern-Familien (Alleinerziehende) leisten enorm viel und den-
noch ist mehr als ein Drittel von Armut bedroht. Mit der Kinder-
grundsicherung helfen wir mehrfach: Mit der Neuermittlung der
Mindestbedarfe von Kindern und Jugendlichen steigt auch der Min-
destunterhalt. Und anders als beim heutigen Kindergeld soll nur die
Hälfte auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet werden. Nach einer
Trennung soll es für getrennt erziehende Eltern bei der Betreuung
nicht zusätzlich knirschen, darum werden Mehrkosten für die Aus-
übung des Umgangs und Betreuungsleistungen angemessen berück-
sichtigt. Für getrennt erziehende Eltern im Grundsicherungsbezug
wollen wir einen Umgangsmehrbedarf einführen. Das Betreuungsmo-
dell soll im Einzelfall am Kindeswohl orientiert gefunden und nicht
schematisch definiert werden. Ob ein wichtiger Abendtermin im Job,
ein Beratungsgespräch oder Arztbesuch – Kinder können und sollten
nicht immer dabei sein. Es gilt, familienunterstützende Dienstleistun-
gen zu fördern, zum Beispiel für ergänzende Kinderbetreuung oder
haushaltsnahe Dienstleistungen. Das ist besonders im Krankheitsfall
wichtig, denn Kinder und Haushalt müssen trotzdem versorgt sein.
Absicherung für alle Familienformen
Ob Alleinerziehende, Patchwork-, Stief- oder Regenbogenfamilie –
Familien sind vielfältig und diese Vielfalt muss ein modernes Fami-
lienrecht auch abbilden. Dazu gehört auch ein modernes und libera-
les Namensrecht. Soziale Eltern übernehmen innerhalb der Familie
oft Verantwortung und sind wichtige Wegbegleiter. Rechtlich gese-
hen sind sie aber auch nach Jahren Außenstehende für ihr Kind: Im
Kindergarten, in der Schule oder bei Ärzt*innen ist es nicht vorgese-
hen, dass sie Entscheidungen für ihre Kinder treffen. Mit der Weiter-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN103Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
entwicklung des „kleinen Sorgerechts“ hin zu einem Rechtsinstitut
der elterlichen Mitverantwortung, die, auch schon vor Zeugung, auf
Antrag beim Jugendamt auf bis zu zwei weitere Erwachsene neben
den leiblichen Eltern übertragen werden kann, geben wir allen Betei-
ligten mehr Sicherheit und stärken Mehr-Eltern-Familien und soziale
Elternschaft. Zwei-Mütter-Familien sollen nicht mehr durch das Stief-
kindadoptionsverfahren müssen, darum streben wir an, das Abstam-
mungsrecht zu reformieren, sodass die Co-Mutter analog zu Vätern in
Ehen zwischen einem Mann und einer Frau automatisch als zweites
rechtliches Elternteil gilt. Das Abstammungsrecht muss zudem die
Elternschaft von Menschen mit Geschlechtseintrag „divers“ berück-
sichtigen. Bei Kinderwunsch sollen alle Paare und alleinstehende
Frauen die Möglichkeit einer Kostenerstattung für die künstliche
Befruchtung erhalten. Alle Kinder benötigen einen klaren Rechtssta-
tus; das Persönlichkeitsrecht auf Kenntnis der eigenen Abstammung
muss für alle Kinder gewahrt werden. Verantwortung wird nicht nur
da füreinander übernommen, wo Kinder sind. Mit dem Pakt für das
Zusammenleben werden wir eine neue Rechtsform schaffen, die das
Zusammenleben zweier Menschen, die füreinander Verantwortung
übernehmen, unabhängig von der Ehe rechtlich absichert.
Wir sorgen für gute Arbeit und faire Löhne
Mindestlohn anheben
Arbeit muss gerecht bezahlt werden. Und die Menschen brauchen
gute Arbeitsbedingungen. Aber in unserem reichen Land arbeiten
noch immer Millionen Menschen im Niedriglohnsektor mit schlech-
ten Löhnen und in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Beson-
ders oft sind davon Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte
betroffen. Das wollen wir ändern. Den gesetzlichen Mindestlohn wer-
den wir sofort auf 12 Euro anheben. Anschließend muss der Min-
destlohn weiter steigen, um wirksam vor Armut zu schützen und
mindestens der Entwicklung der Tariflöhne zu entsprechen. Die Min-
destlohnkommission wollen wir reformieren und mit diesem Auftrag
ausstatten. Die bestehenden Ausnahmen für unter 18-Jährige und
Langzeitarbeitslose werden wir abschaffen. Leiharbeiter*innen sol-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN104Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
len vom ersten Tag an den gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekom-
men wie Stammbeschäftigte – plus Flexibilitätsprämie. Fair zahlende
Unternehmer*innen dürfen keine Wettbewerbsnachteile erleiden. In
Zeiten von Corona zeigt sich besonders, dass das Kurzarbeitergeld
für Beschäftigte mit kleinen Löhnen zu niedrig ist. Deshalb braucht
es ein branchenunabhängiges Mindestkurzarbeitergeld. Ohne sach-
lichen Grund dürfen Arbeitsverträge nicht mehr befristet werden.
Gegen den vielfachen Missbrauch von Werkverträgen und die Abwäl-
zung unternehmerischer Verantwortung mittels Subunternehmerket-
ten gehen wir ordnungspolitisch vor. Wir wollen den Arbeitsschutz
stärken, damit er wirksam vor Stress, Burn-out und Entgrenzung der
Arbeit schützt. Mobbing und Diskriminierung am Arbeitsplatz nehmen
wir ernst und wollen durch klare Sanktionen und verpflichtend zu
schaffende Anlaufstellen besser davor schützen.
Vollbeschäftigung schaffen
Wir wollen allen Menschen ermöglichen, am Arbeitsleben teilzuha-
ben, denn ein guter Arbeitsplatz ist eine wichtige Quelle für Einkom-
men, Anerkennung und Selbstverwirklichung. Dazu müssen wir gute
und sichere Jobs schaffen. Wir wollen die Beschäftigung weiter erhö-
hen und damit auch verhindern, dass Corona langfristige Spuren am
Arbeitsmarkt hinterlässt. Mit dauerhaft höheren öffentlichen Investi-
tionen, mehr Gründungsgeist und Forschung sowie Innovation wollen
wir ein Umfeld für viele neue Jobs schaffen. Der deutsche Arbeits-
markt war dabei in den letzten Jahren gespalten: Fachkräftemangel
und deutliche Lohnsteigerungen für Hochqualifizierte in einigen
Branchen, prekäre Beschäftigung, unfreiwillige Teilzeit und stagnie-
rende Reallöhne in anderen. Dem wollen wir mit einer sozial gerech-
ten Arbeitspolitik entgegentreten. Damit sorgen wir für gute Löhne
und trocknen den Niedriglohnsektor mittelfristig aus. Selbständige
brauchen gute Rahmenbedingungen und eine bessere soziale Absi-
cherung. Strukturelle Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit wollen
wir bekämpfen. Für Menschen, die lange arbeitslos sind, schaffen wir
einen dauerhaften sozialen Arbeitsmarkt, der sinnstiftende Tätigkei-
ten vermittelt.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN105Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
Sozialpartnerschaft stärken, Tarifbindung erhöhen
Sozialpartnerschaft, Tarifverträge und Mitbestimmung sind Eckpfeiler
der sozialen Marktwirtschaft. Sie haben unser Land stark gemacht.
Da, wo sie gelten, sorgen sie meistens für anständige Löhne und gute
Arbeitsbedingungen. Wir wollen, dass Tarifverträge und starke Mit-
bestimmung wieder für mehr anstatt für immer weniger Beschäftigte
und Betriebe gelten. Bei der öffentlichen Vergabe sollen im Einklang
mit europäischem Recht die Unternehmen zum Zug kommen, die tarif-
gebunden sind oder mindestens Tariflöhne zahlen. Dafür setzen wir
auf ein Bundestariftreuegesetz. Zudem wollen wir es leichter machen,
Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, damit sie für alle
in einer Branche gelten. Tarifflucht darf sich für Unternehmen nicht
lohnen. Wir wollen Betriebe verpflichten zu veröffentlichen, ob sie
Tarifvertragspartei sind. Bei Umstrukturierungen sollen die bisherigen
tariflichen Regelungen gelten, bis ein neuer Tarifvertrag abgeschlos-
sen wurde. Paritätische Mitbestimmung soll es zukünftig bereits in
Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten geben und wir wol-
len ein Schlichtungsverfahren einführen, wenn sich Entscheidungen
besonders stark auf die Beschäftigten auswirken. Betriebsräte, die sich
für Mitarbeiter*innen einsetzen, brauchen auch selbst mehr Schutz.
Gleiches gilt auch für die Beschäftigten, die erstmals einen Betriebs-
rat gründen wollen. Die Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte, Per-
sonalräte und auch Jugend- und Ausbildungsvertretungen wollen wir
ausbauen und modernisieren, unter anderem wenn es um Personal-
entwicklung, Weiterbildung, Standortverlagerungen ins Ausland, die
Stärkung von Frauen, die Förderung von Vielfalt oder die Verbesse-
rung der Klimabilanz im Unternehmen geht. Die stärkere finanzielle
Beteiligung von Mitarbeiter*innen an den Unternehmen, zusätzlich
zu Lohn und Gehalt, kann mehr Mitgestaltung bewirken. Der Wandel
der Arbeitswelt, den Digitalisierung und ökologische Transformation
mit sich bringen, muss gemeinsam mit den Beschäftigten im Betrieb
gestaltet werden.
Selbstbestimmter arbeiten, digitale Chancen nutzen
Wir wollen Beschäftigte dabei unterstützen, ihre Arbeit besser an ihr
Familien- und Privatleben anzupassen. Eine moderne Arbeitswelt
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN106Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
bedeutet für uns auch mehr Mitsprache bei Ort, Lage und Umfang der
Arbeit. In der Corona-Krise wurde das Arbeiten von zu Hause zu einer
weit verbreiteten Erfahrung, für viele verbunden mit mehr Eigenstän-
digkeit und weniger Stress, wenn etwa das lange Pendeln wegfiel.
Für andere aber auch zur echten Belastungsprobe – wenn zu Hause
Arbeitszimmer, Arbeitsschutz und auch Kolleg*innen fehlen oder
Arbeit entgrenzt. Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung im Arbeits-
leben wollen wir daher erhalten und stärken, indem wir ein Recht
auf mobiles Arbeiten einführen – mit Blick auf betriebliche Möglich-
keiten, aber auch mit strikten Schutzkriterien und starkem Einfluss
der Interessenvertretungen versehen. Das mobile Arbeiten kann im
Homeoffice oder im nahe gelegenen Co-Working-Space stattfinden,
der Wechsel dorthin muss immer freiwillig stattfinden und mit einem
Rückkehrrecht sowie mit ausreichend Zeit an einem Arbeitsplatz im
Unternehmen verbunden sein.
Mehr Freiraum bei der Arbeitszeit
Ob im Büro, in der Pflege oder auf Montage – für viele Menschen
ist der körperliche oder psychische Druck durch Arbeit gewachsen.
Gleichzeitig ist Zeit zu haben – für sich selbst oder die Familie – für
viele Menschen ein immer größerer Wert. Kürzere Arbeitszeiten, wie
beispielsweise die IG Metall sie als Beitrag zur Bewältigung des Struk-
turwandels in der Automobilbranche vorgeschlagen hat, begrüßen
wir, denn sie bieten die Chance, Arbeit gerechter zu verteilen, Arbeits-
plätze zu sichern und Arbeitnehmer*innen zu entlasten. Wir wollen
Beschäftigte in Branchen, in denen die Belastung besonders hoch ist,
mit besseren Arbeitsbedingungen unterstützen. Darüber hinaus sol-
len die Möglichkeiten aller Arbeitnehmer*innen, selbst flexibler über
die eigene Arbeitszeit zu bestimmen – gerade um die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf zu erleichtern und Zeit für sich selbst zu haben
–, verbessert werden. Dafür wollen wir die starre Vollzeit umgestalten,
etwa mit Hilfe eines flexiblen Arbeitszeitkorridors, und insbesondere
die Sozialpartner unterstützen, flexible Arbeitszeitmodelle zum Vor-
teil der Arbeitnehmenden zu ermöglichen. Versuche, das Arbeitszeit-
gesetz zum Nachteil der Arbeitnehmer*innen aufzuweichen, lehnen
wir ab. Die Arbeitszeit soll künftig dokumentiert werden, so wie es
der Europäische Gerichtshof in einem Urteil entschieden hat. Wir set-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN107Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
zen uns für eine bessere Kontrolle existierender Regelungen ein, um
Beschäftigte, deren tatsächliche Arbeitszeit regelmäßig über 40 Stun-
den liegt, zu stärken.
Arbeitsversicherung stärkt Chancen
Wir wollen die Arbeitsmarktpolitik auf die Zukunft ausrichten und
die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung umbauen.
Zentral dafür sind ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung und die
Stärkung der beruflichen Qualifikation. In einer Welt, in der häufige
Berufswechsel für Viele Normalität sind und man nicht mehr automa-
tisch 40 Jahre im gleichen Betrieb arbeitet, brauchen alle Menschen
Anlaufstellen und Unterstützung, um ihr Berufsleben selbstbestimmt
zu gestalten. Überall dort, wo es eine Arbeitsagentur gibt, sollen Bil-
dungsagenturen zentrale Anlaufstellen werden und Menschen bei
der Neuorientierung unterstützen, Weiterbildungsberatung und -för-
derung sollen damit vereinfacht werden. Die Förderung des lebens-
begleitenden Lernens für Menschen mit Behinderungen wollen wir
ausbauen. Den Zugang zur Arbeitsversicherung werden wir deutlich
erleichtern und bereits ab vier Monaten sozialversicherungspflich-
tiger Beschäftigung einen Anspruch auf Arbeitslosengeld einführen.
Auch selbständige Berufstätigkeit muss sozial besser abgesichert
werden. Dafür vereinfachen wir den Zugang zur freiwilligen Arbeitslo-
senversicherung und schaffen eine Zugangsmöglichkeit für alle Selb-
ständigen, auch über die Auswahl zwischen zwei Tarifen. Selbständige
sollen damit neben dem Anspruch auf Arbeitslosengeld I auch einen
Anspruch auf Kurzarbeitergeld in besonderen Notsituationen wie
beispielsweise während einer Pandemie erhalten. Wir wollen Grün-
dungen aus Phasen der Arbeitslosigkeit heraus besser fördern und
durch die Krise zurückgeworfenen Berufsanfänger*innen mit einem
Einstiegszuschuss eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen.
Besserer Schutz bei online vermittelter Arbeit
Vom Handwerkerdienst über Software-Entwicklung bis zur Reini-
gung – immer mehr Dienstleistungen werden über Online-Plattfor-
men vermittelt (Gig-Working) oder finden sogar ortsunabhängig in
der Cloud statt (Crowd-Working). Die Digitalisierung von Tätigkeiten
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN108Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
und die digitale Vermittlung von Arbeit bergen viele neue Chancen.
Aber Arbeitsrecht und Arbeitsschutz müssen an die Onlinewelt ange-
passt werden, damit daraus nicht neue Formen von Ausbeutung und
Abhängigkeiten entstehen. Wir wollen online getätigte oder vermit-
telte Arbeit regulieren, um dort arbeitenden Menschen den gleichen
Schutz zu gewähren wie den analog Arbeitenden. Wir wollen Schein-
selbständigkeit verhindern, indem wir bei der Abgrenzung zwischen
selbständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung für mehr
Rechts- und Planungssicherheit sorgen. Wenn der/die Auftragneh-
mer*in angibt, einen Arbeitnehmerstatus zu haben, soll künftig der/die
Auftraggeber*in beweisen, dass dem nicht so ist. Unfaires Preis-Dum-
ping gilt es durch ein Mindesthonorar für zeitbasierte Dienstleistun-
gen zu unterbinden. Arbeitnehmerähnliche Personen und Solo-Selb-
ständige sollen sich künftig leichter tariflich organisieren können und
branchenspezifisch sollen weitere verbindliche Honoraruntergrenzen
vereinbart werden können, die auch für allgemeinverbindlich erklärt
werden können. Plattformbetreiber tragen eine Verantwortung für
ihre Auftragnehmer*innen. Wir wollen mit klaren Mindeststandards
beim Arbeits- und Datenschutz und bei den allgemeinen Geschäftsbe-
dingungen, mit einem starken Beschäftigtendatenschutz und einem
digitalen Zugangsrecht für Gewerkschaften für Fairplay bei der Platt-
formökonomie und insgesamt in der digitalen Arbeitswelt sorgen.
Faire Arbeitsbedingungen für Beschäftigte
aus europäischen Nachbarstaaten
In jedem europäischen Nachbarland arbeiten zu können, das ist eine
der großen Errungenschaften unseres vereinten Europas. Was in hoch-
qualifizierten Berufen viel Freiheit gebracht hat, führte in manchen
Dienstleistungsbereichen zu ausbeuterischen Arbeitsrealitäten. Miss-
stände in den deutschen Schlachthöfen haben das schlaglichtartig
gezeigt. Doch auch anderswo, zum Beispiel auf dem Bau oder in der
Pflege, herrschen vielfach ausbeuterische Verhältnisse. Wir wollen,
dass alle Beschäftigten – egal, wie lange sie hier arbeiten – genauso
gut bezahlt und abgesichert sind wie ihre deutschen Kolleg*innen.
Dafür braucht es ein wirksames Vorgehen gegen Schwarzarbeit und
Scheinselbständigkeit, ein Verbandsklagerecht der Gewerkschaften,
eine europäische Sozialversicherungsnummer, höhere Mindeststan-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN109Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
dards für Unterkünfte von entsandten Beschäftigten, die Abschaf-
fung der sozialversicherungsfreien kurzfristigen Beschäftigung, eine
bessere Regulierung der Vermittlungsagenturen und mehr Kontrolle
durch eine gestärkte Europäische Arbeitsbehörde. Arbeitnehmer*innen
aus anderen EU-Staaten müssen besser über ihre Rechte informiert
werden und wir setzen uns auf europäischer Ebene für eine bessere
soziale Absicherung für arbeitssuchende EU-Bürger*innen ein.
Wir schaffen Gerechtigkeit
zwischen den Geschlechtern
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, von dieser Selbstverständ-
lichkeit sind wir immer noch weit entfernt. Durchschnittlich verdie-
nen Frauen, vor allem wenn sie sich um Kinder oder Pflegebedürftige
kümmern, im gesamten Erwerbsleben etwa nur halb so viel wie Män-
ner, was sich auch in ihrer ungenügenden Alterssicherung bemerk-
bar macht. Deswegen setzen wir uns auf europäischer Ebene für eine
ambitionierte EU-Richtlinie für Lohngleichheit ein und werden nati-
onal ein effektives Entgeltgleichheitsgesetz einführen, das auch für
kleine Betriebe gilt und die Unternehmen verpflichtet, von sich aus
über die Bezahlung von Frauen und Männern und über ihre Maßnah-
men zum Schließen des eigenen Pay-Gaps zu berichten. Dieses Gesetz
muss auch ein wirksames Verbandsklagerecht enthalten, damit bei
strukturellen Benachteiligungen auch Verbände die Klage überneh-
men können und die Betroffenen nicht auf sich allein gestellt sind.
Lohncheckverfahren können Diskriminierungen aufdecken. Deshalb
werden wir Tarifpartner und Unternehmen verpflichten, alle Lohn-
strukturen auf Diskriminierung zu überprüfen und den Beschäftigten
anonymisierte Spannen der Gehalts- und Honorarstruktur zugäng-
lich zu machen. Wir setzen uns dafür ein, dass Berufe, die vor allem
von Frauen ausgeübt werden, eine höhere Wertschätzung erfahren
als bisher, insbesondere in Form besserer Arbeitsbedingungen und
besserer Bezahlung. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss für
alle vereinfacht werden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN110Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen stärken
Um selbstbestimmt leben zu können, ist wirtschaftliche Unabhängig-
keit unabdingbar. Deshalb müssen Steine, die dies behindern, aus dem
Weg geräumt werden. Frauen übernehmen nach wie vor den Großteil
der Sorgearbeit, die systemrelevant für unsere Gesellschaft ist. Wir
wollen für eine eigenständige Absicherung in allen Lebensphasen
sorgen – von der Berufswahl bis zur Rente. Minijobs, mit Ausnahmen
für Studierende, Schüler*innen und Rentner*innen, wollen wir in sozi-
alversicherungspflichtige Beschäftigung überführen und Regelungen
für haushaltsnahe Dienstleistungen schaffen. Das durch enge Rollen-
erwartungen eingeschränkte Berufswahlverhalten wollen wir durch
eine gendersensible Berufsberatung erweitern. Die gläserne Decke,
die Frauen am Aufstieg hindert, wollen wir aufbrechen. Dies gelingt
durch eine kluge Zeitpolitik, die es auch Partner*innen erleichtert,
Verantwortung in der Familie zu übernehmen und Arbeit geschlech-
tergerecht aufzuteilen. Wir wollen, dass die Sorge in der Familie
gemeinsam und gleichberechtigt getragen wird, und sehen darin eine
Voraussetzung für Chancengerechtigkeit und Gleichberechtigung der
Geschlechter. Dafür ist es notwendig, dass insbesondere Väter glei-
chermaßen Verantwortung und Sorgearbeit in der Familie überneh-
men. Alleinerziehende dürfen dabei gegenüber Paaren nicht benach-
teiligt werden. Von Diskriminierungen am Arbeitsmarkt Betroffene
wollen wir stärken, unter anderem mit einem Verbandsklagerecht,
dem Ausbau entsprechender Rechtsberatung und durch ein echtes
Recht auf die Rückkehr in Vollzeit, das auch für kleinere Betriebe gilt.
Damit Eltern nicht aufgrund der Tatsache, dass sie Kinder haben, in
der Arbeitswelt benachteiligt werden, werden wir notwendige Maß-
nahmen inklusive erforderlicher Gesetzesänderungen ergreifen.
Gleichberechtigung auch bei der Steuer
Das deutsche Steuerrecht steckt noch im letzten Jahrhundert fest.
Während sich viele Paare Familien- und Erwerbsarbeit gleichberech-
tigter aufteilen, als es noch vor Jahren der Fall war, gilt bei der Steuer
nach wie vor das Modell eines männlichen Ernährers und einer Frau,
die höchstens dazuverdient und sich hauptsächlich um Haushalt und
Kinder kümmert. Dieses Modell ist ungerecht, weil es Ehen privile-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN111Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
giert, Ein-Eltern-Familien (Alleinerziehende) und nicht verheiratete
Paare außen vor lässt, die Erwerbstätigkeit von Frauen hemmt und
Frauen gleichzeitig nicht wirklich absichert. In Krisen bekommen vor
allem Frauen die Nachteile zu spüren, zum Beispiel durch weniger
Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Im Zusammenspiel mit Minijobs
und der kostenlosen Mitversicherung wirken sich diese Maßnahmen
negativ auf die Erwerbstätigkeit von Frauen aus. Deshalb wollen wir
für neu geschlossene Ehen eine individuelle Besteuerung mit über-
tragbarem Grundfreibetrag einführen. Bei der Lohnsteuer soll die/
der heute über Gebühr belastete Zweitverdiener*in entlastet wer-
den, indem das Faktorverfahren zur Regel und die Steuerklasse 5 für
Zuverdiener*innen abgeschafft wird. So sorgen wir dafür, dass gleich-
berechtigte Lebensentwürfe nicht länger benachteiligt werden. Paare,
die bereits verheiratet sind, können sich entscheiden, ob sie sich ein-
zeln veranlagen oder weiterhin das Ehegattensplitting nutzen wollen.
Zugleich stärken wir mit der Kindergrundsicherung Familien. Allein-
erziehende, die heute am stärksten von Armut betroffen sind, entlas-
ten wir mit einer Steuergutschrift.
Wir sichern die sozialen Netze
Garantiesicherung statt Hartz IV
Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Teilhabe, auf ein würdevolles
Leben ohne Existenzangst. Deswegen wollen wir Hartz IV überwin-
den und ersetzen es durch eine Garantiesicherung. Sie schützt vor
Armut und garantiert ohne Sanktionen das soziokulturelle Existenz-
minimum. Sie stärkt so Menschen in Zeiten des Wandels und kann
angesichts großer Veränderungen der Arbeitswelt Sicherheit geben
und Chancen und Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben eröff-
nen. Die grüne Garantiesicherung ist eine Grundsicherung, die nicht
stigmatisiert und die einfach und auf Augenhöhe gewährt wird. Das
soziokulturelle Existenzminimum werden wir neu berechnen und
dabei die jetzigen Kürzungstricks beenden. In einem ersten Schritt
werden wir den Regelsatz um mindestens 50 Euro und damit spürbar
anheben. Die Leistungen der Garantiesicherung wollen wir schritt-
weise individualisieren. Die Anrechnung von Einkommen werden wir
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN112Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
deutlich attraktiver gestalten, sodass zusätzliche Erwerbstätigkeit
immer zu einem spürbar höheren Einkommen führt. Jugendliche in
leistungsempfangenden Familien sollen ohne Anrechnung Geld ver-
dienen dürfen. Vermögen werden künftig unbürokratischer und mit
Hilfe einer einfachen Selbstauskunft geprüft. Das Schonvermögen
wird angehoben. Wir streben an, die soziale Sicherung schrittweise
weiter zu vereinfachen, indem wir die existenzsichernden Sozialleis-
tungen zusammenlegen und ihre Auszahlung in das Steuersystem
integrieren. Wir begrüßen und unterstützen Modellprojekte, um die
Wirkung eines bedingungslosen Grundeinkommens zu erforschen.
Durch die Abschaffung der bürokratischen und entwürdigenden Sank-
tionen schafft die Garantiesicherung Raum und Zeit in den Jobcentern
für wirkliche Arbeitsvermittlung und Begleitung. Wir brauchen einen
Perspektivenwechsel bei der Arbeitsförderung mit ausreichend Per-
sonal, um der Unterschiedlichkeit der langzeitarbeitslosen Menschen
gerecht zu werden. Notwendig sind intensive Betreuung, individuelle
Unterstützung und anstelle eines Vermittlungsvorrangs in prekäre
Arbeit wollen wir einen Vorrang für Ausbildung und Qualifizierung.
Wichtig ist insbesondere soziale Teilhabe durch einen dauerhaf-
ten sozialen und inklusiven Arbeitsmarkt, der niedrigschwellig und
bedarfsgerecht ausgestaltet ist und von dem die Langzeitarbeitslosen
auch aufgrund einer guten Begleitung vielfältig profitieren.
Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe
für Menschen mit Behinderungen
Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf gleichberechtigte
Teilhabe und auf Schutz vor Diskriminierung in allen Bereichen der
Gesellschaft. Auf Basis der UN-Behindertenrechtskonvention und des
Grundsatzes der Selbstbestimmung werden wir Inklusion vorantreiben
und wollen deren verbindliche Umsetzung mit einer Enquete-Kom-
mission begleiten. Leistungen zur Teilhabe müssen in jeder Phase
allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung gewährt sein.
Wir wollen einen inklusiven Arbeitsmarkt schaffen und dafür Arbeit-
geber*innen, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen, besser
unterstützen. Die Selbstvertretungsstrukturen werden wir stärken und
absichern. Arbeitgeber*innen, die hingegen nicht genügend schwerbe-
hinderte Menschen beschäftigen, sollen eine höhere Ausgleichsabgabe
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN113Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
zahlen, die wir in die Förderung inklusiver Beschäftigung investieren
werden. Wir wollen das heutige Werkstattsystem zu einem System
von Inklusionsunternehmen weiterentwickeln, in dem Menschen mit
Behinderungen über die Inanspruchnahme von bedarfsgerechten
Nachteilsausgleichen eine sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung mindestens auf Mindestlohnniveau ermöglicht wird. Wir werden
Arbeitnehmer*innen-Rechte sicherstellen und fördern den Wechsel in
den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Tagesförderstätten wollen wir in
diesen Prozess mit einbeziehen. Das Budget für Arbeit werden wir aus-
bauen und Menschen, die es nutzen, in der Arbeitslosenversicherung
absichern. Auszubildende und Studierende mit Behinderung erhalten
bei Auslandsaufenthalten ein Budget zur Deckung ihrer Bedarfe, das
den Leistungen entspricht, die sie im Inland erhalten. Unser Ziel ist es,
das Bundesteilhabegesetz weiterzuentwickeln und Teilhabe zu garan-
tieren – kein Poolen von Leistungen gegen den Willen der Betrof-
fenen, echtes Wunsch- und Wahlrecht, Leistungen unabhängig vom
Einkommen und Vermögen der Leistungsberechtigten und ein Bun-
desteilhabegeld. Anträge auf Teilhabeleistungen sollen einfach und
unbürokratisch sein und Entscheidungen im Sinne der Menschen mit
Behinderung schnell erfolgen.
Gemeinsame soziale Mindeststandards in der EU
Wir treten ein für eine Europäische Union, die soziale Absicherung
und Mindeststandards EU-weit garantiert. Soziale Rechte müssen den
gleichen Stellenwert erhalten wie die wirtschaftlichen Freiheiten des
Binnenmarkts. Dafür sind gemeinsame europäische Arbeits- und Sozi-
alstandards essentiell. Wir machen uns für eine europäische Grundsi-
cherungsrichtlinie stark, die soziale Mindeststandards für jedes Land
festlegt, angepasst an die jeweilige ökonomische Situation. Länder-
spezifische Mindestlöhne sollen überall in der EU dafür sorgen, dass
Menschen von ihrer Arbeit leben können. Das in der Corona-Krise ein-
geführte europäische Kurzarbeitsprogramm wollen wir verstetigen.
Zur Stabilisierung im Falle von Krisen setzen wir uns für die Einführung
einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung ein. Wir wollen die
europäischen Betriebsräte stärken und die Mitbestimmung in grenz-
überschreitenden Unternehmen weiter absichern durch gestärkte
Informationsrechte und verschärfte Sanktionen. Unser langfristiges
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN114Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Ziel ist, dass die in der Europäischen Grundrechtecharta verankerten
sozialen Rechte als Grundrechte gegenüber den Mitgliedstaaten vor
dem Europäischen Gerichtshof einklagbar sind.
Eine verlässliche Alterssicherung für alle
Die langfristige Sicherung des Rentenniveaus bei mindestens 48 Pro-
zent hat für uns hohe Priorität. Bei einem weiteren Absinken wären
immer mehr Menschen auf Grundrente angewiesen und die Akzep-
tanz der gesetzlichen Rente wäre gefährdet. Um das Rentenniveau
zu sichern, wollen wir die Frauenerwerbstätigkeit unter anderem
durch ein Recht auf Rückkehr in Vollzeit erhöhen, ein echtes Ein-
wanderungsgesetz schaffen und die Beschäftigungssituation älterer
Arbeitnehmer*innen verbessern. Um die Belastungen der Versicher-
ten und der Arbeitgeber*innen zu begrenzen, sollen bei Bedarf die
Steuerzuschüsse erhöht werden. Prekäre Beschäftigung muss über-
wunden werden, denn nur armutsfeste Löhne führen auch zu einer
auskömmlichen Rente. Die gesetzliche Rentenversicherung wollen
wir schrittweise zu einer Bürger*innenversicherung weiterentwickeln,
in die perspektivisch alle einbezogen werden, damit alle gut abgesi-
chert sind. In einem ersten Schritt zu einer Bürger*innenversicherung
sorgen wir dafür, dass Selbständige ohne obligatorische Absicherung,
zum Beispiel in berufsständischen Versorgungswerken, und Abge-
ordnete verpflichtend in die gesetzliche Rentenversicherung aufge-
nommen werden. Dabei werden bereits bestehende private Alters-
vorsorgeformen sowie Altersgrenzen berücksichtigt. Um Altersarmut
zu verhindern, werden wir die Grundrente reparieren und zu einer
echten Garantierente weiterentwickeln, die deutlich mehr Menschen
als bisher einbezieht und finanziell besserstellt. Wir führen darüber
hinaus eine von den Arbeitgeber*innen finanzierte Mindestbeitrags-
bemessungsgrundlage ein, mit der vollzeitbeschäftigte Geringverdie-
nende bei langjähriger Beschäftigung im Alter eine auskömmliche
Rente erhalten. Grundsätzlich halten wir an der Rente mit 67 fest.
Wir wollen es Menschen aber leichter machen, selbst darüber zu ent-
scheiden, wann sie in Rente gehen wollen, auch über die Regelein-
trittsgrenze hinaus.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN115Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
Ein Bürger*innenfonds für die Rente
Eine kapitalgedeckte Altersvorsorge kann das Umlagesystem sinnvoll
ergänzen. Die Riester-Rente hat sich aber als ein völliger Fehlschlag
herausgestellt und die Rürup-Rente hat gravierende Schwächen. Die
Produkte sind teuer und undurchschaubar und haben zum Teil eine
geringere Rendite als Omas Sparstrumpf. Profitabel sind sie oft nur
für die Versicherungswirtschaft oder dank der öffentlichen Förderung.
Deswegen haben bei weitem nicht alle davon Gebrauch gemacht. Wir
wollen die Riester- und die Rürup-Rente durch einen öffentlich verwal-
teten Bürger*innenfonds ersetzen. Die öffentliche Zulagenförderung
der privaten Altersvorsorge werden wir reformieren und auf niedrige
und mittlere Einkommen fokussieren. Für Menschen mit einem beste-
henden Riestervertrag besteht, falls von ihnen gewünscht, Bestands-
schutz. Der Fonds kann langfristig orientiertes Eigenkapital für die
Wirtschaft bereitstellen. In den Bürger*innenfonds zahlen alle ein, die
nicht aktiv widersprechen. So wird ein Volumen geschaffen, das die
Verwaltungskosten gering hält, die Risiken breit streut und auf teure
Garantien verzichten kann. Der Bürger*innenfonds wird öffentlich und
politisch unabhängig verwaltet und investiert anhand von ESG-Nach-
haltigkeitskriterien. Er investiert langfristig und hilft so, die Kurzfrist-
orientierung der Märkte zu überwinden. So bietet er das Potenzial
einer guten Rendite. Arbeitgeber*innen sollen künftig eine betrieb-
liche Altersvorsorge anbieten, einen eigenen Finanzierungsbeitrag
leisten und den Bürger*innenfonds als Standard dafür nutzen kön-
nen. Um es kleinen Unternehmen einfacher zu machen, eine betrieb-
liche Altersvorsorge anzubieten, wollen wir die reine Beitragsgarantie
für kleine Unternehmen einführen, sie bei der Haftung entlasten und
so für eine bessere Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge sor-
gen. Zusätzlich wollen wir erreichen, dass Selbständige vergleichbare
Chancen auf eine angemessene Altersversorgung haben wie abhän-
gig Beschäftigte.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN116Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir geben Gesundheit und Pflege
einen neuen Wert
Vorsorge als Leitprinzip
Wir wollen den Zugang zu guter Gesundheitsversorgung von der Kind-
heit bis ins hohe Alter sicherstellen – aber gute Gesundheitspolitik
umfasst mehr. Wer in der Fleischindustrie unter prekären Bedingun-
gen arbeitet, in einer schimmeligen Wohnung oder an einer vielbe-
fahrenen Straße wohnt oder mit Hartz IV in Armut lebt, kann seine
Gesundheit nur schwer schützen, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit
zu erkranken und oft einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsver-
sorgung. Für eine gesunde Gesellschaft braucht es eine Politik, die
vorsorgt, die die Ursachen von Krankheiten bekämpft, Präventionsfor-
schung fördert und vorausschauend handelt. Statt nur auf die nächste
Krise zu reagieren, sollen in Zukunft durch gemeinsame Gesund-
heitsziele und eine Ausweitung der Gesundheitsberichterstattung
Krankheitsursachen und der Stand der gesundheitlichen Versorgung
in den Blick genommen werden. Prävention, Gesundheitsförderung
und gesundheitliche Versorgung wollen wir grundsätzlich als Quer-
schnittsaufgabe in allen Politikbereichen verfolgen.
Für Pandemien gewappnet sein
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass unser Gesundheitssystem für künf-
tige Pandemien besser gewappnet sein muss. Deshalb stoßen wir eine
umfassende Analyse des Pandemiemanagements an. Spätestens jetzt
ist der Moment, längst überfälligen Wandel einzuleiten, beispiels-
weise die Krankenhaus- und Notfallversorgung zu reformieren und
die Digitalisierung, insbesondere in den Gesundheitsämtern, beherzt
voranzutreiben. Um Pandemien zukünftig effektiv und nachvollzieh-
bar zu bekämpfen, sollen Stufen zur Eindämmung von Pandemien im
Infektionsschutzgesetz definiert, Pandemieschutzpläne aktualisiert
und soll ein unabhängiger und interdisziplinärer Pandemierat ein-
gerichtet werden. Getroffene Maßnahmen müssen evidenzbasiert
und verhältnismäßig sein. Mit einer klaren Kommunikationsstrate-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN117Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
gie sollen den Bürger*innen Datengrundlagen, Entscheidungsgründe
und -wege transparent gemacht werden. Wir investieren in Gesund-
heitsforschung, zum Beispiel bei Medikamenten, Impfstoffen oder
der Entwicklung neuer Testverfahren. Dort, wo es keine ausreichen-
den Anreize für die Therapieentwicklung gibt, wie zum Beispiel bei
Antibiotika oder antiviralen Medikamenten, schaffen wir alternative
Anreizsysteme. Auch die Produktion von Medikamenten und Medi-
zinprodukten soll – in europäischer Kooperation – vorangetrieben
werden, die Versorgung, zum Beispiel mit Atemschutzmasken, durch
eigene Produktionsstandorte sichergestellt werden. Die Universi-
tätsmedizin werden wir angesichts ihrer wichtigen Rolle in der Pan-
demiebekämpfung weiter stärken – von der Spitzenforschung über
die Vernetzung bei Daten und Digitalisierung bis zur Versorgung per
Telemedizin im ländlichen Raum. Auf europäischer Ebene braucht
es mehr gemeinsame Strategie und Koordinierung, etwa durch die
gemeinsame Planung und Nutzung medizinischer Notfallkapazitä-
ten oder durch ein europäisches Frühwarnsystem und die gemein-
same Erhebung und Nutzung relevanter Daten. Daher setzen wir uns
für den zügigen Aufbau von HERA ein, einer EU-Behörde, die künftig
staatliche und privatwirtschaftliche Aktivitäten besser koordinieren
soll. Das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von
Krankheiten wollen wir stärken und uns für eine engere Kooperation
mit nationalen Gesundheitsbehörden einsetzen.
Gesundheitsämter stärken
Nicht erst in der Corona-Pandemie wird sichtbar, dass wir als Gesell-
schaft größere Anstrengungen unternehmen müssen, um die öffentli-
che Gesundheit zu stärken und Menschen ein gutes Leben zu ermögli-
chen. Ob der Besuch der mobilen Zahnärzt*innen in der Schule oder die
Impfaktion im Pflegeheim – für Gesundheitsförderung, die Menschen
unkompliziert erreicht, braucht es eine Stärkung des Öffentlichen
Gesundheitsdienstes. Unser Ziel ist es, im Zusammenspiel zwischen
den Gesundheitsdiensten der Länder und Kommunen, Strukturen der
öffentlichen Gesundheitsfürsorge an Universitäten und Hochschulen
und einem neu zu schaffenden Bundesinstitut für Gesundheit gemein-
sam eine starke Säule der öffentlichen Gesundheitsfürsorge aufzu-
bauen. Das Institut soll gemeinsame, langfristige Gesundheitsziele
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN118Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
entwickeln, zur Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens berichten,
die Qualität und Koordination der Gesundheitsdienste sichern und
als zentrales Public-Health-Organ durch die Bündelung bestehender
Strukturen des Bundes zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung
beitragen. Bisher sind die Gesundheitsämter chronisch unterfinanziert
und unterbesetzt, die personelle und technische Ausstattung muss dau-
erhaft verbessert werden. Wir wollen deshalb, dass Bund und Länder
gemeinsam dafür sorgen, dass die Mittel für den Öffentlichen Gesund-
heitsdienst schrittweise auf mindestens 1 Prozent der Gesundheits-
ausgaben angehoben werden, sodass er seine Aufgaben des Gesund-
heitsschutzes und der Gesundheitsförderung dauerhaft wahrnehmen
kann. Die Gesundheitsdienste wollen wir stärker in die Gesundheits-
förderung und Prävention in den Lebenswelten vor Ort einbinden. Die
Mitarbeiter*innen im Öffentlichen Gesundheitsdienst, insbesondere
Amtsärzt*innen, müssen vergleichbar zu anderen Beschäftigungsver-
hältnissen im Gesundheitswesen bezahlt werden. Auch pflegerische
Fachkompetenz soll stärker eingebunden werden – als sogenannte
Community Health Nurses oder in der Schulgesundheitspflege.
Gute gesundheitliche Versorgung in Stadt und Land
Gesundheit ist Daseinsvorsorge. Wir wollen, dass Menschen im gan-
zen Land gut und verlässlich versorgt werden. Viele niedergelassene
Ärzt*innen, Hebammen, Heilmittelerbringer*innen und andere medi-
zinische Fachkräfte arbeiten jeden Tag hart daran, diese Versorgung
zu ermöglichen. Doch wenn mancherorts der Weg zur Hebamme kaum
zu bewältigen ist, die Kinderstationen Patient*innen abweisen müs-
sen oder Hausarztpraxen auf dem Land schließen müssen, weil ein*e
Nachfolger*in fehlt, gefährdet das die gesundheitliche Versorgung.
Wir wollen die Primärversorgung durch Hausärzt*innen und wei-
tere Gesundheitsberufe weiter stärken. Um die Versorgung in Stadt
und Land sicherzustellen, wollen wir, dass ambulante und stationäre
Angebote in Zukunft übergreifend geplant werden und etwa regio-
nale Versorgungsverbünde mit enger Anbindung an die Kommunen
gefördert werden. Perspektivisch soll es eine gemeinsame Abrech-
nungssystematik für ambulante und stationäre Leistungen geben.
Außerdem heben wir die strikte Trennung der ambulanten Gebüh-
renordnungen EBM und GOÄ auf. Auch die zahnmedizinische Regel-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN119Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
versorgung in der GKV muss regelmäßig an den aktuellen Stand der
Wissenschaft angepasst werden. Gleichzeitig wollen wir die interdis-
ziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen stärken.
Denn die Versorgung muss von den Patient*innen aus gedacht wer-
den. Dafür wollen wir insbesondere die Einrichtung von gemeinwohl-
orientierten regionalen Gesundheitszentren unterstützen, in denen
alle Gesundheitsberufe unter gemeinsamer Trägerschaft auf Augen-
höhe zusammenarbeiten. Die Aufgabenverteilung im Gesundheitswe-
sen werden wir so reformieren, dass nichtärztliche Gesundheits- und
Pflegeberufe mehr Tätigkeiten sowie die Verordnung von Hilfsmit-
teln und pflegenahen Produkten eigenverantwortlich übernehmen
können. Bei nachgewiesener Qualifikation wollen wir den Direktzu-
gang für Therapeut*innen. Die Arbeitsbedingungen in und die Vergü-
tung von Therapieberufen müssen dringend ihrer wichtigen Rolle im
Gesundheitswesen angepasst, das Schulgeld für diese Ausbildungen
muss abgeschafft werden. Die Ausbildung in den Therapieberufen
muss in regulären Studiengängen möglich sein.
Krankenhäuser nach gesellschaftlichem Auftrag finanzieren
In Krankenhäusern sollen alle die Versorgung erhalten, die sie
benötigen. Doch falsche politische Weichenstellungen und der dar-
aus folgende ökonomische Druck haben zu Fehlanreizen zu Lasten
des Patient*innenwohls und zu Kosteneinsparungen zu Lasten des
Personals geführt. Es braucht eine verbindlichere Landeskranken-
hausplanung, die die öffentlichen Versorgungsinteressen an Grund-,
Schwerpunkt- und Maximalversorgung definiert. Der Bund soll die
Möglichkeit haben, dafür gemeinsame bundesweite Grundsätze für
die Krankenhausplanung zu definieren. Welche Angebote es vor Ort
gibt, darf nicht davon abhängen, was sich rentiert oder was sich Trä-
ger noch leisten können, sondern muss sich danach richten, was nötig
ist. Dabei hat die flächendeckende, erreichbare Grundversorgung der
Bevölkerung einen eigenen Stellenwert. Die Gemeinwohlorientierung
im Gesundheitswesen soll gestärkt und der Trend hin zu Privatisie-
rung umgekehrt werden. Die Konzentration auf ertragreiche Ange-
bote muss ein Ende haben. Kliniken sollen deshalb in Zukunft nicht
mehr nur nach Fallzahl, sondern auch nach ihrem gesellschaftlichen
Auftrag finanziert werden. Dafür braucht es ein neues Finanzierungs-
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN120Kapitel 3
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system, das eine starke Säule der Strukturfinanzierung beinhaltet,
sodass Entscheidungen danach getroffen werden, was das Beste für
Patient*innen und Beschäftigte ist – und eine bürokratiearme Kosten-
kontrolle dem nicht zuwiderläuft. Vorgaben zur Personalbemessung,
Behandlungs- und Versorgungsqualität sichern eine qualitativ hoch-
wertige und bedarfsgerechte Versorgung. Die seit Jahren zunehmende
Lücke in der staatlichen Investitionsfinanzierung wollen wir durch
eine gemeinsame Finanzierung durch Bund und Länder schließen.
Organspende rettet Leben. Wir wollen die Strukturen bei der Organi-
sation und Qualität der Organspende in den Kliniken und des Trans-
plantationsregisters weiter verbessern.
Notfallversorgung reformieren
Wie gut ein Gesundheitssystem funktioniert, zeigt sich oft erst im
Notfall – und dann wird es häufig ernst. Damit die Notfallversorgung
in Deutschland besser funktioniert, muss sich einiges ändern. Das
fängt beim Rettungsdienst an, der Menschen in Not heute umfas-
sender medizinisch behandeln kann und deshalb wie die übrige
Gesundheitsversorgung im Gesetz geregelt werden muss. Die Not-
rufleitstellen der Nummern 112 und 116117 müssen organisatorisch
zusammengeführt werden, damit es im Zweifelsfall keine Rolle spielt,
wo Menschen anrufen, sondern sie nach einer standardisierten Not-
rufabfrage immer die passende Hilfe bekommen. Deshalb wollen
wir diese Notrufleitstellen zu Gesundheitsleitstellen verbinden, die
rund um die Uhr eine verlässliche Lotsenfunktion übernehmen. An
zentralen Klinikstandorten soll in Notfallzentren eine nahtlose Ver-
zahnung der bislang getrennten ambulanten und stationären Versor-
gungsmöglichkeiten der Notfallversorgung erfolgen. Gerade nachts
und am Wochenende sollen diese personell so unterstützt werden,
dass Patient*innen in weniger ernsten Situationen auch ambulant gut
versorgt werden können. Durch eigene Budgets für die Notfall- und
Intensivmedizin sowie einheitliche Stufen und Vorgaben zur Notfall-
versorgung wollen wir sicherstellen, dass Menschen in Not, in der
Stadt und auf dem Land, stets die erwartbare Hilfe auch verlässlich
vorfinden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN121Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
Versorgung psychisch Erkrankter verbessern
Starke Prävention und angemessene Versorgung – für beides wollen
wir die Weichen stellen, denn seelische Gesundheit ist Fundament für
Lebensqualität, soziale Teilhabe und körperliche Gesundheit und mehr
als nur Abwesenheit psychischer Krankheiten. Es ist nicht zumutbar,
dass viele Menschen in einer psychischen Krise monatelang auf thera-
peutische Hilfe warten müssen. Wer eine psychische Erkrankung hat,
braucht schnelle und leicht zugängliche Hilfen, damit das Leid sich
nicht verschlimmert. Stigmatisierungen, zum Beispiel am Arbeitsplatz,
muss vorgebeugt werden. Flächendeckende und bedarfsgerechte Ver-
sorgung mit ambulanten und stationären Therapie- sowie Hilfs- und
Beratungsangeboten, zum Beispiel auch für Suizidprävention oder bei
Abhängigkeiten, ist zentral. Wir wollen ambulante Psychotherapie-
plätze durch mehr Kassenzulassungen von Psychotherapeut*innen
schaffen. Es braucht eine gemeindenahe und personenzentrierte Ver-
sorgung und eine verbesserte, sektorübergreifende Zusammenarbeit.
Dabei müssen auch die Besonderheiten der Versorgung von Kindern
und Jugendlichen, von LSBTIQ*, geflüchteten und traumatisierten Men-
schen sowie von Frauen, die von Gewalt betroffen sind, berücksichtigt
werden. Behandlungen unter Zwang müssen auf ein unumgängliches
Mindestmaß reduziert werden. Dafür braucht es eine systematische
Dokumentation und die konsequente Patient*innenorientierung des
therapeutischen Angebots. Hilfsangebote zwischen ambulanter und
stationärer Behandlung müssen flexibler werden und die verschiede-
nen Berufsgruppen im Team eine miteinander abgestimmte Behand-
lung übernehmen können. Bei der unzureichenden Reform der Psy-
chotherapie-Ausbildung muss nachgebessert werden, unter anderem
damit angehende Psychotherapeut*innen endlich unter guten Bedin-
gungen ausgebildet werden.
Geburtshilfe verbessern, Gesundheit von Frauen stärken
Eine gute Geburtshilfe stellt das Wohl von Gebärenden und Kindern
in den Mittelpunkt. Um den notwendigen Kulturwandel zu schaf-
fen, sollen Hebammen und andere Akteur*innen bei einem Geburts-
hilfegipfel Qualitätsstandards, orientiert an dem Gesundheitsziel
„Gesundheit rund um die Geburt“, entwickeln. Dazu gehören neben
Bundestagswahlprogramm 2021
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Bereit, weil Ihr es seid.
der 1:1-Betreuung die Wahlfreiheit des Geburtsortes, die Sicher-
stellung wohnortnaher Versorgung, die Sensibilisierung für Gewalt
in der Geburtshilfe und die Etablierung eines Betreuungsbogens
vor, während und nach der Geburt. Um die Versorgungssicherheit zu
gewährleisten und den Hebammenberuf zu stärken, sind außerdem
eine Reform der Haftpflicht für Gesundheitsberufe, die Aufnahme der
Rufbereitschaftspauschale in den Katalog der Kassenleistungen, der
erleichterte nachträgliche akademische Titelerwerb für ausgebil-
dete Hebammen und der Ausbau hebammengeführter Kreißsäle und
Geburtshäuser nötig. Finanzielle Fehlanreize für einen medizinisch
nicht notwendigen Kaiserschnitt darf es nicht geben. Wir wollen das
Gesundheitssystem geschlechtergerecht machen. Geschlechtsspezifi-
sche Aspekte in Forschung und Ausbildung und in der medizinischen
Praxis werden nicht ausreichend berücksichtigt, etwa bei der Medika-
mentenforschung. Das gefährdet die Gesundheit von Frauen wie auch
von Trans*- und Inter*-Menschen. Die Forschung zu geschlechtsspe-
zifischer Medizin und Pflege sowie Frauengesundheit muss sicher-
gestellt, in der medizinischen und pflegerischen Praxis umgesetzt
und in der Ausbildung verankert werden. Damit einhergehend muss
gezielter in die Forschung und Weiterentwicklung von Verhütungs-
mitteln für alle Geschlechter investiert werden. Mit Hilfe einer pari-
tätischen Frauenquote für Führungspositionen im Gesundheitswesen
und durch bessere Arbeitsbedingungen holen wir mehr Frauen in die
Führungsgremien unseres Gesundheitswesens.
Zugang zum Gesundheitssystem sichern,
Diskriminierung beenden
Auch im Gesundheitswesen wollen wir Diskriminierung bekämpfen.
Beispielsweise erhalten Menschen mit Behinderungen häufig nicht
alle dringend benötigten Gesundheitsleistungen, Hilfsmittel oder
häusliche Pflege und werden so in ihrer Teilhabe beschränkt. Des-
halb wollen wir mit einem ressortübergreifenden Inklusionsplan
diese Hürden umfassend abbauen, die Gesundheitsleistungen auf die
jeweiligen Bedarfe gezielt ausrichten und bürokratische Vorgänge so
weit wie möglich reduzieren. Das umfasst auch verpflichtende Vor-
gaben zur Barrierefreiheit bei der Bedarfsplanung und eine Reform
der Heilmittelversorgung. Das Gesundheitswesen muss insgesamt
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN123Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
inklusiv ausgestaltet werden, unter anderem auch in der Aus- und
Fortbildung des Personals. Auch für LSBTIQ* muss diskriminierungs-
freie Gesundheitsversorgung gesichert sein. Dafür werden wir den
Anspruch auf medizinische Maßnahmen für Trans*- und Inter*-Men-
schen gesetzlich verankern. Die bestehenden Lücken beim Verbot
sogenannter „Konversionstherapien“ werden wir schließen. Wir wol-
len die Aufklärungsarbeit über HIV und aktuelle Behandlungs- und
Präventionsmöglichkeiten bei Ärzt*innen stärker in Aus-, Fort- und
Weiterbildung berücksichtigen, um Stigmatisierung vorzubeugen.
Der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung muss auch für Menschen
ohne Krankenversicherungsschutz oder Wohnungslose und unab-
hängig vom Aufenthaltsstatus gewährleistet sein. Das gilt auch für
Unionsbürger*innen und Menschen, die ohne Papiere in Deutschland
leben, etwa durch einen anonymen Krankenschein, die Abschaffung
der Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten an öffentlichen Stel-
len oder die Stärkung von Beratungsnetzwerken für Menschen ohne
Papiere. Damit Sprache keine unüberwindbare Hürde darstellt, wollen
wir einen Anspruch auf qualifizierte Sprachmittlung im SGB V schaf-
fen. Die erleichterte Abschiebung von erkrankten und traumatisier-
ten Geflüchteten wollen wir zurücknehmen und die Anerkennung von
psychotherapeutischen Gutachten im Verfahren wieder ermöglichen.
Auf dem Weg zur Bürger*innenversicherung
für Gesundheit und Pflege
Gesetzlich Versicherte warten länger auf Termine bei Fachärzt*innen
und viele privat Versicherte können sich die hohen Prämien nicht
mehr leisten. Von dieser Zwei-Klassen-Medizin profitieren wenige,
zum Nachteil vieler. Unser Ziel ist eine solidarisch finanzierte Bür-
ger*innenversicherung, in der jede*r unabhängig vom Einkommen die
Versorgung bekommt, die er oder sie braucht. Dafür wollen wir in der
nächsten Wahlperiode die Weichen stellen. Mit der Bürger*innenver-
sicherung wollen wir alle in die Finanzierung eines leistungsstarken
Versicherungssystems einbeziehen und so auch vor dem Hintergrund
künftiger Kostensteigerungen im Gesundheitswesen für eine stabile
und solidarische Lastenteilung sorgen. Auch Beamt*innen, Selbstän-
dige, Unternehmer*innen und Abgeordnete beteiligen sich mit ein-
kommensabhängigen Beiträgen, ohne fiktive Mindesteinkommen. Die
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN124Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Beiträge sollen auf alle Einkommensarten erhoben werden, zum Bei-
spiel neben Löhnen und Gehältern auch auf Kapitaleinkommen. Wir
verbessern die Versorgung gesetzlich Versicherter – zum Beispiel bei
der Erstattung von Brillen. Außerdem wollen wir die Benachteiligung
gesetzlich versicherter Beamt*innen durch einen beihilfefähigen Tarif
beenden und privat Versicherte, die sich nur den Basistarif leisten
können, besser absichern. Für gesetzlich Versicherte mit Beitrags-
schulden wollen wir die vollwertige Rückkehr in die Krankenkasse
erleichtern und wir wollen die Absicherung von gering verdienenden
Selbständigen in der Krankenversicherung verbessern, um sie nicht
durch zu hohe Beiträge finanziell zu überfordern.
Patient*innenrechte stärken
Für uns stehen die Bedürfnisse der Patient*innen und Pflegebedürf-
tigen und der Nutzen für sie im Mittelpunkt. Sie sollen von Zuschau-
er*innen zu Beteiligten in unserem Gesundheitswesen werden. Dazu
wollen wir die Möglichkeiten der Patient*innen- und Versichertenver-
tretung in den Gremien des Gesundheitswesens ausbauen, insbeson-
dere auch durch ein eigenes unparteiisches Mitglied im Gemeinsamen
Bundesausschuss, größere Beteiligungs- und Informationsrechte und
eine Reform der Sozialwahlen. Patient*innen sollen selbstbestimmt
und auf informierter Grundlage Entscheidungen treffen und bei Pro-
blemen ihre Rechte wirksam und zeitnah durchsetzen können, etwa
gegenüber ihrer Krankenkasse. Wir wollen mehr Qualitätstransparenz
im Gesundheitswesen und setzen uns für die Gründung einer von den
Patient*innen- und Selbsthilfeorganisationen getragenen Stiftung
ein, die der Unabhängigen Patientenberatung eine verlässliche und
gemeinnützige neue Heimat gibt. Die Patient*innensicherheit wol-
len wir voranbringen. Opfer von Behandlungsfehlern müssen leichter
Entschädigungen erhalten und Strukturen zur Fehlervermeidung flä-
chendeckend eingeführt werden.
Digitalisierung verbessert Gesundheitsversorgung
Wir wollen die Chancen der Digitalisierung – ob Robotik zur Unter-
stützung in der Pflege, Telemedizin oder die elektronische Patienten-
akte – nutzen, um das Gesundheitssystem zukunftsfähig zu machen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN125Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
Per App sollen Patient*innen sicher auf den digitalen Impfpass,
Gesundheitsinformationen wie die eigene Blutgruppe, die Krankheits-
geschichte oder die neuesten Blutwerte zugreifen können. Zur Koor-
dination all dieser Vorhaben wollen wir mit allen Nutzer*innen des
Gesundheitswesens eine Strategie für die Digitalisierung entwickeln.
Damit sie den Patient*innen wirklich nützt, muss die elektronische
Patientenakte weiterentwickelt werden und für alle Patient*innen
einfach zugänglich und verständlich sein; eine Informationskam-
pagne soll Patient*innen auch unabhängig von sozialer Lage oder
digitaler Gesundheitskompetenz erreichen. Dabei sind unter anderem
Patient*innenorganisationen stärker einzubinden. Gesundheitsdaten
sollen anonymisiert und wo nötig pseudonymisiert der Wissenschaft
zur Verfügung gestellt werden, um die Gesundheitsversorgung in
Deutschland zu verbessern. Eine Weitergabe der Daten erfolgt dabei
nicht gegen den Willen der Patient*innen. Die ärztliche Schweige-
pflicht und das Patient*innengeheimnis müssen auch für digitalisierte
Gesundheitsdaten jederzeit gewahrt bleiben. Ihre eigenen Gesund-
heitsdaten müssen für Patient*innen barrierefrei und sicher zugäng-
lich sein. Es braucht eine dezentrale Forschungsdateninfrastruktur.
Die Ergebnisse, die aus weitergegebenen Gesundheitsdaten gewon-
nen werden, sollen der Allgemeinheit nach dem Open-Data-Prinzip
zur Verfügung stehen. Alle von der Solidargemeinschaft finanzier-
ten digitalen Angebote müssen barrierefrei sein und den höchsten
Ansprüchen an Datenschutz und Datensicherheit genügen. Wir setzen
uns für eine unabhängige Nutzenbewertung von digitalen Gesund-
heitsanwendungen ein. Den Ausbau digitaler Infrastruktur und tech-
nischer Assistenzsysteme in der Pflege wollen wir unterstützen. Um
Sicherheit und Interoperabilität zu gewährleisten und so zum Beispiel
auch den administrativen Aufwand für medizinisches und pflegeri-
sches Personal zu verringern, sollen Hersteller von Medizinprodukten
und Software offene Schnittstellen anbieten, die sich an länderüber-
greifenden (Schnittstellen-)Standards orientieren.
Klimaschutz ist Gesundheitsschutz
Dem Gesundheitswesen kommt bei der Bewältigung der Klimakrise
eine besondere Bedeutung zu, etwa durch die Anpassung an ein ver-
ändertes Krankheitsspektrum und an vermehrte Extremwetterlagen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN126Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
wie Hitzewellen. Unter diesen leiden heute schon vor allem ältere
und armutsgefährdete Menschen, auch Allergien und Erkrankungen
beispielsweise der Haut treten vermehrt auf. Das ist eine Herausfor-
derung für das Gesundheitswesen, der wir durch mehr Vorsorge, eine
bessere Notfallversorgung, verstärkte Hilfen für besonders verletzli-
che Menschen wie etwa chronisch Kranke begegnen wollen. Wir wer-
den außerdem einen Sonderfonds zur Umsetzung von Hitzeaktions-
plänen schaffen. Gleichzeitig muss auch das Gesundheitswesen dazu
beitragen, CO2-Emissionen zu verringern. Investitionen zum Beispiel
in grüne Krankenhäuser und Gesundheitszentren werden wir unter-
stützen. Umwelt- und Klimaschutz sollen auch bei der Produktion von
Arzneimitteln stärker beachtet und ein Qualitätsmerkmal bei Verträ-
gen der Krankenkassen werden. Die Verknüpfung von Klimaschutz
und Gesundheit kann so zu einem Motor der Transformation hin zu
mehr Nachhaltigkeit werden.
Ambulante Pflege stärken
Wer pflegebedürftig ist, hat die bestmögliche Pflege und Unterstüt-
zung für einselbstbestimmtes und würdevolles Leben verdient. Gerade
in einer alternden Gesellschaft braucht es dafür überall vielfältige,
auf den Bedarf vor Ort angepasste pflegerischeAngebote, die auf die
individuellen Bedürfnisse und biografischen Hintergründe der Pfle-
gebedürftigen eingehen. Statt weiterer Großeinrichtungen sind mehr
ambulante Wohn- und Pflegeformen nötig, zum Beispiel Angebote der
Tages-, Kurzzeit- und Verhinderungspflege oder Pflege-Wohngemein-
schaften – eingebettet in ein Umfeld, das Menschen im Alter oder bei
Assistenzbedarf dabei unterstützt, aktiv am gesellschaftlichen Leben
teilzuhaben. Gerade im ländlichen Raum können Community Health
Nurses wie früher die Gemeindeschwestern eine große Stütze sein. So
wird die Pflege auch für Angehörige einfacher. Dafür wollen wir die
rechtlichen Rahmenbedingungen für Quartierspflege schaffen und
den Kommunen ermöglichen, eine verbindliche Pflegebedarfspla-
nung vorzunehmen, um das Angebot an Pflege vor Ort zu gestalten.
Ein Bundesprogramm soll eine Anschubfinanzierung für Kommunen
bereitstellen, die sich hier auf den Weg machen. Leistungen der Pfle-
geversicherung sollen bedarfsgerecht, wohnformunabhängig und als
persönliches Budget verfügbar sein. Jemanden zu pflegen verdient
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN127Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
unsere Anerkennung und die Unterstützung der Gesellschaft. Deshalb
wollen wir Menschen, die Verantwortung für Angehörige, Nachbar*in-
nen oder Freund*innen übernehmen, mit der PflegeZeit Plus beson-
ders unterstützen. Wir ermöglichen damit allen Erwerbstätigen eine
Lohnersatzleistung bei dreimonatigem Vollausstieg und dreijährigem
Teilausstieg, die pflegebedingte Arbeitszeitreduzierungen finanziell
abfedert.
Eine doppelte Pflegegarantie
Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen müssen immer
mehr eigenes Geld für ihre Versorgung aufbringen. Wir wollen, dass
pflegebedürftige Menschen die für sie notwendigen Pflegeleistungen
erhalten, ohne von Armut bedroht zu sein. Mit einer doppelten Pfle-
gegarantie wollen wir die Eigenanteile schnell senken und dauerhaft
deckeln. So garantieren wir, dass die selbst aufzubringenden Kosten
verlässlich planbar werden. Die Pflegeversicherung soll alle über die-
sen Betrag hinausgehenden Kosten für eine bedarfsgerechte (ambu-
lante wie stationäre) Pflege tragen. Mit einer solidarischen Pflege-
Bürger*innenversicherung wollen wir dafür sorgen, dass sich alle mit
einkommensabhängigen Beiträgen an der Finanzierung des Pflege-
risikos beteiligen.
Arbeitsbedingungen in der Pflege und der
Gesundheitsversorgung verbessern
Pflegekräfte leisten einen unschätzbaren Beitrag für unsere Gesell-
schaft. Menschen, die im Alter, aufgrund einer Behinderung oder bei
Krankheit Unterstützung brauchen, wünschen sich zu Recht Pflege-
kräfte, die sich professionell und mit Sorgfalt um sie kümmern können.
Aktuell müssen Beschäftigte in medizinischen Berufen zu oft über ihre
Belastungsgrenzen hinaus arbeiten. Unterbesetzung, Überstunden,
physische und psychische Überforderung sind Alltag, nicht nur in Pan-
demiezeiten. Darunter leiden alle, Patient*innen wie Pflegende. Diese
Arbeitsbedingungen wollen wir verbessern. Dafür braucht es nicht nur
mehr Lohn, Arbeitsschutz und Anerkennung – sondern vor allem mehr
Kolleg*innen und mehr Zeit. Wir wollen durch verbindliche, bedarfs-
gerechte Personalbemessung – auch in der Langzeitpflege –, die bes-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN128Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
sere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mehr eigenverantwortli-
che Arbeit von Fachkräften, den Abbau unnötiger Bürokratie und die
Ermöglichung neuer Arbeitszeitmodelle, etwa der 35-Stunden-Woche
in der Pflege bei vollem Lohnausgleich, Arbeitsbedingungen schaffen,
unter denen viele Menschen – ganz neu, weiter oder wieder – gerne
in der Pflege arbeiten. Die Ausnahmen im Arbeitszeitgesetz für den
Gesundheitsbereich wollen wir beschränken, um Überlastung vorzu-
beugen und den Personalverlust im medizinischen und pflegerischen
Bereich einzudämmen. Für potenziell traumatisierende Ereignisse
braucht es eine Stärkung der psychosozialen Unterstützung für alle
Gesundheitsberufe. Wertschätzung braucht auch Löhne, die sie bezeu-
gen – am besten über gute Tarifverträge. Wir wollen die soziale Pfle-
geversicherung verpflichten, nur noch mit Anbietern zusammenzuar-
beiten, die nach Tarif bezahlen. Um die Attraktivität der Pflegeberufe
nachhaltig zu steigern, wollen wir Ausbildung, Selbstorganisation,
Einflussmöglichkeiten der professionellen Pflege und ihre Strukturen
auf Bundesebene stärken, beispielsweise durch eine Bundespflege-
kammer und vor allem durch starke Mitspracherechte im Gemeinsa-
men Bundesausschuss und in anderen Entscheidungsgremien. Das
Studium der Pflegewissenschaften und der Pflegepädagogik sowie
Forschung in der Pflege wollen wir finanziell und strukturell unter-
stützen. Für die Arbeit von migrantischen Haushaltshilfen und Betreu-
ungskräften wollen wir einen gesetzlichen Rahmen entwickeln, der
Rechte und Pflichten für beide Seiten (Pflegehaushalt und Carebe-
schäftigte) definiert.
Palliative und hospizliche Versorgung ausbauen,
selbstbestimmtes Sterben regeln
Zu einem Leben in Würde gehört auch ein Sterben in Würde. Pati-
ent*innen und deren Angehörige müssen ausführlich über Krankheit
und Behandlungsoptionen aufgeklärt werden, sodass Entscheidun-
gen getroffen werden können, mit denen sie sich wohlfühlen. Hierfür
wollen wir bundesweite Aufklärungsprogramme zu Patient*innenver-
fügungen und Vorsorgevollmachten anstoßen. Eine bedarfsgerechte
Palliativversorgung von Schwerstkranken und Sterbenden jeden
Alters muss überall gewährleistet sein. Wir werden die stationären
Hospize und ambulanten SAPV- und Kinder-SAPV-Teams stärken und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN129Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
ausbauen. Die Wahrung der Selbstbestimmung bis ans Lebensende
schließt selbstbestimmtes Sterben ein. Wir setzen uns dafür ein, dass
der Bundestag entsprechend der Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts in freier Abstimmung den mit einem Schutzkonzept
verbundenen Zugang zur Sterbehilfe regelt.
Für eine verantwortungsvolle Drogen- und Suchtpolitik
Wir wollen einen Wechsel in der Drogenpolitik, der Gesundheits-
und Jugendschutz sowie die Befähigung zum eigenverantwortlichen
Umgang mit Risiken in den Mittelpunkt stellt. Grüne Drogenpolitik
beruht auf den vier Säulen Prävention, Hilfe, Schadensminimierung
und Regulierung. Das heutige Betäubungsmittelrecht ist reformbe-
dürftig. Auf dem Schwarzmarkt existiert kein Jugend- und Verbrau-
cherschutz. Wer abhängig ist, braucht Hilfe und keine Strafverfolgung.
Grundsätzlich soll sich die Regulierung von Drogen an den tatsäch-
lichen gesundheitlichen Risiken orientieren. Wir wollen Kommunen
ermöglichen Modellprojekte durchzuführen und sie dabei unterstüt-
zen, zielgruppenspezifische und niedrigschwellige Angebote in der
Drogen- und Suchthilfe auszubauen. Hierzu zählen etwa aufsuchende
Sozialarbeit, Substanzanalysen (Drug Checking), Substitutions- und
Diamorphinprogramme (auch in Haftanstalten) und Angebote für
Wohnsitzlose sowie die bessere Vermittlung in ambulante und sta-
tionäre Therapie. Wir wollen Hindernisse für die Substitution durch
Ärzt*innen und Ambulanzen abbauen. Wir stärken die Suchtprävention
mit modernen Ansätzen und digitalen Medien unter Einbeziehung der
Zielgruppe, auch für Alkohol, Medikamente und Tabak. Den Nichtrau-
cherschutz wollen wir stärken. Für Drogen soll nicht geworben wer-
den. Das derzeitige Verbot von Cannabis verursacht mehr Probleme,
als es löst. Deshalb werden wir dem Schwarzmarkt den Boden entzie-
hen und mit einem Cannabiskontrollgesetz auf der Grundlage eines
strikten Jugend- und Verbraucherschutzes einen regulierten Verkauf
von Cannabis in lizenzierten Fachgeschäften ermöglichen und klare
Regelungen für die Teilnahme am Straßenverkehr einführen. Die Ver-
sorgung mit medizinischem Cannabis wollen wir verbessern und die
Forschung dazu unterstützen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN130Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir schaffen bezahlbaren Wohnraum
Ein Recht auf Wohnen ins Grundgesetz
Alle Menschen brauchen angemessenen Wohnraum. Wohnen ist ein
Menschenrecht. Aber es wird immer schwieriger, überhaupt Wohnun-
gen zu finden. Und die Mieten und Immobilienpreise steigen vieler-
orts immer noch weiter. Großstädte teilen sich immer stärker in Ein-
kommensstadtteile auf, Innenstädten geht das Leben verloren. Viele
Städte brauchen eine Neuausrichtung hin zu einem gemeinwohlori-
entierten Wohnungsmarkt. Deshalb gilt es zu handeln, damit gerade
auch Familien, Studierende, Menschen mit Behinderungen, ältere
Menschen oder Geringverdiener*innen nicht in Bedrängnis geraten,
sondern gut und sicher wohnen können. Wir wollen das Recht auf
Wohnen ins Grundgesetz aufnehmen. In Deutschland sind derzeit –
nach Schätzungen – etwa 700.000 Menschen wohnungslos, 40.000
von ihnen leben ohne Obdach auf der Straße, mehr und mehr junge
Menschen, Frauen und Familien. Um diesen Zustand zu beenden, wol-
len wir ein nationales Aktionsprogramm zur Vermeidung und Bewäl-
tigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auflegen. Dabei ist der
Housing-First-Ansatz ein zentraler Baustein, bei dem Obdachlose in
eine Wohnung einziehen können, ohne sich zuvor für Hilfe „qualifizie-
ren“ zu müssen. Kein Mensch soll ohne Obdach und eine dauerhafte
würdevolle Unterbringung sein. Zudem werden wir einen Wohn- und
Mietengipfel einberufen, der einen echten Dialog auf Augenhöhe
zwischen den Mieter*innen-Vertretungen, der Wohnungswirtschaft
sowie Bund, Ländern und Kommunen schafft und gemeinsam neue,
zukunftsfähige wie soziale Konzepte erarbeitet.
Krisenbedingte Wohnungsverluste verhindern
Wir wollen Mieter*innen und Familien wie Lebensgemeinschaften
mit selbstgenutztem Wohneigentum entlasten und vor einem kri-
senbedingten Verlust der eigenen Wohnung bewahren. Die Möglich-
keit, die Miete oder Kreditrate nachzuzahlen, soll Kündigungen und
Zwangsräumungen abwenden. Zwangsräumungen auf die Straße darf
es nicht geben. Wir wollen kostenfreie Mieter*innenberatungen und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN131Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
die Schuldner*innenberatung in den Kommunen ausbauen. Bei kri-
senbedingten Einkommensausfällen soll ein Programm der KfW Bank
(„Sicher-Wohnen-Programm“) eine finanzielle Unterstützung von Mie-
ter*innen und Kreditnehmer*innen sicherstellen. Vermieter*innen, die
auf diese Mietzahlungen angewiesen sind, sollten dann eine staat-
liche Unterstützung erhalten.
Neue Gemeinnützigkeit für sozialen Wohnraum
Wir wollen neuen Wohnraum schaffen – und zwar vor allem fami-
liengerecht und öffentlich, sozialraum- und gemeinwohlorientiert.
Stattdessen gehen immer noch viele weitere Sozialwohnungen ver-
loren – rund 100 jeden Tag. Wir werden deshalb die Mittel für den
sozialen Wohnungsbau deutlich erhöhen und verstetigen, statt sie
zu kürzen. Wir werden die Kommunen unterstützen, ihre bestehen-
den Wohnungsgesellschaften und gemeinwohlorientierten Bauge-
nossenschaften zu stärken und neue zu gründen. Dazu werden wir
mit einer neuen Wohngemeinnützigkeit für eine Million zusätzliche
Mietwohnungen sorgen, sicher und auf Dauer. Die noch vorhandenen
bundeseigenen Bestände sollen nicht mehr an private Investor*innen
veräußert, sondern ausschließlich verbilligt an Kommunen mit einer
dauerhaften Sozialbindung abgegeben werden. So wollen wir in den
nächsten zehn Jahren den Bestand an Sozialwohnungen um eine Mil-
lion erhöhen. Zudem wollen wir Kommunen ermöglichen, mehr sozia-
len Wohnungsbau in Bebauungsplänen festsetzen zu können.
Starke Mieter*innen, faire Mieten
Viele Menschen geben einen immer größeren Anteil ihres Einkom-
mens für ihre Wohnung aus, viele können sich ihre Mieten nicht
mehr leisten. Unser Ziel sind deshalb faire und bezahlbare Mieten
und starke Rechte für Mieter*innen. Es wird ein bundeseinheitliches
Gesamtkonzept benötigt, das in einem Bundesgesetz gewährleistet,
dass Mietobergrenzen im Bestand ermöglicht werden und die Miet-
preisbremse entfristet und deutlich nachgeschärft wird. Unnötige
Ausnahmen, beispielsweise beim möblierten Wohnen, schaffen wir
ab. Reguläre Mieterhöhungen sollen auf 2,5 Prozent im Jahr inner-
halb des Mietspiegels begrenzt werden. Dazu wollen wir qualifizierte
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN132Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Mietspiegel stärken, verbreiten und rechtssicher ausgestalten. Zur
Berechnung sollen die Mietverträge der letzten 20 Jahre herangezo-
gen werden. Wir streben an, die Modernisierungsumlage weiter abzu-
senken und auf maximal 1,50 Euro pro Quadratmeter zu begrenzen,
damit energetische Sanierungen perspektivisch warmmietenneutral
möglich sind. Innerhalb eines solchen Gesamtkonzepts soll es im BGB
ermöglicht werden, in Regionen mit einem angespannten Wohnungs-
markt landesgesetzliche Regelungen dann zu treffen, wenn sie min-
destens den Vorgaben des Gesamtkonzepts entsprechen. Dies muss
selbstverständlich verfassungsfest geschehen. Die Umlagefähigkeit
der Grundsteuer auf Mieter*innen schaffen wir ab. Außerdem setzen
wir auch auf flächensparendes Wohnen, damit der bestehende Wohn-
raum besser genutzt wird. So wollen wir es beispielsweise Mieter*in-
nen erleichtern, ihre Wohnungen samt den bestehenden Verträgen zu
tauschen. Das Umwandlungsverbot im Baugesetzbuch und den Mili-
euschutz auszuweiten sind weitere Instrumente. Dazu stärken wir das
kommunale Vorkaufsrecht auf Basis eines Ertragswerts, der bezahl-
bare Mieten sichert und spekulative Wertsteigerungen unterbindet.
Mietwucher muss – nach § 5 Wirtschaftsstrafgesetz – auch tatsächlich
geahndet werden. Eigenbedarfskündigungen sollen zudem deutlicher
als heute auf die tatsächliche Nutzung durch die Eigentümer*innen
und die nahen Verwandten beschränkt werden, um Missbrauch zu
unterbinden. Wir prüfen, inwiefern es möglich ist, in angespannten
Wohnungsmärkten bei besonders schutzwürdigen Personengruppen
Eigenbedarfskündigungen ganz auszuschließen. Um die Gemein-
schaften der Mieter*innen zu stärken und die Gemeinwohlorientie-
rung auf dem Wohnungsmarkt umzusetzen, wollen wir echte Mitbe-
stimmungsrechte und -instrumente entwickeln.
Immobilienspekulation und Geldwäsche
am Wohnungsmarkt beenden
Wohnen ist ein soziales Grundrecht und der Wohnungsmarkt darf kein
Ort für Spekulant*innen sein. Zu häufig werden Immobilien zur Geld-
wäsche genutzt, das gilt es zu beenden. Wir planen, Transparenz durch
ein Immobilienregister der Eigentümer*innen einzuführen, die Grund-
bücher auch für Journalist*innen, Nichtregierungsorganisationen und
die Bewohner*innen der Immobilien kostenfrei zugänglich zu machen
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN133Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
und Bargeld beim Immobilienkauf zu verbieten. Außerdem wollen wir
den Missbrauch von sogenannten „Share Deals“ zur Steuerumgehung
beenden und setzen auf eine anteilige Besteuerung des Immobilien-
besitzes bei Unternehmensverkäufen. Veräußerungsgewinne aus pri-
vaten Immobiliengeschäften müssen angemessen besteuert werden.
Die Spekulation mit Bauland soll unterbunden werden. Wenn in Kom-
munen große Wohnungsnot herrscht, ergibt sich daraus eine Pflicht
für Eigentümer*innen, Grundstücke zu bebauen, statt auf höhere
Preise zu spekulieren. Auch gegen Fehlnutzungen und spekulativen
Leerstand von Wohnraum werden wir verstärkt vorgehen. Wir wollen
zudem im Baugesetzbuch die Möglichkeit einer Ausgleichsabgabe
zugunsten der Kommunen eröffnen.
Grund und Boden gemeinwohlorientiert
Grund und Boden unterscheidet sich von anderen Gütern, weil sie prin-
zipiell nicht vermehrbar und gleichzeitig unverzichtbar sind. Steigende
Preise von Grund und Boden haben steigende Bau- und Wohnkosten
zur Folge, was wiederum zu Verdrängung führt. Bei Fehlentwicklun-
gen ergibt sich hieraus eine besondere Verpflichtung, staatlich einzu-
greifen. Wir wollen erreichen, dass die öffentliche Hand wieder eine
strategische und gerechte Bodenpolitik betreibt. Der Bund soll seine
eigenen Immobilien nicht länger meistbietend verkaufen, sondern
gezielt die Schaffung von bezahlbarem und nachhaltigem Wohnraum,
kulturellen, sozialen und gemeinwohlorientierten Einrichtungen för-
dern. Dafür wollen wir die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben in
einen gemeinnützigen Bodenfonds umwandeln. Der Fonds kauft neue
Flächen strategisch zu und überträgt sie an gemeinwohlorientierte
Träger. Die Flächen sollen bevorzugt in Erbpacht vergeben werden, um
Sozialwohnungen dauerhaft sichern zu können. Werden sie veräußert,
sollen Kommunen und kommunale Wohnungsgesellschaften ein Erst-
zugriffsrecht erhalten. Die Einnahmen des Fonds fließen nicht in den
Haushalt, sondern werden für den Zukauf weiterer Flächen verwendet.
Erwerb von Wohneigentum erleichtern
Wohneigentum ist für viele Menschen ein Wunsch, der wegen explo-
dierender Immobilienpreise in den meisten Regionen des Landes
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN134Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
immer schwerer zu erfüllen ist. Wir wollen den Erwerb von Wohn-
eigentum – auch im Bestand – erleichtern. Deshalb soll das Prinzip
„Wer den Makler bestellt, bezahlt“ genauso für Immobilienkäufe ein-
geführt werden, so wie es für Maklerprovisionen bei Vermietungen
bereits gilt. Wir streben an, die Courtage deutlich zu reduzieren, damit
sie nicht auf verstecktem Weg zu noch höheren Kaufpreisen führt.
Dazu wollen wir die Kaufnebenkosten weiter senken, indem wir es
den Ländern ermöglichen, den Steuersatz der Grunderwerbssteuer
beispielsweise für große Wohnungsunternehmen zu erhöhen und für
Selbstnutzende zu senken. Wir wollen Mietkauf für selbstgenutztes
Wohneigentum über die Länder und Kommunen fördern, auch den
Kauf und die Modernisierung leerstehender Wohnungen und Aus-
bauten zu günstigem Wohnraum unterstützen wir. Beteiligungen an
Genossenschaften und den gemeinschaftlichen Erwerb durch Mie-
ter*innen, beispielsweise im Rahmen des Mietshäusersyndikats und
anderer gemeinschaftlicher Projekte, wollen wir unterstützen, zum
Beispiel indem wir unbürokratisch günstige Kredite oder Bürgschaf-
ten gewähren.
Ressourcenschonendes und kreislaufgerechtes Bauen
vorantreiben
Wir können die Klimaziele nur mit einer konsequenten Bauwende
hin zu ressourcenschonendem und nachhaltigem Bauen erreichen.
Bei jeder Städtebau- und Gebäudeplanung sind künftig der gesamte
Stoff- und Energieverbrauch für Bau, Betrieb und späteren Rückbau
umfassend zu berücksichtigen. Eine Lebenszyklusbetrachtung soll
verpflichtend für alle Baumaßnahmen werden, Erhalt und Aufbau
auf Bestehendem bekommt Vorrang vor Neubau. Ziel ist eine kom-
plette stoffliche Wieder- oder Weiterverwertung. Dafür setzen wir
auf eine Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen, ein
Gebäude-Ressourcen-Gesetz und verbindliche Klimaschutzstandards
bei allen gesetzlichen Vorgaben, Normen und Bauordnungen sowie
eine nachhaltige Holzbaustrategie, damit künftig energie- und res-
sourcenschonend und giftfrei gebaut wird. Die öffentliche Hand muss
bei alldem ihrer Vorbildfunktion gerecht werden. Die Forschung an
und Markteinführung von nachhaltigen, klimafreundlichen Bauma-
terialien wollen wir stärken. Holz ist dabei ein wertvoller Rohstoff,
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seinen gezielten und effizienten Einsatz behalten wir im Blick, damit
unsere Häuser nachhaltig, aber zugleich unsere Wälder nicht über-
nutzt werden. Wir fördern außerdem die Digitalisierung von Planen
und Bauen. Um Gebäude kreislaufgerecht planen, bauen und moder-
nisieren zu können, führen wir einen digitalen Gebäude-Materialpass
mit allen relevanten Informationen über die verwendeten Materia-
lien ein – unsere Gebäude und Bauschuttdeponien werden so zu Roh-
stoffminen. Die Reduktion des Flächenverbrauchs bei der Siedlungs-
entwicklung spielt eine zentrale Rolle beim Natur- und Artenschutz.
Mit entsprechenden rechtlichen Vorgaben und Anreizen realisieren
wir den Vorrang der Innenentwicklung und flächensparendes Bauen.
Nicht mehr benötigte versiegelte Flächen werden der Natur zurück-
gegeben. Künftig wird mehr hoch als breit gebaut, Verkehrsflächen
werden reduziert. Flächen, die noch versiegelt werden, müssen orts-
nah durch Entsiegelung ausgeglichen werden. So steigen wir in eine
Flächenkreislaufwirtschaft ein, die letztlich keinen Nettoverbrauch an
Boden mehr benötigt. Wir setzen uns ferner dafür ein, dass § 13 b des
Baugesetzbuches nicht über das Jahr 2022 hinaus verlängert wird.
Wir investieren in lebenswerte
Dörfer und Städte
Regionale Daseinsvorsorge stärken
Für ein gutes, selbstbestimmtes Leben in allen Regionen brauchen
wir eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Einschränkungen
gibt es vielerorts, häufig unterscheiden sie sich von Region zu Region:
Hier fehlt ein Zentrum im Dorf, dort werden in einer Kommune die
Schwimmbäder geschlossen und vielerorts ist das Internet noch viel
zu langsam. Unser Ziel ist es, dass individuelle Entfaltung, demokra-
tische Teilhabe und gesellschaftliches Engagement überall im Land
möglich sind. Wir brauchen gute Infrastruktur und den Zugang zu
öffentlichen Gütern in den Kommunen. Deshalb wollen wir eine neue
Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“ im Grundgesetz
verankern. Regionen, die heute mit großen Versorgungsproblemen zu
kämpfen haben, sollen wieder investieren und gestalten können. Ziel
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Bereit, weil Ihr es seid.
ist, anhand von regionalen Indikatoren in den Bundesländern För-
derregionen auszuwählen und die Stärkung der Kommunen in die-
sen Regionen zu unterstützen. Mit Regionalbudgets geben wir Bür-
ger*innen und Akteur*innen vor Ort die Möglichkeit, ihre Dörfer und
Städte selbstbestimmt zu entwickeln und zu gestalten. Für zentrale
Versorgungsbereiche wie Gesundheit, Mobilität und Breitband wollen
wir nötige Mindeststandards formulieren. Eine inklusive und solida-
rische Gesellschaft braucht Orte des Miteinanders, Orte gegen die
Einsamkeit, Orte des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das kann ein
Marktplatz sein oder ein Familienzentrum, der Jugendclub oder der
Skatepark, die Stadtteilbibliothek, der Kulturbahnhof oder die freie
Bewegungsfläche. Wir erarbeiten gemeinsam mit Expert*innen und
Bürger*innen eine nationale Strategie gegen Einsamkeit. Und wir
wollen mit den Kommunen und Initiativen vor Ort eine Bundesstra-
tegie „Orte des Zusammenhalts“ auf den Weg bringen. Mit Bundes-
einrichtungen in Ostdeutschland und der gezielten Ansiedlung von
neuen Forschungsinstituten werden wir in strukturschwachen Regio-
nen wichtige Impulse setzen. Außerdem unterstützen wir die Idee der
Errichtung eines „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Euro-
päische Transformation“.
Solide Finanzausstattung für Kommunen
Für eine starke kommunale Selbstverwaltung und eine belastbare
öffentliche Daseinsvorsorge braucht es eine solide Finanzausstattung.
Viele Kommunen schaffen es jedoch nicht einmal mehr, den ihnen
übertragenen Pflichtaufgaben wie etwa der Reparatur von Gemeinde-
straßen oder der Schulsanierung nachzukommen. Sie waren bereits
vor der Corona-Krise finanzschwach oder verschuldet und ihr Hand-
lungsspielraum verkleinert sich zunehmend. Das spüren die Men-
schen vor Ort unmittelbar. Wenn keine Finanzmittel für sogenannte
freiwillige Leistungen wie Sport- oder Kultureinrichtungen und deren
Erhaltung übrig ist, hat das Auswirkungen auf das gemeinschaftliche
Leben in den Kommunen und auf das Vertrauen in den Staat. Wir wol-
len die Gemeindefinanzen besser und krisenfester aufstellen. Wenn
Bund und Länder den Kommunen neue Aufgaben zuweisen, müssen
sie auch eine Finanzierung bereitstellen. Wir werden eine faire Unter-
stützung bei den kommunalen Altschulden und bei gemeindlichen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN137Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
krisenbedingten Steuerausfällen umsetzen, um auch hoch verschul-
deten Kommunen wieder eine Perspektive zu geben. Für ihr Schulden-
management sollen die Kommunen auf die Unterstützung des Bun-
des zurückgreifen können, sofern sie dies wünschen. Wir wollen daher,
dass für 2021 und 2022 die Gewerbesteuerausfälle vollständig durch
Bund und Länder übernommen werden. Außerdem wollen wir eine
Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung für Geduldete.
Wir wollen mehr kommunale Investitionen ermöglichen, beispiels-
weise in Klimaschutz, die Verkehrswende, Gründungsinfrastruktur und
Kultureinrichtungen. Dafür soll in einem ersten Schritt der Zugang
zu Fördermitteln einfacher und unbürokratischer werden und sollen
die Hürden für die Teilnahme besonders für finanzschwache Kommu-
nen gesenkt werden. Wir wollen, dass Bund und Länder den Kommu-
nen mit einer gemeinsamen Kompetenzagentur für Förderpolitik und
Investitionen mit Rat und Tat zur Seite stehen und die Umsetzung von
Projekten ermöglichen. Es braucht mittelfristig aber eine grundsätz-
liche Neuordnung der Finanzierung der Kommunen: weg von immer
mehr einzelnen Förderprogrammen, hin zu einer höheren Grundfinan-
zierung, damit vor Ort entschieden werden kann, welche Ausgaben
priorisiert werden.
Innenstädte neu gestalten
Innenstädte und Ortskerne, die man gerne besucht, in denen man
verweilt und andere Menschen trifft, tragen enorm zu unserer Lebens-
qualität bei. Sie bieten kulturellen Austausch und geben dem Leben
in Stadt und Land eine Bühne. Mit einer guten Baukultur wollen wir
Stadtzentren und Ortskerne lebenswerter, attraktiver und auch für
alle Menschen sicherer machen durch neues Wohnen, Gewerbe, Bil-
dung und Kultur. Eine kluge Stadtentwicklungspolitik, nachhaltige
Verkehrskonzepte und ein Städtebaunotfallfonds sind die besten Vor-
aussetzungen, dass auch der Einzelhandel und das Handwerk dort
eine Zukunft haben. Dafür wollen wir die Städtebauförderung neu
ausrichten: für schönere Städte, mehr Stadtgrün und Wasserflächen,
damit man auch in Zeiten immer heißerer Sommer gut in der Stadt
leben kann. Mit zusätzlichen Mitteln für Smart-City-Projekte unter-
stützen wir den Aufbau unabhängiger digitaler Plattformen, mit denen
insbesondere der inhabergeführte stationäre Einzelhandel attraktive
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN138Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
Angebote machen kann. Dazu arbeiten wir gegen Verdrängung und
Leerstand an. Eine Million neue gemeinnützige Wohnungen sollen in
den nächsten Jahren in unseren Städten entstehen. Mit dem „100.000
Dächer und Häuser“-Programm investieren wir in den Dachausbau
und die Modernisierung leerstehender Wohnungen. Dafür braucht es
ausreichend Planer*innen in den Kommunen und Kapazitäten im Bau-
gewerbe. Kleineren Gewerben wie Handwerksbetrieben, sozialen und
Kulturprojekten sowie Clubs wollen wir mit einem Gewerbemietrecht
und über die Baunutzungsverordnung eine zentrale Lage in den Städ-
ten bewahren und neu ermöglichen. Bundeseigene Immobilien sollen
zukünftig nur noch an gemeinnützige, öffentliche oder am Gemein-
wohl orientierte Träger abgegeben werden.
Ländlich leben, digital arbeiten
Das Leben auf dem Land und im Dorf hat viel zu bieten. Grün-
der*innen, Familien oder Freischaffende – alle brauchen schnelles
und zuverlässiges Internet für ihr Leben. Eine ausreichend schnelle
Breitband- und Mobilfunkversorgung gehört zur Daseinsvorsorge.
Das Recht darauf muss jede*r Bürger*in schnell und unbürokratisch
durchsetzen können. Wir schaffen Ankommens- und Bleibeperspekti-
ven für Jung und Alt. Über die Gemeinschaftsaufgabe für Agrar- und
Küstenschutz fördern wir Wohnprojekte für alle Generationen, Co-
Working, die Aktivierung von Leerstand sowie gemeinschaftliche und
genossenschaftliche Wohnformen. Wir schaffen Anreize für die Revi-
talisierung alter Bausubstanzen statt für Neubauten auf der grünen
Wiese und unterstützen Programme und Initiativen zur Umnutzung
von Leerstand, beispielsweise für Co-Working-Spaces, soziale und
kulturelle Einrichtungen oder die Wiederansiedlung von Lebensmit-
telgeschäften in kleinen Ortschaften. Bahnhofsgebäude wollen wir
als gemeinwohlorientierte Räume zu einladenden Mobilitätsknoten-
punkten weiterentwickeln und attraktiver machen. Damit verknüpfen
wir die Bahn mit den Ortschaften. Wir unterstützen die Landespro-
gramme zu Markttreffs: wenn zum Beispiel Supermärkte ihre Flächen
so umbauen, dass sie Café, Bank- und Postfiliale integrieren. Kommu-
nen sollen Zuschüsse bekommen, wenn sie öffentliche Einrichtungen,
Sporthalle, Bibliothek, Spielplatz, Working-Space oder Kino unter dem
Dach eines Kulturzentrums zusammenfassen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN139Kapitel 3
Bundestagswahlprogramm 2021
Schnelles Internet überall
Egal ob Stadt oder Land, ob mobiles Arbeiten, innovative Wirtschaft
oder Unterricht – schnelles Internet ist die essentielle Voraussetzung
für gesellschaftliche Teilhabe sowie gleichwertige Lebensverhältnisse
und gehört für uns zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Mit weniger als
zwei Millionen aktiven Glasfaseranschlüssen ist Deutschland aber in
allen europäischen und internationalen Vergleichen weit abgehängt.
Dabei gehört Glasfaser die Zukunft. Unser Ziel ist schnelles, kosten-
günstiges und zuverlässiges Glasfaserinternet (FTTB) in jedem Haus.
Wir sorgen dafür, dass Fördergelder unbürokratisch dort ankom-
men, wo sie am nötigsten gebraucht werden. Wir stärken den offe-
nen Zugang zu bestehender Glasfaser und bauen Blockaden ab, um
den Ausbau zu beschleunigen. Der umfassende Glasfaserausbau soll
auch im Rahmen von Betreibermodellen vorangetrieben und langfris-
tig gesichert werden. Um den Menschen auch kurzfristig schnellere
Internetzugänge zu ermöglichen, wollen wir einen Rechtsanspruch auf
schnelle Internet-Grundversorgung so ausgestalten, dass er unbüro-
kratisch und leicht durchsetzbar wird. Mit Mindestbandbreiten, die sich
an den Nutzungsgewohnheiten der Menschen orientieren. So sorgen
wir für eine zügige Schließung der weißen Flecken. Die Netzneutrali-
tät wollen wir weiter absichern und konsequent durchsetzen. Und wir
machen Schluss mit der Bandbreiten-Schummelei: Wenn Telekommu-
nikationsunternehmen nicht die versprochenen Download-Geschwin-
digkeiten liefern, soll es unkomplizierten pauschalierten Schadens-
ersatz und hohe Bußgelder geben. Beim Mobilfunkausbau gilt es eine
flächendeckende Versorgung sicherzustellen, egal in welchem Netz
man surft. Wo die Anbieter keine Kooperationsvereinbarungen treffen,
um Funklöcher zu schließen, muss notfalls lokales Roaming angeord-
net werden, natürlich mit entsprechender Vergütung. Bei zukünftigen
Frequenzversteigerungen sollen die Versorgungsauflagen für die Flä-
che so angepasst werden, dass sie mit dem steigenden Bedarf Schritt
halten – insbesondere entlang von Bahnstrecken und Straßen.
Selbstbestimmt im Alter, in Stadt und Land
Wir wollen Selbstbestimmung auch im Alter ermöglichen. Wir wollen
den Abbau von Barrieren in Wohnungen und im Wohnumfeld stärker
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN140Kapitel 3
Bereit, weil Ihr es seid.
finanziell fördern und somit älteren Menschen ermöglichen, länger
als bisher in ihrer vertrauten Umgebung selbstbestimmt wohnen zu
bleiben. Gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht Selbstbestimmung.
Wir verfolgen den generationenfreundlichen Ansatz der „Age-friendly
Cities and Communities“ der Weltgesundheitsorganisation – auch
für ältere Menschen in Stadt und Land und im digitalen Raum. Den
wollen wir mit einem Programm fördern, bei dem Ansprechstellen
und Gemeindezentren über altersgerechtes Wohnen, Weiterbildungs-
angebote, Pflege und soziale Sicherung sowie Möglichkeiten, sich
im Dorf oder im Stadtteil zu engagieren, informieren. Um die Teil-
habe auch in der digitalen Welt zu verbessern, wollen wir Initiativen
praktischer Bildung und Anwendung im Lebensumfeld und in den
Treffpunkten älterer Menschen wie Nachbarschaftszentren und Bib-
liotheken fördern. Zur Selbstbestimmung gehört auch, den eigenen
Bedürfnissen entsprechend mobil zu sein, unabhängig vom eigenen
Pkw. Dafür muss das Nahverkehrsangebot in den Städten und auf
dem Land ausgebaut und intelligent vernetzt sowie mit intelligen-
ten On-Demand-Systemen wie beispielsweise Rufbussen ergänzt
werden. Es braucht flächendeckend barrierefreie Zugänge zu allen
öffentlichen Verkehrsmitteln und die Wege zu ÖPNV und Nahversor-
gung sollen mit genügend Möglichkeiten zum Ausruhen und „Kräfte-
sammeln“ ausgestattet werden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN141Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
Kapitel 4:
Bildung und Forschung
ermöglichen
Bildung ermöglicht. Von Anfang an gibt Bildung Kindern, jungen Men-
schen und Erwachsenen bis ins hohe Alter die Möglichkeit, sich zu
entfalten. Altes zu hinterfragen und Neues zu entdecken. Bildung und
Inklusion schaffen die Grundlagen, den eigenen Weg im Leben selbst-
bestimmt gehen zu können. In zukunftsgerichteter Bildungspolitik,
Aus- und Weiterbildung, in visionärer Forschung und kluger Wissen-
schaftspolitik liegt unendlich viel Potenzial, um dieses Land gerechter,
moderner und krisenfester zu machen. Deshalb brauchen wir sozial
diverse und inklusive Schulen, in denen junge Menschen so lange
wie möglich gemeinsam lernen. Bildung für nachhaltige Entwicklung
(BNE) sowie die klassische Umweltbildung sind der Schlüssel zur
notwendigen gesellschaftlichen Transformation. Sie befähigt Men-
schen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln, zur Gestaltung und
Teilhabe an einer demokratischen und pluralen Gesellschaft sowie
zum Verstehen der Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt.
BNE ermöglicht den Menschen, sich aktiv an der Gestaltung einer
ökologisch verträglichen, wirtschaftlich leistungsfähigen und sozial
gerechten Gesellschaft zu beteiligen.
Ein gutes Bildungssystem ist essenziell für gleiche Lebenschan-
cen und Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft. Aber viel zu
sehr hängt der Lebenslauf in Deutschland noch von der Familie, dem
Namen oder dem Wohnort ab statt von den eigenen Fähigkeiten. Und
die Pandemie verschärft die ohnehin zu große soziale Ungleichheit:
Wo Kinder und Jugendliche auf wenig Förderung von zu Hause hoffen
können, wo der Zugang zu Laptops oder Tablets fehlt und kein Eltern-
teil helfen kann, drohen sie dauerhaft den Anschluss zu verlieren. Die
Kinder und Jugendlichen, die am stärksten von der Krise getroffen wur-
den, benötigen daher die meiste Unterstützung. Doch auch insgesamt
führten die Schulschließungen zu einer Bildungslücke quer durch
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN142Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
alle Jahrgänge, es fehlten das gemeinsame Lernen, die Gespräche, das
Zusammensein auf dem Pausenhof, was sich bei Kindern und Jugend-
lichen auch auf die kognitive und soziale Entwicklung auswirken kann.
Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie besondere Verzichts-
leistungen erbracht – die Einschränkung von Kontakten trifft sie in
ihren Entwicklungsmöglichkeiten härter als Erwachsene. Wir sind es
ihnen schuldig, sie endlich in den Mittelpunkt von Politik zu stellen.
Gleiche Lebenschancen für alle Kinder heißt, dass wir uns für
gemeinsames Lernen und individuelle Förderung für alle Kinder von
der KiTa (Kita und Kindertagespflege) bis zum Schulabschluss einset-
zen. Die soziale Spaltung zwischen Schulen sowie KiTas möchten wir
überwinden, auch durch gezielte Investitionen des Bundes, die lokal
verteilt werden. Denn wir wollen KiTas und Schulen, in die Kinder und
Jugendliche, aber auch Erzieher*innen und Lehrer*innen gleicherma-
ßen gerne gehen. Und zwar egal ob auf dem Land oder in der Stadt, ob
in ärmeren oder reicheren Vierteln. Erzieher*innen und Lehrer*innen
sind jederzeit systemrelevant, diese Wertschätzung sollte sich in ihrer
Arbeit, ihrer Bezahlung und in der Ausstattung widerspiegeln. Schulen
sollen attraktive Orte sein. Dafür brauchen sie nicht nur schnelles
Internet und saubere Toiletten, sondern auch zeitgemäße Raumkon-
zepte mit genügend Platz für vielfältige und inklusive Lernformen.
Multiprofessionelle Teams sollen Kindern in ihren unterschiedlichen
Bedürfnissen bestmögliche Unterstützung bieten. Dafür brauchen sie
gute Aus- und Weiterbildung, sichere Berufswege und einen guten
Lohn. Kulturelle Bildung muss zu einem elementaren Bestandteil
unseres Bildungssystems werden. Da die Weichen am Anfang gestellt
werden, müssen dorthin auch die meisten Ressourcen fließen. Vor
allem für KiTas und den Primarbereich werden wir die Investitionen
deutlich erhöhen, auch um den Sanierungsstau an Schulgebäuden
zu beheben. Zur bundesweiten Förderung von Schüler*innen bedarf
es einer einfachen Fördermittelbeantragung durch die Schulen ohne
bürokratische Hürden des Bundes.
Bildung ist ein Recht für jedes Alter und jeden Lebensweg. Ein
Lebenslauf lässt sich nicht am Reißbrett planen, darum müssen unsere
Bildungswege flexibel und durchlässig sein. Abitur auf dem zweiten
Bildungsweg, der Beginn einer Lehre mit Mitte 30 oder der erste Stu-
dienabschluss überhaupt in der Familie – das alles muss möglich sein
und darf nicht davon abhängen, ob es von zu Hause finanzielle Unter-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN143Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
stützung gibt. Ob Ganztags- oder Abendschule, ob duale Berufsbil-
dung, Weiterbildung oder Studium, ganz gleich, ob als Handwerker*in
am Bau, als Angestellte*r im Büro, freiberuflich oder selbständig im
eigenen Betrieb: Wir unterstützen die vielfältigen Lebensbahnen und
die dazu passenden Bildungsverläufe. Dem Trend, dass eine wach-
sende Zahl von Schüler*innen ohne Abschluss die Schule verlässt,
wollen wir entgegenwirken.
Auch die Auszubildenden und Student*innen leiden unter den
Auswirkungen der Pandemie. Sicher geglaubte Ausbildungsplätze
sind weggefallen, manche Studierende haben noch nie einen Hör-
saal von innen gesehen. Gerade weil dies eine entscheidende Lebens-
phase der Neuorientierung ist, stehen wir in der Pflicht, Sicherheit und
Perspektiven zu schaffen. Alle Studierenden, die durch die Pandemie
in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, sollen im Rahmen einer
Nothilfe über das BAföG Unterstützung erhalten. Studienkredite hal-
ten wir aufgrund des Verschuldungsrisikos für kein geeignetes Unter-
stützungsmittel. Für alle, die eine Ausbildung anstreben, wollen wir
einen guten Ausbildungsplatz und eine gute Ausbildung garantieren.
Um die großen Krisen einzudämmen – die Klimakrise, Pande-
mien –, sind Kreativität, Forschungsgeist sowie die Transformation
unseres Bildungs- und Wissenschaftssystems die Grundlage. Damit
Innovationen der Allgemeinheit zugutekommen, muss für die Entwick-
lung auch öffentliche Infrastruktur zur Verfügung stehen. Ein gutes
Leben wird auch künftig möglich sein, weil Wissenschaftler*innen,
Künstler*innen und Forscher*innen in Betrieben, Hochschulen und
außeruniversitären Einrichtungen permanent und mit Leidenschaft
an neuen Ideen arbeiten, an Antworten auf Fragen, die wir noch gar
nicht gestellt haben. Aber sie können neuartige Impf- oder alternative
Antriebsstoffe, neue ökonomische Wohlstandskonzepte oder nachhal-
tige Geschäftsmodelle nur dann entwickeln, wenn sie eine gut ausge-
stattete Forschungsumgebung haben und sie Neues mit ungewissem
Ausgang erforschen und ausprobieren können. Sie brauchen für ihre
Arbeit optimale und verlässliche Bedingungen, unnötige bürokrati-
sche Hürden sollten wir abbauen. Wissenschaftliche Kooperationen
mit den europäischen Partner*innen, vor allem unter den Hochschu-
len, tragen maßgeblich zur Attraktivität und Innovationsdynamik des
deutschen Wissenschaftssystems bei, deshalb wollen wir sie stärker
fördern. Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik wollen wir
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN144Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
vermehrt zusammen denken, um den Europäischen Forschungs- und
Hochschulraum mit Leben zu füllen und Quellen zukünftigen Wohl-
stands zu begründen.
Wissenschaft zeigt immer wieder neue Denkhorizonte und Mög-
lichkeiten auf und ändert so den Lauf der Dinge. Sie gibt eine zent-
rale Orientierung für politisches Handeln, das zeigen Klimakrise und
Pandemie. Aber in Zeiten von Informationsfilterblasen und Verschwö-
rungsideologien werden wissenschaftliche Erkenntnisse öffentlich in
Zweifel gezogen. Nötig ist ein verständlicher und interdisziplinärer
Wissenschaftsdialog, der Wissenschaft und Gesellschaft näher zusam-
menbringt – durch partizipative Formate und Förderung der Wissen-
schaftskommunikation.
Wir fördern gute Bildung von Anfang an
Für jedes Kind einen KiTa-Platz in einer guten KiTa
Egal, aus welcher Ecke Deutschlands und aus welchem Elternhaus,
alle Kinder brauchen die Chance auf ein gutes und geborgenes Auf-
wachsen. KiTas haben einen entscheidenden Anteil daran. Als Orte
früher Bildung schaffen sie Halt, wecken Neugier, vermitteln Freude
am Zusammensein mit Gleichaltrigen und begleiten beim Großwer-
den. Aus Neugier und Entdeckungslust wird hier der Grundstein für
Lernen und Kompetenzerwerb gelegt. Sie sind die erste Stufe des
Bildungssystems. Jedes einzelne Kind hat eigene Bedürfnisse und
braucht individuelle Förderung, auf die in der KiTa eingegangen
wird. Mit einem Bundesqualitätsgesetz sorgen wir dafür, dass Spit-
zenqualität in die Einrichtungen kommt, denen wir unsere Kleinsten
anvertrauen. Diese Spitzenqualität muss sich auch in einer entspre-
chenden Infrastruktur abbilden. Kinder brauchen Bewegung und aus-
reichende Bewegungsflächen. Die Zeit, die Fachkräfte für die Kinder
haben, ist entscheidend dafür, dass sich Kinder wohlfühlen und indi-
viduell gefördert werden können. Deshalb wollen wir mit Mindest-
standards sicherstellen, dass sich Erzieher*innen und andere päda-
gogische Fachkräfte um höchstens vier unter Dreijährige oder neun
Kinder ab drei Jahren gleichzeitig kümmern. Inklusive Einrichtungen
benötigen abhängig vom Förderbedarf der Kinder einen besseren
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN145Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
Betreuungsschlüssel. Darüber hinaus müssen sie genügend Zeit für
Vor- und Nachbereitung, Zusammenarbeit mit Familien, Netzwerkar-
beit im Sozialraum und Fortbildungen haben. Den Fachkräften in den
KiTas stärken wir den Rücken mit Fachberatung, Supervisions- und
Mentoring-Programmen, Lernortkooperationen und Unterstützung
für berufliche Weiterentwicklung innerhalb des KiTa-Systems. Damit
alle Kinder einen Platz in einer guten und inklusiven KiTa bekommen
können, wollen wir das Engagement des Bundes beim Platzausbau
weiterführen und verstärken. Eltern, insbesondere Alleinerziehenden,
ermöglicht ein Kinderbetreuungsplatz gesellschaftliche wie beruf-
liche Teilhabe. Der KiTa-Platz muss den Lebens- und Arbeitsrealitäten
von Eltern gerecht werden. Auch bei Schicht- und Wochenendarbeit
muss es Angebote geben.
Mehr Fachkräfte in KiTas, Horten und Schulen
Die pädagogischen Fachkräfte in KiTas, Horten oder Schulen tra-
gen eine hohe Verantwortung, denn sie prägen den Lebensweg von
Kindern bereits in sehr frühen Jahren entscheidend mit. Doch diese
Verantwortung spiegelt sich noch nicht ausreichend in der Bezah-
lung der Fachkräfte wider. Für die wichtige Arbeit, die Erzieher*innen,
Lehrkräfte und andere Pädagog*innen im Bildungssystem und in der
Jugendhilfe leisten, brauchen sie einen guten Lohn und gute Arbeits-
bedingungen. Mit einer wirkungsvollen Fachkräfteoffensive wollen
wir zudem für faire Ausbildungsvergütungen, Weiterentwicklungs-
möglichkeiten und gute Arbeitsbedingungen sorgen, dabei darf die
Ausbildung zum Erzieherinnenberuf nicht am Schulgeld scheitern.
Um den Mangel an pädagogischen Fach- und Lehrkräften mit gut qua-
lifiziertem Personal nachhaltig bewältigen zu können, wollen wir mit
einem Bund-Länder-Programm hochwertige Quereinstiegsbildung
fördern, bestehende Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote
stärken und gemeinsame Qualitätsstandards sichern.
Recht auf einen Ganztagsplatz für jedes Grundschulkind
und gute Lernbedingungen an weiterführenden Schulen
Schulen sollen starke Orte der Bildung, der Begegnung und der Inspi-
ration sein. Dafür brauchen sie motivierte Fachkräfte, gut ausgestat-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN146Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
tete barrierefreie Räume und Zeit. Zeit für gemeinsames Lernen und
Spielen, Forschen und Entdecken, gemeinsame kulturelle, soziale und
demokratische Erfahrungen, Sprach- und Bewegungsförderung, indi-
viduelle Förderung und Betreuung. Dafür sind Ganztagsplätze in einer
Grundschule oder einem Hort und gute Lernbedingungen an weiter-
führenden Schulen wichtig. Unser Ziel ist, einen individuellen Rechts-
anspruch für jedes Grundschulkind auf Ganztagsbildung und -betreu-
ung mit Qualitätsstandards umzusetzen – mit genügend Fachkräften
in multiprofessionellen Teams, anregenden Räumen und Schulhöfen,
einem gesunden Mittagessen und einer breit gefächerten Zusammen-
arbeit mit Vereinen, Musikschulen und anderen Akteur*innen vor Ort.
Derartige Kooperationen wollen wir finanziell unterstützen. In der
Gestaltung des Ganztages ist die Jugendhilfe ein wichtige Partnerin
der Schulen, da im Ganztag neben dem schulischen Lernen die infor-
melle Bildung unerlässlich ist. Leitbild sind integrierte Ganztagskon-
zepte für eine umfassende Persönlichkeitsbildung. Es gilt, Ganztag
und gute weiterführende Schulen für alle Kinder zu ermöglichen, ob
mit Behinderungen oder ohne. Wir bekennen uns zum Bewegungs-
ziel der WHO, die körperliche Inaktivität von Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen bis 2030 um 15 Prozent zu senken. In jedem Ganz-
tag soll mindestens ein Bewegungsangebot zur Auswahl stehen. Der
Anspruch auf Integrationshilfe muss überall gelten – über die indi-
viduelle Hilfe oder über eine Poollösung, gleich ob in der Ganztags-
schule oder bei Hortangeboten durch die Jugendhilfe. Die Arbeitsbe-
dingungen und die Entlohnung der Integrationshelfer*innen sollen
ihre anspruchs- und verantwortungsvolle Tätigkeit widerspiegeln.
Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen dürfen keine
zusätzlichen Kosten entstehen. Die Umsetzung des Rechtsanspruchs
wird ein gesamtdeutscher Kraftakt. Das muss sich in der Beteiligung
des Bundes an den Kosten widerspiegeln. Um alle Grundschulen auf
ihrem Weg zu inklusiven Orten der Ganztagsbildung zu unterstützen,
werden wir ein Begleitprogramm zur Förderung einer integrierten,
professionsübergreifenden Schulentwicklung auf den Weg bringen
und damit Koordinierungsstellen fördern. Langfristig wollen wir die
Schulsozialarbeit ausbauen und flächendeckend als Bestandteil des
Ganztags verankern.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN147Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
Corona-Rettungsschirm für Kinder und Jugendliche
Die Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen, gerade bei Kindern, die
es zu Hause auch davor schon schwerer hatten. Sommercamps und
Nachhilfe in den Kernfächern alleine werden nicht ausreichen, um die
Folgen der Krise zu bewältigen. Wir wollen die Kinder und Jugendli-
chen in den Mittelpunkt rücken. Sie brauchen jetzt eine helfende Hand,
ein offenes Ohr und freie Räume, um den Weg in ihr normales Leben
zurückzufinden. Dafür bauen wir Sport-, Erlebnis-, und Kulturangebote
aus und stärken die Beratung und Einzelfallhilfe für Schüler*innen
sowie die Vermittlung von Wissen zur psychischen Gesundheit und zu
Krisen an Schulen. Mit Mentor*innen, Bildungslots*innen, Schulsozial-
arbeiter*innen und Psycholog*innen knüpfen wir ein sicheres Netz
an breiter Unterstützung, um die psychische Gesundheit von unse-
ren Kindern und Jugendlichen nachhaltig besser zu schützen. Jedes
zusätzliche Angebot für die Krisenbewältigung soll die Qualität an
KiTas, Horten und Ganztagsschulen langfristig voranbringen.
Programm für Schulen in benachteiligten Regionen
und Quartieren
Bildungschancen sind Zukunftschancen. Jedes Kind hat ein Recht
auf eine gute Schule, egal, wo es lebt. Der Alltag sieht aber anders
aus. Wir wollen dauerhafte Finanzierungswege für mehr Bildungs-
gerechtigkeit schaffen, um Regionen oder Quartiere mit Schulen mit
besonderem Unterstützungsbedarf zu stärken. Nachhaltige Bildungs-
erfolge ergeben sich nur durch die abgestimmte Zusammenarbeit
aller am Bildungsprozess beteiligten Institutionen und Menschen
und durch langfristige Finanzierungswege. Wir fördern multiprofes-
sionelle Teams, in denen sich Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen,
Erzieher*innen, Schulpsycholog*innen und weitere in der Schule
oder Region tätige Fachkräfte gegenseitig ergänzen und mit unter-
schiedlichen Perspektiven bereichern, um die Schüler*innen und ihre
Familien bestmöglich unterstützen zu können. Dazu gehört es, syste-
matische Vorsorgearbeit zu leisten, Lernrückstände zu schließen und
deutsche wie auch muttersprachliche Sprachfertigkeiten zu fördern.
Mehrsprachigkeit sollte als Reichtum begriffen werden und nicht als
Defizit. Alle Akteur*innen kooperieren auf Augenhöhe. So werden
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN148Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
auch die Partizipation der Schüler*innen und die Kooperation mit
Eltern verbessert und Schulen werden zu Unterstützungsorten für die
ganze Familie. Wir wollen die psychische Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen nachhaltig besser schützen. Schüler*innen sollen sich
wohlfühlen können und sich in der Schule sicher fühlen. Nicht nur
im Klassenzimmer, sondern auch auf dem Pausenhof, in den Gängen
und in den sanitären Räumlichkeiten. Darum wollen wir in eine bes-
sere Lernumgebung und höhere Bildungsqualität investieren. Welche
Maßnahmen für Bildungsgerechtigkeit, auch im internationalen Ver-
gleich, gut funktionieren, soll wissenschaftlich intensiver eruiert und
mit Handlungsempfehlungen versehen werden.
Bildung auf die Höhe der Zeit bringen
Bildung in der digitalen Welt ist viel mehr als Wissensvermittlung,
sie ist ein Schlüssel für Zukunftskompetenzen. Die Digitalisierung hat
unsere Art zu leben verändert, also muss sich auch unsere Art, Schule
zu denken, wandeln. Dazu gehören selbstverständlich auch Berufs-
schulen und -kollegs. Mit Lehrer*innen, die Kompetenzorientierung
in den Mittelpunkt des Lernens rücken, Schüler*innen, die sich spie-
lerisch, zum Beispiel durch Game-based Learning, kooperativ neue
Inhalte erschließen, und Schulen, die dafür technisch optimal auf-
gestellt sind. Dabei müssen sowohl das technische Grundverständnis
als auch die soziale Dimension der digitalen Entwicklung Thema sein.
Allerdings hat die Pandemie gezeigt, dass es schon an den Grundlagen
fehlt, auch im Vergleich mit anderen Ländern. Das wollen wir ändern:
mit einer zeitgemäßen, datenschutzfreundlichen digitalen Ausstattung
und mit Strukturen, die die Schulen beim digitalen Lehren und Lernen
wirkungsvoll unterstützen – mit kontinuierlichen Fort- und Weiter-
bildungsangeboten für das pädagogische Fachpersonal sowie einem
zentralen Ort der Beratung und des Austauschs zur Bildung in einer
digitalen Welt. Hauptberufliche Administrator*innen sind notwendig,
um die technische Infrastruktur an Schulen aufzubauen und zu pfle-
gen. Wir wollen dies im Rahmen der Befugnisse des Bundes fördern.
Gemeinsam mit den Ländern wollen wir die digitale Ausbildung der
Lehrer*innen verbessern. Wir wollen, dass Tablet oder Laptop selbst-
verständliche Lernmittel sind. Unser Ziel ist es, allen Schüler*innen
neue Arten des Lernens zu ermöglichen und sie auch auf eine selbst-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN149Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
bestimmte und gesunde Teilhabe in einer digitalisierten Welt vorzu-
bereiten. Dafür wollen wir Anwendungen wie quelloffene und sichere
Lernplattformen oder Videokonferenzsysteme umfassend fördern und
setzen uns für die Umsetzung des Rechts auf Löschung personenbe-
zogener Daten für Kinder ein. Zukunftskompetenzen wie Kooperation,
Kommunikation, Kreativität und kritisches Denken werden immer rele-
vanter. Diese Zukunftskompetenzen möchten wir so fördern, wie es am
pädagogisch sinnvollsten ist, ob digital oder analog. Dazu gehört auch
die Förderung der MINT-Themen an Schulen. Durch die Digitalisierung
ist Bildung weniger ortsgebunden: Neue Freiräume für überregionale
und internationale Kooperationen mit Bildungs- und Kultureinrich-
tungen entstehen. Um das alles umzusetzen, wollen wir auch den
DigitalPakt zu einem echten gemeinsamen Vorhaben nachhaltig und
dauerhaft weiterentwickeln – mit klaren Zielen und Zeithorizonten, die
gemeinsam im Rahmen der jeweiligen Verantwortung von Bund, Län-
dern und Kommunen erreicht werden sollen.
Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) stärken
Wir fördern die Umsetzung des UNESCO-Programms Bildung für nach-
haltige Entwicklung, das weltweit die Integration von BNE in alle Bil-
dungsnetzwerke und auf kommunaler Ebene vorantreiben soll. BNE
ist deshalb in allen Bildungsphasen und Bildungsbereichen gemäß
des nationalen Aktionsplans BNE zu verankern. Um Anreize für Kom-
munen zu schaffen, werden in Kooperation mit den Ländern lokale
und regionale Bildungsnetzwerke initiiert und unterstützt. Das vom
Bund geförderte BNE-Kompetenzzentrum begleitet bereits rund 50
der über 10.000 Kommunen in Deutschland. Es muss gestärkt werden,
um mehr Kommunen Angebote machen zu können.
Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern
Unser Ziel ist ein Bildungssystem, das überall und für alle gute Aus-
gangsbedingungen für eine gebührenfreie, zukunftsgerichtete und
inklusive Bildung sichert und unabhängig von Geschlecht, Herkunft,
Aufenthaltstitel oder Behinderungen gleiche und gerechte Chan-
cen garantiert. Für notwendige Maßnahmen braucht es einerseits
eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Länder, andererseits
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN150Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
wollen wir die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kom-
munen verfassungsrechtlich absichern. So sollen Schulen zu Orten
werden, die – verankert in der Nachbarschaft – auf die Entwick-
lung der jeweiligen Potenziale der Kinder ausgerichtet sind. Schu-
len brauchen dafür eigene Entscheidungsspielräume. Grundlage all
dessen ist jedoch eine kluge, vorausschauende, mehr Flexibilität
ermöglichende Bildungsfinanzierung, vor allem in den Grundschu-
len und KiTas, da hier die Basis gelegt wird. In Abstimmung mit den
Ländern setzen wir uns für moderne, nachhaltige und einheitlichere
Bildungsziele und die Umsetzung des grundgesetzlich verbrieften
Sonderungsverbots ein. In der KiTa sowie allen Schulformen müssen
Kinder und Jugendliche sich frei entwickeln können und vor Dis-
kriminierung geschützt sein. Sie brauchen dafür Ansprechpersonen
und es braucht Bildungsprogramme zu Antidiskriminierung, Diversi-
tät, LSBTIQ* und Demokratieverständnis.
Wir stärken Ausbildung und Studium
Sichere Ausbildungsperspektiven
Trotz enormen Fachkräftemangels sinkt die Zahl der jungen Men-
schen, die eine Berufsausbildung beginnen. Gleichzeitig landen
immer mehr in den Warteschleifen des Übergangssystems. Die duale
Ausbildung muss auf sichere Beine gestellt werden. Wir wollen mit
der Ausbildungsgarantie allen jungen Menschen den Beginn einer
anerkannten Ausbildung ermöglichen und das Recht auf Ausbildung
absichern. Dafür fördern wir verstärkt Verbundausbildungen und
nutzen, wo notwendig, auch außerbetriebliche Ausbildungen. Unter-
nehmen, die ausbilden wollen, unterstützen wir über eine Umlage-
finanzierung. So kann es gelingen, dass Betriebe ermutigt werden,
weiterhin und verstärkt auszubilden, und junge Menschen – gerade
in ländlichen Regionen – erhalten eine Bleibeperspektive. Mit dem
Ausbau und der Verbesserung der inklusiven assistierten Ausbildung
und ausbildungsbegleitender Hilfen wollen wir mehr Jugendliche in
Ausbildung unterstützen. Einzelne Ausbildungsbausteine sollen als
Teilqualifikationen zertifiziert und anerkannt werden können, damit
keine Leistung auf dem Weg zum vollwertigen Berufsabschluss verlo-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN151Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
ren geht. Zudem wollen wir uns bei den zuständigen Stellen dafür ein-
setzen, dass Prüfungen in leichter Sprache vermehrt möglich gemacht
werden. Damit alle Jugendlichen am Übergang von der Schule in den
Beruf gute Beratung und in der Anfangsphase ihrer Ausbildung eine
gute Betreuung aus einer Hand und unter einem Dach erhalten, unter-
stützen wir den Ausbau flächendeckender Jugendberufsagenturen.
Wir werden die Berufsberatung und die Leistungen zur Förderung der
beruflichen Qualifizierung bis zur beruflichen Ersteingliederung bün-
deln und gemeinsam mit der Arbeitsagentur stärken.
Gleichwertige Chancen durch berufliche und
akademische Bildung
In Deutschland gibt es hochwertige Bildungswege, sowohl an Hoch-
schulen als auch im dualen Berufsbildungssystem. Wir wollen, dass
berufliche und akademische Bildung gleichwertige Chancen auf eine
selbstbestimmte Lebensplanung und ein erfolgreiches Arbeitsle-
ben bieten und eine echte Wahlfreiheit für junge Menschen besteht.
Sowohl Ausbildung als auch Studium vermitteln wertvolle und viel-
fältig einsetzbare Fähigkeiten. Dafür müssen alle berufsbildenden
Schulen gut ausgestattet sein und Ausbildungen müssen ein eigen-
ständiges Leben oberhalb der Armutsgrenze ermöglichen. Deshalb
setzen wir uns für eine Mindestausbildungsvergütung von mindes-
tens 80 Prozent der durchschnittlichen, tariflichen Ausbildungsver-
gütungen ein. Abschlussvoraussetzungen für die Eingruppierung in
Entgeltgruppen des öffentlichen Dienstes im gehobenen und höhe-
ren Dienst wollen wir im Bund flexibilisieren und die Gleichwertigkeit
von beruflicher und akademischer Bildung bei Ausschreibungen der
Bundesbehörden stärken. Daneben sind Talentscouting-Programme
genauso wie die Begabtenförderung unabhängig vom Bildungsgang
auszubauen. Ausbildung und Studium sind Zeit Neues zu entdecken.
Deshalb sollen mehr Auslandsaufenthalte für Auszubildende und Stu-
dierende ermöglicht werden. Ebenso wollen wir Studium und Ausbil-
dung für Menschen aus dem Ausland erleichtern. Wir unterstützen die
Aufstockung der europäischen Förderprogramme wie ERASMUS+ und
möchten, dass mindestens 10 Prozent der Auszubildenden einen Aus-
landsaufenthalt antreten können. So internationalisieren wir neben
der akademischen auch die berufliche Bildung.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN152Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
Eine Grundsicherung in Ausbildung und Studium
Wir wollen, dass sich jede*r eine schulische Ausbildung oder ein Stu-
dium leisten kann, unabhängig von der Einkommens- und Vermögens-
situation der Eltern. Dafür wollen wir das BAföG neu aufsetzen und
zu einer Grundsicherung für alle Studierenden und Auszubildenden
umbauen. Sie soll in einem ersten Schritt aus einem Garantiebetrag
und einem Bedarfszuschuss bestehen, der den Gesamtbetrag im Ver-
gleich zum heutigen BAföG substanziell erhöht und dem Großteil des
in Frage kommenden Personenkreises zugutekommt. Studierende
oder Auszubildende bekommen den Betrag direkt überwiesen. Pers-
pektivisch soll sie elternunabhängig gestaltet sein. Da nicht jeder Bil-
dungsweg linear ist oder zum Teil berufsbegleitend verläuft, wollen
wir die Bildungsfinanzierung noch stärker altersunabhängig konzipie-
ren. Ein Schritt in diese Richtung ist die Einführung eines Weiterbil-
dungs-BAföGs. Menschen mit Behinderung erhalten weiter gehende,
unbürokratische Unterstützung. Studien- und Verwaltungsgebühren
an staatlichen Hochschulen lehnen wir ab. Die studentische Kranken-
versicherung wollen wir, insbesondere mit Blick auf die Alters- und
Semestergrenzen, weiterentwickeln. Solange die Regelstudienzeit
relevant für die Studienfinanzierung ist, soll Engagement von Stu-
dierenden durch verbesserte Anrechnungsmöglichkeiten von ehren-
amtlicher Arbeit gefördert werden. Wir wollen Studierende und ihre
Vertretungen auf Bundesebene stärker einbeziehen und ihre Mitspra-
chemöglichkeiten in hochschul- und wissenschaftspolitischen Fragen
ausbauen. Dafür wollen wir zum Beispiel auf Bundesebene den Weg
bereiten, eine Vertretung aller Studierenden einzuführen. Sie soll von
Studierenden vollständig selbst verwaltet werden und unabhängig
von anderen Institutionen agieren.
Wir ermöglichen lebensbegleitendes Lernen
Ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung
Die Möglichkeit zur beruflichen Neuorientierung und der Freiraum,
Neues zu lernen, sind in einer modernen Wissensgesellschaft und
Arbeitswelt im Umbruch, die Chancen bieten soll, unerlässlich. Auch
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN153Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
durch die Corona-Pandemie ist bei vielen die Notwendigkeit entstan-
den, sich neue Arbeitsfelder zu erschließen. Wir wollen, dass jede*r,
egal ob arbeitslos, selbständig oder angestellt, künftig selbstbestimmt
neue berufliche Perspektiven entwickeln kann. Wir treten daher für
einen individuellen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und Quali-
fizierung ein. Zur sozialen Absicherung ist für arbeitsmarktbedingte
Weiterbildungen und Qualifizierungen ein auskömmliches Weiterbil-
dungsgeld nötig, für alle anderen, die sich beruflich entwickeln oder
neuorientieren wollen, ein Weiterbildungs-BAföG. So profitieren auch
diejenigen, die bei der beruflichen Weiterbildung und Qualifizierung
bislang das Nachsehen haben, etwa Frauen, Menschen mit Migrati-
onsgeschichte oder Behinderungen und alle prekär Beschäftigten. Um
abhängig Beschäftigten die Zeit für eine berufliche Qualifizierung und
Weiterbildung einzuräumen, wollen wir einen Freistellungsanspruch
mit Rückkehrrecht auf den vorherigen Stundenumfang einführen.
Daneben werden wir für eine verbesserte und gebündelte Beratung
und Unterstützung Bildungsagenturen aufbauen. Dort sollen sich die
relevanten regionalen Träger von Weiterbildung vernetzen. Wir setzen
uns für gute Arbeitsbedingungen und faire Vergütung in der Weiter-
bildung ein und wollen die Volkshochschulen und ähnliche öffent-
liche und gemeinnützige Bildungseinrichtungen als wichtige Part-
ner*innen der Weiterbildung unterstützen.
Alphabetisierung vorantreiben
Immer noch können mehr als gut sechs Millionen Menschen ab 18
Jahren in Deutschland nicht ausreichend lesen und schreiben. Sie
haben also Schwierigkeiten, ganze Texte zu verstehen und sind somit
in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe beeinträchtigt. Diese Zahlen sind
100 Jahre nach Einführung der allgemeinen Schulpflicht und in einer
der reichsten Industrienationen der Welt nicht hinnehmbar. Wir wol-
len Geld und Kurskapazitäten bereitstellen – für Erwachsene, aber
auch für Kinder. Denn die Ursachen liegen oft schon im Vorschulalter.
Wir wollen konkrete Reduktionsziele für Analphabetismus festlegen
und evaluieren. In öffentlichen Bereichen wollen wir die barrierefreie
Kommunikation fördern, um allen Menschen gesellschaftliche Teil-
habe zu ermöglichen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN154Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir verbessern die Bedingungen
für die Wissenschaft
Mehr Raum für große Ideen
Die großen Herausforderungen unserer Zeit wie die Klimakrise, Pan-
demien oder auch eine effizientere Nutzung von Rohstoffen kön-
nen wir nur mit der Hilfe von innovativen Lösungen und Fortschritt
bewältigen. Der Markt kann dabei nicht alles allein. Bei der Lösung
solch großer Aufgaben muss der Staat Innovationen missions-
orientiert vorantreiben. Er soll klare Zielvorgaben machen, Anreize
schaffen, Kooperationen von Unternehmen, Hochschulen und Zivil-
gesellschaft organisieren und mit gezielter Forschungsförderung
und strategischer Industrie- und Beschaffungspolitik Dynamik ent-
fachen. Ein Hochschul-Campus wird hier zum Experimentierraum
für reale Veränderungen, der stark mit seiner Umgebung vernetzt
ist und Strahlkraft in die ganze Region entwickelt. Große Probleme
können nur gemeinsam und umfassend gelöst werden. Wir wollen
deshalb die Förderpolitik des Bundes an den VN-Nachhaltigkeits-
zielen (SDGs) ausrichten. Die zivile Ausrichtung von Wissenschaft
ist zentral. Technische, soziale und ökologische Innovationen, die
auch in der sozial-ökologischen Forschung verbunden sind, sind für
uns gleichwertig. Wir wollen die dringend notwendige nachhaltige
Transformation auch durch den Auf- und Ausbau von Forschungs-
verbünden und -infrastrukturen in Deutschland und Europa voran-
treiben. Die „Agentur für Sprunginnovation“ (SprinD) soll flexibler
ausgestaltet werden, damit sie sich auf ihre Kernaufgaben konzen-
trieren kann. Insgesamt wollen wir die Kompetenz für Wissenschaft
und Forschung in allen Ministerien sowie den zentralen, obersten
Bundesbehörden stärken und die ressortübergreifende Zusammen-
arbeit bei den großen Forschungsherausforderungen verbessern.
Unsere Behörden sollen nachhaltigen Wandel ermöglichen und nicht
bremsen. Auch den unabhängigen Zugang zum All, wo die Raumfahrt
wichtige Erkenntnisse über fundamentale Fragen gewinnt, gilt es zu
erhalten. Deshalb wollen wir die Europäische Weltraumorganisation
(ESA) und den Bereich New Space stärken und uns für einen europäi-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN155Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
schen und neuen internationalen Rechtsrahmen einsetzen, der auch
private Akteur*innen reguliert.
Die Wissenschaft auskömmlich finanzieren
Wir wollen die Verantwortung übernehmen, Deutschland als Wis-
sensgesellschaft voranzubringen, beste Bedingungen für Forschung
und Innovation zu schaffen und die Vielfalt des Wissenschaftssys-
tems stärken. Dazu gehören herausragende außeruniversitäre For-
schungseinrichtungen genauso wie breit aufgestellte Hochschulen
mit Spitzenforschung. Wir wollen erreichen, dass Staat und Unterneh-
men bis 2025 insgesamt mindestens 3,5 Prozent der Wirtschaftsleis-
tung in Forschung und Entwicklung investieren und perspektivisch
die Investitionen weiter ausbauen. So ermöglichen wir mehr Krea-
tivität, Freiräume, auch mal Neuland zu betreten, und internationale
Vernetzung und schaffen Planbarkeit für die Forschungslandschaft.
Außerdem brauchen wir eine auskömmliche Grundfinanzierung in
der Wissenschaft, um die Abhängigkeit von den in den letzten Jahren
stark gestiegenen Drittmitteln wieder einzudämmen. Damit die ein-
gesetzten Drittmittel zusätzliche Dynamiken freisetzen können, wol-
len wir öffentliche Drittmittel länger als die üblichen drei Jahre auf-
setzen und die übernommenen Overheadkosten an den tatsächlich
anfallenden Kosten orientieren. International sichtbare universitäre
Spitzenforschung soll auch vermehrt den Studierenden zugutekom-
men und wir wollen die Exzellenzstrategie kooperativ weiterentwi-
ckeln. Mit den Ländern wollen wir den Zukunftsvertrag Studium und
Lehre sowie den Pakt für Forschung und Innovation verstetigen und
qualitativ voranbringen. Auskömmliche und nachhaltige Finanzierung
erhöht auch in zukünftigen Krisen die Reaktionsfähigkeit des Wissen-
schaftssystems. Denn die Zukunft unseres Landes hängt auch davon
ab, wie flexibel und frei unsere Forschungslandschaft ist.
Wissenschaft für alle
In Zeiten von Informationsfilterblasen und Verschwörungsideologien
einerseits und epochalen neuen Herausforderungen andererseits ist
wissenschaftliche Beratung und die verständliche Vermittlung wis-
senschaftlicher Methodik wichtiger für die demokratische Debatte
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN156Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
denn je. Die Fähigkeiten des richtigen Umgangs mit Informationen
und wissenschaftlichen Erkenntnissen sind fundamental für eine auf-
geklärte Gesellschaft. Eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft
durch partizipative und vernetzende Formate, ein sicherer Zugang zu
Informationen für alle sowie die verständliche Vermittlung wissen-
schaftlicher Erkenntnisse sind Voraussetzungen für ein konstrukti-
ves, sich gegenseitig stimulierendes Verhältnis von Wissenschaft und
Gesellschaft. Außerdem wollen wir die Wissenschaftskommunikation
stärken und die Aus- und Weiterbildung von Wissenschaftler*innen in
diesem Bereich fördern. Durch mehr partizipative Formate wie Realla-
bore, Citizen-Science oder Experimentierräume kann die Gesellschaft
besser an Forschungsvorhaben teilhaben. Das bringt weitere Perspek-
tiven ein und hilft, reale Veränderungsprozesse wissenschaftlich zu
begleiten. Im Kontext wissenschaftsgeleiteter Politik wollen wir inter-
und transdisziplinäre wissenschaftliche Expertise frühzeitiger – etwa
durch „Gesetzgebungslabore“ – in die Politikentwicklung einbeziehen.
Die Technikfolgenabschätzung und das Monitoring der gesellschaft-
lichen Folgen politischer Maßnahmen sollten ausgebaut werden, um
Entscheidungsträger*innen zu unterstützen.
Hochschule fit für morgen machen
Wir wollen an Hochschulen eine nachhaltige, klimagerechte und bar-
rierefreie Modernisierung ermöglichen, die auch digitale Infrastruktur
und die IT-Sicherheit mit einschließt. Wir werden sie dabei unterstüt-
zen, neue Lösungen für den Klimaschutz zu entwickeln und vor Ort als
Reallabore für Klimaneutralität Ideen praktisch erproben zu können.
Darüber hinaus werden wir über eine Digitalisierungspauschale die
IT-Infrastruktur an Hochschulen stärken und die IT-Barrierefreiheit
einfordern, Aus- und Weiterbildung der Lehrenden ausbauen und digi-
tale Beratungs- und Betreuungsangebote für Studierende ausweiten.
Der Zugang zu Forschungs- und Bildungsdaten soll erleichtert und
FAIR Data das Grundprinzip werden. Wir wollen zudem Open Access
bei Publikationen zum Standard erklären und als wissenschaftliche
Leitidee stärker fördern und zusammen mit der Wissenschaft voran-
treiben. Die dadurch anstehende Reform der Finanzierung wissen-
schaftlicher Publikationen darf nicht zu Lasten der Forscher*innen
oder ihrer Einrichtungen gehen. Hochschulen sind Zukunftslabore für
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN157Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Als Schlüsselakteur*innen
unseres Innovations- und Bildungsökosystems tragen sie die Verant-
wortung für die Bildung der Gestalter*innen unserer Zukunft und für
die Erneuerungsfähigkeit von Wissenschaft und Gesellschaft. Wir wol-
len die nationale Forschungsdateninfrastruktur stärken und die Chan-
cen der europäischen Cloud für Wissenschaft und Forschung ergreifen.
Zu einer zukunftsfesten Infrastruktur an den Hochschulen gehören
moderne Bibliotheken, Lehr- und Lernräume, die klimafreundliche
Sanierung von in die Jahre gekommenen Hochschulbauten sowie
Nachhaltigkeit und Klimaschutz für Neubauten in der Wissenschaft.
Auch wollen wir den Nationalen Aktionsplan „Bildung für Nachhal-
tige Entwicklung“ vollumfänglich umsetzen und auch an den Hoch-
schulen die Entwicklung neuer Lehr- und Lernformate unterstützen,
um den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit
begegnen zu können. Wir wollen die Einheit von Forschung und Lehre
an den Hochschulen stärken. Um gute Lehre für alle Studierenden
sicherzustellen, wollen wir Betreuungsrelationen verbessern und die
„Stiftung Innovation in der Hochschullehre“ stärken, um beste Praxis
in die Fläche zu bringen. Gute Lehre ist für uns studierendenzent-
riert, forschungs- und projektorientiert, sie basiert auf Methoden- und
Perspektiven-Vielfalt, sie stärkt Neugierde und Gestaltungskompe-
tenz. Gemeinsam mit den Ländern wollen wir darauf hinwirken, dass
Studierende Zugang zu guten Beratungsdienstleistungen haben. Mit
einer Offensive für studentisches Wohnen fördern und sichern wir
günstigen Wohnraum für Studierende.
Bessere Arbeitsbedingungen und sichere Berufswege
Sichere Arbeitsbedingungen und gleiche Karrierechancen für alle
sind die Voraussetzungen für eine lebendige und innovative Wissen-
schaftslandschaft, die auch für Wissenschaftler*innen aus dem Aus-
land attraktiv ist. Für Nachwuchswissenschaftler*innen gibt es vor
allem an Hochschulen jedoch kaum planbare und sichere Berufswege.
Das gefährdet den Forschergeist und verschleudert Potenziale bei
Innovation, Leistung und Qualität. Und es ist für die Betroffenen eine
Zumutung. Wir wollen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz weiter-
entwickeln und den Anteil der unbefristeten Mitarbeiter*innen-Stel-
len, insbesondere im Mittelbau, substanziell erhöhen. Daueraufgaben
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN158Kapitel 4
Bereit, weil Ihr es seid.
sollen auch mit Dauerstellen gesichert sein. Hierzu gehören unbefris-
tete Berufswege neben der Professur, um Hierarchien abzubauen und
die kooperativen Arbeitsweisen in der Wissenschaft zu stärken. Die
Qualifizierung im Rahmen der Sachgrundbefristung wollen wir klar
definieren und die familienpolitische Komponente verbindlich ausge-
stalten. Die Tarifsperre soll entfallen. Das Tenure-Track-Programm wol-
len wir weiterentwickeln, damit frühzeitig nach der Promotion sichere
Berufswege entstehen. Gerade in der Lehre werden viele Aufgaben
weiterhin oft über schlecht bezahlte Lehraufträge abgedeckt. Wir wol-
len den Stellenwert der Lehre erhöhen und dafür entfristete Stellen
schaffen. Die Wissenschafts- und Hochschullandschaft ist immer noch
vorwiegend männlich, weiß, westdeutsch und von Menschen aus aka-
demischen Elternhäusern geprägt und bildet somit die Vielfalt der
Gesellschaft nur unzureichend ab. Dadurch gehen wichtige Potenziale
und Perspektiven verloren. Das wollen wir durch die gezielte Förde-
rung von Diversität an Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen,
Förderformate für Diversitäts- und Antidiskriminierungspolitik, chan-
cengerechte Zugänge, gleichberechtigte Integration, Inklusion und
Perspektivenvielfalt ändern, damit sich die gesellschaftliche Vielfalt
auch auf dem Campus widerspiegelt. Nur ein Viertel aller Professuren
in Deutschland sind durch Frauen besetzt. Hinzu kommt, dass viele
junge Wissenschaftlerinnen nur in befristeten Arbeitsverhältnissen
sind. Dies sind strukturelle Hindernisse, die es abzubauen gilt. Wir wol-
len einen Frauenanteil von mindestens 40 Prozent auf allen Ebenen
durch die Einführung konkreter Zielquoten, eine Strategie für die bes-
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Wissenschaftsbereich, die
Einführung eines verbindlichen Kaskadenmodells sowie den Ausbau
des Professorinnenprogramms erreichen. In allen Beschäftigungsver-
hältnissen wollen wir flexible Arbeitszeitmodelle ermöglichen, die es
erlauben, Care- und Familienarbeit zu leisten. Eine größere Diversität
in der Wissenschaft hilft auch, geschlechterspezifische Datenlücken
zu verringern und neue Perspektiven einzubringen.
Wissenschaftsfreiheit verteidigen
Politisches Handeln in der geistigen Tradition der Aufklärung sowie
die Orientierung an den Erkenntnissen der Wissenschaft stehen
immer stärker unter Druck, auch in Deutschland. Dem stellen wir uns
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN159Kapitel 4
Bundestagswahlprogramm 2021
entgegen und wollen gemeinsam mit den Wissenschaftsorganisatio-
nen Strategien gegen menschenfeindliche, diskriminierende und ver-
schwörungsideologische Anfeindungen gegen Wissenschaftler*innen
entwickeln. Wir wollen weltweit verfolgte Wissenschaftler*innen und
Studierende hier in Deutschland und auf EU-Ebene besser schützen
und ihnen im Exil eine Perspektive bieten. Dazu wollen wir die vor-
handenen Programme und Initiativen vom Bund besser finanzieren
und koordinieren sowie einen gemeinsamen europäischen Fonds
aufbauen. Die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen
und die Visavergabe sollen vereinfacht werden. Konsequent werden
wir Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit in anderen Staaten der
EU, etwa in Ungarn, widersprechen und uns für die Sanktionierung
im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus einsetzen. Die Stärkung
der Wissenschaftsfreiheit muss zentraler Aspekt der Außenpolitik
sein. Dafür wollen wir die Außenwissenschaftspolitik ausbauen und
die Mittlerorganisationen der auswärtigen Kultur- und Bildungs-
politik besser finanzieren. Sensible Daten sowie die Forscher*innen,
die diese für ihre Arbeit nutzen, wollen wir vor behördlichem Zugriff
schützen. Es muss wirksamen Schutz gegen Anfeindungen geben, wie
sie mittlerweile auch Forscher*innen und ausländische Studierende
häufig erleben. Ein kritischer Diskurs und eine Vielfalt an Meinungen
innerhalb der Hochschulen und der Wissenschaft sind Voraussetzung
für eine demokratische, pluralistische Gesellschaft. In Zeiten zuneh-
mender Polarisierung gesellschaftlicher Debatten sind wir auf die
Wissenschaft als sachlich-rationalen Diskursraum angewiesen. Auch
kontroverse Themen und Fragen müssen in diesem Raum konstruktiv
erörtert werden können.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN160Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Kapitel 5:
Zusammen leben
Unsere vielfältige Gesellschaft ist stark. Weil Menschen sich engagie-
ren, beim Sport, bei der freiwilligen Feuerwehr, in Musikschulen, in
religiösen Gemeinden oder am Sorgentelefon, Junge für Alte, Alte für
Junge. Weil es ein breites Kulturangebot gibt, eine vielfältige Medien-
landschaft. Weil die Jugend sich einmischt, weil Menschen in Kom-
munalparlamenten Verantwortung übernehmen, sich Bürger*innen in
Foren einbringen und das Schicksal ihrer Orte in die Hand nehmen.
Aber Demokratie ist nie fertig. Unser demokratisches Zusammen-
leben in Deutschland und Europa ist ein Versprechen, das wir immer
wieder neu erfüllen müssen. Es verspricht gleiche Entfaltungsmög-
lichkeiten und Rechte für alle, die hier leben. Für Demokratie, Frei-
heit und Toleranz sind mutige Menschen in der Vergangenheit auf die
Straße gegangen: Bürgerrechtler*innen, Umweltbewegte, Friedens-
aktivist*innen und Frauenrechtler*innen. Und auch in der Gegenwart
kämpfen Menschen für eine vielfältige, offene und tolerante Gesell-
schaft. Bündnisgrüne Politik knüpft daran mit einem gesamtdeut-
schen Blick an, der die Besonderheiten der Regionen anerkennt. Es
ist oft anstrengend, teils eine Zumutung, wenn andere Ansichten und
Werthaltungen akzeptiert und respektiert werden müssen, wenn es
den einen zu schnell und den anderen zu langsam vorangeht. Aber
vor allem ist es eine Stärke: zuhören, den Dialog suchen, inhaltlich
ringen. So haben wir als demokratische Gesellschaft die Herausfor-
derungen der letzten Jahrzehnte gemeistert. Nun gilt es mit voller
Gleichberechtigung und mehr Beteiligung unsere liberale Demokra-
tie zu stärken, in Deutschland und in Europa, auf den Straßen, in den
Parlamenten, und unsere Institutionen fit zu machen für die Aufgaben
dieses Jahrzehnts.
Menschen sind unterschiedlich, aber gleich in ihrer Würde und
ihren Rechten. Nur wenn Würde und gleiche Rechte unverhandel-
bar sind, wenn alle Menschen in unserer Gesellschaft, in unserem
Europa gleichen Schutz und gleiche Chancen haben und ihre Rechte
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN161Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
in Anspruch nehmen können, kommen Freiheit und Sicherheit – indi-
viduelle und gesellschaftliche – heraus und wird Gerechtigkeit beför-
dert. Dieser Anspruch ist jedoch noch nicht voll verwirklicht. Wenn mit
Frauen die Hälfte der Bevölkerung nicht gleichberechtigt beteiligt,
repräsentiert und bezahlt wird und Menschen noch immer Diskrimi-
nierung, Rassismus und Antisemitismus erleben, ist die Demokratie
nicht vollkommen. Nötig sind mehr Zugänge, mehr Teilhabe, mehr
Selbstwirksamkeit und mehr Repräsentanz, zum Beispiel für Men-
schen in prekären Lebensverhältnissen, Menschen mit Migrationsge-
schichte oder mit Behinderung. Eine gleichberechtigte Gesellschaft
braucht Politik, die Strukturen verändert.
Rassismus trifft uns nicht alle, aber er geht uns alle an. Wenn wir
als Gesellschaft lernen, Vielfalt als kulturellen, gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Reichtum zu begreifen, schützen wir uns gegensei-
tig vor Gewalt, Hetze, Ausgrenzung, Frauenhass, Queerfeindlichkeit
und Rassismus. Aber das reicht noch nicht. Wir wissen, dass aus dis-
kriminierenden Worten Taten werden. Die Angriffe von Demokratie-
feind*innen, insbesondere von rechts, treffen unsere demokratische
Gesellschaft bis ins Mark. Sie zielen auf Menschen beim Beten, beim
ausgelassenen Beisammensein oder in den Institutionen des Staates.
Ihnen muss mit einer antirassistischen und antifaschistischen Hal-
tung klar entgegengetreten werden. Unsere Demokratie muss wehr-
haft dagegenhalten, mit einer starken Zivilgesellschaft, selbstbewuss-
ten Parlamenten, einer gut ausgestatteten und bürger*innennahen
Polizei und einer schnell handlungsfähigen, unabhängigen Justiz. Es
ist Aufgabe der Politik, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Wie wir unser Zusammenleben gestalten, hängt stark vom Zusam-
menspiel zwischen Bürger*innen und dem Staat ab. Wenn Menschen
beteiligt und gehört werden, geht Planung schneller. Wenn Jugend
mitentscheidet, werden Entscheidungen besser und zukunftsfester.
Wenn Gleichberechtigung und Vielfalt herrschen, werden sie ausge-
wogener und nachhaltiger. Wir wollen deshalb mehr Möglichkeiten
schaffen, damit Menschen sich einbringen können.
Immer mehr Herausforderungen sind europäisch und global. Sie
bewältigen wir nur in einer starken Europäischen Union, die Hand-
lungswillen und Handlungsfähigkeit zusammenbringt und die von
ihren Bürger*innen aktiv und demokratisch mitgestaltet wird. Darum
denken wir unsere Demokratie konsequent europäisch, wollen diese
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN162Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
vertiefen und stärken, lähmende Blockaden strukturell überwinden –
und so Zukunftsfragen beherzt angehen. Unser Fixstern für die Wei-
terentwicklung der Europäischen Union ist die Föderale Europäische
Republik mit einer europäischen Verfassung.
Die Pandemie hat etliche Defizite bei ihrer Bekämpfung wie unter
dem Brennglas offenbart: Faxgeräte im Dauerbetrieb, fehlendes Per-
sonal und überbordende Bürokratie verhindern ein effektives staat-
liches Handeln. Unser Ziel ist ein moderner, engagierter Staat, der mit
einer effizienten, zugänglichen Verwaltung transparent, offen und in
der Lage ist, Krisen effektiv zu managen, digitale Teilhabe zu sichern
und es den Bürger*innen insgesamt leicht macht, ihren Alltag zu
bewältigen und ihre Rechte in Anspruch zu nehmen. Gewohnte Tradi-
tionen und Prinzipien müssen überdacht werden, denn eine inklusive
digitale Transformation und die Modernisierung von Verfahren sind
zentrale Bausteine, um Demokratie, Teilhabe und Zusammenarbeit zu
stärken. Um diese Aufgabe zu stemmen, ist eine bessere strukturelle
Verankerung der Digitalisierung auf allen Verwaltungsebenen not-
wendig. Wir wollen mit Anstand und Transparenz regieren. Gleich-
berechtigung, Kooperation sowie der Zusammenhalt in Vielfalt sind
Maßstäbe, um einen bürger*innennahen Staat zu verwirklichen.
Wir machen den Staat effektiver
und bürger*innennäher
Planungs- und Investitionsbeschleunigung:
bessere Qualität für schnellere Umsetzung
Deutschland braucht im nächsten Jahr eine Modernisierungsoffen-
sive. Die Schieneninfrastruktur, erneuerbare Energien und die Ener-
gienetze müssen ausgebaut, Schulen, Straßen und Brücken saniert,
digitale Infrastrukturen aufgebaut werden. Doch derzeit dauert es oft
viel zu lange, solche Projekte zu realisieren, Investitionsmittel flie-
ßen nicht ab. Das wollen wir ändern. Für eine Planungsbeschleuni-
gung schaffen wir mehr öffentliche Planungskapazitäten. Wir starten
auf allen Ebenen eine Personaloffensive in Planungsbehörden und
zuständigen Gerichten. Verfahren werden durch die Bündelung von
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN163Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Genehmigungen verschlankt und die vorhandenen Ansätze von „kon-
zentrierten Genehmigungen“ auf alle zentralen Infrastrukturprojekte
ausgedehnt. Außerdem führen wir behördeninterne Fristen ein und
achten bei allen Planungen auf Inklusion. Zudem soll der Bundestag
mehr Verantwortung bei Infrastrukturprojekten übernehmen, wenn
darüber Konfliktlösungen schneller erreicht werden können. Auch die
frühzeitige Einbindung der Bürger*innen vor Ort führt in der Regel
dazu, dass Projekte schneller und besser abgeschlossen werden kön-
nen. Ziel ist, alle Planungs- und Umsetzungszeiten zu halbieren.
Digitale Ämter – serviceorientiert, schnell und zuvorkommend
Jeden Tag verrichten gut ausgebildete Fachleute in den Behörden
ihre Arbeit, um das Land am Laufen zu halten. Dennoch ist für viele
Menschen der Kontakt zu deutschen Behörden unkomfortabel und
unzeitgemäß. Ein Grund dafür sind unzureichende Technik und ver-
altete und überkommene Abläufe. Mit barrierefreien E-Government-
Dienstleistungen, sicheren digitalen Beteiligungsformaten und Open
Government wollen wir unsere Verwaltung modernisieren und unnö-
tige Bürokratie wie Schriftformerfordernisse abbauen. Verwaltungs-
verfahren sollen stets digital gedacht und gestaltet werden, vor allem
auch in der Zusammenarbeit mit Unternehmen. Gleichzeitig muss
gewährleistet sein, dass die Türen des Staates auch für den persönli-
chen Kontakt mit den Bürger*innen geöffnet bleiben und durch mobile
Angebote ergänzt werden. Die Nutzung der digitalen Verwaltungsleis-
tungen soll über einen zentralen Zugang erfolgen. Der Austausch von
Unterlagen unter den Behörden muss nach Zustimmung und unter
Beachtung des Datenschutzes möglich sein. Damit die Verwaltung all
dies leisten kann, muss sie selbst digitalisiert werden. Wir setzen uns
gemeinsam mit den Ländern dafür ein, dass die Verwaltung flächen-
deckend mit der modernsten Technik ausgestattet wird, vom Gesund-
heits- bis zum Bürger*innenamt. Digitalisierung wird das Verhältnis
von Staat und Bürger*innen auf eine neue Basis stellen. Wir verfolgen
dabei die Vision eines digitalen, antragslosen und proaktiven Sozial-
staats. In diesem werden Leistungen des Staates ohne komplizierte
Anträge geprüft und automatisch den Berechtigten bereitgestellt.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN164Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Der Personalausweis auf dem Smartphone
Wer mit einer digitalen Identität ausgestattet ist, kann sich bequem
authentifizieren und sicher kommunizieren. Was in skandinavischen
Ländern schon lange Praxis ist – Behördengänge einfach mit dem
Smartphone erledigen zu können –, wollen wir auch hier erreichen
und dabei auch von Anfang an Möglichkeiten für Staat, Wirtschaft
und Gesellschaft ganzheitlich denken. Wir wollen digitale Service-
angebote der Verwaltung als Plattform für Staat, Wirtschaft und
Zivilgesellschaft begreifen und durch modulare sowie sichere Kom-
ponenten einen Mehrwert für alle schaffen. Bestehende Systeme
wollen wir zusätzlich öffnen und ermöglichen, dass öffentliche Stel-
len auch Identitätsmerkmale bestätigen können. So wollen wir eine
Identitätsinfrastruktur schaffen, die es natürlichen und juristischen
Personen erlaubt, ihre digitale Identität mit Hilfe von Smartphones,
Onlinediensten oder Ausweisdokumenten zu nutzen. Mit Offenheit
und Technologieneutralität wollen wir EU-weit interoperable digi-
tale Identitäten zu einer Basisinfrastruktur unseres digitalen Gemein-
wesens machen. Für die Kommunikation mit der öffentlichen Hand
wollen wir ein offenes System schaffen, das einen Ende-zu-Ende-ver-
schlüsselten Austausch von Nachrichten ermöglicht. Bürger*innen
sollen einen Anspruch auf die digitale Zustellung von Behördendo-
kumenten erhalten. Dabei benötigen Menschen, die nur analog unter-
wegs sind, Unterstützung durch Weiterbildung und Hilfe. Jede Person
soll mit einer kostenfreien digitalen Identität ausgestattet sein, um
sich digital ausweisen und digital unterschreiben zu können. Ein sol-
ches Smartphone-Wallet kann in allen Sektoren verwendet werden.
Im Rahmen einer ganzheitlichen E-Government-Strategie wollen wir
einen Mobilpass für unterschiedlichste Mobilitätsangebote, Service-
angebote der Verwaltung, E-Health- und E-Justice-Infrastrukturen und
auch digitale Beteiligungsformate ermöglichen. Gleichzeitig wollen
wir die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen, dass auch die Wirt-
schaft branchenübergreifend dieses Verfahren nutzen kann, etwa
für sichere Loginverfahren, Finanz- und Versicherungsdienstleistun-
gen oder durch digitale Vollmachten erlaubte Zugriffe auf öffentli-
che Register, etwa zur Verifikation von Führerscheinen. Die EU und
Deutschland müssen bei hoheitlichen digitalen Identitäten Vorreiter
sein und Vertrauen durch Souveränität schaffen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN165Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Transparenzgesetz für Open Data
Der Zugang zu staatlichen Datenbeständen ermöglicht innovative,
elektronische Dienstleistungen sowie neue demokratische Beteili-
gungsmöglichkeiten. Auch für neue technologische Anwendungen ist
der geregelte Zugang zu offenen Daten aus staatlichen Beständen
wichtig. Durch die Vorlage eines Bundestransparenzgesetzes werden
wir staatliche Datenbestände der Allgemeinheit nach den Prinzipien
der Open Data zur Verfügung stellen. So heben wir den Schatz von
mit öffentlichen Mitteln erwirtschafteten, nicht personenbeziehba-
ren Daten. Das bestehende Datenportal GovData wollen wir zu einem
zentralen und nutzerfreundlichen Open- und E-Government-Portal
ausbauen. Zur Sicherung umfassender, gleichberechtigter Teilhabe
und einer souveränen Verwaltung wollen wir, wo immer dies möglich
ist, offene Standards, Schnittstellen und Software nutzen, die entste-
hende Software unter freier Lizenz veröffentlichen und werden sie
als Standard in die Vergabe- und Vertragsordnungen für öffentliche
Gelder aufnehmen.
Erneuerung braucht gute Daten
Auch die Corona-Krise hat wieder einmal gezeigt, dass Deutschland
bei der Verfügbarkeit von Daten weit hinter vergleichbaren Ländern
zurückliegt. Während in den USA viele Daten quasi in Echtzeit vor-
lagen und politische Maßnahmen zeitnah evaluiert werden konnten,
fehlen bei uns hinreichende und schnell verfügbare Daten. Wir wollen
das ändern und zeitnah Daten der Forschung, den politischen Ent-
scheidungsträger*innen und der Zivilgesellschaft zur Verfügung stel-
len. Wir richten ein öffentliches Dateninstitut mit einem gesetzlichen
Forschungsauftrag ein, um Grundsatzfragen zur besseren Verfügbar-
machung oder Anonymisierung von Daten zu behandeln und die Ver-
netzung, Entwicklung von Standards und Lizenzmodellen voranzu-
treiben. Ziel ist es, die Forschung in dem Bereich zu verbreitern, neue
Ansätze zu testen, den Austausch zwischen verschiedenen Projekten
zu befördern und beratend bei der Zusammenführung von Daten zu
unterstützen, damit soll auch Missbrauch verhindert und Schlichtun-
gen sollen begleitet werden. Es braucht einen Paradigmenwechsel
hin zu gemeinsamen Standards statt abgeschotteter Datensilos und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN166Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
zum Beispiel die Möglichkeit, über Datentreuhandmodelle einfaches
und datenschutzfreundliches Datenteilen zu ermöglichen. Das Statis-
tische Bundesamt stärken wir ebenfalls, um die Datenverfügbarkeit
für Politik, Öffentlichkeit und die Forschung zu verbessern und die
Daten zeitnäher zur Verfügung zu stellen.
Klimaneutrale Bundesverwaltung
Klimaschutz braucht Vorreiter und Vorbilder. Wir wollen, dass die Bun-
desverwaltung endlich beides wird. Die Bundesverwaltung muss kli-
maneutral werden. Das umfasst sowohl die Versorgung mit Ökostrom
und den Fuhrpark der Bundesbehörden als auch die Gebäude des
Bundes, die mit erneuerbaren Heiz- und Kühlsystemen ausgestattet
und umfassend energetisch modernisiert werden. Mit der Einführung
eines Solarstandards über Neubauten hinaus werden die Dächer der
Bundesbehörden zu Kraftwerken. Bei Dienstreisen sind Flugreisen auf
ein Minimum zu begrenzen. Zudem sorgen wir dafür, dass der Bund
seine Beschaffung und seine Förderkriterien an der Einhaltung von
ökologischen, Menschenrechts- und sozialen Standards orientiert. Bei
der Ausschreibung und Förderung von öffentlichen Vorhaben wollen
wir bei der Wirtschaftlichkeitsberechnung einen CO2-Schattenpreis
zugrunde legen. So geht die Politik mit gutem Beispiel voran.
Der lernende Staat
Corona- und Klimakrise führen uns vor Augen, mit welch großen Her-
ausforderungen Regierung und Verwaltung heute umgehen müssen.
Wir wollen, dass die öffentliche Verwaltung in die Lage versetzt wird,
vorausschauend zu handeln und sich zugleich zügig und konsequent
an ihre jeweiligen Aufgaben anpassen zu können. Dafür braucht es
eine Kultur behördlicher Zusammenarbeit sowie der Ermöglichung
innovativer Ansätze. Innovationseinheiten und agile Projektteams in
den Behörden sollen diesen Kulturwandel befördern und zugleich für
Zusammenarbeit über alle Ebenen hinweg sorgen. Flexible Arbeits-
zeiten und eine positive Fehlerkultur stärken die Akzeptanz neuer
Verhaltensmuster. Die Behörden sollen eng und transparent mit Wis-
senschaften, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, sich
untereinander vernetzen sowie neue Ideen testen. Künstler*innen und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN167Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
andere Kreative sollen als Ideen- und Impulsgeber*innen in Transfor-
mationsprozesse einbezogen werden. Mitarbeitende und Beamt*in-
nen der öffentlichen Verwaltung sollen außerdem in ihrer Expertise
und Kreativität, etwa durch Fortbildungen, gefördert und gestärkt
werden. Wir setzen uns zudem für mehr Kooperation der Ministerien
bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele ein.
Justiz entlasten und digitalisieren
Gerichte und Strafverfolgungsbehörden haben mit einer hohen
Arbeitsbelastung zu kämpfen. Verfahren dauern zu lang. Hier braucht
es dringend Entlastung durch mehr Personal, durch außergerichtli-
che Streitbeilegung, durch die Entkriminalisierung von Bagatellde-
likten und durch eine flächendeckende Ausstattung der Justiz mit der
nötigen Technik. Wir wollen grundsätzlich die Justiz serviceorientier-
ter gestalten und hierzu neue Wege suchen. Die Digitalisierung der
Justiz wie auch ihren Personalbedarf werden wir durch einen Bund-
Länder-Digitalpakt Justiz in Fortsetzung und Konkretisierung des
Ende 2021 auslaufenden Pakts für den Rechtsstaat mit ausreichen-
der Finanzierung umsetzen. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen
digital zusammenarbeiten können, wozu es einheitliche Programme
und zureichende Bandbreiten braucht. Wir fördern und vereinfachen
die elektronische Kommunikation zwischen Bürger*innen und Justiz.
Dazu gehört der leichte Zugang zum Recht durch schnelle Online-
Verfahren für einfache Rechtssachen und zu stärkenden konsensualen
Verfahren der Streitbeilegung. Wir wollen das externe ministerielle
Einzelfallweisungsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft beschrän-
ken und transparent machen und den Ländern ermöglichen, Modelle
der gerichtlichen Selbstverwaltung zu erproben.
Den öffentlichen Dienst stärken und modernisieren
Der öffentliche Dienst, die Millionen Menschen, die in Verwaltun-
gen, Ministerien und Behörden arbeiten, sind ein Rückgrat unserer
Demokratie und das Fundament unseres Gemeinwesens. Doch in den
letzten Jahrzehnten wurde zu oft am öffentlichen Dienst gespart und
gekürzt – die Konsequenzen spüren wir heute alle. Damit unser Staat
mit den großen Herausforderungen Schritt halten kann, müssen die
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN168Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Mitarbeiter*innen unseres Gemeinwesens dazu in die Lage versetzt
werden. Wir wollen deshalb den öffentlichen Dienst wieder stärken
und ihn zugleich modernisieren. Mehr Stellen, gerade im IT- und Pla-
nungsbereich, gute Bezahlung, flexible Laufbahnen, mehr Durchläs-
sigkeit machen den öffentlichen Dienst fit für das 21. Jahrhundert.
Dazu starten wir eine große Fortbildungsoffensive für die öffentliche
Verwaltung und werden die Digitalisierung zum Schwerpunkt einer
jeden Verwaltungsausbildung machen.
Vielfalt in der Verwaltung
Die Vielfalt der Gesellschaft muss sich auch in ihrer Verwaltung
widerspiegeln. Das stärkt die staatlichen Institutionen und trägt zu
Vertrauen und Bürger*innennähe bei. Eine diverse und diskriminie-
rungskritische Verwaltung entsteht aber nicht von selbst, sondern
benötigt Mittel, Strukturen und gezielte Förderung. Im Bereich des
öffentlichen Dienstes und der Unternehmen mit Bundesbeteiligung
hat der Staat die Möglichkeit, als gutes Beispiel in Sachen Vielfalt
voranzugehen und ein Diversity-Mainstreaming in der gesamten Ver-
waltung einzuführen. Dazu gehört beispielsweise, Mehrsprachigkeit
in der Verwaltung zu fördern und bei der Einstellungs- und Beförde-
rungspraxis nicht nur die Gleichstellung der Geschlechter, sondern
auch die gesellschaftliche Vielfalt zu beachten, diskriminierungs-
kritische Organisationsentwicklungen in öffentlichen Behörden und
Unternehmen durchzuführen und in den Unternehmensleitbildern
das Ziel der Gleichberechtigung und der Repräsentanz diskriminier-
ter Gruppen zu verankern sowie diversitätssensible Weiterbildungen
anzubieten. Ganz besonders gilt dies für die im Bewerbungsprozess
besonders relevanten Einheiten wie die Personalabteilung oder Ein-
stellungskommissionen, die so weit wie möglich geschlechtergerecht
und vielfältig zu besetzen sind. Wir werden verbindliche Zielvorgaben
zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund
auf allen Ebenen einführen. Das Diversity Budgeting, also den Einsatz
und die Evaluierung von Haushaltsmitteln in einer Vielfalt besonders
fördernden Weise, wollen wir voranbringen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN169Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Wir treten ein für Vielfalt,
Anerkennung und gleiche Rechte
Einheit in Vielfalt
Wir alle sind unterschiedlich, aber an Rechten und Würde gleich.
Zusammenhalt in Vielfalt setzt voraus, respektiert, anerkannt und
gehört zu werden, mitgestalten und teilhaben zu können, ohne Angst
frei zu leben und sich als Gleichberechtigte zu begegnen, das Gemein-
same neben den Unterschieden zu sehen. Deshalb werden wir das
Leitbild „Einheit in Vielfalt“ zur Gestaltung einer rassismuskritischen
und chancengerechten Einwanderungsgesellschaft gesetzlich veran-
kern. Damit die Perspektive und Expertise derjenigen, die von Diskri-
minierung und struktureller Benachteiligung betroffen sind, gehört
werden, sie als Gleichberechtigte die Möglichkeit zur vollen Teilhabe
erhalten, wollen wir einen Partizipationsrat, ähnlich dem Deutschen
Ethikrat, als ein gesetzlich verankertes und unabhängiges Gremium
einführen, mit Vertreter*innen aus der (post-)migrantischen Zivilge-
sellschaft, Wissenschaft und Forschung, die die unterschiedlichen
Dimensionen von Vielfalt abbilden. Um Diskriminierung systematisch
abzubauen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern,
wollen wir die Themen und Zuständigkeiten, die Gleichberechtigung
und Teilhabe an der offenen und vielfältigen Gesellschaft betreffen,
bei einem Ministerium bündeln. Dazu werden wir die Aufgaben zur
Einwanderungsgesellschaft aus dem Innenministerium herauslösen.
Für mehr Repräsentanz und Teilhabe werden wir ein Bundesparti-
zipations- und Teilhabegesetz vorlegen und das Bundesgremien-
besetzungsgesetz reformieren. Staatliches Handeln soll auf unsere
vielfältige Gesellschaft ausgerichtet sein und Gleichberechtigung
sicherstellen. Wer hier dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt hat, muss
die Möglichkeit haben, an Wahlen, Abstimmungen und allen anderen
demokratischen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen, in einem
ersten Schritt wollen wir das kommunale Wahlrecht für Drittstaats-
angehörige einführen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN170Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Konsequent gegen Rassismus
Rassismus ist Realität im Alltag, auf der Straße, im Netz, in Institu-
tionen. Er betrifft nicht alle von uns gleichermaßen, aber er geht uns
alle gleichermaßen an. Der Kampf gegen Rassismus und seine unter-
schiedlichen Formen, wie zum Beispiel anti-Schwarzer und anti-asia-
tischer Rassismus, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit dem
Ziel der Stärkung der individuellen Rechte aller Menschen. Rassismus
und alle Formen von Diskriminierungen stellen nicht nur eine große
Gefahr für die betroffenen Menschen dar, sondern bedrohen auch das
gleichberechtigte und friedliche Zusammenleben sowie die Sicher-
heit in Deutschland. Wir wollen den Schutz vor und die Beseitigung
von Diskriminierungen, strukturellem und institutionellem Rassismus
mit einem staatlichen Gewährleistungsanspruch in der Verfassung
verankern, ergänzend zur überfälligen Ersetzung des Begriffs „Rasse“.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) soll zur obersten
Bundesbehörde aufgewertet werden – mit mehr Personal, Budget und
Kompetenzen. Ihre Leitung soll als Antidiskriminierungsbeauftragte*r
vom Deutschen Bundestag gewählt werden. Das Allgemeine Gleich-
behandlungsgesetz wollen wir zu einem echten Bundesantidiskrimi-
nierungsgesetz weiterentwickeln, das Schutzlücken endlich schließt,
Klagen gegen Diskriminierung für Betroffene vereinfacht und ein
umfassendes Verbandsklagerecht einschließt, damit gegen Diskrimi-
nierung strukturell und nachhaltig vorgegangen werden kann. Das
Netz zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen soll flächendeckend aus-
gebaut und so finanziert werden, dass diese planungssicher und kon-
tinuierlich ihrer Aufgabe nachkommen können. In den staatlichen Ins-
titutionen sollen Anlauf- und Beschwerdestellen geschaffen werden.
Das Empowerment von Menschen, die von Diskriminierung betrof-
fen sind, wollen wir fördern. Die Black-Lives-Matter-Proteste haben
deutlich gemacht, dass Rassismus gegen Schwarze Menschen auch
in Deutschland umfassend bekämpft werden muss. Deshalb wollen
wir die UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft vorantreiben.
Straftaten gegen Schwarze Menschen sollen in Verfassungsschutzbe-
richten explizit ausgewiesen werden. Außerdem setzen wir uns dafür
ein, dass anti-asiatischer Rassismus im Nationalen Aktionsplan gegen
Rassismus benannt wird. Wir werden die unabhängige Forschung zu
Postkolonialismus, Diskriminierung und Rassismus ausbauen, regel-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN171Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
mäßig Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten erheben und
wissenschaftliche Studien in Bezug auf staatliche Institutionen und
Wirksamkeit von Antidiskriminierungsmaßnahmen durchführen. Anti-
rassismus, Antidiskriminierung und Postkolonialismus wollen wir in
der Lehrer*innenausbildung und in den Lehrplänen verankern.
Stärkung und Sicherheit für Jüdinnen und Juden in Deutschland
Jüdisches Leben in seiner Vielfalt in Deutschland werden wir konse-
quent fördern und sichtbar machen. Wir unterstützen Projekte und
Initiativen, die sowohl jüdisch-säkulares als auch jüdisch-religiö-
ses Leben, jüdische Kultur und jüdische Bildung stärken. Wir wollen
politische und kulturelle Bildungsangebote für alle Bürger*innen
zugänglich machen, um Wissen über das jüdische Leben allgemein
sowie Kontakte und Erfahrungen mit jüdischen Menschen und Ein-
richtungen in Deutschland zu vermitteln. Jüdische Menschen in
Deutschland müssen sich sicher fühlen können. Ihre Sicherheit und
der Schutz jüdischer Einrichtungen und Gemeinden muss umfas-
send sein. Antisemitische Anschläge in der Gegenwart, allen voran
der Anschlag von Halle im Jahr 2019, erinnern uns daran, wie stark
weiterhin Judenfeindlichkeit und Judenhass sowie Unwissenheit über
die Realität jüdischen Lebens in Deutschland verbreitet sind. Es ist
unsere gemeinsame Verantwortung, Antisemitismus, antisemitischen
Hassreden – auch im Alltag und egal aus welchen Motiven – mit aller
Entschlossenheit entgegenzutreten. Dafür braucht es bessere Analy-
sekapazitäten und eine entschlossene Ahndung und Dokumentation
antisemitischer Vorfälle. Antisemitische Narrative, israelbezogener
Antisemitismus und verschwörungsideologische Erzählungen – auch
im Zusammenhang mit Demonstrationen von Pandemieleugner*in-
nen – müssen an unterschiedlichsten Orten präventiv adressiert wer-
den, auch und gerade im digitalen Raum. Dafür bedarf es konkreter
Sensibilisierungs- und Präventionsprojekte in Vereinen und zivilge-
sellschaftlichen Organisationen, für die wir eine Regelfinanzierung
wollen. Die Prävention von und Auseinandersetzung mit Antisemitis-
mus soll auch abseits des Geschichtsunterrichts als Leitperspektive
in den Lehrplänen verankert werden. Fortbildungen, allen voran der
Mitarbeiter*innen von Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden
sowie der Gerichte, wollen wir gezielt ausbauen. Es braucht Leitli-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN172Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
nien für einen effektiven Schutz jüdischer Einrichtungen, bei deren
Entwicklung die jüdischen Gemeinden einbezogen werden müssen.
Wir wollen die soziale Absicherung der älteren jüdischen Generation
in Deutschland stärken, meist Holocaustüberlebende und ihre Nach-
kommen, viele aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie müssen bei der
Rente mit den eingewanderten (Spät-)Aussiedler*innen aus den Staa-
ten der ehemaligen Sowjetunion gleichgestellt werden.
Muslim*innen schützen und stärken
Muslimisches Leben in seiner ganzen Vielfalt gehört in Deutschland
zu unserer gesellschaftlichen Realität. Gleichzeitig sind Muslim*innen
besonders von struktureller Diskriminierung sowie von gewalttätigen
Übergriffen betroffen. Die fortdauernden Bedrohungen muslimischer
Einrichtungen zeigen, wie dringend nötig Präventionsprogramme
sowie umfassende Schutzkonzepte für als muslimisch gelesene Per-
sonen und Räume sind. Opfer müssen geschützt, beraten und gestärkt,
die Ursachen verstärkt in den Blick genommen werden. Der Staat darf
keine Religion diskriminieren oder ungerechtfertigt bevorzugen. Die
heterogene und von Muslim*innen als Stärke wahrgenommene Struk-
tur des Islams, die weder eine religiös noch strukturell verankerte Hie-
rarchie kennt, darf ihnen von Seiten des Gesetzgebers deshalb nicht
zum Nachteil gereichen. Tatsächliche Gleichstellung setzt rechtliche
Gleichstellung voraus. Wir unterstützen daher Staatsverträge mit isla-
mischen Religionsgemeinschaften, die in keiner strukturellen Abhän-
gigkeit zu einem Staat, einer Partei oder politischen Bewegung und
dessen oder deren jeweiliger Regierungspolitik stehen und sich reli-
giös selbst bestimmen. Wir wollen auch progressive, liberale musli-
mische Vertretungen einbinden, die für Werte wie Gleichberechtigung
der Geschlechter, LSBTIQ*-Rechte und Feminismus einstehen und
einen lebendigen Glauben innerhalb des islamischen Religionsspek-
trums praktizieren. Auch zeigen wir uns solidarisch mit Kritiker*innen
von fundamentalistisch-politischen Kräften, wenn sie massiv bedroht
werden. Für die eigenständige und selbstbewusste Religionsausübung
von Muslim*innen ist eine Imam*innen-Ausbildung in Deutschland
dringend notwendig. Dafür wollen wir islamisch-theologische und
praxisorientierte Aus- und Weiterbildungsprogramme für Imam*innen
und islamische Religionsbedienstete in Kooperation mit den Institu-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN173Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
ten für islamische Theologie bundesweit etablieren und unterstützen.
Langfristig geht es darum, den Bedarf der muslimischen Gemeinden
an religiösem Personal durch in Deutschland ausgebildete Personen
zu decken.
Antiziganismus entschlossen bekämpfen
Immer noch werden Menschen mit Romani-Hintergrund in Europa
und Deutschland aufgrund eines tiefsitzenden Rassismus diskrimi-
niert, der bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Immer noch wer-
den Angehörige der größten Minderheit in der Europäischen Union
beim Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wohnen und Arbeit benachtei-
ligt. Wir wollen deshalb die neue EU-Roma-Rahmenstrategie (Post-
2020) umsetzen und die ambitionierten Inklusionsziele der EU errei-
chen. Dafür braucht es eine mit ausreichend finanziellen Mitteln und
Befugnissen ausgestattete „Nationale Koordinierungsstelle“, die die
Umsetzung und das Monitoring der deutschen Strategie in Abstim-
mung mit den Bundesländern, Verwaltungen und Selbstorganisatio-
nen übernimmt. Minderheitenrechte wie der Erhalt von Sprache, der
Geschichte und Kulturen von Sinti*zze und Rom*nja müssen gewähr-
leistet werden. Wir wollen eine unabhängige, zivilgesellschaftliche
Monitoring- und Informationsstelle zur Dokumentation und Aufarbei-
tung rassistischer Vorfälle und zur Unterstützung der Betroffenen ein-
richten sowie die Empfehlungen der unabhängigen Expertenkommis-
sion Antiziganismus prüfen und umsetzen. Wir werden die Einrichtung
eines Studierendenwerks für Sinti*zze und Rom*nja vorantreiben und
setzen uns für ein Museum der Geschichte und Kulturen der Sinti*zze
und Rom*nja in Deutschland ein. Noch immer werden Rom*nja aus
Deutschland abgeschoben, selbst wenn sie seit Jahrzehnten hier leben
und in ihren Herkunftsländern Diskriminierung erleiden. Deshalb soll
die Situation von Rom*nja in ihren Herkunftsländern in Asylverfahren
und bei der Prüfung asylunabhängiger Bleiberechte stärkere Berück-
sichtigung finden.
Für eine inklusive und barrierefreie Gesellschaft
Wir treten für eine inklusive Gesellschaft gemäß der UN-Behinderten-
rechtskonvention ein, in der Menschen mit Behinderung ihre Fähig-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN174Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
keiten und Talente selbst einbringen können. Stufen, zu enge Türen
oder schwer lesbare Webseiten – in unserem Alltag gibt es viele
unterschiedliche Dinge, die für Menschen mit Behinderung, aber auch
für ältere Menschen, Eltern mit Kinderwagen oder Verletzte mit Gips-
bein eine Barriere darstellen. Es ist mühsam, manchmal unmöglich,
Angebote zu nutzen, die für andere selbstverständlich sind. Wir wol-
len Barrierefreiheit schaffen, damit Menschen mit unterschiedlichen
Behinderungen, auch psychischen Erkrankungen, gleichberechtigt
am öffentlichen Leben teilhaben und selbstbestimmt, gemeinsam
mit nichtbehinderten Menschen leben, lernen und arbeiten können.
Das wollen wir mit einem „Barrierefreiheits-Gesetz“ erreichen, das
private wie öffentliche Anbieter*innen öffentlich zugänglicher Ange-
bote und Dienstleistungen zu umfassender Barrierefreiheit und den
Bund innerhalb von zehn Jahren zur Herstellung der Barrierefreiheit
seiner Gebäude verpflichtet. Kleine Unternehmen werden durch eine
Überforderungsklausel geschützt, aber zu angemessenen Vorkehrun-
gen verpflichtet. Durch eine Erhöhung der Bundesförderung soll der
Anteil barrierefreier Wohnungen deutlich erhöht werden. Um selbst-
bestimmte Mobilität und selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen,
wollen wir außerdem die Städtebauförderung für inklusive Stadtquar-
tiere stärken und die soziale Wohnraumförderung an Barrierefreiheit
binden. Im ÖPNV, den alle Menschen mit Schwerbehinderung kosten-
frei nutzen sollen können, in öffentlichen Einrichtungen, Ladenge-
schäften, Gewerbe- und Bürogebäuden soll Barrierefreiheit zum Stan-
dard werden. Die Verbrechen der deutschen Geschichte gegenüber
Menschen mit Behinderung wollen wir weiter aufarbeiten und die
Opfer angemessen entschädigen.
Verhältnis Staat und Kirchen weiterentwickeln
Die christlichen Kirchen und Gemeinden sind wichtige Akteur*innen
der Zivilgesellschaft. Sie verleihen unserer Gesellschaft vielfältige
Impulse und leisten einen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusam-
menhalt. Für die Arbeit mit Pflegebedürftigen, Menschen mit Behin-
derungen und Kindern sind auch die kirchlichen Träger von großer
Bedeutung. Ihre tatkräftige Unterstützung, wenn es um Seenotrettung
und die Integration von Geflüchteten geht, ist ein wichtiger gesell-
schaftlicher Beitrag. Das Grundrecht auf Religions-, Gewissens- und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN175Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Weltanschauungsfreiheit wollen wir, auch weltweit, weiter stärken
und religiös oder weltanschaulich Verfolgte schützen. Wir wahren das
Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, suchen die
Kooperation und den Dialog mit allen Religions- und Weltanschau-
ungsgemeinschaften, die das Grundgesetz achten, und stehen dabei
stets zum säkularen Staat und seinem Neutralitätsprinzip. Auch Kon-
fessionsfreie haben einen Anspruch auf umfassende Berücksichtigung
ihrer Belange und auf gleichberechtigte Teilhabe. Die gewachsene
Beziehung zwischen Staat und den christlichen Kirchen wollen wir
erhalten und wo nötig der gesellschaftlichen Realität anpassen. So
wollen wir, dass beispielsweise das kirchliche Arbeitsrecht reformiert
und die gewerkschaftliche Mitbestimmung gefördert wird sowie die
Ausnahmeklauseln für die Kirchen im Betriebsverfassungsgesetz und
im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgehoben werden. Der
religiöse Verkündigungsbereich bleibt hiervon unberührt. Die vielen
Gläubigen, die sich für eine notwendige Modernisierung der christ-
lichen Kirchen einsetzen und auf eine lückenlose Aufklärung der
Fälle sexualisierter Gewalt dringen, unterstützen wir. Die Vollendung
des Verfassungsauftrags zur Ablösung der Staatsleistungen werden
wir umsetzen. Den § 166 des Strafgesetzbuchs („Beschimpfung von
Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsver-
einigungen“) wollen wir streichen sowie uns für eine unabhängige
wissenschaftliche Einrichtung zur Erforschung der religiösen und
weltanschaulichen Landschaft einsetzen.
Wir erneuern das demokratische Fundament
Für eine transparentere Politik
Demokratie lebt vom Vertrauen der Bürger*innen, jeder Anschein käuf-
licher Politik richtet Schaden an. Wir wollen das Vertrauen in demo-
kratische Institutionen und Mandatsträger*innen stärken und das Pri-
mat der Politik gegenüber intransparenter Einflussnahme schützen.
Wir sind überzeugt: Transparente und nachvollziehbare Politik stärkt
das Gemeinwohl. Deshalb wollen wir Lobbyismus transparenter und
den Einfluss organisierter Interessensgruppen und von Lobbyist*in-
nen sichtbar machen. Das Lobbyregister wollen wir für Bundesregie-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN176Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
rung, Bundesministerien und Bundestag nachschärfen und die vie-
len Ausnahmen für maßgebliche Akteur*innen abschaffen. Mit dem
legislativen Fußabdruck schaffen wir Klarheit, wer bei der Entstehung
von Gesetzen Einfluss nimmt. Interessenskonflikte wollen wir stärker
in den Blick nehmen und den Wechsel aus Regierungsämtern in die
Wirtschaft während einer Karenzzeit von zwei Jahren prüfen lassen.
Für Abgeordnete ist das freie Mandat der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit.
In Zukunft werden Einkünfte aus Nebentätigkeiten auf Euro und Cent
veröffentlicht, für Unternehmensbeteiligungen und Aktienoptionen
gibt es striktere Regeln und Spenden an Abgeordnete und die Lob-
bytätigkeit für Abgeordnete werden verboten. Die Anwendung dieser
Maßnahmen soll evaluiert werden. Für Nebenverdienste von Abge-
ordneten wollen wir zudem eine verpflichtende Angabe der Branche.
Unabhängige Kontrolle stärkt die Transparenz und Integrität. Zur wir-
kungsvollen Bekämpfung von Korruptionsfällen braucht es eine Neu-
fassung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung und eine
Überarbeitung der Beweisanforderungen. Spenden an Parteien müs-
sen transparenter gemacht werden. Deshalb wollen wir striktere Ver-
öffentlichungsregeln. Parteispenden sollen auf natürliche Personen
beschränkt und auf einen jährlichen Höchstbetrag von 100.000 Euro
je Spender*in gedeckelt werden. Schon ab 5.000 Euro sollen Spen-
den im Rechenschaftsbericht genannt werden, ab 25.000 Euro soll
die Pflicht zur sofortigen Veröffentlichung greifen. Solange es keine
gesetzliche Regelung gibt, wenden wir die über das Parteiengesetz
hinausgehenden Regelungen unseres Spendenkodex an. Für das Par-
teiensponsoring wollen wir endlich eine gesetzliche Regelung und
eine Veröffentlichung ab dem ersten Euro und eine jährliche Höchst-
grenze je Sponsor*in einführen. Das Parteiengesetz und die unab-
hängige Kontrolle werden wir stärken, damit verdeckte Wahlkampf-
finanzierung besser bekämpft werden kann. Politische Werbung und
Kampagnen im Netz müssen transparenter werden – solange es keine
verpflichtenden Regulierungen gibt, gehen wir mit unserer Selbstver-
pflichtung voran.
Parlament stärken, Wahlrecht reformieren
Der Bundestag ist der zentrale Ort für öffentliche Debatten, Rede und
Gegenrede und Entscheidungen unserer Demokratie. Für gute Gesetz-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN177Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
gebung braucht es ausreichende Beratung und eine Stärkung der
Kontrollrechte des Parlaments. Wir wollen die Rolle des Bundestages
bei der Gesetzgebung ausbauen. Seine Arbeitsfähigkeit ist zu garan-
tieren und zu stärken. Deshalb setzen wir uns für eine Wahlrechtsre-
form ein, die das Parlament deutlich verkleinert, unter anderem durch
die Reduzierung von Wahlkreisen, die außerdem fair und verfassungs-
gemäß ist, und bei der jede Stimme gleich viel wert ist. Im Rahmen
dieser Reform sollten unter anderem die Verlängerung der Legislatur-
periode und die Amtszeitbegrenzung für das Amt der Bundeskanzle-
rin oder des Bundeskanzlers geprüft werden. Die Sitzungen der Fach-
ausschüsse sollen in der Regel öffentlich stattfinden und gestreamt
werden. Die Abgeordneten sollen in ihren Kontrollrechten gegenüber
der Regierung mit einem Akteneinsichtsrecht gestärkt werden. Kom-
plexe Gesetzgebungsverfahren wollen wir verständlicher machen,
indem Textgegenüberstellungen der Gesetzesänderungen öffentlich
gemacht werden.
Macht fair teilen, auch in den Parlamenten
Es ist höchste Zeit für eine faire Verteilung von Macht. Unsere reprä-
sentative Demokratie muss diverser werden, unsere Parlamente brau-
chen die Vielfalt der Herkunft und Lebenswege, die Debatten brauchen
die Perspektiven, die daraus entstehen. Wir werden Hürden abbauen
damit auch queere Menschen, Nicht-Akademiker*innen, Menschen
mit Behinderung und Menschen mit Migrationsgeschichte gleichbe-
rechtigt und selbstverständlich vertreten sind. Macht fair teilen heißt
auch, dass es dringend mehr Frauen in den Parlamenten und Kommu-
nalvertretungen braucht, denn sie stellen 51 Prozent der Wahlberech-
tigten. Gleichberechtigung von Frauen ist ein historischer und ver-
fassungsrechtlicher Auftrag für uns alle und soll sich bereits bei den
Nominierungsverfahren niederschlagen. Dass Parität per Gesetz wirk-
sam und angemessen ist, zeigen Beispiele aus dem europäischen Aus-
land. Dass verfassungsrechtlich hohe Hürden bestehen, haben Urteile
von Verfassungsgerichten aus zwei Bundesländern aufgezeigt. Diese
Hürden gilt es abzubauen, um rechtlich gute Lösungen zu finden. Wir
setzen uns daher auch im Bund für ein Paritätsgesetz ein und werden
entsprechende Gesetzesänderungen auf den Weg bringen. Um Frauen
das politische Engagement zu erleichtern, braucht es auch Maßnah-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN178Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
men und Angebote, die Frauen den Einstieg in und die Gestaltung von
Politik erleichtern.
Jugendwahlrecht
Demokratie lebt von der Gestaltung und dem Engagement aller Bür-
ger*innen, vom Kindes- bis ins hohe Alter. Viele politische Entschei-
dungen von heute sind entscheidend für die Zukunft junger Men-
schen, und viele junge Menschen übernehmen früh Verantwortung
für die Gesellschaft. Wenn Jugendliche in ihrem Lebensalltag demo-
kratische Erfahrungen machen und ihre Rechte wahrnehmen können,
stärkt das die Demokratie und macht sie zukunftssicherer. Um mög-
lichst breite Bündnisse für eine verfassungsändernde Wahlalterab-
senkung schmieden zu können, wollen wir das Wahlalter für Bundes-
tags- und Europawahlen in der kommenden Legislaturperiode auf 16
Jahre absenken. Auf Basis einer Evaluation des Wahlalters 16 wollen
wir das Wahlalter ggf. weiter absenken.
Bürger*innenräte für mehr Beteiligung
Direkte Beteiligungsmöglichkeiten bereichern die Demokratie und
stärken die Repräsentanz. Mit Bürger*innenräten schaffen wir die
Möglichkeit, bei ausgewählten Themen die Alltagserfahrung von Bür-
ger*innen in die Gesetzgebung einfließen zu lassen. Wir sorgen in
einem ersten Schritt dafür, dass es eine gesetzliche Grundlage für
Bürger*innenräte gibt und sich das Parlament mit den Ergebnissen
beschäftigen muss. In der kommenden Wahlperiode wollen wir wei-
tere Optionen für eine stärkere Institutionalisierung von Bürger*in-
nenräten prüfen, unter anderem direktdemokratische Verfahren zu
einzelnen Beratungsergebnissen. Auf Initiative der Regierung, des Par-
laments oder eines Bürger*innenbegehrens beraten zufällig ausge-
wählte Menschen, die in Deutschland leben und mindestens 16 Jahre
alt sein müssen, in einem festgelegten Zeitraum über eine konkrete
Fragestellung. Sie erarbeiten Handlungsempfehlungen und geben
Impulse für die öffentliche Auseinandersetzung und die parlamen-
tarische Entscheidung. Eine freie, gleiche und faire Beratung muss
sichergestellt werden, unter anderem durch zivilgesellschaftliche
und wissenschaftliche Beratung. Außerdem werden wir ein digitales
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN179Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Portal, wie es zum Beispiel in Baden-Württemberg schon erfolgreich
angewendet wird, für die aktive Beteiligung an der Gesetzgebung ein-
führen und das Petitionsrecht zu einem leicht zugänglichen Instru-
ment für bessere Mitwirkung am demokratischen Prozess ausbauen.
Wir wollen Beteiligung fördern und politische Bildung als wichtige
Querschnittsaufgabe auch auf kommunaler Ebene voranbringen.
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk für alle
und eine vielfältige Medienlandschaft
Kritischer und unabhängiger Journalismus ist eine Säule unserer
Demokratie. Wir stehen zu einem pluralistischen, kritischen und
staatsfernen öffentlich-rechtlichen Rundfunk für alle, genauso wie für
Qualität und Vielfalt der privaten und Non-Profit-Medienlandschaft.
Damit der öffentlich-rechtliche Rundfunk stark und zukunftsfest auf-
gestellt ist, arbeiten wir für eine funktionsgerechte Finanzierung, die
einem definierten Programmauftrag folgt. Weil er von allen finanziert
wird, muss er auch alle erreichen. Aus seiner besonderen Stellung und
dem Anspruch, die Vielfalt der Lebenswelten, Meinungen und Interes-
sen der Bevölkerung abzubilden, ergibt sich auch sein Reformbedarf.
Die Digitalisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss voran-
getrieben und seine bisherigen Angebote müssen überprüft werden.
Hierfür wollen wir gemeinsam mit den Ländern eine Initiative auf den
Weg bringen und eine gesellschaftliche Debatte anstoßen. Wir setzen
uns für Rundfunkräte ein, die die Vielfalt unserer heutigen Gesellschaft
besser abbilden, durchsetzungsstärker sowie sender- und staatsferner
werden. Die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen sollen bei ange-
messener Vergütung der Urheber*innen dauerhaft zugänglich und
europäisch verzahnt werden. Lokale Medien brauchen eine mit den
Ländern abgestimmte, staatsfern organisierte Förderung. Qualitäts-
journalismus braucht deutlich bessere Rahmenbedingungen, etwa
durch Verbesserungen bei Quellenschutz und Auskunftsansprüchen
oder die Öffnung der Künstlersozialkasse für Journalist*innen samt
Beitragspflicht für Medienplattformen. Gemeinnütziger Journalismus
braucht Rechtssicherheit.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN180Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Hasskriminalität im Netz bekämpfen
Digitale Plattformen und Anwendungen müssen den Menschen
dienen und nicht umgekehrt. Uns geht es darum, Nutzerrechte und
demokratischen Diskurs zu stärken und dabei die Balance zwischen
Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit zu wahren. Wir wollen
Hasskriminalität im Netz und das bewusste Verbreiten von Falsch-
informationen wirksamer bekämpfen. Dafür wollen wir einen effekti-
ven Gesetzesrahmen entwickeln. Betroffene müssen sich schnell und
effektiv gegen Angriffe im Netz wehren können. Das wollen wir durch
die ambitionierte Ausgestaltung und dann zügige Umsetzung des
Digital Services Act der EU erreichen. Wir treten für einen effektiven
Umgang mit Nutzerbeschwerden, eine Verbesserung der Strafverfol-
gung und der zivilrechtlichen Durchsetzung ein. Dafür brauchen wir
personell wie technisch bestmöglich aufgestellte Strafverfolgungsbe-
hörden. Diese müssen, gut geschult, auf Grundlage klarer Rechtsvorga-
ben arbeiten können. Plattformbetreiber*innen müssen ihrer großen
Verantwortung europaweit gerecht werden. Sie dürfen bestehende
Rechte nicht aushöhlen, sind für Inhalte haftbar und müssen beim
Moderieren von Inhalten die Grundrechte wahren. Bei Entscheidun-
gen darüber, welche Inhalte auf digitalen Plattformen keinen Platz
haben dürfen, könnte der gezielte Einsatz von repräsentativen, zivil-
gesellschaftlichen Plattformräten eine Möglichkeit sein. Große Anbie-
ter*innen sollen sich durch eine Abgabe an den unabhängigen Bera-
tungsangeboten für Betroffene von Hass und Hetze beteiligen. Dies
wollen wir bündeln in einem Gesetz für digitalen Gewaltschutz, das
die Möglichkeit beinhaltet, gegen Accounts vorzugehen, wenn kein*e
Täter*in festgestellt wird. Jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene
Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Für Porno-Plattformen, die
nutzergenerierte Inhalte hosten, müssen besondere Sorgfaltspflich-
ten gelten, um Menschen zu schützen, deren Bildmaterial gegen ihren
Willen dort gezeigt wird. Für den Umgang mit Desinformation, aber
auch für die Rechtskontrolle der Anbieter*innen insgesamt wollen wir
die Aufsicht national wie auch europäisch besser strukturieren, unter
anderem mit einer gemeinsamen Medienanstalt der Länder. Eine Ver-
pflichtung zum Einsatz von Uploadfiltern lehnen wir ab.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN181Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Software für die Allgemeinheit
Unser Alltag wird immer häufiger von Teilhabe an und Zugang zu Soft-
ware geprägt. Freie und offene Software bildet dabei die Grundlage
unzähliger Anwendungen, seien es digitale Lernplattformen, sichere
Anwendungen für die Heimarbeit, Stärkung der IT-Sicherheit mit
guter Verschlüsselung oder sichere und einfache Abstimmungsmög-
lichkeiten in der Vereins- und Parteiarbeit. Sie spielt in immer mehr
gesellschaftlich relevanten Bereichen eine entscheidende Rolle und
ist Grundlage für unsere Anforderungen in Bezug auf Offenheit, Teil-
habe und Sicherheit. Doch oftmals fehlt es den Entwickler*innen an
Unterstützung, diese dauerhaft auf dem neuesten Stand der Technik zu
halten und anwendungsfreundlich, barrierefrei und inklusiv zu gestal-
ten. Wir treten daher dafür ein, eine eigenständige öffentliche Förder-
stiftung zu schaffen, die gesellschaftlich relevante, freie und offene
Software fördert, deren Ergebnisse Gesellschaft, Wissenschaft, Schu-
len, Wirtschaft und Verwaltung zur Verfügung stehen und barriere-
frei zugänglich sind. Durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen
schützen Grundrechte, schaffen Vertrauen in digitale Anwendungen
und müssen zum Standard bei allen staatlichen IT-Vorhaben werden.
Demokratiefördergesetz für eine starke Zivilgesellschaft
Eine lebendige Zivilgesellschaft ist elementar für die politische Aus-
einandersetzung in unserer Demokratie. Engagierte Menschen in Ini-
tiativen, Verbänden, Vereinen oder NGOs stärken den Zusammenhalt,
tragen dazu bei, wichtige Anliegen, wie beispielsweise den Kampf
gegen Rassismus, auf die öffentliche Tagesordnung zu setzen, und
leisten ihren Beitrag zur Willensbildung. Wir machen uns dafür stark,
dass sie ihrer Arbeit in Zukunft gut abgesichert, ohne Einschüchte-
rung und Kriminalisierung nachgehen können. Mit einem Demokra-
tiefördergesetz wollen wir ihr Engagement und das demokratiebele-
bender Initiativen und Organisationen nachhaltig, projektunabhängig
und unbürokratisch finanziell absichern. Die Arbeit der politischen
Stiftungen wollen wir verbindlicher regeln. Wir wollen sicherstellen,
dass sie an den Werten des Grundgesetzes orientiert sind und – auch
in ihrem Verhältnis zu den Parteien – Transparenz herstellen. Dafür
schaffen wir eine eigenständige gesetzliche Grundlage.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN182Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Gemeinnützigkeit reformieren
Alle Bürger*innen sollen gleichberechtigt an der Willensbildung
unserer Gesellschaft teilhaben können. Die Gemeinnützigkeit ist dafür
ein wichtiger Status, der an vielen Stellen überhaupt erst Zugänge
öffnet. Damit Initiativen und Verbände eigenständig bleiben, sorgen
wir deshalb für Klarheit und Rechtssicherheit im Gemeinnützigkeits-
recht. Ihre gemeinnützigen Ziele sollen sie auch durch politische Mei-
nungsäußerungen und Aktivitäten wie Studien und Demonstrationen
verwirklichen dürfen. Nicht nur die Förderung des demokratischen
Staatswesens, sondern auch die Förderung tragender Grundsätze
sollte klar gemeinnützig sein. Die Gemeinnützigkeit zusätzlicher
Zwecke wie des Friedens, der Durchsetzung der nationalen und inter-
nationalen Grund- und Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, der
Durchsetzung des Sozialstaatsgebotes und allgemein der gleichbe-
rechtigten Teilhabe und der Bekämpfung von Diskriminierung wollen
wir anerkennen und stärken. Mit der Einführung einer Demokratie-
klausel stellen wir sicher, dass sich Vereine aktiv an gesellschaftlichen
Debatten beteiligen können. Die Beweislastumkehr in § 51 Absatz 3
Abgabenordnung wollen wir abschaffen. Für mehr Transparenz sor-
gen wir mit einem Gemeinnützigkeitsregister und einfach handhab-
baren Transparenzpflichten sowie mit Regeln zur Offenlegung der
Spendenstruktur.
Engagement und Ehrenamt als Säule der Gesellschaft
Engagement und Ehrenamt stützen unsere Gesellschaft auf vielfältige
Weise. Die Aufgabe des Staates ist es, Engagement und Ehrenamt zu
ermöglichen, zu fördern und zu stärken. Dazu gehören zunehmend auch
digitale Formen des Ehrenamtes, denn sie ermöglichen Vernetzung bei
weiten Entfernungen oder wenn dem physischen Engagement anderes
im Wege steht. Dafür wollen wir die bürokratischen Hürden für Enga-
gement ab- und Bildungsangebote für Engagierte ausbauen sowie die
Förderpolitik neu aufstellen. Die Deutsche Stiftung für Engagement
und Ehrenamt wollen wir zu einer echten Förderstiftung weiterentwi-
ckeln, die lokal und dezentral Organisationen unterstützt. Zusammen
mit Ländern und Kommunen wollen wir eine Engagementkarte ein-
führen, um den Besuch von Schwimmbädern und Kultureinrichtungen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN183Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
oder die Nutzung von ÖPNV zu vergünstigen. Die Übungsleiter- und
Ehrenamtspauschale wollen wir sukzessive angleichen.
Freiwilligendienste ausbauen und für alle ermöglichen
Freiwilligendienste stärken den Zusammenhalt und fördern die aktive
Teilhabe an unserer Gesellschaft. Jeder Mensch, der das möchte, soll
garantiert einen Freiwilligendienst in Deutschland oder Europa machen
können. Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste (wie das Freiwillige
Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr) und den Bundesfrei-
willigendienst auf 200.000 Plätze jährlich verdoppeln. Die Freiwilligen-
dienste sollen besser ausfinanziert werden, damit sich junge Menschen
unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern engagieren können. Dafür
wollen wir die Taschengeldsätze auf ein einheitliches Niveau anhe-
ben und kostenlose ÖPNV-Tickets ermöglichen. Die Rahmenbedingun-
gen sollen inklusiver werden, damit jede*r, egal ob jung oder alt, ob zu
Beginn, in einer Orientierungsphase oder nach Beendigung des Berufs-
lebens, einen passenden Freiwilligendienstplatz für sich findet.
Wir gestalten die vielfältige
Einwanderungsgesellschaft
Einbürgerung erleichtern
Die Staatsangehörigkeit stellt ein dauerhaftes Band rechtlicher Gleich-
heit, Teilhabe und Zugehörigkeit sicher. Wer in Deutschland geboren
wird, soll die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wenn ein Elternteil
rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Die
Staatsangehörigkeit darf, auch als Lehre aus dem nationalsozialisti-
schen Unrecht, nicht entzogen werden. Für Menschen, die hier jahrelang
leben und Teil dieser Gesellschaft geworden sind, sollen Einbürgerun-
gen früher möglich werden. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutsch-
land sollen alle einen Antrag auf Einbürgerung stellen können, auch
für anerkannte Geflüchtete gilt ein beschleunigtes und vereinfachtes
Einbürgerungsverfahren. Den Optionszwang im Staatsangehörigkeits-
recht wollen wir abschaffen und Mehrstaatigkeit anerkennen. Die vor-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN184Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
genommenen Aushöhlungen des Staatsangehörigkeitsrechts wollen
wir zurücknehmen und die Einbürgerungsverfahren entbürokratisieren.
Hindernisse bei der Identitätsklärung, die nicht in der Hand der Einzu-
bürgernden liegen, dürfen ihnen nicht angelastet werden. Für binatio-
nale Familien und Paare, egal ob mit oder ohne Trauschein, wollen wir
die Einreise unbürokratisch und fair gestalten. Um sich in Deutschland
ein Leben aufzubauen, braucht es langfristige Perspektiven.
Ein modernes Einwanderungsgesetz für eine
vielfältige Einwanderungsgesellschaft
Deutschland ist ein Einwanderungsland, doch bis heute fehlen eine
aktive Einwanderungspolitik und ein Einwanderungsrecht, das Einwan-
derung tatsächlich fördert und nicht komplizierter macht. Wir wollen ein
modernes Einwanderungsgesetz beschließen, das neue Zugangswege
für Bildungs- und Arbeitsmigration schafft – auch für Menschen, die ihre
Talente und Fähigkeiten nicht durch formale oder anerkannte Bildungs-
abschlüsse nachweisen können –, das transparente, unbürokratische
und faire Verfahren bietet, das globale und regionale Notwendigkeiten
berücksichtigt . Dafür soll auf Basis des jährlichen Arbeitskräftebedarfs
eine punktebasierte Talentkarte eingeführt werden. Wir erleichtern die
Bildungsmigration über Stipendien und Ausbildungsvisa, genauso wie
die Voraussetzungen für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und die
Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen. Außer-
dem beenden wir den automatischen Verlust der Aufenthaltserlaubnis
nach einem sechsmonatigen Aufenthalt im Ausland. Für Menschen, die
sich ohne sicheren Aufenthaltstitel in Deutschland befinden, jedoch
in den Arbeitsmarkt integriert sind oder deren Qualifizierung in den
Arbeitskräftebedarf passt, soll es die Möglichkeit zum echten Spurwech-
sel geben. Gut funktionierende Konzepte der Arbeitsmigration, wie die
Westbalkanregelung, bauen wir aus und verstetigen sie.
Integration gelingt nur mittendrin –
Sprache, Zugang, Teilhabe von Anfang an
Ankommen ist in einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft ein
wechselseitiger Prozess mit dem Ziel, gleiche Zugänge und Teilhabe-
chancen in allen Bereichen des Lebens zu schaffen. Er stellt sowohl
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN185Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Anforderungen an die, die zu uns kommen, als auch an alle, die schon
länger hier leben, und gelingt nur, wenn alle zusammenkommen und
einen gemeinsamen Weg einschlagen. Für das Zusammenleben sind
die Werte des Grundgesetzes die Grundlage. Der Zugang zu und die
Teilnahme an Sprachkursen ist essentiell, deshalb treten wir dafür
ein, dass alle neu ankommenden Migrant*innen und Geflüchteten
von Anfang an ein Recht auf einen kostenfreien Zugang zu passge-
nauen, gut erreichbaren und bundesfinanzierten Sprach- und Integ-
rationskursen haben. Besonders wollen wir die Zugänglichkeit der
Kurse für Frauen sicherstellen und auch Angebote für Menschen mit
Lernschwierigkeiten aufbauen. Denn derzeit ist das für viele Perso-
nen, etwa Familiennachzügler oder EU-Bürger*innen, nur schwer und
kostenpflichtig möglich. Zudem wollen wir die nach 2015 ausgebau-
ten Angebote an weiterführenden Sprachkursen aufrechterhalten.
Genauso wichtig für eine gelingende Integration sind eine dezentrale
Unterbringung und ein selbstbestimmtes Leben in eigenen Wohnun-
gen, ein breites Beratungsangebot gerade auch für Familien sowie
der unterschiedslose Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen
sowie zu Kitas, Bildungseinrichtungen, Ausbildung und Arbeit, also
die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. So stärkt
gezielte Unterstützung den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wir wollen auf europäischer Ebene einen kommunalen Integrations-
fonds auflegen, um EU-weit das Ankommen in den Kommunen direkt
zu unterstützen. Damit sollen unter anderem Migrationsberatungs-
stellen gestärkt und aufgebaut, Dolmetschleistungen im Gemein-
wesen finanziert, zivilgesellschaftliche Unterstützungsstrukturen
gefördert und strukturelle Entlastungen der Kommunen, die sich
zur Aufnahme von Geflüchteten bereit erklären, in der EU gesichert
werden. Betriebe, die Geflüchteten eine Chance auf Ausbildung oder
Beschäftigung geben, brauchen entsprechende Unterstützung und
Förderung. Für anerkannte Flüchtlinge wollen wir die Hürden für die
Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union absenken.
Asylverfahren fair und transparent
Wir wollen, dass Asylverfahren in Deutschland rechtssicher, fair und
transparent gestaltet sind und eine Entscheidung in angemessener Zeit
erfolgt. Dafür muss die Identifizierung besonderer Schutzbedarfe vor
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN186Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
der Anhörung erfolgen. Insbesondere die Berücksichtigung erlittener
geschlechtsspezifischer Verfolgung und die dazugehörige Beratung im
Asylverfahren sind zu gewährleisten. Wir wollen dafür sorgen, dass es
zügig zu einer Entscheidung über den Aufenthaltstitel kommt, damit
Menschen früh verbindliche Gewissheit haben. Dazu gehören eine aus-
reichende personelle Ausstattung des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) sowie ein funktionierendes Qualitätsmanagement.
Eine nichtstaatliche unabhängige Asylverfahrensberatung für alle
Asylsuchenden, von der Ankunft bis zum Abschluss des Asylverfahrens,
wollen wir sicherstellen und die auf mögliche 18 Monate verlängerte
Verweildauer von Geflüchteten in den Erstaufnahmeeinrichtungen
rückgängig machen auf maximal drei Monate. AnkER-Zentren in ihrer
jetzigen Form lehnen wir ab. Danach sollte das dezentrale Wohnen
immer Vorrang haben. Wir wollen das Recht von Kindern, unabhängig
von der Bleibeperspektive, auf Zugang zu Kitas, Schulen und anderen
Bildungsangeboten garantieren. Wir beenden die flächendeckenden
und anlasslosen Widerrufsprüfungen durch das BAMF und optimieren
das Asylprozessrecht. Anträgen auf Familienzusammenführung im Rah-
men der Dublin-Verordnung ist schnell zuzustimmen. Wir wollen das
Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen –und damit eine verfassungs-
rechtlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Geflüchteten,
die ein echtes Ankommen und Teilhabe erschwert. Integrationsfeind-
liche gesetzliche Regelungen wie Arbeitsverbot und pauschale Wohn-
sitzauflage sowie Leistungskürzungen wollen wir abschaffen. Die in
den vergangenen Jahren vorgenommenen Aushöhlungen des Aufent-
halts- und Asylrechts wollen wir zurücknehmen. Wir wollen insbeson-
dere den Schutz von Geflüchteten, die Menschenrechtsverletzungen
erlebt haben oder schwer erkrankt sind, garantieren. Die Ausrufung
„sicherer“ Herkunfts- oder Drittstaaten lehnen wir ab – auch auf euro-
päischer Ebene. Flughafenverfahren sowie sofortige Zurückweisung an
den deutschen Binnengrenzen wollen wir abschaffen. Ein pandemie-
bedingter Verlust von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplätzen darf
nicht zu aufenthaltsrechtlichen Nachteilen führen.
Raus aus der Duldung
Mehr als 200.000 Menschen – darunter viele Kinder und Jugendliche –
leben über viele Jahre in einem Zustand der Perspektivlosigkeit und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN187Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Rechtsunsicherheit in Deutschland, weil sie nur geduldet sind. Das ist
weder für die Betroffenen noch für das gesellschaftliche Zusammen-
leben gut. Rechtliche Unsicherheit und fehlende Teilhabechancen
erschweren es massiv, anzukommen und in Deutschland ein Zuhause
zu finden. Wir wollen die Anzahl der Menschen, die sich von Duldung
zu Duldung hangeln müssen, deshalb möglichst auf null reduzieren.
Für diese Menschen braucht es nach fünf Jahren Aufenthalt ein siche-
res Bleiberecht. Heranwachsende, Jugendliche und Familien mit min-
derjährigen Kindern sollen nach drei Jahren einen Aufenthaltstitel
bekommen. In Fällen, in denen Menschen trotz nachgewiesener ernst-
hafter Bemühungen keinen Nationalpass erhalten können, wollen wir
einen Passersatzausweis ausstellen, wenn die Betroffenen in Deutsch-
land geboren sind und ihre Identität geklärt ist. Durch die Umwand-
lung der Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung in Aufenthalts-
rechte verschaffen wir den Menschen einen verlässlichen Zugang zu
Ausbildung und Arbeitsmarkt und sorgen für Planungssicherheit in
den Betrieben. Opfer von Menschenhandel sollen ein sicheres Bleibe-
recht bekommen. Menschen, die nach sorgfältiger Prüfung der asyl-
und aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen sowie nach Ausschöp-
fung aller Rechtsschutzmöglichkeiten kein Aufenthaltsrecht erhalten
und bei denen keine Abschiebehindernisse entgegenstehen, müssen
zügig wieder ausreisen. Wir wollen dies durch umfassende und unab-
hängige Beratung und Unterstützung begleiten. Jede Abschiebung
ist mit großen menschlichen Härten verbunden. Abschiebungen, zum
Beispiel über Rückübernahmeabkommen, sind das letzte Mittel, wenn
die Rückkehr verweigert wird, freiwillige Ausreisen haben immer Vor-
rang. Haft ohne Verbrechen zur Durchsetzung der Ausreise ist ein
massiver Eingriff in das verfassungsrechtlich garantierte Freiheits-
recht. Die Berücksichtigung des Trennungsgebots und die Gewäh-
rung von Rechtsbeistand ist daher sicherzustellen. Abschiebungen in
Kriegs- und Krisenländer werden wir beenden, den Abschiebestopp
nach Syrien und Afghanistan bundesweit wieder einsetzen. Wir treten
dafür ein, dass es keine Zusammenarbeit mit syrischen Behörden für
Abschiebungen geben und die Abschiebepartnerschaft mit Afghanis-
tan beendet wird. Die Ausweisung sicherer Gebiete darf keine Grund-
lage für Rückführungen in unsichere Länder begründen. In Länder, für
die das Auswärtige Amt aufgrund von Covid-19 eine Reisewarnung
ausgesprochen hat, darf nicht abgeschoben werden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN188Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir rücken Feminismus, Queerpolitik und
Geschlechtergerechtigkeit in den Fokus
Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen
Feminismus nimmt alle in den Blick und schafft Selbstbestimmung,
Teilhabe und Gerechtigkeit. Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle unab-
hängig vom Geschlecht selbstbestimmt leben und auch Frauen über-
all gleichberechtigt mitgestalten können – von der Arbeitswelt bis
in die Parlamente. Das ist eine Aufgabe für alle Geschlechter. Dafür
braucht es auch Männer, die für eine Gesellschaft einstehen, in der
Macht, Möglichkeiten und Verantwortung gerecht geteilt werden und
Sexismus entschieden bekämpft wird. Geschlechtergerechtigkeit ist
eine Querschnittsaufgabe, die wir intersektional denken. Mit einem
Gender-Check wollen wir prüfen, ob eine Maßnahme oder ein Gesetz
die Gleichberechtigung der Geschlechter voranbringt, und dort, wo es
ihr entgegensteht, dementsprechend eingreifen. Die Vergabe öffent-
licher Aufträge soll auch Kriterien der Geschlechtergerechtigkeit
berücksichtigen. Die neu geschaffene Bundesstiftung Gleichstellung
werden wir zu einer effektiven, verlässlich finanzierten und unabhän-
gigen Institution ausbauen, die gesichertes Wissen zu den Lebens-
lagen aller Geschlechter bereitstellt und wirksame Maßnahmen für
Gleichberechtigung entwickelt, bündelt und für Wirtschaft, Politik
und Öffentlichkeit zugänglich macht. Hierfür leisten die Sozialwis-
senschaften und die Genderstudies einen unverzichtbaren Beitrag.
Wir brauchen eine verbindliche Gleichberechtigungsstrategie, die alle
Lebens- und Politikbereiche umfasst, ressortübergreifend arbeitet und
die Erkenntnisse in umsetzbare Ziele übersetzt. Es wird Zeit für eine
feministische Regierung, in der Menschen aller Geschlechter gleicher-
maßen für Geschlechtergerechtigkeit eintreten.
Geschlechtsspezifische Gewalt bekämpfen
Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, die vor allem Frauen
betrifft, ist eine gesellschaftliche Gemeinschaftsaufgabe. Gewalt im
häuslichen und persönlichen Nahbereich ist ein strukturelles Prob-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN189Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
lem, das sowohl in der medialen Darstellung als auch in der Recht-
sprechung oft verharmlost wird. Wir brauchen daher mehr Aufklä-
rungsarbeit und spezifische Gewaltpräventionsprogramme. Mit der
Istanbul-Konvention haben wir ein Instrument an der Hand, das die
notwendigen Maßnahmen beschreibt. Dazu gehört auch eine Erweite-
rung der Kriminalstatistik, damit das Ausmaß von in Deutschland ver-
übten Femiziden und anderen Straftaten, die aus Frauenhass began-
gen werden, differenziert erfasst wird und diese Taten systematisch
als Hasskriminalität eingestuft werden. Zur Verbesserung des Schut-
zes vor geschlechterspezifischer Gewalt muss das Gewaltschutzge-
setz evaluiert und novelliert werden. Gewaltbetroffene Frauen, deren
Aufenthaltsstatus von dem Aufenthaltsstatus ihres Ehemanns oder
Partners abhängt, sollen einen eigenständigen Aufenthaltstitel erhal-
ten können. Polizei und Justiz müssen im Umgang mit Betroffenen
sexualisierter Gewalt umfassend geschult und sensibilisiert sein. Ver-
bale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum wollen wir nicht hin-
nehmen und werden auch geeignete Ordnungsmaßnahmen dagegen
prüfen. Opfer von Vergewaltigungen brauchen eine flächendeckende
qualifizierte Notfallversorgung einschließlich anonymer Spurensiche-
rung und der Pille danach. Angebote für psychosoziale Prozessbeglei-
tung sollen gestärkt werden. Wir werden Monitoringstelle einrichten
und die getroffenen Maßnahmen regelmäßig auf ihre Wirksamkeit
prüfen. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen ohne
Angst verschieden sein können.
Frauenhäuser absichern
Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es ist
die Pflicht des Staates, Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu
schützen. Frauenhäusern kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Des-
halb müssen deutlich mehr Frauenhausplätze geschaffen werden,
auch im ländlichen Raum. Denn jede von Gewalt betroffene Frau, ob
mit oder ohne Kinder, braucht eine Anlaufstelle und Schutz – unab-
hängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status, ihrer Wohnsituation
oder davon, ob sie eine Beeinträchtigung hat. Mit einem gesetzlichen
Rechtsanspruch auf Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt sichern
wir über eine Geldleistung des Bundes Betroffene unabhängig von
ihrem Einkommen ab und verbessern den Zugang zu Schutzeinrich-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN190Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
tungen und deren Angeboten für alle Frauen. Länder und Kommunen
müssen weiterhin ihrerseits ihrer Finanzierungsverantwortung nach-
kommen. Für die Aufenthaltszeit in einem Frauenhaus sollen Betrof-
fene, die Sozialleistungen erhalten, nicht schlechtergestellt werden.
Wir brauchen Frauenhäuser, in denen Kinder, auch wenn sie älter
sind, mit aufgenommen werden können. Auch Männer, die Opfer von
Partnerschaftsgewalt geworden sind, brauchen Unterstützung und
Zufluchtsräume. Dieses Angebot wollen wir ausbauen. Zudem müssen
intersektionale Schutzkonzepte und Zufluchtsräume, insbesondere
auch für queere, nichtbinäre Menschen, entwickelt und bereitgestellt
werden. Wir fördern die Barrierefreiheit von Frauenhäusern und Bera-
tungseinrichtungen, damit auch für von Gewalt betroffene Frauen mit
Behinderungen Schutzmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Vor Zwang und Ausbeutung schützen,
Selbstbestimmung ermöglichen
Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ist ein abscheu-
liches Verbrechen, das wir mit den Mitteln des Strafrechts, aber auch
präventiv durch ein gemeinsames europäisches Vorgehen, Information
sowie Schutz und Hilfe für die Opfer konsequent bekämpfen werden.
Dazu wollen wir auch einen nationalen Aktionsplan gegen Menschen-
handel auflegen. Opfer von Menschenhandel einfach abzuschieben,
ist falsch. Stattdessen würden ihre Anzeige- und Aussagebereitschaft
durch ein dauerhaftes Bleiberecht erhöht und die Strafverfolgung der
Täter*innen würde erleichtert. Zwangsverheiratungen sind Menschen-
rechtsverletzungen. Alle Menschen, die davon bedroht sind, brauchen
Hilfe und Schutz und gute Beratung durch verlässlich finanzierte Bera-
tungsstellen. Weibliche Genitalverstümmelung ist eine massive Ver-
letzung der körperlichen Integrität. Es ist entscheidend, dass wir den
Betroffenen helfen und sie schützen, auch durch internationale Auf-
klärungs- und Hilfekampagnen. Doch auch in Deutschland brauchen
wir eine Strategie dagegen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die
sich in diesem Bereich engagieren, wollen wir besser unterstützen,
die Kontaktpersonen der Mädchen sowie pädagogisches Personal und
Jugendämter sollen geschult und sensibilisiert werden. Menschen,
die in der Prostitution arbeiten, brauchen Rechte und Schutz – auch
vor Stigmatisierung und Kriminalisierung. Das Prostituiertenschutz-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN191Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
gesetz werden wir dementsprechend evaluieren und überarbeiten
mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen in der legalen Prostitution zu
verbessern. Damit sie ihrer Arbeit sicher nachgehen können, müssen
auch die Prostitutionsstätten strenger kontrolliert werden. Freiwillige,
niedrigschwellige und mehrsprachige Beratungsangebote werden wir
ausbauen und finanziell unterstützen. Menschen, die aus der Prosti-
tution aussteigen wollen, unterstützen wir durch individuelle Hilfen
und Beratung bei der Umorientierung. Dies kann gelingen durch Wei-
terbildung, finanzielle Unterstützung und Hilfe bei der Vermittlung in
Erwerbsarbeit außerhalb der Prostitution.
Selbstbestimmung durch Gesundheitsversorgung
Alle Menschen müssen selbst über ihren Körper und ihr Leben ent-
scheiden können. Eine gute Gesundheitsversorgung inklusive eines
gesicherten Zugangs und umfassender Informationen zum Schwan-
gerschaftsabbruch ist dafür notwendig. Die Entscheidung, ob eine Frau
eine Schwangerschaft abbricht oder nicht, ist allein ihre. In dieser Zeit
sind gute Beratungs- und Versorgungsstrukturen notwendig. Wir strei-
ten für eine ausreichende und wohnortnahe Versorgung mit Ärzt*in-
nen, Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.
Das Thema muss in die Ausbildung von Ärzt*innen nach international
anerkannten Standards integriert werden. Neben der professionel-
len medizinischen Versorgung sind gute Beratungsangebote wichtig.
Deshalb werden wir das breite Angebot an Familienplanungs- und
Beratungsstellen absichern und die freiwilligen Beratungsangebote
ausbauen. Um die Versorgung dauerhaft zu gewährleisten, braucht es
eine Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von selbstbestimm-
ten Abbrüchen sowie eine generelle Kostenübernahme. Das ist nur
möglich, wenn der selbstbestimmte Schwangerschaftsabbruch nicht
mehr im Strafgesetzbuch (§ 218 und § 219), sondern außerhalb gere-
gelt wird. Schwangere, die eine Beratung aufsuchen, sowie die Bera-
tungsstellen und Ärzt*innen müssen mit einem bundeseinheitlich
verankerten Schutz vor Anfeindungen und Gehsteigbelästigungen
geschützt werden. Bei einer ungewollten Schwangerschaft muss der
bestmögliche Zugang zu Informationen gewährleistet werden. Um
Ärzt*innen vor drohenden Anzeigen zu schützen, gilt es insbesondere
den § 219 a schnellstmöglich aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN192Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
In einem ersten Schritt müssen die Kosten für ärztlich verordnete
Mittel zur Empfängnisverhütung für Empfänger*innen von staatli-
chen Transferleistungen und Geringverdiener*innen unbürokratisch
übernommen werden. Perspektivisch soll der kostenfreie und leichte
Zugang zu Verhütungsmitteln für alle gelten. Am einfachsten wäre es,
diesen Zugang über die Krankenkassen zu regeln.
Queerfeindlichkeit bekämpfen
Lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter* und queere Menschen sol-
len selbstbestimmt und diskriminierungsfrei ihr Leben leben können.
Dafür und gegen gesetzliche Diskriminierungen sowie Benachteili-
gungen und Anfeindungen im Alltag werden wir ein starkes Signal
setzen und den Schutz von Menschen aufgrund ihrer sexuellen und
geschlechtlichen Identität durch die Ergänzung des Artikels 3 Absatz
3 des Grundgesetzes sicherstellen. Wir werden gemeinsam mit den
Organisationen der Community einen bundesweiten ressortübergrei-
fenden Aktionsplan „Vielfalt leben!“ für die Akzeptanz sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt vorlegen – mit dem Ziel, LSBTIQ* gleichbe-
rechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu garantieren, um die
Akzeptanz von Vielfalt zu fördern. Dazu gehören auch Maßnahmen
zur LSBTIQ*-inklusiven Gesellschaftspolitik sowie die institutionelle
Förderung und Projektförderung der LSBTIQ*-Verbände, -Organisa-
tionen und -Stiftungen. Das diskriminierende Blutspendeverbot für
schwule und bisexuelle Männer sowie transgeschlechtliche Personen
wollen wir aufheben. LSBTIQ* sind besonders oft von sexualisierter
Gewalt betroffen. Gegen LSBTIQ* gerichtete Hasskriminalität werden
wir entschieden bekämpfen. Um queere Jugendliche insbesondere
auch im ländlichen Raum zu schützen und zu stärken, wollen wir mit
einer bundesweiten Aufklärungskampagne für junge Menschen über
die Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten
informieren und bezüglich Homo-, Bi-, Trans*- und Queerfeindlichkeit
sensibilisieren. Wir werden uns gemeinsam mit den Ländern dafür
einsetzen, dass sich geschlechtliche und sexuelle Vielfalt und Diver-
sität in den Lehr- und Bildungsplänen wiederfinden und diese kon-
sequent umgesetzt werden. Queerfeindliche Straftaten sollen statis-
tisch gesondert erfasst werden.
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN193Kapitel 5
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Selbstbestimmung garantieren, Transsexuellengesetz aufheben
Mit einem Selbstbestimmungsgesetz werden wir dafür sorgen, dass
das überholte Transsexuellengesetz endlich aufgehoben wird. Eine
Änderung des Geschlechtseintrags und des Namens auf Antrag der
betroffenen Person werden wir ermöglichen, ohne dass dafür psycho-
logische Zwangsgutachten notwendig sind. Das Offenbarungsverbot
werden wir konkretisieren und vorsätzliche Verstöße dagegen sank-
tionieren. Wir schreiben fest, dass alle nicht notwendigen Operatio-
nen und Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern verboten
werden und Lücken in den entsprechenden Gesetzen geschlossen
werden. Operationen, die als medizinisch notwendig durchgeführt
wurden, sollen, unter Berücksichtigung eines strengen Datenschut-
zes, zentral erfasst werden, um eine bessere Nachvollziehbarkeit
für Betroffene und eine bessere Datengrundlage zu erreichen. Bei
Gesundheitsleistungen sowie körperangleichenden Operationen und
Hormontherapien muss das Selbstbestimmungsrecht gesichert sein.
Den Anspruch auf medizinische körperangleichende Maßnahmen
wollen wir gesetzlich verankern und dafür sorgen, dass die Kosten-
übernahme durch das Gesundheitssystem gewährleistet wird. Wir
werden einen Entschädigungsfonds für die Opfer aus dem Kreis der
trans*- und inter*geschlechtlichen Personen, deren körperliche Unver-
sehrtheit verletzt wurde oder deren Ehen zwangsgeschieden wurden,
einrichten.
Wir stärken Sicherheit
und Bürger*innenrechte
Sicherheit für alle und eine gut ausgestattete
und bürger*innennahe Polizei
Deutschland ist grundsätzlich ein sicheres Land. Das liegt auch an
der guten Arbeit der Polizei. Wir wollen, dass das so bleibt. Diebstahl,
Einbrüche, Gewalttaten, Hassverbrechen oder organisierte Kriminali-
tät belasten Opfer und ihre Angehörigen dennoch schwer. Für ihre
Aufgaben wie Prävention, Aufklärung und Strafverfolgung und den
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN194Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Schutz der Grundrechte wollen wir die Polizei stärken, in der Stadt
und auf dem Land, analog und digital. Den früheren Personalabbau
bei Bundespolizei und Bundeskriminalamt wollen wir durch eine
Offensive bei der Besetzung offener Stellen beheben und gleichzei-
tig spezialisierte Ausbildungen und Studiengänge ermöglichen. Wir
wollen, dass die Polizei die Diversität der Bevölkerung widerspiegelt.
Die Polizist*innen verdienen unsere Wertschätzung, genauso wie
gute Arbeitsverhältnisse und leistungsfähige Strukturen innerhalb
der Behörden. Sichere und leistungsfähige Datenverarbeitung, kom-
biniert mit mobiler IT und klar geregelten Kompetenzen, ist dabei
eine Grundvoraussetzung moderner Polizeiarbeit. Gutes polizeiliches
Handeln kann jedoch kein Ersatz für gesellschaftliche Problemlösung
sein. Deswegen werden wir die Zusammenarbeit mit zivilen Trägern
und externen Expert*innen unterstützen und weiter ausbauen.
Die besondere Verantwortung der Polizei
Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle frei und sicher leben können.
Sicherheit muss überall gleichermaßen garantiert sein. Freiheits- und
Bürger*innenrechte behandeln wir nicht als Streichposten der Innen-
politik, sondern als ihre zentralen Schutzgüter. Sicherheit darf keine
Frage der sozialen Schicht, der Herkunft, des Geschlechts, der sexuel-
len Identität, des Aussehens oder des Wohnorts sein. Damit die Polizei
ihren komplexen Aufgaben nachkommen kann, muss sie auf das Ver-
trauen der gesamten Bevölkerung bauen können. Als ausführendes
Organ des staatlichen Gewaltmonopols hat die Polizei zudem eine
besondere Verantwortung. Dem entspricht die Einführung einer indi-
viduellen, aber anonymisierten Kennzeichnung für die Bundespolizei
sowie der Stelle einer/eines unabhängigen Bundespolizeibeauftrag-
ten mit umfassenden Kompetenzen, an die/den sich im Falle von auf-
tretenden Problemen oder erkannten Missständen sowohl Polizist*in-
nen wie auch Bürger*innen wenden können. Straftaten im Amt und
Todesfälle in Polizeigewahrsam müssen ohne Wenn und Aber aufge-
klärt werden. Wir werden die Kontrollbefugnisse der Bundespolizei
so ausgestalten, dass sie nicht mehr zu Racial Profiling führen, und
die Einführung sogenannter Ticketsysteme erproben, um Gründe für
polizeiliche Kontrollen für die Betroffenen transparent zu machen.
Polizist*innen sollten sich auch nach der Ausbildung verpflichtend
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN195Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
fortbilden können und müssen. Wichtige Fortbildungsbereiche sind
beispielsweise der Umgang mit Menschen mit psychischen Erkran-
kungen sowie Antidiskriminierung und die Gefahr von Racial Profiling.
Besondere Belastungen im Dienst sollen regelmäßig, beispielsweise
im Rahmen von Supervision, nachbereitet werden. Eine bundesweite,
externe Fachstelle zur Seelsorge und ethischer Bildung ist einzu-
richten. Das bereits bestehende ZeBuS (Zentrum für ethische Bildung
und Seelsorge in der Polizei NRW) kann hierbei als Vorbild dienen.
Längst überfällig sind unabhängige wissenschaftliche Studien zu
Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus in den Sicher-
heits- und Strafverfolgungsbehörden. Wir wollen Polizeiforschung
besser ermöglichen und die Polizei dafür stärker öffnen. Rationale
Sicherheitspolitik setzt eine solide Faktenlage und klare Zuständig-
keiten voraus. Deshalb werden wir unter anderem den Periodischen
Sicherheitsbericht wieder einführen, dessen Aussagekraft sich in der
Vergangenheit bewährt hat.
Europäisches Kriminalamt schaffen,
organisierte Kriminalität verfolgen
Zahlreiche Straftaten finden grenzüberschreitend statt, insbesondere
die organisierte Kriminalität und islamistische oder rechtsextreme
Terrornetzwerke machen nicht an Landesgrenzen halt. Zum Schutz
der Bürger*innen und zur Verteidigung unserer Freiheit brauchen
wir eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Polizei
und Justiz: durch gemeinsame europäische Polizeiteams, durch die
Aufwertung von Europol zu einem Europäischen Kriminalamt sowie
durch eine engere justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten,
auch mit Hilfe von Eurojust und bei der Bekämpfung von Betrug zu
Lasten der EU-Finanzen mit dem EU-Betrugsbekämpfungsamt OLAF
und der Europäischen Staatsanwaltschaft unter Nutzung modernster
Analysemethoden. Wegen der zunehmenden Vernetzung von euro-
päischen Datenbanken sind hohe Datenschutzstandards und eine
Verbesserung des grenzüberschreitenden Rechtsschutzes unabding-
bar. Diese Zusammenarbeit braucht eine unabhängige Justiz und faire
Strafverfahren in allen EU-Mitgliedstaaten.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN196Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Verfassungsschutz neu ordnen
Der Verfassungsschutz hat in der Vergangenheit viel Vertrauen ver-
spielt, vor allem im Hinblick auf den NSU-Komplex. Hier sind Ver-
änderungen, insbesondere durch einen personellen Neuanfang, zu
beobachten, dennoch muss ein struktureller Neustart folgen, mit dem
die Analysefähigkeit des Verfassungsschutzes verbessert wird. Der in
Wissenschaft und Zivilgesellschaft schon heute vorhandene Sach-
verstand über verfassungsfeindliche Bestrebungen muss systema-
tischer genutzt werden. Diese Expertise soll einbezogen und durch
ein Demokratiefördergesetz flächendeckend gestärkt und dauerhaft
gefördert werden. Wir wollen den Verfassungsschutz strukturell neu
aufstellen: zum einen mit einem unabhängigen, wissenschaftlich aus
öffentlichen Quellen arbeitenden Institut zum Schutz der Verfassung.
Zum anderen mit einem verkleinerten Bundesamt für Gefahrenerken-
nung und Spionageabwehr, das mit rechtsstaatskonformen nachrich-
tendienstlichen Mitteln klar abgegrenzt von polizeilichen Aufgaben
arbeitet. Hier braucht es auch eine engere und effektivere parlamen-
tarische Kontrolle. Um Vertrauen zurückzugewinnen, werden wir die
Kontrolle der Arbeit der Nachrichtendienste stärken und den Einsatz
von menschlichen Quellen gesetzlich regeln.
Rechtsextremismus bekämpfen, Netzwerke zerschlagen
Es gibt mehr als 32.000 Rechtsextremist*innen in Deutschland, die
sich trotz des ausgrenzend völkischen Ansatzes auch transnational
immer stärker vernetzen. Die Bekämpfung rechtsextremistischer
Strukturen – auch innerhalb der Sicherheitsbehörden – muss Prio-
rität für alle Sicherheitsorgane haben. Dazu braucht es ein Bün-
del aus Prävention, Schutz- und Sanktionsmaßnahmen. Durch eine
bundesweit vernetzte Präventionsstrategie wollen wir die Präven-
tionsarbeit massiv ausbauen und dabei auch die antifeministische
und nationalistisch-völkische Dimension des Rechtsextremismus
in den Blick nehmen. Zu Letzterer gehört zum Beispiel die rechts-
extreme und gewaltbereite „Ülkücü-Bewegung“, umgangssprachlich
„Graue Wölfe“ genannt, die wir mit allen politisch und rechtlich zur
Verfügung stehenden Mitteln zurückdrängen wollen. Zivilgesell-
schaftliche Gruppen leisten eine wichtige Arbeit zur Aufklärung und
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN197Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Zurückdrängung rechtsextremer Strukturen. Sie sollen strukturell
und langfristig durch ein Demokratiefördergesetz gefördert werden.
Wir werden unabhängige wissenschaftliche Studien zu Rassismus
und Rechtsextremismus in den verschiedenen Sicherheitsbehörden
initiieren, Hassgewalt erfassen und konsequent verfolgen. Rechts-
extreme müssen konsequenter und zügiger als bisher aus Sicher-
heitsbehörden entfernt werden. Hierfür wollen wir die rechtlichen
Voraussetzungen schaffen. Die Mordserie des rechtsterroristischen
NSU sowie andere rassistische und rechtsextremistische Terrorakte
in Deutschland – zum Beispiel die Morde in Hanau – sind nach wie
vor nicht vollständig aufgearbeitet. Deshalb richten wir nach dem
Vorbild der Stasi-Unterlagen-Behörde ein Archiv über rechten Terror
ein, in dem auch die Dokumente und Ergebnisse der 13 parlamen-
tarischen Untersuchungsausschüsse zum NSU ausgewertet werden
und die langfristig Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und der
Zivilgesellschaft zugänglich sind. Unsere Solidarität gilt allen Opfern
und Betroffenen von rechtsterroristischen, extrem rechten und ras-
sistischen Angriffen. Wir wollen daher auf Bundesebene einen Fonds
für Opfer und Betroffene, insbesondere rechtsextremer, rassistischer
oder islamistischer Gewalt, einrichten.
Vor Terrorismus schützen
Jede Form politisch motivierter Gewalt gefährdet unseren Rechts-
staat. Insbesondere durch Terrorismus von gewaltbereiten Rechts-
extremist*innen und Islamist*innen ist die öffentliche Sicherheit in
Deutschland bedroht. Um die offene Gesellschaft, unsere Demokra-
tie und die Menschen zu schützen, müssen wir Terror entschieden
bekämpfen – durch effektive intersektional ausgerichtete Präven-
tionsarbeit, bessere Vernetzung der Sicherheitsbehörden und eine
konsequente Überwachung von sogenannten Gefährder*innen. Dazu
braucht es eine europäisch abgestimmte Definition des Gefährder-
begriffs mit rechtlich überprüfbaren Ein- und Ausstufungskriterien.
Gefährder*innen müssen engmaschig überwacht werden. Ziel ist,
dass gegenüber Gefährder*innen offene Haftbefehle konsequent
vollstreckt und laufende Verfahren über Ländergrenzen hinweg
zusammengezogen werden. Die Kooperation und Kommunikation
zwischen den Sicherheitsbehörden, auch über Ländergrenzen, muss
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN198Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
reformiert werden, wozu die Schaffung rechtlicher Grundlagen für die
Terrorabwehrzentren GTAZ und GETZ gehört. Jenseits der Terrorab-
wehr lehnen wir Grundrechtseingriffe aufgrund einer Einstufung als
sogenannte*r Gefährder*in ab. Aussteigerprogramme für Menschen
aus der rechtsextremistischen und islamistischen Szene werden wir
ebenso ausbauen wie Hilfs- und Beratungsangebote für Opfer und
deren Angehörige. Es braucht ein bundeseinheitliches, professionali-
siertes Präventions- und Deradikalisierungsnetzwerk – analog zu den
zivilgesellschaftlichen Trägern, die sich bereits besser als die politi-
schen Ebenen in Bund und Ländern vernetzt haben. Prävention und
Deradikalisierung in Haftanstalten wollen wir stärken. Um Attentate
zu erschweren, werden wir illegalen Waffenhandel, auch und gerade
auf Online-Marktplätzen, verstärkt verfolgen.
Mehr Sicherheit durch weniger Waffen
In Deutschland gibt es über fünf Millionen legale Waffen. Jedes Jahr
sterben Menschen auch durch legale Waffen, beim Hantieren mit
ihnen oder durch Straftaten. Diese reichen von häuslicher Gewalt
über Amokläufe bis hin zu extremistischen Attentaten. Solche Straf-
taten werden nicht unbedingt durch die berechtigten Legalwaffen-
besitzer*innen begangen, sondern auch durch Menschen, die sich
rechtswidrig Zugang zu diesen Waffen verschaffen, weil sie über ent-
sprechende Zugänge, zum Beispiel im gemeinsamen Haushalt, verfü-
gen. Um ein valides Bild über die Dimensionen und Ursachen solcher
Straftaten zu erhalten, braucht es eine verbesserte kriminalstatistische
Erfassung. Es muss dokumentiert werden, ob eine Straftat mit einer
legalen oder illegalen Schusswaffe begangen wurde, ob es bei der Tat
auch zu einer Schussabgabe kam und ob die oder der Tatverdächtige
berechtigt war, die Waffe zu besitzen oder nicht. Jeder Mensch, der
durch eine Waffe stirbt, ist einer zu viel. Deshalb wollen wir die Ver-
fügbarkeit von tödlichen Schusswaffen – außer für Jäger*innen, die
ohne diese Waffen ihre Aufgaben nicht erfüllen können – schrittweise
beenden. Auch im Bereich des Schießsports setzen wir uns im Dialog
mit Sportschütz*innen für die Umstellung auf nichttödliche Schuss-
waffen ein.
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN199Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Bevölkerungsschutz krisenfest machen
Deutschland verfügt über ein herausragendes Netz von Akteur*innen,
die im Katastrophenfall handlungsfähig sind. Das Rückgrat hierfür
bilden die überwiegend freiwilligen Mitglieder der Hilfsorganisati-
onen, Feuerwehren und des Technischen Hilfswerks. Die Klimakrise
und die Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft setzen
dieses System unter Druck. Gerade länderübergreifende Katastro-
phen, wie Pandemien, Hochwasserereignisse, Waldbrände oder flä-
chendeckende Stromausfälle, haben ein enormes Schadenspotenzial
und erfordern koordiniertes Handeln, wenn einzelne Länder an ihre
Grenzen stoßen. Wir wollen, dass sich der Bund hier stärker engagiert
und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
mehr Kompetenzen bekommt. Das freiwillige und Spontanhelfer*in-
nen-Engagement wollen wir weiter stärken und für digitale Bereiche,
zum Beispiel über ein Cyber-Hilfswerk, fit machen. Außerdem setzen
wir uns für eine Stärkung des gesundheitlichen Bevölkerungsschut-
zes ein, um die interdisziplinäre Bekämpfung von zukünftigen Pande-
mien sicherzustellen.
Schutz für Whistleblower*innen
Abgasmanipulationen, Missstände in Pflegeeinrichtungen, der Ver-
kauf von Facebook-Nutzerdaten – kaum einer der großen Wirtschafts-
skandale der vergangenen Jahre wäre ohne die Hinweise aus den
Unternehmen überhaupt an die Öffentlichkeit gelangt. Missstände in
Unternehmen, Behörden und anderen Bereichen wie Doping im Sport
bis hin zu kriminellen Aktivitäten in Unternehmen und Behörden
brauchen mutige Menschen, die sie ans Licht bringen. Diese „Whistle-
blower*innen“ müssen im Interesse von uns allen besser vor Repres-
salien aus dem Aus- und Inland, gesundheitlichen, finanziellen und
sozialen Folgen ihrer Meldung geschützt werden. Das werden wir mit
einem Hinweisgeberschutzgesetz, das die EU-Whistleblower-Richt-
linie ambitioniert und umfassend auch für das gesamte nationale
Recht umsetzt, erreichen. Darin festgeschrieben sind ein zweistufiges
Meldeverfahren sowie ein Entschädigungsfonds, mit dem das per-
sönliche Risiko minimiert wird. Die Furcht vor einem ökonomischen
und persönlichen Schaden als Hemmnis für eine Hinweisgabe soll so
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN200Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
abgebaut und potenzielle Hinweisgeber*innen sollen ermutigt wer-
den. Wir wollen, dass Whistleblower*innen wie Edward Snowden, dem
wir die Aufdeckung der weltweiten Ausspähung und Massenüberwa-
chung durch zahlreiche Nachrichtendienste zu verdanken haben, frei
und sicher in einem demokratischen Land leben können, und ihnen
dies auch in Deutschland anbieten.
Zielgerichtete Abwehr konkreter Gefahren
Ein funktionierender, demokratischer Rechtsstaat muss Sicherheit
gewährleisten und die ihn konstituierenden Freiheitsrechte wahren.
Wir stehen für eine rationale Sicherheits- und Kriminalpolitik, die
Rechtsgüter vor realen Beeinträchtigungen schützt, konkrete Gefah-
ren anlassbezogen und zielgerichtet abwehrt sowie eine verhältnis-
mäßige Strafverfolgung gewährleistet, statt die Bevölkerung mit
pauschaler Massenüberwachung unter Generalverdacht zu stellen.
Sicherheitsgesetze müssen auf den Prüfstand, zukünftig auf vali-
der Empirie beruhen und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit regelmäßig
unabhängig evaluiert werden. Wir stellen dazu eine Überwachungs-
gesamtrechnung auf, die laufend fortgeführt wird. Den Einsatz bio-
metrischer Identifizierung im öffentlichen Raum, wie beispielsweise
Gesichtserkennung, lehnen wir ebenso wie die undifferenzierte Aus-
weitung der Videoüberwachung, die anlasslose Vorratsdatenspeiche-
rung, generelle Hintertüren in digitalen Geräten und Anwendungen
oder das Infiltrieren von technischen Geräten (Online-Durchsuchung
bzw. Quellen-TKÜ) ab. Zudem soll eine Verpflichtung eingeführt
werden, Sicherheitslücken zu melden und aktiv auf ihre Behebung
hinzuwirken. Unternehmen dürfen nicht dazu verpflichtet werden,
die IT-Sicherheit und Netzintegrität auf Kosten der Allgemeinheit
zu gefährden. Wir streiten für eine technisch und personell gut aus-
gestattete und zielgerichtete Polizeiarbeit auf klaren Rechtsgrund-
lagen. Damit stärken wir auch die Rechtssicherheit für die Arbeit der
Behörden und schaffen Vertrauen. Die digitale Kompetenz in den
Sicherheitsbehörden wollen wir stärken, damit bestehende Möglich-
keiten zur Verbrechensverhütung und -aufklärung effektiv angewen-
det werden.
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN201Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Wir garantieren den Rechtsstaat
und stärken den Verbraucherschutz
Konsequent gegen Korruption
Korruption, Steuerhinterziehung, Geldwäsche oder Manipulationen
im Finanzmarkt sind Rechtsverstöße, die verheerende Auswirkun-
gen auf den Wettbewerb und den freien Markt, für Umwelt und Men-
schen(rechte) haben können. Wirtschaftsstraftaten machen einen
Großteil der polizeilich erfassten finanziellen Schädigungen aus. Bei
Rechtsverstößen werden wir Unternehmen deshalb künftig wirksa-
mer zur Rechenschaft ziehen. Ziel ist, die bereits verstreut bestehen-
den Regelungen in einem eigenständigen Gesetz gegen Wirtschafts-
kriminalität zusammenzufassen und zu ergänzen. Um zu verhindern,
dass Rechtsverstöße von Unternehmen wegen organisierter Unver-
antwortlichkeit nicht geahndet werden können, soll künftig auch an
das Organisationsverschulden angeknüpft werden können. Die Pflicht
zum Nachweis der legalen Herkunft großer Zahlungen wollen wir
verstärken. Sanktionen müssen gemäß den EU-Vorgaben wirksam,
angemessen und abschreckend sein, zum Beispiel indem unrechtmä-
ßiger Gewinn bei der Abschöpfung geschätzt werden darf und die
nötigen Ressourcen dafür bereitgestellt werden. Den Sanktionskata-
log wollen wir um weitere Maßnahmen, wie den Ausschluss von der
Vergabe öffentlicher Aufträge, die Schadenswiedergutmachung sowie
verpflichtende Vorkehrungen für Unternehmen zur Verhinderung von
Straftaten, erweitern und ein öffentliches Sanktionsregister einführen.
Rechtsschutz für jede*n, Gruppenklagen einführen
Menschen müssen ihr Recht auch gegenüber wirtschaftlich Stärke-
ren wirksam durchsetzen können, zum Beispiel in Fällen wie dem
Diesel-Abgas-Betrug. Dazu führen wir die Gruppenklage ein, damit
Menschen auch bei kleineren, aber massenhaft auftretenden Schäden
effektiv zu ihrem Recht kommen und zum Beispiel Schadensersatz
bekommen. Die bisher eingeführten kollektiven Klageverfahren, wie
die Musterfeststellungsklage, die nur Verbraucher*innen zusteht, und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN202Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, sind unzureichend. Die
immer beliebtere und oft wirkungsvolle Rechtsdurchsetzung durch
Legal-Tech-Unternehmen kann andererseits vielen Menschen schnell
und unkompliziert zu ihrem Recht verhelfen. Den kollektiven Rechts-
schutz wollen wir deshalb verallgemeinert und vereinheitlicht in die
Zivilprozessordnung integrieren und die Bündelung individueller
Ansprüche im Rahmen einer Gruppenklage ermöglichen. Für eine bes-
sere Durchsetzung des Rechts sollen die Zugangsschranken gesenkt,
die Verfahren vereinfacht sowie die Beratungs- und Prozesskosten-
hilfe gestärkt werden. Die Verbandsklage-Richtlinie der EU setzen
wir verbraucherfreundlich und zügig in nationales Recht um. Die Aus-
wirkungen unterschiedlicher Finanzkraft der Parteien, Möglichkeiten
der Prozessverzögerung und der Einfluss von tatsächlich betroffenen
Dritten (zum Beispiel Versicherungen) auf Gerichtsverfahren müssen
minimiert werden.
Strafrechtliche Sanktionen mit Vernunft und Augenmaß
Wir überprüfen die Wirkungen der Straf- und Strafverfahrensrechts-
Änderungen der letzten Jahre anhand des Maßstabs rationaler, fakten-
basierter Kriminalpolitik und reformieren das Sanktionensystem mit
dem Ziel von Prävention und Resozialisierung. Dazu gehören Verzicht
auf nutzlose Ersatzfreiheitsstrafen, größere Wirksamkeit von Bewäh-
rungsauflagen und Stärkung von ambulanten Sanktionsmöglichkeiten.
Kinderschutz vor Gericht verbessern
In familienrechtlichen Verfahren werden Entscheidungen getroffen,
die erhebliche Auswirkungen auf das weitere Leben von Kindern
und ihren Familien haben können. Häusliche Gewalt muss in Ent-
scheidungen über Besuchs- und Sorgerecht berücksichtigt werden.
Es gilt den Kinderschutz vor Gericht zu stärken und die Meinung von
Kindern zu berücksichtigen. Anhörungen müssen kindgerecht ausge-
staltet sein und mehrfache Befragungen nach Möglichkeit vermieden
werden. Im familiengerichtlichen Verfahren braucht es entsprechende
interdisziplinäre Angebote, wie zum Beispiel Childhood-Häuser. Wir
machen einerseits die Fortbildungen für Familienrichter*innen ver-
bindlich und werden diese andererseits beim Arbeitspensum der
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN203Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
Richter*innen berücksichtigen. Auch in Kindschaftssachen wollen wir
die Rechtsbeschwerdemöglichkeit zum Bundesgerichtshof herstellen.
In Strafverfahren wollen wir die Opferrechte von Kindern weiter stär-
ken. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder muss konsequent aufgeklärt
und verfolgt werden, vor allem durch mehr – insbesondere auch auf
Internetkriminalität spezialisiertes – Personal bei Polizei und Staats-
anwaltschaften.
Vor Kostenfallen schützen, Online-Kündigung mit nur
einem Klick
Online-Verträge kann man mit einem Klick abschließen, die Kündi-
gung bedarf aber der Textform. Auch lange Mindestlaufzeiten und
automatische Vertragsverlängerungen um ein Jahr sind alles andere
als verbraucherfreundlich. Immer noch werden Verbraucher*innen an
Telefon oder Haustür überrumpelt und ihnen ungewollte Verträge
untergeschoben. Wir wollen Verbraucher*innen vor Vertragsfallen
schützen und durchsetzen, dass die Online-Kündigung so einfach ist
wie die Online-Bestellung. So wie es einen Bestellbutton gibt, muss
es auch einen Kündigungsbutton geben sowie eine verpflichtende
Eingangsbestätigung für Online-/E-Mail-Kündigungen. Vertrags-
laufzeiten und automatische Verlängerungen müssen verkürzt wer-
den – zugunsten des Verbraucherschutzes und des Wettbewerbs. Wir
wollen die maximale Mindestlaufzeit von Verträgen von zwei Jahren
halbieren und die stillschweigende Vertragsverlängerung von einem
Jahr auf einen Monat verkürzen. Telefonisch abgeschlossene Verträge
sollen erst gelten, wenn sie nachträglich bestätigt werden. Auch vor
unseriösen Haustürgeschäften wollen wir Verbraucher*innen besser
schützen.
Ein Recht auf Reparatur
Von der Waschmaschine bis zum Handy – viele Geräte landen schon
nach kurzer Zeit auf dem Müll, weil sie schnell kaputtgehen, nicht
reparierbar sind oder keine Softwareupdates mehr angeboten wer-
den. Das ärgert die Verbraucher*innen, es verschwendet wertvolle
Ressourcen und verursacht Berge von Elektroschrott. Wir setzen statt-
dessen auf Qualität und Langlebigkeit. Durch ein Recht auf Reparatur
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN204Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
wollen wir Elektroschrott von vornherein vermeiden. Die Grundlage
dafür sind verbindliche Designvorgaben, damit elektronische Geräte
so gestaltet sind, dass sie möglichst langlebig, reparierbar und recyc-
lingfähig sind. Dabei darf es nicht nur um die Hardware eines Geräts
gehen. Mindestens für die erwartbare Lebensdauer müssen Ersatz-
teile und Softwareupdates kostengünstig erhältlich sein. Ein Label
soll erkennbar und vergleichbar machen, wie lange Ersatzteile und
Softwareupdates zur Verfügung gestellt werden. Durch die Verdopp-
lung der Gewährleistungsfristen auf vier Jahre, die Erweiterung der
Beweislastumkehr auf zwei Jahre und eine Angabe der vom Hersteller
vorgesehenen Lebensdauer wollen wir erreichen, dass Geräte für eine
längere Lebensdauer gebaut werden. So werden wir die Spielräume
der EU-Vorgaben voll ausschöpfen und uns gleichzeitig für mehr
Verbraucherschutz in der EU engagieren. Außerdem werden wir den
reduzierten Mehrwertsteuersatz für Reparaturdienstleistungen ein-
führen und uns auf EU-Ebene für die Ausweitung auf die Reparatur
von Elektrogeräten einsetzen.
Finanzberatung im Interesse der Kund*innen
Häufig werden Kund*innen Finanz- und Versicherungsprodukte ver-
mittelt, die am persönlichen Bedarf vorbeigehen. Diese Produkte sind
häufig gut für die Gewinne der Banken und Versicherungen, aber
schlecht für die Kund*innen. Wir wollen die Finanzberatung vom Kopf
auf die Füße stellen. Dafür schaffen wir ein einheitliches und trans-
parentes Berufsbild für Finanzberater*innen. Alle Vermittler*innen
und Berater*innen sollen künftig von der BaFin beaufsichtigt wer-
den. Wir wollen weg von der Provisionsberatung und schrittweise zu
einer unabhängigen Honorarberatung übergehen. Dafür schaffen wir
eine gesetzliche Honorarordnung, die Finanzberater*innen stärkt und
unabhängiger macht. Zusammen mit den Verbraucherzentralen und
der Branche entwickeln wir Honorarmodelle (Ratenzahlungen, Flat-
rates), die zu Lebenssituation und Präferenzen der Menschen passen,
und senken mit Standardprodukten in der Altersvorsorge die Kos-
ten insbesondere für Menschen mit kleinen und mittleren Einkom-
men. Die Finanzaufsicht soll von der Möglichkeit, den Vertrieb von
schädlichen irreführenden Finanzprodukten zu untersagen, häufiger
Gebrauch machen und für mehr Finanzbildung sorgen. Zusätzlich
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN205Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
wollen wir die Kompetenzen der BaFin im Verbraucherschutz stärken
und die Beteiligungsrechte des Verbraucherbeirats ausweiten. Über-
höhte Dispozinsen und Gebühren, insbesondere für das Basiskonto,
werden wir begrenzen.
Wir fördern die Kultur,
die Künste und den Sport
Krisenfeste Strukturen für die Kultur
Die Künste sind frei und müssen keinen Zweck erfüllen. Sie sind
gleichzeitig von zentraler Bedeutung für die Selbstreflexion der
Gesellschaft, den Zusammenhalt und die Persönlichkeitsbildung der/
des Einzelnen. Wir wollen, dass die Kulturlandschaft nach der Pan-
demie mit ihren monatelangen Schließungen zu neuer Lebendigkeit,
Vielfalt und Reichhaltigkeit findet und Kultur und kulturelle Bildung
endlich selbstverständlicher Teil der Daseinsvorsorge werden. Deswe-
gen wollen wir Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankern. Eine
nachhaltige (Wiederaufbau-)Strategie muss die Kommunalfinanzen
als eine wichtige Grundlage für das Kulturleben stärken, das Zuwen-
dungsrecht reformieren, mehr Kooperationen zwischen Bund, Ländern
und Kommunen bei der Finanzierung von Kultureinrichtungen und
-projekten ermöglichen sowie einen Fonds zum Schutz von Kultur-
einrichtungen vor Verdrängung und Abriss einrichten, der Kulturorte
wie beispielsweise Clubs langfristig absichert. Die öffentliche Kultur-
förderung soll künftig partizipativ, inklusiv und geschlechtergerecht
abgestimmt sowie nach transparenten Kriterien angelegt sein. Ebenso
braucht es eine gleiche Wertschätzung bei der Finanzierung und den
Rahmenbedingungen für alle Kulturformen und -sparten, für die freie
Szene und institutionell geförderte Kultureinrichtungen.
Kulturschaffende und Kreative besser absichern
Die Corona-Krise zeigt, unter welch prekären Bedingungen viele Kul-
tur- und Medienschaffende arbeiten. Für eine vielfältige Kulturland-
schaft braucht es eine Absicherung, die Freiräume bietet und künst-
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN206Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
lerisches und kreatives Schaffen ermöglicht. Wir setzen uns für gute
Arbeits- und Ausbildungsbedingungen und faire Bezahlung ein, damit
an privaten und insbesondere öffentlichen Kulturinstitutionen pre-
käre Arbeitsverhältnisse überwunden werden. Solo-Selbständige und
Kulturschaffende sollen für die Zeit der Corona-Krise mit einem Exis-
tenzgeld von 1.200 Euro im Monat abgesichert werden. Eine Absiche-
rung braucht es aber auch darüber hinaus. Die Künstlersozialkasse
(KSK) muss finanziell gestärkt, Rechtssicherheit für die Mitgliedschaft
in der KSK, auch für Künstler*innen, die nur zeitweise für Produktionen
versicherungspflichtig angestellt sind, geschaffen und die freiwillige
Weiterversicherung für Selbständige in der Arbeitslosenversicherung
vereinfacht werden. Es muss sichergestellt werden, dass Urheber*in-
nen für ihre Werke eine angemessene Vergütung erhalten. Eine ange-
messene Beteiligung, insbesondere an den Gewinnen der Vertriebs-
plattformen, sorgt dafür, dass Kultur- und Medienschaffende weiter
an ihren Werken verdienen können. Nutzer*innen sollen bei digitalen
Inhalten bei der Ausleihe und Weiterveräußerung nicht schlechter-
gestellt werden als bei analogen Gütern. Aus diesem Grund sollen
Bibliotheken unter denselben Bedingungen E-Books verleihen dürfen,
die sich für physische Bücher bewährt haben, ohne dafür Lizenzver-
träge abschließen zu müssen.
Kultur in der Gesellschaft
Aktives Kulturleben ist die Basis von demokratischen Gesellschaf-
ten. Hier findet die Auseinandersetzung darüber statt, wie wir leben
wollen. Deshalb muss die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt im
Kulturschaffen sichtbar sein. Wir wollen Kultureinrichtungen öffnen
und stärken, damit jede*r einfachen Zugang zu ihnen hat und ihre
Angebote nutzen und gestalten kann. Bestehende soziale, finanzielle
oder bauliche Hürden müssen dafür abgebaut werden, etwa durch
den kostenlosen Eintritt für Schüler*innen in staatlichen Museen,
durch die Sonntagsöffnung von öffentlichen Bibliotheken oder durch
einen Kulturpass für Menschen mit geringem Einkommen. Wir wollen
gerade solche Kulturangebote kontinuierlich und flächendeckend för-
dern, die die Situation und die Bedürfnisse in ihrer Stadt oder ihrer
Gemeinde mitdenken und das als ihre zentrale Zukunftsaufgabe ver-
stehen. In ländlichen Regionen, aber auch in urbanen Zentren sollen
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Kultureinrichtungen Knotenpunkte von Begegnungen und zu soge-
nannten „Dritten Orten“ werden, die auch Menschen einen Zugang
zu Kultur ermöglichen, die davon bislang wenig profitieren. Bei der
Besetzung von Intendanzen, bei der Zusammensetzung von staat-
lich geförderten Kulturbetrieben, bei der Vergabe von Stipendien und
Werksaufträgen und bei staatlichen Jurys wollen wir eine Quoten-
regelung einführen, um Geschlechtergerechtigkeit zu gewährleisten,
sowie flache Hierarchien und partizipative Strukturen fördern. Zudem
muss auf angemessene Repräsentanz der vielfältigen Gesellschaft
geachtet werden. Themen wie Nachhaltigkeit, Diversität und inklusive
Teilhabe müssen fester Bestandteil der Ausbildung zu Kulturberufen
sein. Auch kulturelle Vielfalt sowie Transkulturalität, also die gegen-
seitige Durchdringung von Kulturen, wollen wir fördern.
Den Kulturbetrieb ökologischer machen
Der Kulturbetrieb und die Künste können eine wichtige Rolle bei
der Bewältigung der Klimakrise spielen. Es gibt viele Initiativen und
Akteur*innen, die mit großem Einsatz versuchen, ressourcenschonen-
der zu arbeiten und den Kulturbetrieb ökologisch auszurichten. Die-
ses Engagement werden wir durch eine zentrale Beratungsstelle, den
Green Culture Desk, unterstützen und einen Green-Culture-Fonds als
Förderinstrument einrichten. Künstler*innen geben außerdem wich-
tige Impulse für die nachhaltige Transformation. Wir wollen im Sinne
eines Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit ein Instrument zur ressort-
übergreifenden, transdisziplinären Förderung schaffen, das den Auf-
bau von langfristigen Strukturen ermöglicht sowie freie Experimen-
tier- und Handlungsräume schafft. Damit sind auch hybride Modelle
der Kooperation zwischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und
Akteur*innen der Zivilgesellschaft gemeint.
Film- und Kinokultur stärken und ins digitale Zeitalter führen
Den Film als prägendes Medium des Bewegtbildes und Kinos als
öffentliche Kulturorte wollen wir angesichts des schnellen Wandels
der Produktions- und Vertriebsformen stärken. Um die künstlerische
Qualität und Anziehungskraft des deutschen und europäischen Films
zu steigern, vereinfachen wir Entscheidungsprozesse: Wir entflech-
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ten die Struktur aus Fernsehsendern und einer Vielzahl an Gremien
zugunsten kriterienbasierter, automatischer Förderungen und richten
unser Augenmerk verstärkt auf die Förderung von Stoffen und Dreh-
büchern sowie des Nachwuchses. Verbindliche Quoten sorgen dafür,
dass Frauen im Film gleiche Chancen haben. Soziale Mindeststan-
dards und faire Verwertungswege verbessern die ökonomische Lage
der Filmschaffenden. Ökologische Produktion wird mit finanziellen
Anreizen belohnt. Kinos und Festivals unterstützen wir durch verläss-
liche Förderinstrumente.
Erinnerungskultur stärken und öffnen
Erinnerungskultur trägt entscheidend zur Selbstverständigung und
zum Zusammenhalt bei und ist eine grundlegende Voraussetzung für
den Schutz unserer Demokratie. Doch noch immer gibt es Leerstellen
in der Aufarbeitung der deutschen Verbrechensgeschichte. Der Natio-
nalsozialismus muss weiter konsequent aufgearbeitet werden. Bis-
her wenig beachtete Opfergruppen wie die sogenannten „Asozialen“,
„Berufsverbrecher“ und „Euthanasie“-Opfer wollen wir würdigen und
durch eine angemessene Entschädigung anerkennen. Ihre Lebensge-
schichten sowie die Tatorte der Morde sollen erforscht und gekenn-
zeichnet werden. Die finanzielle Förderung der Forschungsarbeiten,
die Weiterentwicklung der pädagogischen und wissenschaftlichen
Arbeit der Gedenkstätten sowie die weitere Aufarbeitung und Rück-
gabe von NS-Raubkunst stehen im Mittelpunkt. Dazu gehört auch,
den weiteren Verpflichtungen gegenüber Ländern, die unter der deut-
schen Besatzung gelitten haben, nachzukommen. Auch die SED-Dik-
tatur soll durch die Fortsetzung der Forschung und der politischen
Bildungsarbeit an den Außenstellen des Bundesbeauftragten für
die Stasi-Unterlagen weiter aufgearbeitet werden. Erinnerungsorte
an die friedliche Revolution von 1989, die deutsche Wiedervereini-
gung und die folgenden tiefgreifenden Transformationsprozesse in
Ostdeutschland werden wir in Bundesträgerschaft fördern. Auch die
regionalen Aufarbeitungsinitiativen wollen wir stärker in ihrer Arbeit
unterstützen und setzen uns für unbürokratische und höhere Ent-
schädigungsleistungen für die Opfer und Verfolgten der SED-Diktatur
ein. Wir wollen außerdem rechtliche Regelungen für die Rückgabe
von Raubkunst der NS- und der DDR-Zeit schaffen. Durch eine zen-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN209Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
trale Erinnerungs- und Lernstätte werden wir die Kontinuitäten des
Kolonialismus ins Bewusstsein rücken und so eine gesellschaftliche
Debatte über unser koloniales Erbe fördern, die eine antirassistische
Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft ermöglicht. Dazu sind die
kritische Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen und die Dekoloni-
sierung öffentlicher Räume zentral und es bedarf einer umfänglichen
Provenienzforschung, Digitalisierung und transparenten Veröffentli-
chung sowie verbindlicher Regelungen zur Restitution von Kulturerbe
aus kolonialen Kontexten. Das gelingt nur in enger Zusammenarbeit
mit den Nachkommen und zivilgesellschaftlichen Initiativen der ehe-
mals Kolonisierten und Geschädigten weltweit. Gleichzeitig muss sich
die deutsche Erinnerungskultur für die vielfältigen Erfahrungen und
Geschichten der Menschen öffnen, die nach Deutschland eingewan-
dert sind oder deren Geschichte mit der deutschen verwoben ist, und
das Gedenkstättenkonzept muss entsprechend weiterentwickelt wer-
den. Wir werden uns auch für eine aktive Erinnerungskultur in allen
öffentlichen Institutionen einsetzen.
Ein Entwicklungsplan für den Sport
Im Sport, dem größten Träger der organisierten Zivilgesellschaft und
des freiwilligen Engagements, werden täglich demokratische Werte
wie Gemeinsamkeit, Toleranz, Integration, Inklusion, Engagement und
Gesundheitsprävention gelebt und vermittelt. Damit übernimmt der
Sport eine herausragende Rolle für das gesellschaftliche Zusammen-
leben. Dies werden wir fördern und bessere Rahmenbedingungen
schaffen. Wir setzen uns dafür ein, dass sich die Teilhabe von Frauen
im Sport und die Diversität von Sportler*innen und Athlet*innen auch
in der Besetzung von Entscheidungsgremien niederschlägt. Wir wol-
len Ideen und Energien bündeln und zusammen mit den Sportverbän-
den, Ländern, Kommunen, der Wissenschaft und unter Beteiligung der
Bürger*innen einen Entwicklungsplan Sport erarbeiten und umset-
zen – ähnlich dem Goldenen Plan aus den 1960ern. Ein besonderer
Fokus muss dabei vor allem auf strukturschwachen Regionen, gerade
in Ostdeutschland, liegen, denn die Diskrepanz zwischen Ost und
West ist beim Breitensport auch 30 Jahre nach der friedlichen Revo-
lution ein Problem. Ausreichend vorhandene und barrierefreie Sport-
stätten und Bewegungsräume zählen in Städten und ländlichen Räu-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN210Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
men zur Daseinsvorsorge, deshalb wollen wir, dass Bewegungs- und
Sportflächen in der Wohnungsbaupolitik und Quartiersplanung fest
verankert und die bestehenden Anlagen unter Beachtung der ener-
getischen Vorschriften durch die Kommunen saniert werden können.
Dazu gehören auch insbesondere Schwimmsportstätten, denn unser
Anspruch ist, dass jedes Kind schwimmen lernen kann. Das wollen
wir mit einem Bundesprogramm zur Sanierung und Instandsetzung
von Schwimmstätten erreichen. Sportgroßveranstaltungen sollen
klimaneutral, sozial, nachhaltig und menschenrechtskonform ermög-
licht, ihre Kosten transparent dargestellt werden, sodass sie auch
einen bleibenden Infrastrukturgewinn für die Bürger*innen vor Ort
schaffen. Dafür braucht es eine bundesweit einheitliche und föderal
abgestimmte Gesamtstrategie, bei der von Beginn an Bürger*innen-
beteiligung Teil der Planung ist. Das Prinzip Prävention ist die beste
Vorsorge, daher wollen wir für alle zugängliche öffentliche Bewe-
gungsräume unterstützen, die es auch Menschen mit einem gerin-
gen Einkommen ermöglichen, Sport zu betreiben. E-Sport ist längst
kein Nischenthema mehr und begeistert immer mehr Menschen.
Wir wollen neue Wege in Sport- und Jugendvereinen ermöglichen –
mit der Anerkennung der Gemeinnützigkeit für E-Sport stärken wir
ehrenamtliches Engagement. Potenziale für Nachwuchsgewinnung
in IT- und Kreativwirtschaft wollen wir aktivieren. Die Entwicklungen
von E-Sport und Gaming werden wir insbesondere im Hinblick auf
Diversität, Nachhaltigkeit, Jugendschutz sowie Medienkompetenz för-
dern und zusammen mit Gamer*innen, Verbänden und Wissenschaft
gestalten; gemeinsam mit allen Akteur*innen stellen wir uns gegen
Diskriminierung und Hatespeech.
Spitzensport braucht Breitensport
Ein starker Breitensport braucht Vorbilder. Im Leistungssport muss es
um die bestmögliche Förderung von Talenten gehen und nicht allein
um die Fixierung auf eine bestimmte Medaillenanzahl. Deshalb wol-
len wir bei der Förderung des Spitzensports die Bedingungen und
Perspektiven für Leistungssportler*innen insbesondere für den Nach-
wuchs in den Mittelpunkt stellen. Die bisherigen staatlichen Beschäf-
tigungsmöglichkeiten für Leistungssportler*innen werden durch zivile
Alternativen ergänzt. Die wichtige soziale und pädagogische Arbeit
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN211Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
von Trainer*innen im Ehrenamt und Hauptberuf wollen wir aufwerten.
Bei der Doping-Prävention und im Anti-Doping-Kampf stärken wir die
NADA und fordern auf internationaler Ebene weitreichende Reformen
der WADA, die ihre Aufgaben vollständig unabhängig ausführen und
Athlet*innen echte Mitbestimmung ermöglichen muss. Die Dopingver-
gangenheit gilt es lückenlos aufzuklären, Dopingopfer unterstützen
wir angemessen. Auch Korruptionsskandale auf höchster Ebene der
Sportfunktionär*innen sowie die zunehmende Kommerzialisierung
bedrohen den Spitzensport. Gerade beim Fußball als Publikumssport
gilt es die Partizipationsmöglichkeiten von Fans zu erhöhen und ihn
wieder stärker gesellschaftlich zu verankern. Deswegen sollen Trans-
parenz und Good Governance auch im Sport vorangetrieben werden.
Die Einhaltung von Menschenrechten muss von Sportverbänden auf
Grundlage der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte
umgesetzt und bei der Vergabe von Sportgroßereignissen zur Voraus-
setzung gemacht werden. Wir setzen uns für eine nationale Strategie
gegen psychische, physische und sexualisierte Gewalt im Sport ein, bei
der der Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport ein inte-
graler Bestandteil ist. Gegen Rechtsextremismus und andere Formen
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Sport gehen wir mit
einem langfristigen finanziell starken Bundesprogramm vor, das von
einer unabhängigen Stelle beraten wird. Für die sozialpädagogischen
Fußballfanprojekte und deren Koordinationsstelle sichern wir verläss-
liche Rahmenbedingungen. Wir schützen die Bürger*innenrechte von
Fans und diese vor ausufernden Datensammlungen und Kollektivstra-
fen. Noch immer vorhandene sexistische Strukturen müssen aufgebro-
chen und Sportstätten gendersensibel geplant werden.
Wir bauen Europa weiter
Die Zukunft der EU demokratisch gestalten
Wir sehen Deutschland in einer zentralen und historischen Verantwor-
tung für den Zusammenhalt und die Fortentwicklung der EU. Zuletzt
aber wurde von Berlin aus bestenfalls verwaltet, oftmals gebremst.
Wir wollen die Europapolitik aktiv und koordiniert gestalten – mit
klarem Wertekompass, entlang einer starken deutsch-französischen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN212Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Zusammenarbeit und im Zusammenspiel mit unseren europäischen
Partner*innen. Unser Ziel ist eine demokratisch gestärkte EU, die
zusammenhält, voranschreitet und ihr ganzes Gewicht gegen die Kli-
makrise und das Artensterben in die Waagschale wirft. Wir stehen
ein für ein vereintes Europa ohne Schlagbäume, denn die Freizügig-
keit ist eine der größten Errungenschaften des europäischen Pro-
jekts. In manchen Bereichen kommen wir nur mit unterschiedlichen
Geschwindigkeiten voran. Die verstärkte Zusammenarbeit im Rah-
men der Verträge bietet dafür gute Möglichkeiten und muss stets im
Bestreben, dass sich letztlich alle anschließen können, und mit vollen
Parlamentsrechten erfolgen. Die Weiterentwicklung europäischer Ins-
titutionen steht für uns in engem Zusammenhang mit dem Ausbau
des sozialen Zusammenhalts in der EU. In den kommenden Monaten
bietet die „Konferenz über die Zukunft Europas“ eine große Chance,
die europäische Öffentlichkeit zu stärken und gemeinschaftlich mit
den Bürger*innen Reformen der EU zu entwickeln. Wir wollen sie nut-
zen für die nächste Phase der europäischen Integration auf dem Weg
zur Föderalen Europäischen Republik und um europäische Antworten
auf die großen Herausforderungen zu formulieren. Die Ergebnisse der
Konferenz sollen im Rahmen der europäischen Gesetzgebung bis hin
zu Vertragsänderungen umgesetzt werden.
Europäisches Parlament stärken
Die Geschichte der EU ist eine Geschichte zunehmender Legitimität
der europäischen Institutionen. Unser Ziel ist, die parlamentarische
Demokratie der Europäischen Union zu stärken: mit einem Parlament,
das in allen Bereichen gleichberechtigt mit dem Rat entscheidet, ein
vollwertiges Initiativrecht für die Gesetzgebung und ein starkes Haus-
haltsrecht erhält. Es soll die Kommission auf Vorschlag der Kommissi-
ons-Präsident*in wählen sowie durch ein konstruktives Misstrauens-
votum entlassen können. Für die Wahlen zum Europäischen Parlament
setzen wir uns dafür ein, dass die Bürger*innen mit ihrer Stimme für
einen Spitzenkandidaten bzw. eine Spitzenkandidatin der Parteien
auch die/den nächste*n Präsident*in der EU-Kommission bestimmen.
Ein Teil der Abgeordneten soll zukünftig nicht mehr über viele natio-
nale Listen ins Europaparlament einziehen, sondern über EU-weite,
transnationale Listen. Wir setzen uns dafür ein, dass die Unionsbür-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN213Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
ger*innenschaft zu einer europäischen Staatsbürger*innenschaft fort-
entwickelt wird, sodass Unionsbürger*innen in den Mitgliedstaaten, in
denen sie leben, dieselben Rechte und Pflichten genießen. Wir wollen,
dass alle EU-Bürger*innen, die ihren dauerhaften Lebensmittelpunkt
in Deutschland haben, nicht nur bei Kommunal- und Europawahlen,
sondern perspektivisch auch bei Landtags- und Bundestagswahlen
wählen dürfen.
Mit Mehrheitsentscheidungen Blockaden auflösen
Die Europäische Union braucht mehr Handlungsfähigkeit, um auf
Augenhöhe mit den heutigen Herausforderungen voranzukommen.
Blockaden durch einzelne Staaten in Bereichen wie der Außen- und
Sicherheitspolitik und in Steuerfragen oder auch bei Energie und
Sozialem können wir uns nicht länger leisten. Solange nationale Ein-
zelinteressen das europäische Gemeinwohl ausbremsen können, wird
die EU keine aktivere Rolle, etwa für mehr Steuergerechtigkeit oder
mehr Verantwortung für Demokratie und Menschenrechte in der Welt,
übernehmen können. Darum setzen wir uns dafür ein, für alle verblei-
benden Politikbereiche, in denen heute noch im Einstimmigkeitsprin-
zip entschieden wird, Mehrheitsentscheidungen in Mitentscheidung
des Europäischen Parlaments einzuführen. Das ist auch deshalb wich-
tig, um bei weiteren Erweiterungsrunden der EU deren Handlungsfä-
higkeit zu sichern. Unser Ziel ist es, die europäischen Institutionen zu
einem Zweikammersystem weiterzuentwickeln.
Ein europäisches Vereins- und Gemeinnützigkeitsrecht
Zum europäischen Gemeinwesen gehört das Zusammenwachsen der
Zivilgesellschaften. Deshalb setzen wir uns für ein EU-weites Vereins-
und Gemeinnützigkeitsrecht ein. Ein europäischer Vereinsstatus mit
klaren Regeln zu Gründung, Gemeinnützigkeit und Auflösung würde
Vereine dem Schutz der EU unterstellen und nationaler Willkür ent-
ziehen. Zudem wollen wir die Europäische Bürger*inneninitiative als
zentrales Instrument der Teilhabe der Bürger*innen und der Zivilge-
sellschaft stärken. So sollen Bürger*innen die Einberufung von Euro-
päischen Zukunftskonferenzen oder Bürger*innenräten fordern kön-
nen, von denen auch eine Reform der Verträge angeregt werden kann.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN214Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
Ist eine Bürger*inneninitiative erfolgreich, sollte spätestens nach
einem Jahr und einer Prüfung auf Vereinbarkeit mit den EU-Grund-
rechten ein Gesetzesvorschlag folgen und im Europaparlament eine
Plenumsabstimmung über das Ziel der Initiative stattfinden.
Einflussnahme auf EU-Gesetzgebung transparent machen
Mehr Transparenz stärkt die europäische Demokratie und das Ver-
trauen der Bürger*innen in Politik. Um nachvollziehbar zu machen,
wofür die Regierungen der Mitgliedstaaten in Brüssel eintreten,
setzen wir uns für Fristen im Rahmen der Gesetzgebung ein, bis zu
denen eine öffentliche Debatte im Rat stattgefunden haben muss.
Dabei müssen alle Regierungen ihre aktuelle Position zum Vorschlag
der Ratspräsidentschaft vorlegen. In einer deutschen Bundesregie-
rung gehen wir hierbei mit gutem Beispiel voran. Auch den Zugang
zu EU-Dokumenten wollen wir substanziell weiterentwickeln. Die EU
arbeitet bei Interessensvertreter*innen bereits transparenter als der
Bundestag. Wir wollen weitere Schritte gehen – mit einem verbind-
lichen Lobbyregister für alle EU-Institutionen, strikteren Karenzzeiten
beim Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft und einem „legislativen
Fußabdruck“, durch den die Einflussnahme auf Gesetzgebung über-
prüfbarer wird, kontrolliert durch eine unabhängige Ethikbehörde, die
Sanktionen verhängen kann.
Europäische Grundrechte einklagbar machen
Die EU ist eine Gemeinschaft der Werte und des Rechts. Wir wollen
die EU-Grundrechtecharta langfristig gegenüber den Nationalstaaten
einklagbar machen, um so alle EU-Bürger*innen in ihren Rechten zu
stärken. Mit dem EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlich-
keit und Grundrechte setzen wir uns für ein stärkeres Instrument ein,
um Verstöße autoritärer Mitgliedstaaten zu sanktionieren. Aus dem
jährlichen Rechtsstaatlichkeitsbericht sollen konkrete Maßnahmen
bis hin zu Vertragsverletzungsverfahren und der Nichtauszahlung von
Subventionen folgen. Der neu geschaffene Rechtsstaatsmechanismus
muss sofort zum Einsatz kommen. Kommunen und Regionen sowie
Nichtregierungsorganisationen sollen dann direkt von der EU geför-
dert werden können. Bei den Artikel-7-Verfahren zur Rechtsstaatlich-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN215Kapitel 5
Bundestagswahlprogramm 2021
keit braucht es substanzielle Fortschritte. Alle Mitgliedstaaten sollen
sich der Europäischen Staatsanwaltschaft anschließen, wenn sie neue
EU-Gelder erhalten wollen und öffentlich Rechenschaft über die Emp-
fänger*innen von Subventionen ablegen. Jede*r siebte Europäer*in
ist Teil einer nationalen oder Sprachminderheit. Wir unterstützen die
Minority SafePack Initiative und wollen Minderheitenrechte wie den
Erhalt von Sprache, Kultur und Identität sowie Namensführung in der
EU stärken.
Eine öffentlich-rechtliche Medienplattform in Europa
Ein zusammenwachsendes Europa braucht eigene, öffentliche digi-
tale Orte, an denen seine Bürger*innen zusammenkommen können,
um sich zu informieren, zu partizipieren, sich zu unterhalten und poli-
tisch zu diskutieren. Dafür kommen bislang nur kommerziell betrie-
bene, digitale Plattformen in Frage. Als zeitgemäße Antwort setzen
wir uns darum für eine europäische, digitale Plattform in öffentli-
cher Trägerschaft ein. Sie bündelt europaweit qualitativ hochwertige
Inhalte – werbefrei, offen und mehrsprachig. Basierend auf techni-
scher Offenheit, Interoperabilität und besten Datenschutzstandards
kann sie darüber hinaus gerade auch für die Zivilgesellschaft und
Bildungseinrichtungen als Kommunikationsplattform dienen, um
Inhalte bereitzustellen und in Informationskampagnen die EU den
Bürger*innen näherzubringen. Die Grundlage bildet ein öffentlich-
rechtlicher Auftrag. Sie arbeitet zusammen mit den nationalen öffent-
lichen Rundfunkanstalten, um deren Inhalte europaweit zugänglich
zu machen, und agiert frei von jedweder politischer Einflussnahme.
Europa der Kommunen und Regionen
Eine demokratische, vielfältige und bürger*innennahe EU lebt von der
Stärke der Kommunen und Regionen. Getreu dem Subsidiaritätsprin-
zip soll die EU da unterstützen, wo Kommunen an ihre Grenzen sto-
ßen – aber nicht jeden Lebensbereich regulieren. Die Wettbewerbs-
regeln des Binnenmarkts dürfen Kommunen nicht zur Privatisierung
öffentlicher Güter zwingen. In EU-Handelsabkommen braucht es Aus-
nahmen für die kommunale Daseinsvorsorge sowie für öffentliche
und soziale Dienstleistungen. Für mehr europaweite Kooperation
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN216Kapitel 5
Bereit, weil Ihr es seid.
wollen wir Städtepartnerschaften stärken, INTERREG-Programme für
grenzüberschreitende Zusammenarbeit ausweiten und Euregios und
Eurodistrikte durch weniger Bürokratie und mehr Flexibilität fördern.
Die europäische Zusammenarbeit im Hochschulbereich wollen wir
stärken und in diesem Sinne das Konzept der European Universities
weiterentwickeln. Kommunen und Regionen brauchen mehr Mitspra-
che auf europäischer Ebene, unter anderem über einen gestärkten
Ausschuss der Regionen. Zur Umsetzung des Green Deal und bei der
Gestaltung und Vergabe von Förderprogrammen setzen wir auf das
Partnerschaftsprinzip und unterstützen lokale kleine und mittelstän-
dische Unternehmen dabei, ihren Beitrag zu leisten. Bürokratie wollen
wir durch verstärkte Digitalisierung abbauen. EU-Haushaltsmittel sol-
len künftig auch verstärkt kommunalen und lokalen zivilgesellschaft-
lichen Akteur*innen direkt bereitgestellt werden.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN217Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
Kapitel 6:
International zusammenarbeiten
Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind global: Pandemien,
die Klima- und Biodiversitätskrise, Hunger, Urbanisierung, Migration
und die sozial-ökologische Transformation als besondere Aufgabe.
Wir können sie nur gemeinsam meistern. Jahrelang hat Deutsch-
land in Europa und der Welt aber allenfalls moderiert, oft gezögert,
ist abgetaucht. Es ist Zeit, wieder eine kooperative und aktive Poli-
tik zu betreiben und als gestaltende Kraft voranzugehen im Sinne
einer multilateralen und vorsorgenden, einer kohärenten und werte-
geleiteten Politik – stets europäisch und entlang einer verlässlichen
deutsch-französischen Zusammenarbeit, mit unseren Partner*innen
innerhalb und außerhalb Europas, transatlantisch und im Rahmen der
Vereinten Nationen.
Gestützt auf die Agenda der Vereinten Nationen für nachhaltige
Entwicklung, das Pariser Klimaabkommen, internationale Menschen-
rechtsnormen und die rechtebasierte internationale Ordnung set-
zen wir uns für eine wirkungsorientierte globale Strukturpolitik ein,
die den Schutz und die Bereitstellung globaler Gemeingüter, eine
gerechte Verteilung von Ressourcen und Wohlstand sowie Entwick-
lungschancen für alle als beste Vorsorge gegen die Klima- und Bio-
diversitätskrise, Konflikte, Gewalt oder das unermessliche Leid von
Hunger, Flucht und Vertreibung begreift. Wir wollen dazu auch eine
europäische Politik der globalen Vernetzung und Konnektivität voran-
treiben und begrüßen entsprechende Partnerschaften
Ausgangspunkt unserer Politik ist eine gestärkte, krisenfeste und
handlungsfähige Europäische Union. Die Werte, auf denen sie gründet,
wollen wir nach innen verteidigen und nach außen beherzt vertreten:
Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Die EU
als Friedensmacht ist nicht nur Antwort auf eine lange und schmerz-
volle Geschichte von Kriegen und Feindseligkeiten auf unserem Kon-
tinent, exportiert in die ganze Welt, sondern vor allem ein Zukunfts-
versprechen, das es einzulösen gilt. Sie ist unser schützenswertes und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN218Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
einmaliges Zuhause. Gerade weil wir überzeugte Europäer*innen sind,
streiten wir für ihre stetige Fortentwicklung. Wir arbeiten für eine
europäische Wertegemeinschaft, die ihre Abhängigkeit von Dritten
in kritischen Bereichen ab- und ihre Souveränität und strategische
Handlungsfähigkeit ausbaut – in einem Gleichgewicht von Koopera-
tion, wo möglich, und Eigenständigkeit, wo nötig. So eine EU ist in der
Lage, kritische Infrastruktur und globale Gemeingüter bereitzustel-
len und zu schützen, global für das Völkerrecht und die universalen
Menschenrechte einzustehen. Ein wichtiges Fundament dafür ist es,
Spaltung und antidemokratischen Bestrebungen innerhalb Europas
entgegenzutreten. Mit dem größten Binnenmarkt der Welt hat die EU
wirtschaftlich erheblichen Einfluss. Diesen Hebel wollen wir nutzen,
um die globale Transformation gerecht zu gestalten und ambitio-
nierte Standards zu setzen.
Der erheblichen Widerstände und Dilemmata, die das bedeu-
tet, sind wir uns bewusst. Mit ihrem autoritären Hegemonialstreben
zwingen Staaten wie China und Russland, die Menschen- und Bür-
ger*innenrechte systematisch aushebeln, andere Staaten nicht nur
in wirtschaftliche und politische Abhängigkeit, sondern sie wollen
auch Europa spalten. Zugleich wird eine globale sozial-ökologische
Transformation ohne China, auch ohne Russland oder Brasilien, nicht
möglich sein. Das allein zeigt: Der globale Systemwettbewerb mit
autoritären Staaten und Diktaturen ist real, lässt bisweilen nur die
Wahl zwischen Regen oder Traufe – und stellt uns vor derart beacht-
liche Aufgaben, dass jede Form des Alleingangs zum Scheitern ver-
urteilt wäre. Mit einer Demokratieoffensive treten wir diesem Trend
entgegen und stärken die globale Zusammenarbeit von Demokratien
und Demokrat*innen. In eine Partnerschaft für Demokratie sollten
die Länder, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Parlamentarier*in-
nen einbezogen werden, die sich zu ambitionierten demokratischen
Standards bekennen. Zudem wollen wir die Stärkung von demokra-
tischer Rechtsstaatlichkeit, regionaler Integration, Zivilgesellschaft
und Menschenrechten ressortübergreifend besser koordinieren und
ausbauen. Wir präferieren die regelbasierte, multilaterale Zusammen-
arbeit gegenüber informellen Formaten.
Wir können die vielen Widersprüche und Grenzen außen-, ent-
wicklungs- und sicherheitspolitischen Handelns nicht auflösen.
Die Verteidigung von Menschenrechten, Demokratie und das klare
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN219Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
Bekenntnis zu Freiheitsbewegungen führen an die Grenzen politi-
scher Handlungsfähigkeit. Wir können uns aber dieser Verantwortung
nicht entziehen. Umso zentraler ist europäische Kohärenz und sind
politische Bündnisse mit allen anderen Staaten, aber gerade auch
Regionen, Kommunen und zivilgesellschaftlichen oder zwischen-
staatlichen Akteur*innen, für die der Wert von Kooperation und die
Stärke des Rechts ebenfalls Grundlage internationaler Beziehungen
sind. Diese Bündnisse wollen wir stärken und selbstbewusst mitge-
stalten. Deutschlands Vertretung in internationalen Organisationen
wollen wir besser aufstellen und das Engagement stärken. Souverän
sind wir nur gemeinsam.
Wir setzen auf den ehrlichen Interessenausgleich, auf eine femi-
nistische Außenpolitik, die Achtung der Rechte marginalisierter Grup-
pen, auf Zusammenarbeit und Rechtsstaatlichkeit, auf Gewaltfreiheit
und koordinierte Krisenprävention und regelbasierte sowie vorrangig
zivile Konfliktbearbeitung in einer eng vernetzten Welt. Unser Ziel ist
eine Weltordnung, in der Konflikte nicht über das Recht des Stärke-
ren, sondern am Verhandlungstisch gelöst werden. Und wir reichen
allen die Hand, die daran teilhaben wollen. Wir richten unsere Politik
postkolonial und antirassistisch aus, im Wissen um Deutschlands Ver-
antwortung in der Welt und im Bewusstsein um die Verbrechen des
Nationalsozialismus.
Als hochentwickelter und exportorientierter Industriestaat gehört
Deutschland zu den Hauptverursachern globaler Erwärmung und
agiert als entscheidender Player einer Globalisierung, die eben nicht
nur Wohlstand und Entwicklung bedeutet, sondern auch zu Ausbeu-
tung von Mensch und Umwelt führt. Diese Verantwortung, insbeson-
dere auch gegenüber Ländern des globalen Südens, verstehen wir als
Antrieb für ambitionierte Veränderung und entschiedenes Handeln
mit dem Ziel globaler Gerechtigkeit und setzen dafür bei uns selbst an.
Das bedeutet auch: Wir fordern die Einhaltung und den Schutz
der Menschenrechte nicht nur von anderen ein, sondern messen uns
selbst daran. Menschenrechte sind völkerrechtliche Pflicht und unver-
rückbare Grundlage einer wertegeleiteten internationalen Politik.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“:
Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist Leitbild
unseres Engagements – auch in der europäischen Geflüchtetenpolitik.
Sie ist das große Versagen Europas. In keinem anderen Bereich schei-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN220Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
tern die europäischen Regierungen derart an den eigenen Ansprüchen
hinsichtlich Moral, Menschenrechten und internationalen Rechts.
Doch wir haben Möglichkeiten und Regeln, um Flucht angemes-
sen und nach klaren, menschenrechtsbasierten Prinzipien zu begeg-
nen. Diese Regeln gibt es, ebenso wie es immer wieder Momente in
unserer Geschichte gab, da nach ihnen gehandelt wurde. Hier wollen
wir anknüpfen und – wenn nicht gesamteuropäisch, dann in einer
humanitären Koalition der Willigen innerhalb und außerhalb der
EU – einen Paradigmenwechsel hin zur konsequenten Vorbeugung
gegen Fluchtursachen und zu einem menschenwürdigen Umgang
mit Geflüchteten vorantreiben. Wir setzen auf Rationalität und Hand-
lungswillen, auf Humanität und Verantwortung – und auf den uner-
lässlichen Pragmatismus der Nothilfe.
Die Größe und Komplexität der internationalen Herausforderun-
gen, die da vor uns liegen, sollte Messlatte unseres nationalen und
internationalen politischen Handelns sein. Die globalen Aufgaben
sind erheblich. Wagen wir die notwendigen Antworten.
Wir treiben die sozial-ökologische
Transformation voran
Schubkraft für globale Transformation
Mehr denn je bedrohen Klimaveränderungen und der Verlust von
Artenvielfalt menschliche Sicherheit und Freiheit sowie die nachhal-
tige Entwicklung – überall auf der Welt. Die Zeit drängt. Darum braucht
es in den nächsten Jahren einen energischen Schub für eine sozial-
ökologische Transformation. Die nachhaltigen Entwicklungsziele der
Agenda 2030 und des Klimaabkommens von Paris waren ein Aufbruch.
Alle Länder sind seitdem verpflichtet, bei sich zu Hause anzufangen
und ihren Beitrag für die gemeinsame Aufgabe zu leisten – schließlich
sind es unsere Entscheidungen in Wirtschaft und Handel, bei Agrar-
oder Rüstungsexporten, die sich weltweit stark auf Klima, Artenschutz
und globale Gerechtigkeit auswirken. Wir wollen alle Politikbereiche
in Deutschland auf die Transformation ausrichten und für ein strategi-
sches und kohärentes Handeln in allen Ressorts und Politikbereichen
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN221Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
einen Nationalen Rat für Frieden, Nachhaltigkeit und Menschenrechte
einrichten sowie einen Nachhaltigkeits- und Menschenrechts-TÜV ein-
führen, mit dem relevante Gesetzesentwürfe auf Vereinbarkeit mit den
VN-Nachhaltigkeits- und -Klimazielen sowie Menschenrechtsabkom-
men überprüft werden. Auch international wollen wir neuen Schwung
in die sozial-ökologische Transformation bringen, indem wir auf eine
verbindliche Transformationsquote hinwirken und insbesondere die
Länder des globalen Südens in diesem Prozess unterstützen. Wir bün-
deln die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit, internationale
Klimafinanzierung und Teile der humanitären Hilfe, um eine globale
Transformation entlang der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Natio-
nen und der Pariser Klimaziele zu finanzieren. Dabei halten wir unsere
internationalen Zusagen für Entwicklungszusammenarbeit, Klimafi-
nanzierung und Biodiversität ein. Deutschlands Beitrag dazu ist, die
ODA-Quote, also den Anteil der öffentlichen Ausgaben für Entwick-
lungszusammenarbeit am Bruttonationaleinkommen, von 0,7 Prozent
bis 2025 zu erreichen und weitere 10 Milliarden Euro zur internatio-
nalen Klimafinanzierung bereitzustellen.
Klimaaußenpolitik und globale Klimagerechtigkeit
Wir verfolgen eine ambitionierte, nachhaltige und menschenrechts-
konforme Klimaaußenpolitik und setzen uns für globale Klimage-
rechtigkeit ein: Wir machen Klimaneutralität sowie die Bewältigung
von Klimafolgen zu einer ressortübergreifenden strategischen Priori-
tät unseres internationalen politischen Handelns. So wollen wir auch
der historischen Verantwortung von Deutschland und Europa gerecht
werden. Internationale Kooperation für Klimagerechtigkeit ist klima-
politisch notwendig, verfolgt die Erreichung der nachhaltigen Ent-
wicklungsziele, beugt Ressourcenkonflikten vor und sichert Frieden.
Denn die Länder des globalen Südens haben wachsende Energiebe-
darfe: Mit Klima- und Entwicklungspartnerschaften wollen wir Inno-
vation für Klimaneutralität global vorantreiben, den massiven Ausbau
erneuerbarer Energien unterstützen und Anpassung stärken, damit
die Weltgemeinschaft auf den 1,5-Grad-Pfad kommen kann. Wir wol-
len Win-win-Situationen für Europa und seine Nachbarstaaten sowie
für Länder mit großen Potenzialen für erneuerbare Energien schaf-
fen und somit postkolonial sensibel unseren Bedarf an grüner Ener-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN222Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
gie sichern: grünen Wasserstoff statt Öl- und Gasimporte. Wir stärken
die personellen und finanziellen Mittel Deutschlands und der EU für
Klimaaußenpolitik sowie für globale Klimagerechtigkeit und richten
unsere diplomatischen Fähigkeiten gezielt auf eine klimagerechte
Politik aus. Die bestehenden internationalen Fonds für Klimaanpas-
sung und Klimaschutz wollen wir besser ausstatten und setzen uns für
einen zusätzlichen Fonds zum Ausgleich von Schäden und Verlusten
ein, um daraus zum Beispiel Klimarisikoversicherungen zu finanzie-
ren. Förderungen fossiler Energieträger in unserer Entwicklungs- und
Exportfinanzierung werden wir beenden. Entwicklungs- und Inves-
titionsbanken wie die Weltbank oder die KfW sollen zu Transforma-
tionsbanken umgebaut werden.
Klima und Umwelt schützen, Menschenrechte achten
Der Schutz der Menschenrechte verpflichtet zum Klima- und Umwelt-
schutz, umgekehrt schützt Klima- und Umweltschutz Menschenrechte.
Wir treten für verbindliche Mechanismen zum Schutz von Menschen
ein, die aufgrund von Extremwetterereignissen oder schleichender
Umweltveränderung ihre Lebensgrundlage verlieren und ihre Heimat
verlassen müssen. Insbesondere regionale Ansätze, die den Betroffe-
nen eine selbstbestimmte und würdevolle Migration ermöglichen und
ihnen Aufenthaltsperspektiven schaffen, unterstützen wir. Zugleich
wollen wir jene Staaten in die Pflicht nehmen, die historisch am meis-
ten zur Erderwärmung beigetragen haben, um dem Verantwortungs-
prinzip im Umweltvölkerrecht Rechnung zu tragen und Heimat- und
Aufnahmeländer klimabedingter Migration zu unterstützen. Die „Task
Force on Displacement“ der Klimarahmenkonvention UNFCCC wol-
len wir strukturell stärken und setzen uns dafür ein, dass ihre Emp-
fehlungen ebenso umgesetzt werden wie der Globale Pakt für eine
sichere, geordnete und reguläre Migration sowie der Globale Pakt
für Flüchtlinge. Es braucht auch die Stärkung des Rechts indigener
Gemeinschaften. Initiativen zur Stärkung des Rechtswegs, auch gegen
multilaterale Investitionsbanken und das Instrument der Klimaklagen
unterstützen wir. Die französische Initiative, das Umweltvölkerrecht
zu kodifizieren und zu konsolidieren, greifen wir auf und machen uns
dafür stark, in einem ersten Schritt das Recht auf saubere Umwelt in
einer Resolution der VN-Generalversammlung zu verbriefen. Da Ver-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN223Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
brechen gegen die Umwelt nicht vor Ländergrenzen Halt machen,
ist es im globalen Interesse, dass die internationale Staatengemein-
schaft eine Gerichtsbarkeit schafft, die diese Verbrechen unabhängig
und grenzüberschreitend verfolgt.
Armut und Ungleichheit weltweit bekämpfen
Durch die Corona-Pandemie sind Armut und Ungleichheit weltweit
dramatisch angestiegen. Armutsbekämpfung und gerechte Teilhabe
sind zentrale Ziele unseres internationalen Engagements. Wir unter-
stützen Länder dabei, eine sozialorientierte Wirtschafts- und Steuer-
politik zu verfolgen. Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen weltweit
sozial abgesichert werden, auch über Social Cash Transfers, und dass
Kinder und Jugendliche Zugang zu hochwertiger Schul- und Berufs-
ausbildung erhalten. Gemeinsam mit unseren Partnerländern wollen
wir den Aufbau nachhaltiger und rechtebasierter sozialer Sicherungs-
systeme fördern. Grundsätzlich sollen soziale Sicherungsprogramme
einfach zugänglich sein und die vulnerabelsten Gruppen erreichen,
die Geschlechtergerechtigkeit herstellen und den sozialen Zusam-
menhalt stärken. Um die Effektivität aller Maßnahmen zu erhöhen,
wollen wir Wirkungsevaluierung, Transparenz sowie den Austausch
mit der Wissenschaft stärken.
Humanitäre Hilfe stärken
Mit humanitärer Hilfe unterstützen wir weltweit Menschen, die in
humanitäre Notlagen geraten sind. Die Anzahl humanitärer Krisen
nimmt zu, sowohl aufgrund bewaffneter Konflikte als auch infolge kli-
makrisenbedingter Extremwetterereignisse. Immer mehr Menschen
müssen ihre Heimat verlassen, humanitäre Krisen dauern länger an.
Dem werden wir durch eine kontinuierliche Anpassung der Mittel für
die humanitäre Hilfe gerecht. Diese werden bedarfsorientiert sowie
verstärkt mehrjährig vergeben. Damit ermöglichen wir Planbarkeit
und Flexibilität für die Durchführungsorganisationen und erreichen
Menschen in Not schnell und angemessen. Wir setzen uns für die
Achtung der humanitären Prinzipien ein und gehen durch die bes-
sere Verzahnung mit ziviler Krisenprävention und Entwicklungszu-
sammenarbeit die strukturellen Ursachen an.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN224Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
Wir stärken die multilaterale
Zusammenarbeit
Vereinte Nationen reformieren
Ohne die Vereinten Nationen ist die multilaterale Zusammenarbeit an
der sozial-ökologischen Transformation nicht zu meistern. Ihre Instituti-
onen versorgen überall auf der Welt Millionen von Geflüchteten, stellen
Bildungsmöglichkeiten, Nahrung und Gesundheitsleistungen zur Ver-
fügung. Sie vermitteln in unzähligen Kriegen und Konflikten und sind
der Rahmen, in dem die beiden wichtigsten multilateralen Abkommen
der vergangenen Jahre ausgehandelt worden sind: die Agenda 2030 für
nachhaltige Entwicklung und das Pariser Klimaschutzabkommen. Das
Engagement Deutschlands und der EU für die Vereinten Nationen wer-
den wir finanziell, personell und diplomatisch substanziell verstärken,
besser koordinieren und internationale Vereinbarungen konsequent in
nationale und europäische Politik umsetzen. So schaffen wir die Vor-
aussetzungen für notwendige Reformen des VN-Systems. Der Sicher-
heitsrat und andere Organe der Vereinten Nationen sollten an die Rea-
litäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Dabei geht es um eine
gerechtere Repräsentation der Regionen im Sicherheitsrat. Das Kon-
zept der Vetomächte ist nicht mehr zeitgemäß. Wir zielen darauf, dass
das Vetorecht langfristig abgeschafft wird. Als Zwischenschritt sollte
im Falle von schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Veto
im Sicherheitsrat mit einer Begründung und einem Alternativvorschlag
versehen werden. Wenn der Sicherheitsrat im Falle von schwersten
Menschenrechtsverletzungen anhaltend blockiert ist, soll die General-
versammlung an seiner Stelle nach dem Vorbild der „Uniting for Peace“-
Resolution über friedenserzwingende Maßnahmen, also diplomatische
Maßnahmen, Sanktionen oder militärische Maßnahmen gemäß Kapitel
VII der UN-Charta, mit qualifizierter Mehrheit beschließen.
Resilienz gegen Epidemien erhöhen – WHO stärken
Zum Schutz vor neuen und zur Bekämpfung der alten Krankheiten
setzen wir auf verstärkte internationale Zusammenarbeit und Soli-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN225Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
darität unter dem Dach der zu reformierenden Weltgesundheitsor-
ganisation als Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Die WHO
soll die koordinierende Organisation der globalen Gesundheit sein.
Dazu wollen wir sie mit deutlich höheren Beiträgen und einem kla-
ren Mandat befähigen. Sie soll Gesundheitssysteme weltweit stär-
ken können, damit eine bessere Versorgung lokaler Bevölkerungen
sichergestellt ist und die Prävention gegen nichtübertragbare wie
übertragbare Krankheiten, deren Diagnose und die Reaktion darauf
verbessert werden. Ihre zentrale Rolle in der Pandemievorsorge und
-bekämpfung wollen wir weiter stärken. In den G20 werden wir uns
dafür einsetzen, ihr einen formellen Sitz einzuräumen. Mit Blick auf
die Bekämpfung der Corona-Pandemie hat Priorität, dass noch in
diesem Jahr die bestehenden Kapazitäten zur Produktion von Covid-
19-Impfstoffen erhöht und Impfstoffe im Rahmen der COVAX-Allianz
an einkommensschwache Länder geliefert werden. Zusätzlich setzen
wir uns für einen aktiven Technologie- und Wissenstransfer bezüglich
der Herstellung entscheidender Arzneimittel ein. Die Gewährleistung
offener, fairer und flexibler globaler Lieferketten ist dafür genauso
Voraussetzung wie die Aufhebung weltweiter Exportrestriktionen für
Covid-19-Impfstoffe. Wo freiwillige Produktionspartnerschaften nicht
ausreichen, unterstützen wir Anträge auf Erteilung von verpflichten-
den Lizenzen für Covid-Impfstoffe gegen Entschädigungen und brin-
gen uns in diesem Sinne bei der WTO für eine temporäre Aussetzung
von Patenten für Technologien zur Bekämpfung von Covid-19 in die
Verhandlungen ein. Monopole auf geistiges Eigentum zur Bekämp-
fung von Krankheiten dürfen den Zugang zu überlebenswichtigen
Schutzmaterialien, Impfstoffen und Arzneimitteln nicht versperren.
Wir unterstützen die Einbindung Taiwans in die WHO inklusive eines
Beobachterstatus.
50 Prozent Frauen in internationalen Verhandlungen
Wir wollen dem Multilateralismus neue Impulse für mehr Zusam-
menarbeit geben. Transformation gelingt nur mit Kooperation, und
die gelingt nur durch Einbeziehung der betroffenen gesellschaftli-
chen Gruppen. Nach wie vor ist die gleichberechtigte und intersekt-
ionale Teilhabe von Frauen der stärkste Indikator dafür. Wir wollen
schrittweise für Deutschland und Europa eine 50-Prozent-Quote
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN226Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
in allen diplomatischen und multilateralen Verhandlungen, für die
Entsendung in internationale Organisationen sowie auf den Umset-
zungsebenen durchsetzen. Um das zu ermöglichen, ist eine 50-Pro-
zent-Quote für Frauen im Auswahlverfahren für das Personal in inter-
nationalen Einsätzen, in den international arbeitenden Ministerien
sowie im gehobenen und höheren Europäischen Auswärtigen Dienst
notwendig. Es braucht vergleichbare Kriterien, Standards, Indikato-
ren und Zeitrahmen für die Gleichstellungspläne der Ministerien,
vergleichbar mit dem „Gender Equality Plan“ nach dem Vorbild der
schwedischen Regierung.
Wir arbeiten an guten Beziehungen
in einer multipolaren Welt
Für eine aktive europäische Politik mit unseren Nachbarstaaten
Die EU muss vor allem in ihrer direkten Nachbarschaft mehr Ver-
antwortung übernehmen. Die EU-Erweiterungspolitik ist dabei eine
Erfolgsgeschichte, die wir fortschreiben wollen. Deshalb treten wir
für konkrete Fortschritte bei der europäischen Integration der Länder
des westlichen Balkans ein. Wir wollen notwendige Reformen, unter
anderem bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämp-
fung sowie Inklusion und Schutz von Minderheiten, insbesondere der
Rom*nja, aktiv unterstützen. Die Visaliberalisierung für Kosovar*innen
ist als nächster Schritt genauso unerlässlich wie Fortschritte im Ser-
bien-Kosovo-Dialog, die Eröffnung der ersten EU-Beitrittskapitel für
Albanien und Nordmazedonien oder die Schaffung einer Bürger*in-
nengesellschaft mit gleichen Rechten für alle Bürger*innen in Bosnien
und Herzegowina. Auch Aussöhnungsprozesse und die politische und
juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen müssen gestärkt wer-
den. Ethnischen Grenzverschiebungen oder Diskriminierungen ertei-
len wir eine klare Absage. In Osteuropa streiten viele mutige Men-
schen in Ländern wie Armenien, Georgien, Ukraine oder Belarus für
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Wir stehen an
ihrer Seite und fördern demokratische und sozial-ökologische Trans-
formationsprozesse in der Region, im Rahmen der Östlichen Partner-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN227Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
schaft der EU und bilateral, etwa durch die stärkere Knüpfung von
Geldern an die nachhaltige Umsetzung von Reformen. Wir unterstüt-
zen die demokratische Zivilgesellschaft und unabhängige Medien vor
Ort, wollen mehr Austausch zwischen Ost und West ermöglichen und
Justizreformen vorantreiben. EU-assoziierten Ländern der Östlichen
Partnerschaft wollen wir den Weg zu einem EU-Beitritt offenhalten.
Im Süden braucht es eine neue Mittelmeerpolitik, die gemeinsam Ent-
wicklungspotenziale für die Region realisiert und sich zugleich den
enormen Herausforderungen stellt: Terrorismus, autoritäre Regime,
Staatszerfall. Gemeinsam wollen wir im Rahmen ambitionierter
Energiepartnerschaften den Mittelmeerraum zu einer Plus-Energie-
Region machen. Derweil hat zu unserem großen Bedauern mit Groß-
britannien erstmals ein Land das gemeinsame Haus der EU verlas-
sen. Es ist gut, dass mit dem Handels- und Kooperationsabkommen
die Grundlage für einen Neubeginn geschaffen wurde. Es bedarf aber
weiterer Anstrengungen, um zu verhindern, dass europäische Stan-
dards ausgehöhlt werden. Das Karfreitagsabkommen und die offene
Grenze garantieren den Frieden auf der irischen Insel. Dieser fragile
Frieden darf nicht gefährdet werden. Den Austausch von Studieren-
den, Forscher*innen und in der beruflichen Bildung zwischen der EU
und Großbritannien wollen wir auch nach dem Brexit lebendig halten.
USA
Die transatlantische Partnerschaft bleibt ein zentraler Stützpfeiler der
deutschen Außenpolitik, jedoch muss sie erneuert, europäisch gefasst,
multilateral und an klaren gemeinsamen Werten und demokratischen
Zielen ausgerichtet werden. Als Kern einer erneuerten transatlanti-
schen Agenda der EU wollen wir einen gemeinsamen starken Impuls
für die weltweite Klimapolitik, ausgehend von den Pariser Klimazielen,
geben. Besonders mit der Etablierung einer starken Klimapartnerschaft
kann die transatlantische Partnerschaft Inspiration und Treiber für eine
sozial-ökologische Transformation, die weltweit höchste Standards
setzt, sein. Wir setzen auch bei der Stärkung des Multilateralismus, in
Handelsfragen sowie bei der Gesundheit auf eine gute Kooperation mit
den USA. Wir wollen uns gemeinsam für den weltweiten Menschen-
rechtsschutz, die Weiterentwicklung internationaler Rechtsnormen,
globale Rüstungskontrolle und Abrüstung, eine regelbasierte Weltord-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN228Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
nung und die Stärkung einer verantwortungsbewussten Handelspoli-
tik einsetzen. Das schließt eine Verständigung über den Umgang mit
autoritären Staaten mit ein. Der sicherheitspolitische Fokus der USA
wird sich auch mit der neuen US-Regierung nicht wieder zuvorderst auf
Europa richten. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen selbst mehr
außen- und sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen. Das gilt
insbesondere für die Sicherheit der östlichen Nachbarländer der EU
wie auch der baltischen Staaten und Polens. Wir wollen die transatlan-
tische Debatte auf vielen Ebenen führen, auch auf den jeweiligen föde-
ralen und lokalen, sowie in zivilgesellschaftlichen Foren – und damit
nachhaltige, diverse gesellschaftliche Netzwerke knüpfen.
China
China ist Europas Wettbewerber, Partner, systemischer Rivale. Wir ver-
langen von China ein Ende seiner eklatanten Menschenrechtsverlet-
zungen, etwa in Xinjiang und Tibet und zunehmend auch in Hongkong.
Es braucht auch einen konstruktiven Dialog mit China, der dort eine
Kooperation sucht, wo es zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit ist,
und klare Gegenstrategien bereithält, wo China systematisch versucht,
internationale Standards zu schwächen. Insbesondere in der Klima-
politik streben wir gemeinsame politische, wirtschaftliche und techno-
logische Anstrengungen sowie eine Einhaltung von nachhaltigen Pro-
duktionsstandards und einen transparenten Fahrplan zur Bekämpfung
der Klimakrise, beispielsweise durch einen Kohleausstieg, in China an.
Kooperation mit China darf nicht zu Lasten von Drittstaaten oder von
Menschen- und Bürger*innenrechten gehen. Wir halten uns an die
„Ein-China-Politik“ der Europäischen Union und betonen, dass die Ver-
einigung mit Taiwan nicht gegen den Willen der Bevölkerung Taiwans
erzwungen werden darf. Gleichzeitig wollen wir den politischen Aus-
tausch mit Taiwan ausbauen. Unsere Handelsbeziehungen mit China
wollen wir nutzen, um fairen Marktzugang für ausländische Investi-
tionen, Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen ein-
zufordern. Wir erwarten, dass China die entscheidenden Kernnormen
der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert und jede Form
von Zwangsarbeit beendet. Das EU-Lieferkettengesetz muss ange-
sichts der Menschenrechtsverletzungen – etwa in Xinjiang – Waren
aus Zwangsarbeit den Zugang zum Binnenmarkt ebenso verwehren,
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN229Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
wie es Unternehmen für ihre Produkte in Haftung nimmt. Deutsch-
land sollte sich außerdem für eine Fact-Finding-Mission zu Xinjiang
im Rahmen des VN-Menschenrechtsrats einsetzen und die Unterdrü-
ckung der Uigur*innen als Völkerstraftaten bezeichnen. Dem europä-
isch-chinesischen Investitionsabkommen CAI können wir in seiner jet-
zigen Form nicht zustimmen. Wir werden an einer engen europäischen
und transatlantischen Koordinierung gegenüber China arbeiten.
Indo-Pazifik
Wir setzen uns für eine freie und offene indo-pazifische Region auf
der Grundlage globaler Normen und des Völkerrechts ein. Wir wollen
eine umfassende Kooperation mit der Region, insbesondere in den
Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Stärkung des Multila-
teralismus und bei Digitalisierung und Klimaschutz. Australien, Japan,
Neuseeland, Südkorea und auch Taiwan betrachten wir ebenso als
wichtige Partnerländer, wie wir die strategischen Partnerschaften mit
Indien und mit ASEAN ausbauen wollen. Die Stärkung der Zivilgesell-
schaften ist ein integraler Bestandteil unserer Indo-Pazifik-Strategie.
Wir entwickeln eine indo-pazifische Handelspolitik, die nachhaltige
bilaterale Handelsbeziehungen mit gleichgesinnten Partner*innen
in einem multilateralen Rahmen vorsieht, demokratisch und trans-
parent zustande kommt und sich für globale Gemeinwohlinteressen
wie Klimaschutz, Sozialstandards und Menschenrechte einsetzt. Wir
streben an, einen intensivierten Dialog zu Frieden und Sicherheit mit
Partner*innen im Indo-Pazifik zu führen. Die vor allem vom steigen-
den Meeresspiegel Betroffenen verdienen unsere verstärkte, konkrete
Unterstützung. Auch soll sich Deutschland aktiv für eine globale EU-
Konnektivitätsstrategie einsetzen, um gemeinsame Infrastrukturent-
wicklung nach qualitativ hohen internationalen Standards entspre-
chend den Bedürfnissen unserer Partner*innen zu realisieren.
Russland
Russland hat sich zunehmend in einen autoritären Staat gewandelt,
dessen Außenpolitik durch militärische und hybride Mittel immer
offensiver Demokratie, Stabilität und Frieden in der EU und in der
gemeinsamen Nachbarschaft gefährdet. Gleichzeitig erstarkt die
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN230Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
Demokratiebewegung in Russland. Die mutige Zivilgesellschaft, die
der immer härteren Repression durch den Kreml die Stirn bietet und
für Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sexuelle
Selbstbestimmung kämpft, wollen wir unterstützen und den kulturel-
len, politischen und wissenschaftlichen Austausch mit ihr intensivie-
ren. Für eine Lockerung der Sanktionen, die wegen der völkerrechts-
widrigen Annexion der Krim und des militärischen Vorgehens in der
Ukraine gegen Russland verhängt wurden, hat die EU klare Bedingun-
gen formuliert. An diesen werden wir festhalten und die Sanktionen
bei Bedarf verschärfen. Wir verlangen, dass die russische Regierung
ihre Zusagen aus dem Minsker Abkommen umsetzt. Das Pipeline-
Projekt Nord Stream 2 trägt nicht zum Klimaschutz bei, richtet sich
gezielt gegen die energie- und geostrategischen Interessen der Euro-
päischen Union, gefährdet die Stabilität der Ukraine und muss daher
gestoppt werden. Es braucht außerdem einen konstruktiven Klima-
Dialog mit Russland, wobei bei einzelnen Schritten die Menschen-
rechte geschützt werden müssen.
Türkei
Die Türkei und die EU verbindet sehr viel mehr, als sie trennt: gesell-
schaftlich, kulturell, wirtschaftlich. Gerade die Beziehungen zwischen
Deutschland und der Türkei sind, auch durch die gemeinsame Migra-
tionsgeschichte, eng und vielfältig. Wir stehen an der Seite all derer,
die in der Türkei für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gleichstel-
lung und Menschenrechte kämpfen. Wir verurteilen die Menschen-
rechts- und Rechtsstaatsverletzungen, fordern eine sofortige Frei-
lassung aller politischen Gefangenen und die Rückkehr zu einem
politischen Dialog- und Friedensprozess in der kurdischen Frage. Wir
weisen die aggressive Außenpolitik der türkischen Regierung ent-
schieden zurück und fordern sie auf, zu einer multilateralen Außen-
und Sicherheitspolitik zurückzukehren. Das gilt es auch in der NATO
zu thematisieren, nicht zuletzt mit Blick auf die völkerrechtswidrige
Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien. Wir verurteilen den Austritt
der Türkei aus der Istanbul-Konvention und fordern sie auf, diesen
wieder rückgängig zu machen. Die Wiederaufnahme der Gespräche
über einen EU-Beitritt ist unser politisches Ziel. Sie kann es aber
erst geben, wenn die Türkei eine Kehrtwende zurück zu Demokra-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN231Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
tie und Rechtsstaatlichkeit vollzieht. Die Türkei hat mehr Geflüch-
tete – vor allem aus Syrien – aufgenommen als die 27 Mitgliedstaa-
ten der EU zusammen. Der bestehende „EU-Türkei-Deal“ untergräbt
jedoch internationales Asylrecht, ist gescheitert und muss beendet
werden. Wir fordern die Türkei auf, die Genfer Flüchtlingskonvention
vollumfänglich umzusetzen. Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat.
Eine neue Bundesregierung muss die von der Kommission angesto-
ßenen Verhandlungen über ein neues Abkommen dafür nutzen, aus
den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Das neue Abkommen muss
völkerrechts- und rechtsstaatskonform sein und darf nicht die Flucht
bekämpfen, sondern muss die Perspektiven der Menschen verbessern.
Daher soll es die notwendige finanzielle und logistische Unterstüt-
zung vor Ort garantieren, die Türkei bei der Aufnahme von Geflüch-
teten unterstützen und verbindliche Kontingentzusagen zur Umsied-
lung schutzbedürftiger Geflüchteter in die EU machen. Im Gegenzug
muss die Türkei garantieren, Geflüchtete gut zu versorgen und zu
integrieren. Geflüchtete dürfen nicht zum Spielball gemacht werden.
Solch ein Abkommen muss im Parlament debattiert und beschlossen
werden. Menschen in Deutschland dürfen von der türkischen Regie-
rung und ihren Unterstützer*innen weder instrumentalisiert noch
überwacht oder gar bedroht werden. Wir wollen gerade in schwieri-
gen Zeiten den Austausch mit der menschenrechtsorientierten und
demokratischen Zivilgesellschaft in der Türkei und Jugendaustausch-
programme ausbauen.
Naher und Mittlerer Osten
Partnerschaften mit den Staaten und Gesellschaften des Nahen
Ostens und der südlichen europäischen Nachbarschaft sind ein wich-
tiger Bestandteil unserer Außen-, Klima- und Menschenrechtspolitik.
Wir setzen auf vielfältige Formen der Zusammenarbeit, etwa durch
Stärkung der Zivilgesellschaften im Bemühen um mehr Beteiligung,
Kooperation bei der Bewältigung der Herausforderung Klimawandel
und Förderung unabhängiger und nachhaltiger Wirtschaftsstruktu-
ren, gerade für junge Menschen. Eine Vermittlung zur Verständigung
zwischen dem Iran und den arabischen Golfstaaten gehört ebenso
zu den Aufgaben europäischer Außenpolitik wie Bemühungen zur
Mediation von offenen Konflikten, zum Beispiel in Syrien, Libyen und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN232Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
Jemen, sowie die Verhinderung von Staatszerfall, Korruption, sozia-
len Verwerfungen und Vertreibungen in der gesamten Region. Durch
die Bewahrung und das Wiederaufleben des Atom-Abkommens mit
dem Iran (JCPOA) kann ein nukleares Wettrüsten im Nahen Osten ver-
hindert werden. Frieden, Sicherheit und menschenwürdige Lebens-
verhältnisse für alle Menschen im Nahen Osten sind ein zentrales
Anliegen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, auch und beson-
ders mit Blick auf einen nachhaltigen Frieden zwischen Israelis und
Palästinenser*innen. Die Sicherheit des Staates Israel ist ein Teil der
deutschen Staatsräson. Die Existenz und die Sicherheit Israels als
nationale Heimstätte des jüdischen Volkes mit gleichen Rechten für
all seine Bürger*innen sind unverhandelbar. Wir treten für die Fort-
setzung der engen deutsch-israelischen Beziehungen ein. Die anhal-
tende Bedrohung des Staates Israel und seiner Souveränität in seiner
Nachbarschaft und den Terror gegen seine Bevölkerung verurteilen
wir. Sowohl die Eskalation von Gewalt als auch völkerrechtswidrige
Maßnahmen wie die Annexion von besetzten Gebieten oder den fort-
schreitenden Siedlungsbau kritisieren wir, da sie dem Ziel einer fried-
lichen und politischen Lösung des Konflikts und einer Beendigung
der Besatzung entgegenstehen. Für Frieden und Sicherheit braucht es
eine Zweistaatenregelung auf der Grundlage der Grenzen von 1967
mit zwei souveränen, lebensfähigen und demokratischen Staaten für
Israelis wie für Palästinenser*innen. Wir werden uns für Wahlen, einen
Demokratisierungsprozess sowie den Aufbau rechtsstaatlicher Struk-
turen in den palästinensischen Gebieten starkmachen. Europa soll
sich hierfür eng mit der neuen US-Regierung koordinieren.
Nachbarschaft und Partnerschaft mit den Staaten Afrikas
Die afrikanischen Staaten und Europa sind regional wie historisch
eng verbunden. Wir blicken differenziert auf den afrikanischen Konti-
nent und seine Regionen in all ihrer Vielseitigkeit. Europäische Afri-
kapolitik muss sich von patriarchalen Denkmustern frei machen, die
europäische Verantwortung annehmen und die jeweiligen Interessen
in Einklang bringen. Dafür soll Deutschland im Rahmen der EU eine
aktivere Rolle übernehmen. Die Zusammenarbeit zwischen der EU und
Afrika soll sich auf Klimaschutz, Digitalisierung, Technologietransfer,
zivile Krisenprävention und die sozial-ökologische Transformation
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN233Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
fokussieren sowie faire und sichere Migrationswege aus Afrika nach
Europa ermöglichen. Mit der Zivilgesellschaft, dem Kultur- und Wis-
senschaftsbetrieb in Afrika wollen wir verstärkt zusammenarbeiten
und die vielfältige afrikanische Diaspora in Europa stärker beteiligen.
Die Fortsetzung einer einseitigen Politik, die in weiten Teilen auf der
Abwehr von Geflüchteten, unfairer Handels- und Agrarpolitik und der
Ausbeutung von Rohstoffvorkommen fußt, lehnen wir ab und machen
uns für eine gemeinsam entwickelte EU-Afrika-Strategie stark. Der
Afrikanischen Union und den Regionalorganisationen stehen wir bei
der Umsetzung ihrer Agenda 2063, der afrikanischen Freihandelszone
und der regionalen Entwicklungs- und Friedensagenden zur Seite.
Lateinamerika
Wir setzen uns für eine gut abgestimmte Lateinamerika- und Kari-
bik-Politik Deutschlands und der EU ein, die die sozial-ökologische
Transformation befördert und Menschenrechte schützt. Viele Staa-
ten Lateinamerikas haben in der Vergangenheit auf ein auf Rohstoff-
ausbeutung basierendes Wirtschaftsmodell gesetzt, was zu Schäden
für die Menschen, die Natur und die Volkswirtschaften geführt hat.
Zudem sind die meisten lateinamerikanischen Staaten massiv von der
Corona-Krise betroffen. Lateinamerika beherbergt vitale Zivilgesell-
schaften und starke soziale Bewegungen. Soziale Ungleichheiten, Kor-
ruption, verkrustete Machtstrukturen, patriarchale Gesellschaftsbilder
und eine Art des Wirtschaftens, die die natürlichen Lebensgrundlagen
zerstört, werden zunehmend in Frage gestellt und progressive Alter-
nativen entworfen. Gleichzeitig nehmen in vielen Ländern autoritäre
Regierungsstile zu und der Raubbau an der Natur weitet sich aus.
Indigene, Umwelt-, LSBTIQ*-, Frauen- und Menschenrechtsaktivist*in-
nen sind massiv bedroht und bedürfen internationaler Aufmerksam-
keit und Unterstützung. Die Ökosysteme Lateinamerikas spielen eine
zentrale Rolle beim Schutz globaler Gemeingüter wie des Klimas
und der Biodiversität. Handelspolitik, wie das Mercosur-Abkommen,
muss verbindlich an Leitlinien zum Schutz der Menschenrechte, des
Klimas und der Umwelt ausgerichtet sein. Ökologische Nachhaltig-
keit, demokratische Teilhabe, Frieden und Geschlechtergerechtigkeit
stehen daher im Zentrum unserer Zusammenarbeit mit den Staaten
und Zivilgesellschaften Lateinamerikas. Die Streichung vieler Staaten
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Lateinamerikas als Partnerländer der deutschen Entwicklungszusam-
menarbeit ist kurzsichtig, dies wollen wir ändern.
Wir verteidigen die Menschenrechte
Menschenrechtsverteidiger*innen schützen
Menschenrechtsverteidiger*innen sind Held*innen. Sie verteidigen
überall auf der Welt, oft unter Lebensgefahr für sich und ihre Familien,
die Einhaltung der Menschenrechte an vorderster Front. Sie bedürfen
unseres Schutzes, unserer Solidarität und aktiven Unterstützung – auf
allen Ebenen. An den besonders betroffenen deutschen Auslandsver-
tretungen sollten deshalb Menschenrechtsreferent*innen als extra
Anlaufstelle etabliert und sollte eine ressortübergreifende systema-
tische Berichterstattung über die Menschenrechtslage im Land ein-
geführt werden. Für Menschenrechtsverteidiger*innen, die nicht in
ihrem Land bleiben können, weil sie dort akut gefährdet sind, wollen
wir schneller und häufiger als bisher humanitäre Visa bereitstellen
und die neu eingerichtete Elisabeth-Selbert-Initiative zu ihrer tempo-
rären Aufnahme ausbauen. Auf internationaler Ebene setzen wir uns
für den Ausbau von Förderungsmöglichkeiten für zivilgesellschaft-
liche Initiativen und die finanzielle Stärkung der entsprechenden
Schutzinstrumente und Institutionen, wie beispielsweise Sonderbe-
richterstatter*innen, ein. Wir werden die jüngsten Erklärungen und
Empfehlungen auf VN-Ebene zum Schutz von Menschenrechtsver-
teidiger*innen umsetzen. Darüber hinaus setzen wir uns auch für
den Schutz und die gezielte Förderung von Menschenrechtsverteidi-
ger*innen aus EU-Mitgliedstaaten ein.
Kriegsverbrecher*innen zur Rechenschaft ziehen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsver-
brechen dürfen nicht ungestraft bleiben – als Zeichen der Gerech-
tigkeit an die Opfer, als Signal der Abschreckung, als Voraussetzung
für Frieden und Versöhnung. Das deutsche Völkerstrafrecht bietet die
Möglichkeit der Verurteilung auch hier in Deutschland. Dazu werden
wir die Kapazitäten beim Bundeskriminalamt und bei der General-
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Bundestagswahlprogramm 2021
bundesanwaltschaft ausbauen. Die Ermittlungen in Fällen sexuali-
sierter Gewalt sollten verbessert und die Strafprozessordnung sollte
dort reformiert werden, wo sie den Besonderheiten von Völkerstraf-
rechtsverfahren noch nicht Rechnung trägt. Darüber hinaus setzen
wir uns für die zivilrechtliche Haftbarmachung von Unternehmen
für schwerste Menschenrechtsverletzungen ein. International set-
zen wir uns für eine langfristige finanzielle Unterstützung von zivil-
gesellschaftlichen Organisationen und die Vernetzung relevanter
Akteur*innen in diesem Bereich sowie für die – politische und finan-
zielle –Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofes und andere
Institutionen wie den Mechanismus der Vereinten Nationen für die
Untersuchung und Verfolgung von schwersten Kriegsverbrechen in
Syrien (IIIM) ein. Wir setzen uns dafür ein, dass alle Staaten dem Römi-
schen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs beitreten. Gerade
Kinder und Jugendliche, die sexualisierte und geschlechtsbasierte
Gewalt, Entführungen, Rekrutierung als Kindersoldat*in erlebt haben,
leiden unter schweren Traumata. Wird dieses Leid nicht aufgearbei-
tet, beeinträchtigt es das Leben dieser Menschen und ihrer Familien
sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt über Generationen. Die
individuelle Traumabearbeitung wollen wir durch mehr qualifiziertes
Personal und sichere Traumazentren vor Ort auch mit unseren inter-
nationalen Partner*innen und in Deutschland deutlich ausbauen.
Keine Überwachungstechnologie für Diktaturen
und Autokratien
Verschlüsselte Kommunikation rettet tagtäglich Menschenleben. In
den sozialen Medien werden Menschenrechtsverletzungen, die ansons-
ten unentdeckt geblieben wären, für alle sichtbar. Und ohne Satelli-
tenbilder ließe sich etwa die Vertreibung ganzer Dorfgemeinschaften
in Kriegsgebieten gar nicht erst nachvollziehen. Zugleich sind es oft
europäische Überwachungstools, die es autokratischen Regierungen
ermöglichen, unliebsame Aktivist*innen zu verfolgen. Biometrische
Erkennungssysteme, wie etwa identifizierende Gesichtserkennungs-
software, stellen besonders für Menschenrechtsverteidiger*innen,
Medienschaffende und verfolgte Minderheiten in autoritären Staa-
ten eine zusätzliche Bedrohung dar. Wir zielen auf ein Verbot für die
Ausfuhr, den Verkauf und die Weitergabe von Überwachungsinstru-
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BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN236Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
menten an repressive Regime. Entsprechende Schutzklauseln wollen
wir in der deutschen wie europäischen Exportkontrolle verankern.
Wir fördern die Entkriminalisierung verschlüsselter Kommunikation,
stellen uns der Schwächung von Verschlüsselungstechnologien und
-standards entgegen und stärken die Multi-Stakeholder-Governance
des Internets auf internationaler Ebene. Im Rahmen unserer interna-
tionalen Zusammenarbeit setzen wir uns für den freien Zugang aller
zu digitaler Technologie ein. Den freien Zugang zu Informationen als
einem globalen öffentlichen Gut gilt es zu fördern und zu schützen.
Durch die Unterstützung von Trainings stärken wir die sichere digitale
Vernetzung zivilgesellschaftlicher Organisationen weltweit.
Für Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen weltweit
Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein Menschenrecht. Ohne
Geschlechtergerechtigkeit kann auch Armut nicht wirksam bekämpft
werden. In vielen der ärmsten oder konfliktgebeutelten Länder sind
Frauen und Mädchen besonders von Armut, Hunger und Gewalt betrof-
fen. Wir setzen uns konsequent für die Rechte von Frauen und Mäd-
chen weltweit ein, für ein selbstbestimmtes Leben, und werden alle
diplomatischen Möglichkeiten nutzen, damit die Istanbul-Konvention
Anwendung findet. Bildung und Gesundheit sind dafür die Schlüssel.
Wir engagieren uns dafür, Frauen und Mädchen den uneingeschränk-
ten Zugang zu gleichwertiger Bildung zu sichern sowie ihre sexuellen
und reproduktiven Rechte zu schützen. Wir setzen uns dafür ein, dass
Frauen und Mädchen weltweit uneingeschränkt Zugang zu empfäng-
nisverhütenden Mitteln erhalten. Es braucht innovative Bildungsange-
bote wie kompakte nachholende Grundbildung für Frauen oder Berufs-
bildung in Krisen- und Post-Konflikt-Kontexten. Unsere internationale
Zusammenarbeit werden wir darum finanziell und konzeptionell auf
diese Aufgabe hin ausrichten, die Erreichung der Geschlechtergerech-
tigkeit als Querschnittsaufgabe sowie reproduktive Gesundheit und
das Recht auf Bildung in allen Projekten verankern.
Menschenrechtskonventionen umsetzen, Institutionen stärken
Um Menschenrechte tatsächlich und rechtlich durchsetzen zu können,
müssen internationale Menschenrechtskonventionen ratifiziert, kon-
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sequent implementiert und Menschenrechtsinstitutionen gestärkt
werden. Es gilt insbesondere, die nun angestoßene Umsetzung der
ILO-Konvention für die Rechte indigener Völker abzuschließen, das
12. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention
über Antidiskriminierung, das Fakultativprotokoll zum Sozialpakt
und die Wanderarbeiterkonvention der Vereinten Nationen sowie die
VN-Erklärung über die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen zu
ratifizieren. Das ist für Deutschland seit vielen Jahren überfällig. Den
Prozess für ein VN-Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten
(sog. Binding Treaty) wollen wir unterstützen und aktiv vorantreiben.
Darüber hinaus wollen wir einen eigenen Straftatbestand „erzwunge-
nes Verschwindenlassen“ in Deutschland schaffen, um das Defizit in
der Umsetzung der Internationalen Konvention gegen das erzwun-
gene Verschwindenlassen zu beheben. Auf europäischer Ebene setzen
wir uns für die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte ein. Das Instrument der gezielten EU-Sanktionen
gegen Menschenrechtsverbrecher*innen befürworten wir. Die Beauf-
tragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humani-
täre Hilfe wollen wir strukturell besser ausstatten und die finanzielle
Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter und des
Deutschen Instituts für Menschenrechte wollen wir mindestens ver-
doppeln, damit sie ihre gesetzlichen Aufgaben angemessen erfüllen
können. Auf internationaler Ebene setzen wir uns für die Stärkung
der VN-Fachausschüsse und -Sonderberichterstatter*innen ein. Men-
schenrechte und Demokratieförderung sind Grundpfeiler unserer ent-
wicklungspolitischen Arbeit.
Rechte von Minderheiten schützen
Der Umgang mit Minderheiten ist der Gradmesser für den Menschen-
rechtsschutz in einer Gesellschaft. Wir setzen uns dafür ein, die Rechte
von Minderheiten auf internationaler Ebene zu stärken – auch inner-
halb der EU. Nach wie vor setzen die einzelnen Staaten den durch die
Vereinten Nationen vorgegebenen Minderheitenschutz in nationales
Recht um, ohne dass einheitlich kontrolliert wird, ob das umfassend
genug ist. Damit ist der Schutz lückenhaft. Wir werden außenpolitisch
für die weltweite Umsetzung der Yogyakarta-Prinzipien um Schutz
von LSBTIQ* eintreten. In der Entwicklungspolitik wollen wir hier
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN238Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
einen neuen Fokus setzen und unser Engagement deutlich steigern.
Selbst innerhalb der EU gibt es große Unterschiede: Es existieren
keine gemeinsamen EU-Mindeststandards, kein einheitlicher Rechts-
rahmen, der den Schutz und die Förderung von Minderheiten gewährt.
Das wollen wir ändern. Wir werden uns für die Verabschiedung der
5. Antidiskriminierungsrichtlinie einsetzen, damit international aner-
kannte Menschenrechte in der EU eine Rechtsgrundlage erhalten und
die VN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
auf europäischer Ebene rechtlich umgesetzt wird. Den EU-Aktions-
plan gegen Rassismus treiben wir national und international voran.
Wir schützen Geflüchtete
Eine menschenrechtsorientierte Geflüchtetenpolitik
in Europa umsetzen
Wir treten für eine Europäische Union ein, die ihre humanitäre und
rechtliche Verpflichtung, den Zugang zum Grundrecht auf Asyl zu
garantieren, und die Notwendigkeit, Verfahren nach völkerrechtlichen
Standards fair und zügig durchzuführen, einhält. So schwer das derzeit
in der EU der 27 auch ist. Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle.
Die neue Bundesregierung muss die Menschenrechte und das Asyl-
recht verteidigen. Zustände wie in den Lagern auf den griechischen
Inseln, auf dem Mittelmeer oder an der Grenze zu Kroatien bedeuten
einen Bruch mit europäischen Werten und Menschenrechten. Der Blo-
ckade einer gemeinsamen und humanen Geflüchtetenpolitik zwischen
den Mitgliedstaaten begegnen wir mit folgendem Plan: In gemein-
schaftlichen von den europäischen Institutionen geführten Registrie-
rungszentren in den EU-Staaten mit rechtsstaatlich und europäisch
kontrollierten Außengrenzen sollen die Geflüchteten registriert wer-
den und einen ersten Check durchlaufen, ob Einträge in sicherheits-
relevanten Datenbanken vorliegen. So wissen wir, wer zu uns kommt,
und werden zugleich unserer humanitären Verantwortung gerecht.
Die Menschen, die nach Europa kommen, müssen medizinisch und
psychologisch erstversorgt und menschenrechtskonform unterge-
bracht werden. Unter Berücksichtigung persönlicher Umstände wie
familiärer Bindungen oder der Sprachkenntnisse bestimmt die EU-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN239Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
Agentur für Asylfragen schnellstmöglich den Aufnahme-Mitglied-
staat für die Durchführung des Asylverfahrens. Der zugrunde liegende,
zügige Verteilmechanismus stützt sich zunächst auf die Bereitschaft
von Mitgliedstaaten, Regionen und Städten, Geflüchtete freiwillig auf-
zunehmen. Wer das tut, erhält Hilfe aus einem EU-Integrationsfonds.
Reichen die Aufnahmeplätze nicht aus, weiten alle Mitgliedstaaten
im Verhältnis von Bruttoinlandsprodukt und Bevölkerungsgröße ver-
pflichtend ihr Angebot aus oder leisten einen mindestens gleichwer-
tigen Beitrag zu den Gesamtkosten. Das Asylverfahren findet dann im
aufnehmenden Mitgliedstaat statt. Vorgezogene Asylverfahrensprü-
fungen an den Außengrenzen sind damit nicht vereinbar. Die Kom-
mission stellt sicher, dass die gemeinsamen Regeln und Standards
eingehalten werden und für alle Menschen gelten. Wir werden mit
handlungswilligen Ländern und Regionen vorangehen, um die derzei-
tige katastrophale Situation an den Außengrenzen zu beenden. Men-
schenunwürdige Lager und geschlossene Einrichtungen, Transitzonen
oder europäische Außenlager in Drittstaaten lehnen wir ab.
Sichere und legale Fluchtwege schaffen
Niemand sollte für das völkerrechtlich verbriefte Recht, um Asyl zu
ersuchen, das eigene Leben oder das der Familie riskieren müssen.
Genau das ist aber bittere Realität: Immer noch reichen die Möglich-
keiten für sichere Zugangswege bei weitem nicht aus und Geflüch-
tete sind deshalb gezwungen, auf lebensgefährliche Routen durch die
Wüste oder über das Meer auszuweichen. Wir wollen sichere und legale
Zugangswege schaffen – damit Menschen Schutz finden und um zu
verhindern, dass Schlepper aus der Not und dem Leid der Geflüchteten
Profit schlagen können. Dabei sind wir dem besonderen Schutz der
Familie gemäß Grundgesetz, VN-Kinderrechtskonvention und Europäi-
scher Menschenrechtskonvention verpflichtet und treten dafür ein, die
Einschränkungen beim Familiennachzug wieder aufzuheben. Familien
gehören zusammen und das Kindeswohl hat oberste Priorität. Auch
Menschen mit subsidiärem Schutzstatus müssen deshalb ihre Ange-
hörigen ohne die bisherigen Einschränkungen nachholen können und
mit Geflüchteten gemäß der Genfer Konvention gleichgestellt werden.
Wir wollen den Geschwisternachzug wieder ermöglichen. An deut-
schen und europäischen Botschaften braucht es mehr Personal und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN240Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
die Möglichkeit, digital Anträge zu stellen, um die Wartezeiten für Visa
für Familienangehörige zu verkürzen. In Fällen, in denen die Beschaf-
fung von Identitätsnachweisen durch Schutzberechtigte bei Behörden
ihres Herkunftsstaates dort lebende Angehörige gefährdet, setzen wir
uns für die pragmatische Erteilung von Passersatzpapieren ein. Auch
mit humanitären Visa möchten wir Schutzbedürftigen die Möglichkeit
geben, sicher nach Europa zu kommen und hier um Asyl zu ersuchen.
Wir setzen uns außerdem für die Aufnahme afghanischer Ortskräfte
und ihrer Angehörigen ein, die durch ihre Zusammenarbeit mit deut-
schen Institutionen wie der Bundeswehr oder der GIZ in Gefahr sind.
Das individuelle Asylrecht bleibt unangetastet.
Sichere Zugangswege durch humanitäre
Aufnahmepartnerschaft
Im Rahmen des Resettlement-Programms des UNHCR werden durch
die Vereinten Nationen anerkannte, besonders schutzbedürftige
Geflüchtete solidarisch und geordnet auf die Aufnahmeländer ver-
teilt, statt sie ihrem Schicksal auf gefährlichen Fluchtrouten zu über-
lassen. Das rettet Leben, nimmt Schleppern die Geschäftsgrundlage
und folgt einem bewährten, planbaren Verfahren. Im Globalen Pakt
für Flüchtlinge ist die Weltgemeinschaft übereingekommen, das
Resettlement zu verstärken. Doch faktisch sinkt die Zahl der Aufnah-
meplätze seit Jahren. Wir schlagen vor, zusammen mit der neuen US-
Administration und Kanada sowie anderen in einer globalen humani-
tären Partnerschaft die Aufnahme aus dem Resettlement-Programm
deutlich auszubauen und mittelfristig die Erfüllung von mindestens
dem jeweils fairen Anteil am jährlichen, vom UNHCR ermittelten
Resettlement-Bedarf entsprechend der Wirtschaftskraft zu errei-
chen. So stärken wir die Vereinten Nationen, werden langfristig der
globalen Verantwortung Europas gerecht, schaffen Planbarkeit auf
allen Seiten, gehen mit gutem Beispiel voran und regen andere Staa-
ten an, dem internationalen Bündnis beizutreten. Daneben werden
wir sicherstellen, dass sich das geplante EU-Resettlement an den
UNHCR-Kriterien orientiert. Das individuelle Asylrecht bleibt durch
das Resettlement unangetastet.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN241Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
Landesaufnahmeprogramme und ein
Patenschaftsprogramm ermöglichen
Mehrere Bundesländer und über 200 Kommunen in Deutschland sind
bereit, mehr Geflüchtete als von der Bundesregierung zugesagt bei
sich aufzunehmen. Dass diese weiteren Aufnahmeplätze dringend
gebraucht werden, ist angesichts der elenden Zustände in den Lagern
an den EU-Außengrenzen, etwa auf den griechischen Inseln oder an
der bosnisch-kroatischen Grenze, offensichtlich. Wir wollen eine huma-
nitäre Aufnahmepolitik, bei der der Bund und die Länder kooperativ
zusammenarbeiten und die die Aufnahmebereitschaft von Kommu-
nen und Ländern nicht mehr ignoriert. Länder, Landkreise, Städte und
Gemeinden sollen mehr Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten
erhalten, wenn es um die humanitäre Aufnahme Geflüchteter geht. Mit
einer Änderung der Zustimmungsregel zwischen dem Bundesinnen-
ministerium und den Ländern von Einvernehmen in Benehmen wollen
wir klarstellen, dass sich Bundesländer künftig über den Königsteiner
Schlüssel hinaus selbständig und frei für die Aufnahme von Geflüchte-
ten entscheiden können. Der Bund soll weiter die finanziellen und inf-
rastrukturellen Aufgaben erfüllen und die Aufnahmebereitschaft för-
dern. Auch europäische Gelder können im Rahmen der aufnehmenden
Staaten und Regionen eingesetzt werden. Wir werden wieder verstärkt
humanitäre Bundesaufnahmeprogramme sowie Kontingente aus den
EU-Staaten mit Außengrenzen auf den Weg bringen. Ein Patenschafts-
programm nach dem Vorbild Kanadas kann die Willkommenskultur
fördern. Gruppen aus Mentor*innen oder Vereine können dabei die
Unterstützung von Geflüchteten zusagen und so durch Relocation- und
Resettlement-Möglichkeiten konkret Menschen helfen.
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
an den Außengrenzen sichern
Ein gemeinsamer Raum der Freizügigkeit und ohne Binnengren-
zen braucht kontrollierte Außengrenzen. Doch Grenzen sind nur
rechtsstaatlich kontrolliert, wenn Menschenrechte an diesen Gren-
zen geschützt werden und der Zugang zum Recht auf Asyl gesichert
ist. Dass tausende Menschen jährlich im Mittelmeer ertrinken, weil
europäische Regierungen ihnen nicht ausreichend sichere Zugangs-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN242Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
wege ermöglichen und auch die Rettung aus Seenot verweigern,
ist eine Schande. Wir streiten weiter für eine zivile und flächende-
ckende, europäisch koordinierte und finanzierte Seenotrettung. Da
ein gemeinsames Vorgehen aller europäischen Mitgliedstaaten der-
zeit nicht möglich erscheint, wollen wir mit jenen Staaten vorange-
hen, die die Seenotrettung als völkerrechtliche Pflicht ernst nehmen,
und einen eigenen Beitrag leisten: Gerettete müssen zum nächsten
sicheren Hafen gebracht werden, um dann nach einem Verteilmecha-
nismus unverzüglich auf aufnahmebereite Mitgliedstaaten, Regionen
oder Städte aufgeteilt zu werden. Wir stehen fest an der Seite zivil-
gesellschaftlicher Rettungsinitiativen und treten dafür ein, dass die
Kriminalisierung und behördliche Behinderung ihrer Arbeit beendet
wird. So wollen wir die Registrierung von Schiffen der Menschen-
rechtsbeobachtungs- und Seenotrettungsorganisationen rechtssicher
und einfacher gestalten. Wir setzen auf eine europäische Grenzkon-
trolle, die den gemeinsamen Schutz der Menschenrechte zur Grund-
lage hat und ihre Aufgaben wahrnimmt, ohne sie zur Fluchtabwehr
zu missbrauchen. Das Asylrecht beruht auf der Einzelfallprüfung, das
völker- und europarechtlich verbriefte Nichtzurückweisungsgebot
gilt immer und überall. Die Genfer Flüchtlingskonvention gilt unein-
geschränkt. Ihre Aushöhlung führt weder zu mehr Sicherheit noch
zu mehr europäischer Handlungsfähigkeit in der Geflüchtetenpoli-
tik. Dennoch erleben wir derzeit einen systematischen Rechtsbruch
an den EU-Außengrenzen: Menschen werden misshandelt, schutz-
los auf dem Wasser zurückgelassen oder ohne Zugang zu Asylver-
fahren abgewiesen. Pushbacks, von nationalen Grenzpolizeien oder
Frontex begangen, müssen rechtlich und politisch geahndet werden.
Deutschland darf sich an völker- und menschenrechtswidrigen Ein-
sätzen nicht beteiligen, Verstöße müssen verfolgt werden und Konse-
quenzen haben. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Intransparenz
und Menschenrechtsverletzungen bei EU-Agenturen wie Frontex kei-
nen Raum mehr haben. Wir unterstützen die europäischen Initiativen,
die die strukturellen Probleme beim Menschenrechtsschutz bei den
Grenzkontrollen mit strukturellen Veränderungen beheben wollen.
Das staatliche und zivilgesellschaftliche Menschenrechtsmonitoring,
vor allem durch die EU-Grundrechteagentur, wollen wir ausbauen. Es
bedarf einer engen parlamentarischen Kontrolle von Frontex-Einsät-
zen sowie einer systematischen Menschenrechtsbeobachtung vor Ort.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN243Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
Aufnahme- und Transitländer unterstützen
Die humanitäre Versorgung von Geflüchteten außerhalb der Europäi-
schen Union ist Bestandteil unserer globalen Verantwortung. Wir wol-
len die finanzielle und logistische Unterstützung von Erstaufnahme-
und Transitländern wie der Türkei, dem Libanon, dem Sudan, Pakistan
oder Uganda sowie der dort tätigen Hilfsorganisationen ausbauen.
Die deutsche und europäische Zusammenarbeit mit Drittstaaten muss
stets so erfolgen, dass Menschen- und Grundrechte sowie internatio-
nale Asylstandards eingehalten werden. Sie darf außerdem nicht auf
die Verhinderung von Flucht abzielen, wie es derzeit mit der soge-
nannten libyschen Küstenwache und der Erdogan-Regierung der Fall
ist. Die bestehenden „Migrationspartnerschaften“, die Fluchtabwehr
und Rückführungen zur Bedingung etwa von Entwicklungszusammen-
arbeit machen, lehnen wir daher ab, genauso wie die Kooperation mit
der libyschen Küstenwache. Statt „sichere Herkunftsländer“ zu defi-
nieren, brauchen wir für Rückführungen menschenrechtskonforme
Rückübernahmeabkommen. Wir wollen denjenigen Ländern, die ihren
Staatsbürger*innen nach einer Rückkehr Sicherheit effektiv garantie-
ren, im Gegenzug über Visaerleichterungen oder Ausbildungspartner-
schaften verlässliche Aussicht auf eine geordnete Migration eröffnen.
Rückübernahmeabkommen dürfen aber nicht zur Bedingung in ande-
ren Politikbereichen, etwa entwicklungspolitischer oder rechtsstaat-
licher Unterstützung, gemacht werden, nicht für Drittstaatsangehörige
gelten oder das Einwanderungsrecht konterkarieren.
Fluchtursachen strukturell angehen
Uns ist bewusst: Nicht alle Ursachen von Vertreibung können wir
beeinflussen. Viele Menschen fliehen, weil sie verfolgt oder ihnen
grundlegende Rechte vorenthalten werden. Umso entscheidender ist
konsequentes Handeln überall dort, wo auch unser Wirtschaften und
Konsumieren andernorts zu Ausbeutung oder Perspektivlosigkeit füh-
ren. So wollen wir verhindern, dass Menschen überhaupt fliehen und
ihre bisherige Heimat unfreiwillig verlassen müssen. Deshalb rücken
wir die strukturellen Ursachen von Flucht und Vertreibung und unsere
dahin gehende Verantwortung ins Zentrum unserer Politik. Denn viele
politische Entscheidungen, die wir in Deutschland und Europa treffen,
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN244Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
haben direkte Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in anderen
Weltregionen. Wir machen uns deshalb stark für zivile Krisenpräven-
tion und wollen mit einer restriktiven Ausfuhrkontrolle europäische
Rüstungsexporte an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime
und in Kriegsgebiete beenden. Wir setzen uns für ein gerechtes Han-
delssystem ein, das auch den Interessen der Menschen im globalen
Süden dient. Und wir treiben die sozial-ökologische Transformation
unserer Wirtschaft voran.
Wir streiten für eine gerechte
Weltwirtschaftsordnung
Globale Krisenprävention
Die Corona-Krise führt in vielen Ländern des globalen Südens zu
Kapitalflucht und Währungskrisen und offenbart so die Schwächen
der Währungsordnung. Unser Ziel bleibt langfristig der Aufbau eines
kooperativen Weltwährungssystems. Der IWF muss in Krisensituationen
sehr viel mehr Liquidität unkonditioniert bereitstellen können. Dafür
werden wir uns für eine deutliche Aufstockung der Sonderziehungs-
rechte einsetzen. Deutschland und Europa könnten vorangehen und
nicht genutzte Sonderziehungsrechte Ländern des globalen Südens
zur Verfügung stellen, wie Kanada es bereits getan hat. Der IWF sollte
Ländern des globalen Südens auch bei der Einführung und Durchfüh-
rung von Kapitalverkehrskontrollen helfen und dafür mit den Staaten
mit globalen Finanzzentren zusammenarbeiten. Das Stimmengewicht
muss sich zugunsten von Ländern des globalen Südens verschieben.
Die EU-Staaten sollten ihre Stimmrechte zusammenlegen.
Entwicklung ermöglichen, Schuldenkrisen lösen
Viele Länder des globalen Südens befinden sich in einer Schulden-
krise. Das derzeitige Schuldendienstmoratorium ist richtig, verschiebt
das Problem aber in die Zukunft. Wir brauchen solide Schuldenre-
strukturierungen und auch Schuldenerlasse, die Ländern Luft für eine
nachhaltige Entwicklung verschaffen. Um für künftige Überschul-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN245Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
dungskrisen vorzusorgen, setzen wir uns für ein bei den Vereinten
Nationen angesiedeltes, transparentes und unabhängiges Schulden-
restrukturierungsverfahren für Staaten ein. Private Gläubiger*innen
müssen rechtlich dazu verpflichtet werden, an einem solchen Verfah-
ren teilzunehmen, damit Entschuldungen nicht mehr blockiert wer-
den können und so etwa Geierfonds auf Kosten anderer profitieren.
Solange eine internationale Lösung nicht durchsetzbar ist, müssen
Deutschland und andere Regierungen mit koordinierter Gesetzge-
bung den Anfang machen. Damit wollen wir den zu hoch verschul-
deten Staaten im globalen Süden weitere Handlungsspielräume für
sozial-ökologische Transformationsprozesse ermöglichen, etwa um
ihre Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme zu verbessern.
Spekulation mit Nahrungsmitteln verbieten
Nahrungsmittelpreise sind oft starken Schwankungen unterworfen.
Verantwortlich dafür sind nicht nur Wetter und Ernten, sondern auch
skrupellose Spekulant*innen, denen die Gewinnmaximierung vor
Nahrungsmittelsicherheit geht. Auch andere lebenswichtige Res-
sourcen, wie Wasser, werden immer mehr zu einer spekulativen Ware.
Wir werden uns in der EU für striktere Regulierungen einsetzen, um
exzessive Nahrungsmittelspekulation zu verhindern. Dafür braucht es
strenge Berichtspflichten für Händler*innen sowie strikte Preis- und
Positionslimits an allen europäischen Rohstoff-Börsen. So wirken wir
unkontrollierten, marktverzerrenden Spekulationen entgegen, ohne
die für die Agrarbranche wichtigen Absicherungsmechanismen an
den Terminmärkten zu gefährden.
Wir treten ein für Frieden und Sicherheit
Vorausschauend für den Frieden
Unsere Außen- und Sicherheitspolitik zielt darauf, Konflikte zu ver-
hindern, und setzt deshalb auf Vorausschau gemäß der VN-Agenda für
nachhaltige Entwicklung. Deutschland soll bei der politischen Ent-
schärfung von Konflikten und in der zivilen Konfliktbearbeitung auf
globaler Ebene eine treibende Kraft werden. Wir ergänzen den traditi-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN246Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
onellen Sicherheitsbegriff um die menschliche Sicherheit und rücken
damit die Bedürfnisse von Menschen in den Fokus. Den Europäischen
Auswärtigen Dienst (EAD) und die Gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik (GASP) gilt es zu stärken, einschließlich der Rolle des/der
Hohen Vertreter*in. Die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewäl-
tigen, Frieden fördern“ wollen wir um einen Aufbauplan mit zivilen
Planzielen ergänzen und den Auswärtigen Dienst für dessen heutige
Aufgaben fit machen. Die personellen und finanziellen Mittel für zivile
Krisenprävention sollten gezielt erhöht und durch eine Reform des
Zuwendungsrechts langfristig planbarer werden. Wir wollen eine per-
manente und schnell einsatzbereite Reserve an EU-Mediator*innen
und Expert*innen für Konfliktverhütung, Friedenskonsolidierung und
Mediation aufbauen. Wir wollen mehr ressortgemeinsame Analysen,
Krisenfrüherkennung und Projektplanung, eine engere Abstimmung
mit internationalen Partner*innen sowie einen angemessen ausge-
statteten Fonds „Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Frie-
densförderung“. Wir möchten lokale zivilgesellschaftliche Konzepte
und Akteur*innen in der Friedensförderung stärker unterstützen.
Den Zivilen Friedensdienst (ZFD) wollen wir weiterentwickeln und
bedarfsgerecht ausbauen, das Zentrum für Internationale Friedens-
einsätze (ZIF) sowie die Friedens- und Konfliktforschung stärken. Das
Stiftungskapital der Deutschen Stiftung Friedensforschung wollen
wir erhöhen, den neu eingerichteten Fachbereich an der Deutschen
Hochschule der Polizei und andere wissenschaftliche Einrichtungen
insbesondere personell und durch Strategien der Entfristung stärker
fördern. Auch die Erfolge und Chancen der zivilen Krisenprävention
und Konfliktbearbeitung wollen wir der Bevölkerung durch mehr und
zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit vermitteln.
Internationale Politik feministisch gestalten
Wir gestalten unsere Außen-, Entwicklungs-, Handels- und Sicher-
heitspolitik feministisch. Frauen, Mädchen und marginalisierte Grup-
pen wie LSBTIQ*-Personen sind in besonderem Maße von Kriegen,
Konflikten und Armut betroffen. Die Wahrung ihrer Rechte und ihrer
Rolle als Gestalter*innen in der internationalen Politik fördert Frieden,
Entwicklung, Stabilität und Sicherheit. Es geht darum, die diversen
Perspektiven von Frauen, Mädchen und marginalisierten Gruppen zu
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN247Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
stärken, zu schützen und bei allen bi- oder multilateralen Verhandlun-
gen immer mindestens gleichberechtigt einzubeziehen. Dazu braucht
es auch Genderanalysen für einzelne Länderkontexte in regelmäßi-
gen Abständen und eine enge Zusammenarbeit mit feministischen
Akteur*innen in Deutschland und in Partnerländern. Wir wollen sie
nachhaltig finanziell und politisch unterstützen und bedarfsgerechte
Strategien, Gender Budgeting und eine bessere Ressortkoordinierung
stärken. Es gilt die Umsetzung der Agenda 1325 „Frauen, Frieden,
Sicherheit“ innerhalb Deutschlands wie international voranzutreiben,
sexualisierte und genderbasierte Gewalt entschieden einzudämmen,
die reproduktiven Rechte von Frauen zu schützen und die Sicherheit
und Partizipation von Frauen und Mädchen in der Prävention gegen
Konflikte, bei der Transformation von Konflikten und in Stabilisie-
rungsprozessen in den Fokus zu nehmen. Geschlechterbildern, die
sich nachteilig auf Frieden, Sicherheit und Entwicklung auswirken,
möchten wir entgegenwirken. Hierzu wollen wir gemeinsam mit Zivil-
gesellschaft und Wissenschaft verbindliche Leitlinien für eine femi-
nistische Außenpolitik der Bundesregierung erarbeiten.
Koloniales Unrecht aufarbeiten und internationale
Beziehungen dekolonialisieren
Ziel unserer internationalen Politik ist eine selbstkritische und gleich-
berechtigte Zusammenarbeit. Wir können das Unrecht, das die Men-
schen in den früheren Kolonien des Deutschen Reiches erleiden
mussten, weder ungeschehen machen noch wiedergutmachen. Umso
wichtiger ist es, dass wir vergangenes Unrecht wie den Völkermord an
den Ovaherero und Nama benennen, für diese und andere begangene
Verbrechen wie im Maji-Maji-Aufstand um Vergebung bitten und dafür
mit Worten und Taten Verantwortung übernehmen. Aber aus den Ver-
brechen der Kolonialzeit erwächst auch eine besondere Verantwor-
tung für unser internationales Handeln heute. Wir wollen strukturelle
Ungerechtigkeiten, wie benachteiligende Klauseln in Handelsabkom-
men, ungerechte Wohlstandsverteilung und fehlende Repräsentanz
im VN-Sicherheitsrat, Stück für Stück abbauen. Auch unser Natur- und
Umweltschutz muss postkolonial sein. Das bedeutet, die Menschen-
und Landrechte indigener und lokaler Gemeinschaften zu stärken und
zu achten. Die lokale Zivilgesellschaft, Menschen in der Diaspora und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN248Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
Nachfahren der Opfer kolonialer Verbrechen sind Partner*innen. Mit
ihnen gemeinsam wollen wir Prozesse zur Aufarbeitung stärken und
zusammen mit unseren europäischen Partner*innen dafür sorgen, dass
eine umfangreiche Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen stattfindet.
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik stärken
Gerade vor dem Hintergrund des zunehmenden Autoritarismus und
der weltweiten Angriffe auf Kunst- und Wissenschaftsfreiheit wollen
wir die Zusammenarbeit mit der UNESCO und dem Europarat intensi-
vieren und die Auswärtige Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik
stärken. Sie sichert Zugänge zur Zivilgesellschaft, vor allem in Krisen-
zeiten, stärkt demokratischen Austausch und baut neue Partnerschaf-
ten auf. Das zivilgesellschaftliche Eine-Welt-Engagement und die ent-
wicklungspolitische Bildungsarbeit wollen wir stärker unterstützen.
Auch die Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus wer-
den wir durch internationale Kultur- und Jugendbegegnungen und
durch zivilgesellschaftlichen Austausch stärken. Unser Ziel ist es, dass
alle jungen Menschen während ihrer Schul-, Ausbildungs- oder Stu-
dienzeit die Möglichkeit haben, europäische bzw. internationale Aus-
tauscherfahrungen zu sammeln. Die Verantwortung für die koloniale
Vergangenheit Deutschlands wollen wir zum Beispiel in gemeinsa-
men Geschichtsbuchkommissionen mit ehemaligen kolonialisierten
Staaten aufarbeiten. Kulturmittlerorganisationen, wie etwa Goethe-
Institute, und die deutschen Schulen im Ausland sollen finanziell bes-
ser ausgestattet und digital fit gemacht werden, die Programme für
verfolgte Künstler*innen und Wissenschaftler*innen sowie Maßnah-
men gegen Desinformationskampagnen wollen wir verstärken.
Europarat und OSZE stärken
Frieden in Europa bedeutet mehr als Frieden, Sicherheit und Stabilität
in der EU. Damit die Vision einer friedlichen Zukunft für alle Euro-
päer*innen Wirklichkeit werden kann, wollen wir die gemeinsamen,
über die EU hinausreichenden europäischen Institutionen wie den
Europarat und die OSZE stärken und weiterentwickeln, auch damit
wir alle europäischen Staaten einbinden. Nur so können wir tatsäch-
lich ein effektives und starkes System kollektiver Sicherheit in ganz
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN249Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
Europa schaffen. Es bleibt unser Ziel, die östlichen Nachbarstaaten
der Europäischen Union auf der Basis gemeinsamer Werte für eine
solche Perspektive zu gewinnen und die demokratischen Zivilgesell-
schaften vor Ort zu unterstützen, was gerade angesichts der natio-
nalistischen und rückwärtsgewandten Politik Russlands, die Europas
Sicherheit und die Selbstbestimmung der Nachbarländer Russlands
untergräbt, nötig ist. Die OSZE als Forum für Dialog und fairen Inter-
essenausgleich braucht mehr finanzielle und personelle Ressourcen
sowie ein aktiveres Engagement seitens der Bundesregierung und der
teilnehmenden Parlamentarier*innen. Sie soll als Akteurin für Rüs-
tungsbegrenzung, Abrüstung und den gemeinsamen Kampf gegen
die Klimakrise gestärkt sowie in ihren Aktivitäten zur Umsetzung des
Minsker Abkommens unterstützt werden. Den andauernden Versu-
chen autoritärer Staaten, die OSZE-Agenda entlang ihrer Interessen
zu dominieren, kann nur gemeinsam mit anderen liberalen Demo-
kratien der OSZE für eine wertegeleitete und völkerrechtsorientierte
Politik begegnet werden.
Neuer Schub für Abrüstung
Abrüstung und Rüstungskontrolle bedeuten global mehr Sicherheit
für alle. Angesichts der wachsenden militärischen Risiken in Europa ist
eine Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle unab-
dingbar. Erste Schritte sollen weitere deeskalierende Maßnahmen in
Konfliktzonen sowie die Wiederaufnahme des Sicherheitsdialogs und
militärischer Kontakte zwischen NATO und Russland sein. Auch über
Europa hinaus wollen wir alle Länder einbeziehen, insbesondere auch
China. Unser Anspruch ist noch immer nichts Geringeres als eine atom-
waffenfreie Welt. Nach der Aufkündigung des Vertrags über nukleare
Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) zwischen den USA und Russland
ist eine neue Vertragsinitiative nötig. Eine Stationierung neuer Mit-
telstreckenraketen auf dem europäischen Kontinent lehnen wir ab.
Wir wollen den transatlantischen Neustart nach der US-Präsident-
schaftswahl und das Wiederbeleben des New-START-Vertrags nutzen,
um mit den USA über Barack Obamas „Global Zero“ ins Gespräch zu
kommen. Wir wollen ein Deutschland frei von Atomwaffen und einen
Beitritt Deutschlands zum VN-Atomwaffenverbotsvertrag. Eine Welt
ohne Atomwaffen gibt es nur über Zwischenschritte. Als ersten Schritt
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN250Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
sollte Deutschland als Beobachter an der Vertragsstaatenkonferenz
teilnehmen. Darüber hinaus wollen wir in der kommenden Legisla-
turperiode folgende Prozesse initiieren: eine internationale Initiative
zur Reduzierung der Zahl von Atomwaffen, einen Verzicht der NATO
auf jeden Erstschlag und eine breite öffentliche Debatte über die ver-
alteten Abschreckungsdoktrinen des Kalten Krieges. Wir wissen, dass
dafür – auch angesichts der russischen konventionellen und nuklea-
ren Aufrüstung – zahlreiche Gespräche im Bündnis notwendig sind,
auch mit unseren europäischen Partnerstaaten, und vor allem die
Stärkung der Sicherheit und Rückversicherung unserer polnischen
und baltischen Bündnispartner*innen.
Keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete und Diktaturen
Exporte von Waffen und Rüstungsgütern an Diktaturen, menschen-
rechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete verbieten sich. Für
die Reduktion von europäischen Rüstungsexporten wollen wir eine
gemeinsame restriktive Rüstungsexportkontrolle der EU mit einklag-
baren strengen Regeln und Sanktionsmöglichkeiten. Kooperationen
mit dem Sicherheitssektor anderer Staaten müssen an die Einhaltung
demokratischer, rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Kriterien
geknüpft werden. Für Deutschland werden wir ein Rüstungsexport-
kontrollgesetz vorlegen, ein Verbandsklagerecht bei Verstößen gegen
das neue Gesetz einführen und für eine wirksame Endverbleibskont-
rolle sorgen. Hermesbürgschaften für Rüstungsexporte darf es nicht
geben. Den Einsatz von Sicherheitsfirmen in internationalen Konflik-
ten wollen wir streng regulieren und private Militärfirmen verbieten.
Autonome tödliche Waffensysteme international ächten
Autonome tödliche Waffensysteme, die keiner wirksamen Steuerung
mehr durch den Menschen bei Auswahl und Bekämpfung von Zielen
unterliegen, stellen eine unberechenbare Bedrohung dar. Im Sinne
von Frieden und Stabilität wollen wir Autonomie in Waffensystemen
international verbindlich regulieren und Anwendungen, die gegen
ethische und völkerrechtliche Grundsätze verstoßen, international
verbindlich ächten und verbieten. Das gilt auch für digitale Waffen
wie Angriffs- und Spionagesoftware. Hierbei müssen Deutschland und
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN251Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
die EU eine globale Führungsrolle einnehmen. Um eine Militarisie-
rung des Weltraumes zu verhindern, wollen wir weiterentwickelte,
international verbindliche Regeln auf den Weg bringen.
Sicherheit im Cyber- und Informationsraum schaffen
Digitalisierung und neue Technologien bieten viele neue Möglichkei-
ten, schaffen aber auch Risiken für offene, demokratische Gesellschaf-
ten und werfen in bestimmten Bereichen schwerwiegende ethische,
politische und rechtliche Fragen auf. Sie verändern Möglichkeiten
staatlicher und nichtstaatlicher Einflussnahme auf individuelle Frei-
heiten und gesellschaftliche Diskurse, demokratische Abstimmungs-
prozesse sowie die moderne Kriegsführung. Der Staat ist in der Pflicht,
die Bevölkerung effektiv vor solchen Angriffen zu schützen. Für Früh-
erkennung, Analyse und das gemeinsame Vorgehen staatlicher Stellen
braucht es ressortübergreifende Strategien zur Bekämpfung hybrider
Bedrohungen, klare rechtliche Vorgaben und eine starke parlamen-
tarische Kontrolle für das Handeln der Bundeswehr im Cyberraum.
Die Bundeswehr braucht ein an Schutz und Defensive orientiertes
Selbstverständnis im digitalen Raum. Gleichzeitig müssen alle staat-
lichen Institutionen kontinuierlich ihre Resilienz stärken und gerade
Betreiber*innen kritischer Infrastrukturen hierbei unterstützt werden.
Wir setzen uns für neue internationale Übereinkünfte ein, um die
Rüstungskontrolle digitaler Güter und das Völkerrecht zu stärken. Die
Gültigkeit der VN-Charta muss ausgedehnt und das humanitäre Völ-
kerrecht auch im Cyberraum angewendet werden. Hierfür muss auch
die europäische Zusammenarbeit ausgebaut werden, wozu Deutsch-
land einen entsprechenden Beitrag leisten muss.
Internationale Schutzverantwortung wahrnehmen
Es ist wichtig, frühzeitig auf Konflikte einzuwirken und zu verhindern,
dass sie zu bewaffneten Auseinandersetzungen eskalieren. Uns leitet
das Konzept der „Responsibility to Prepare, Protect and Rebuild“ der
Vereinten Nationen, das die Staatengemeinschaft verpflichtet, Men-
schen vor schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit sowie Völkermord zu schützen. Die Staa-
ten sind gleichermaßen verpflichtet, ihre Instrumente für Prävention,
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN252Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
Krisenreaktion und Nachsorge bzw. Wiederaufbau kriegszerstörter
Gesellschaften auszubauen. Wir unterstützen internationale Einsätze
im Rahmen der Vereinten Nationen, die zu Stabilität, dem Schutz der
Zivilbevölkerung und der Umsetzung von Friedensprozessen bei-
tragen. Wir streben an, Ressourcen- und Fähigkeitslücken in diesem
Bereich zu beheben und den zivilen und militärischen Beitrag zu VN-
Einsätzen signifikant zu erhöhen. Den Frauenanteil unter entsandten
Einsatzkräften, Polizist*innen und Soldat*innen, besonders auch in
Leitungspositionen, wollen wir durch gezielte Rekrutierung deutlich
erhöhen. Die Anwendung militärischer Gewalt als Ultima Ratio, wenn
alle anderen Möglichkeiten wie Sanktionen oder Embargos ausge-
schöpft wurden, kann in manchen Situationen nötig sein, um Völker-
mord zu verhindern und die Möglichkeit für eine politische Lösung
eines Konflikts zu schaffen. Ein Einsatz braucht einen klaren und
erfüllbaren Auftrag, ausgewogene zivile und militärische Fähigkeiten
und unabhängige (Zwischen-)Evaluierungen. Bewaffnete Einsätze der
Bundeswehr im Ausland sind in ein System gegenseitiger kollektiver
Sicherheit – das heißt nicht in verfassungswidrige Koalitionen der
Willigen – und in ein politisches Gesamtkonzept einzubetten, basie-
rend auf dem Grundgesetz und dem Völkerrecht. Bei Eingriffen in die
Souveränität eines Staates oder dort, wo staatliche Souveränität fehlt,
braucht es ein Mandat der Vereinten Nationen. Wenn das Vetorecht
im Sicherheitsrat missbraucht wird, um schwerste Verbrechen gegen
die Menschlichkeit zu decken, steht die Weltgemeinschaft vor einem
Dilemma, weil Nichthandeln genauso Menschenrechte und Völker-
recht schädigt wie Handeln.
Moderne Bundeswehr
Der Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr müssen sich an den
realen und strategisch bedeutsamen Herausforderungen für Sicher-
heit und Friedenssicherung orientieren und in ein gesamtstaatliches
Handeln einfügen. Deutschland soll sich auf seine Bündnispartner
verlassen können und genauso sollen sich die Bündnispartner auf
Deutschland verlassen können. Dazu gehört auch, dass die Bundes-
wehr entsprechend ihrem Auftrag und ihren Aufgaben personell und
materiell sicher und planbar ausgestattet und bestmöglich organi-
siert sein muss. Dass Soldat*innen mit nicht ausreichender Schutz-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN253Kapitel 6
Bundestagswahlprogramm 2021
ausrüstung in Einsätze gehen, ist nicht hinnehmbar. Neben einer aus-
reichenden und optimalen Ausrüstung zu jeder Zeit wollen wir, dass
die Soldat*innen nach Einsätzen umfassend betreut und unterstützt
werden und das Angebot für Einsatzgeschädigte ausgebaut wird.
Die Bundeswehr soll die Vielfalt und Diversität unserer Gesellschaft
in ihrer Personalstruktur widerspiegeln. Menschenfeindliche Ideo-
logien und rechtsextremistisches Verhalten sind mit dem Auftrag
der Bundeswehr und den Pflichten der Soldat*innen in keiner Weise
vereinbar. Daher werden wir dies konsequent verfolgen und derar-
tige Strukturen zerschlagen. Neben der umfassenden Aufklärung ist
die wirksame Prävention entscheidend, durch eine praktizierte und
weiterentwickelte Innere Führung, verantwortungsbewusste Per-
sonalgewinnung und zeitgemäße, verbindliche politische Bildung.
Die Rekrutierung Minderjähriger sowie den bewaffneten Einsatz der
Bundeswehr im Inneren lehnen wir ab und wollen den Freiwilligen
Wehrdienst im Heimatschutz beenden sowie die politische Bildung
in Schulen, durch Stärkung ziviler Krisenprävention und Konfliktbe-
arbeitung, gleichberechtigt gestalten. Bewaffnete Drohnen wurden
und werden vielfach auch von unseren Bündnispartnern für extrale-
gale Tötungen und andere völkerrechtswidrige Taten eingesetzt. Ein
solcher Einsatz ist für uns GRÜNE undenkbar und mit dem deutschen
Verfassungs- und Wehrrecht nicht vereinbar. Gleichzeitig erkennen
wir an, dass diese Systeme Soldat*innen in gewissen Situationen
besser schützen können. Deshalb muss klargemacht werden, für
welche Einsatzszenarien der Bundeswehr die bewaffneten Drohnen
überhaupt eingesetzt werden sollen, bevor über ihre Beschaffung
entschieden werden kann. Auch technische Herausforderungen wie
mögliche Hackability müssen in der Gesamtabwägung eine wichtige
Rolle spielen.
NATO strategisch neu ausrichten
Die NATO leidet unter divergierenden sicherheitspolitischen Inter-
essen innerhalb der Allianz bis hin zu zwischenstaatlichen Konflik-
ten. Ihr fehlt in dieser tiefen Krise eine klare strategische Perspektive.
Trotzdem bleibt sie aus europäischer Sicht neben der EU eine unver-
zichtbare Akteurin, die die gemeinsame Sicherheit Europas garantie-
ren kann und die als Staatenbündnis einer Renationalisierung der
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN254Kapitel 6
Bereit, weil Ihr es seid.
Sicherheitspolitik entgegenwirkt. Wir werden uns im Rahmen des
laufenden Strategieprozesses für eine Neuaufstellung der NATO und
darauf aufbauend eine Debatte über eine faire Lastenverteilung und
eine ausgewogene Beteiligung der Mitgliedstaaten einsetzen, um
strategische Interessen auf Grundlage von europäischen Werten wie
Multilateralismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gemeinsam zu
entwickeln und geschlossener und überzeugender zu vertreten. Das
nicht auf Fähigkeiten und Befähigung ausgerichtete NATO-2-Prozent-
Ziel gibt darauf keine Antwort und wir lehnen es deshalb ab. Wir set-
zen uns für eine neue Zielbestimmung ein, die nicht abstrakt, national
und statisch ist, sondern von den gemeinsamen Aufgaben ausgeht,
und werden mit den NATO-Partnern darüber das Gespräch suchen.
Dazu zählt auch eine stärkere militärische Zusammenarbeit und Koor-
dinierung innerhalb der EU und mit den europäischen NATO-Partnern
wie Großbritannien und Norwegen.
Europas Sicherheit gemeinsam gestalten
Gemeinsam mit den internationalen Partnern muss die Europäische
Union ihrer Verantwortung für die eigene Sicherheit und Verteidigung
gerecht werden. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik (GSVP) setzt eine gemeinsame EU-Außenpolitik voraus. Wir wollen
eine EU-Sicherheitsunion etablieren mit einer starken parlamentari-
schen Kontrolle und einer gemeinsamen restriktiven Rüstungsexport-
politik mit strengen Regeln und einklagbaren Sanktionsmöglichkeiten.
Anstatt immer mehr Geld in nationale militärische Parallelstrukturen
zu leiten, wollen wir die verstärkte Zusammenarbeit der Streitkräfte in
der EU ausbauen, militärische Fähigkeiten bündeln, eine effizientere
Beschaffung erreichen und allgemein anerkannte Fähigkeitslücken
gemeinsam und durch eine Konsolidierung des europäischen Rüs-
tungssektors schließen. Dafür sind eine geeignete Ausstattung, der
Ausbau von EU-Einheiten sowie eine Stärkung und Konsolidierung
der gemeinsamen EU-Kommandostruktur und europäischer Initiati-
ven wie zum Beispiel der Permanent Structured Cooperation (PESCO)
nötig. Gemeinsame EU-Auslandseinsätze sollten stärker vom Europäi-
schen Parlament begleitet und kontrolliert werden. Die Umwidmung
von bisher ausschließlich für zivile Zwecke vorgesehenen Geldern aus
dem EU-Haushalt für militärische Zwecke lehnen wir ab.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN255Epilog
Bundestagswahlprogramm 2021
Regieren auf Augenhöhe
mit der Zukunft
Liebe Wähler*innen,
wir haben Ihnen in diesem Programm beschrieben, welche Richtung
wir mit einer neuen Politik einschlagen wollen und welche Projekte
nach unserer Überzeugung in eine bessere Zukunft führen. Wenn
wir in Zeiten des Umbruchs und der epochalen Aufgaben das Beste
ermöglichen wollen, muss sich aber nicht nur der Inhalt von Politik
ändern, sondern auch die Art und Weise, wie wir Politik machen, wie
eine Regierung das Land führt.
In demokratischen Gesellschaften begründet sich Führung durch
die Kraft der Überzeugung. Ja, man kann mit politischen Mehrheiten
„durchregieren“ und nach vier Jahren schauen, ob Sie mit den politi-
schen Entscheidungen einverstanden waren oder nicht. Dieses einfa-
che Prinzip vom Gewinnen und Verlieren im Vierjahresrhythmus allein
hat sich aber als zu schwach erwiesen, um die gegenwärtigen gesell-
schaftlichen Herausforderungen zu stemmen. Demokratische Gesell-
schaften können mehr, indem sie sich vernetzen, voneinander lernen
und ihre Kräfte bündeln. Die großen Herausforderungen unserer Zeit
bewältigen wir nur gemeinsam. Das Ende der jetzigen politischen Ära
kann zugleich der Beginn eines neuen politischen Selbstverständnis-
ses und Miteinanders sein.
Wir sind als Politiker*innen dem Gemeinwohl verpflichtet und
damit beauftragt, Ihnen, den Menschen in diesem Land, zu dienen. Wir
brauchen die lebendige, kontroverse Diskussion und die Bereitschaft,
Zustände und Konzepte zu hinterfragen und zu lernen, sonst geht
es nicht voran. Wer dagegen mit Unterstellungen arbeitet, bewusst
Missverständnisse provoziert, erstickt Debatten. Wir aber wollen sie
ermöglichen.
Wir wissen, dass Sie sich genauso ernsthafte Gedanken über
unsere Zukunft als Gesellschaft machen wie wir. Und deshalb sagen
wir: Ja, unsere Vorhaben sind ambitioniert, nicht zuletzt die Mensch-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN256Epilog
Bereit, weil Ihr es seid.
heitsaufgabe Klimaschutz, weil weniger den Herausforderungen
nicht gerecht würde. Und nein, wir können nicht versprechen, dass
jedes einzelne Projekt genau so Wirklichkeit wird. Wir können nicht
versprechen, dass niemand durch Klimaschutz belastet wird. Wir kön-
nen nicht vorhersagen, welche Spielräume der Staat nach Corona
haben wird. Niemand kennt alle Bedingungen der Zukunft. Aber:
Sie kennen jetzt unsere Vorschläge und Ziele, unsere Ansichten und
unsere Haltung. Was wir Ihnen versprechen: Wir haben uns seit vie-
len Jahren vorbereitet, und wir werden alles daransetzen, so viel zu
erreichen, wie wir irgend möglich machen können. Denn Regieren ist
kein Selbstzweck. Unser Anspruch ist nicht weniger als eine Erneue-
rung des Landes.
Die großen Transformationsaufgaben, der Zusammenhalt unserer
Gesellschaft fordern mehr denn je den Willen zur Kooperation, zum
Zusammenführen, zum Kompromiss, der mehr ist als die Summe sei-
ner Teile. Die großen Aufgaben unserer Zeit werden nicht gelingen,
wenn eine Regierung denkt, alles allein zu schaffen. Sie können nur
gelingen, wenn viele sich verantwortlich fühlen, wenn so viele wie
möglich sich als Teil des Teams begreifen. Wir wollen Verantwortung
übernehmen, aber wir wissen, dass wir Ihre Unterstützung brauchen
werden. Wir bitten Sie, sich einzubringen, einzumischen und laden Sie
ein, mit uns voranzugehen. Mit gebündelter Kraft können wir gemein-
sam vieles schaffen.
Wir möchten dafür das Verhältnis von Regierung, Parlament und
Bürger*innen neu begründen: starke Parlamente und Abgeordnete,
neue Formen der Beteiligung, etwa über Bürger*innenräte, die frühe
Einbeziehung von Bürger*innen bei Planungsprozessen, die trans-
parente Einbeziehung der demokratischen Zivilgesellschaft und wis-
senschaftlicher Fakten. Regieren heißt nicht Allwissenheit, Opposi-
tion heißt nicht aus Prinzip dagegen. Oft erkennen die Menschen, die
ein Gesetz direkt betrifft, als Erste seine unbeabsichtigten Wirkun-
gen. Wir wollen zuhören und einbeziehen, damit unsere Politik eine
bessere wird.
Dazu gehört auch ein neuer Stil in der Zusammenarbeit innerhalb
einer Regierung. Als Partei haben wir Teamgeist und Kooperation in
den letzten Jahren erfolgreich erprobt und gelebt. Diese Idee wollen
wir nun einbringen – angefangen damit, dass die volle Gleichberechti-
gung von Frauen selbstverständlich ist. Wir wollen eine Koalition füh-
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN257Epilog
Bundestagswahlprogramm 2021
ren, die versucht, das Beste aus Gegensätzen zu machen, anstatt sich
mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufriedenzugeben. Die aner-
kennt, dass ein Koalitionspartner Wertvolles an den Tisch bringt und
ebenso recht haben kann. Eine Koalition, die diejenigen einbezieht, die
nicht im Koalitionsausschuss sitzen. Nicht alle Menschen fühlen sich
von uns vertreten, das wissen wir. Umso wichtiger ist es, auch auf die-
jenigen zuzugehen, die uns nicht wählen oder wählen werden.
Die Corona-Krise hat gezeigt, wie viel unser Staat leistet – und
wo es mangelt. Ungleichheit ist gewachsen, aber ein dichtes sozi-
ales Netz hat bisher verhindert, dass sich die Corona-Pandemie zu
einer tiefgreifenden sozialen Krise entwickelt. Ärzt*innen, Pfleger*in-
nen und Krankenhäuser haben Enormes geleistet. Aber die Pandemie
hat auch gezeigt, wo unser Staat an seine Grenzen gerät. Faxgeräte,
besetzte Hotlines, Behördenrennerei und Planungen, die wegen Per-
sonalmangels eine gefühlte Ewigkeit nicht umgesetzt werden, mah-
nen uns, dass sich etwas ändern muss.
Auch dazu haben wir Ihnen in unserem Programm Vorschläge
gemacht. Wir wollen unsere Verwaltung modernisieren, sie kreativer,
digitaler und innovativer machen und besser ausstatten. Wir wollen
Mut machen, zu experimentieren und eine positive Fehlerkultur zu
entwickeln. Unsere Staatlichkeit soll bunter und feministischer wer-
den. Wir wollen Spielräume für dringend notwendige Zukunftsinvesti-
tionen schaffen, die Potenziale der Erneuerbaren ausschöpfen und die
Nachfragemacht des Staates für Innovation und Nachhaltigkeit nutzen.
Weil sozial-ökologische Transformation und Digitalisierung, die
Modernisierung des Staates und des öffentlichen Dienstes nur als
Gemeinschaftsprojekte gelingen, wollen wir einen Konvent auf den
Weg bringen, um aufbauend auf den Lehren aus der Pandemie das
Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen neu und tief-
greifend zu justieren. Wir planen den Aufbau neuer Behörden und
Verwaltungsstrukturen, weil wir einen starken und effizienten Staat
wollen, der zu den Aufgaben passt. Dazu gehört dann auch, dass wir
überprüfen, was es nicht mehr braucht, was zugemacht werden kann,
was besser werden muss.
Das wollen wir nach der Wahl anpacken, gemeinsam mit Ihnen
und den anderen demokratischen Parteien, ohne Scheuklappen und
Dogmatismus. Ein Zurück in die Gräben von mehr oder weniger Staat,
mehr oder weniger Regulierung, mehr oder weniger Föderalismus, das
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN258Epilog
Bereit, weil Ihr es seid.
ist der Aufgabe nicht angemessen. Für die großen Aufgaben des kom-
menden Jahrzehnts gilt es mehr zu wagen. Und zu machen.
Jetzt liegt es bei Ihnen. In Wahlen entscheidet eine Gesellschaft
darüber, wer sie sein will. Wahlen sind ein Moment der Freiheit. Nut-
zen Sie ihn – für die Freiheit.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN259Stichwortregister
Bundestagswahlprogramm 2021
Stichwortregister
A
Abrüstung 227, 249
Afrikanische Union 233
Alter 67, 114, 116, 126 ff., 139, 141 f., 178
Altersarmut 114
Altersvorsorge 114 f., 204
Anleger*innen 84 f., 92
Antidiskriminierung 150, 171, 195, 237
Antirassismus 171
Antisemitismus 161, 171, 195
Antiziganismus 173
Arbeit 10 f., 50 f., 68, 78, 90, 97, 101, 103 ff., 112 f., 128, 142 f.,
145, 152, 159, 163, 173 f., 181, 185, 191, 193, 196, 200, 208, 210,
237, 242
Arbeitsbedingungen 39, 50, 96 f., 103, 105 f., 108 f., 119, 122,
127 f., 145 f., 153, 157, 191
Arbeitslosenrückversicherung 113
Arbeitsplätze 13, 17, 30 f., 34, 59, 61 ff., 70, 77, 106
Arbeitswelt 105, 108, 110 f., 152, 188
Arbeitszeit 106 f., 166,
Armut 98, 100, 102 f., 111, 116, 127, 223, 236, 246
Artenvielfalt 35, 40, 42, 49, 220
Asyl 238 ff.
Asylrecht 186, 231, 238, 240, 242
Atomwaffen 249 f.
Ausgrenzung 98, 161
Außenpolitik 159, 219, 227, 229 ff., 247
Automobilindustrie 34, 63 f.
B
Banken 63, 84, 85, 86, 91, 94, 204
Barrierefreiheit / Barriere 30, 32, 76, 122, 139, 174, 190
Behinderung 33, 67, 99, 101, 107, 112 f., 122, 127, 130, 146, 149,
152 f., 161, 173 f., 177, 190, 238, 242
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN260Stichwortregister
Bereit, weil Ihr es seid.
Berufsausbildung 67, 150, 223
Beteiligung 28, 35, 61, 66, 79, 97, 100, 105, 134, 146, 160, 178 f.,
206, 209, 231, 254, 256
Beteiligungsmöglichkeiten 165, 178
Bildung 10, 43, 58, 67, 72, 75, 87 f., 97 f., 100, 112, 137, 140 ff.,
144 ff., 148 ff., 157, 171, 173, 179, 195, 205, 227, 236, 253
Bildungseinrichtung 100, 153, 185, 215
Bildungspolitik 141, 159, 248
Bildungssystem 141 f., 144 f., 149
Binnenmarkt 59, 73, 80, 113, 215, 218, 228
Biodiversität 22, 221, 233
Breitband 136
Bundeswehr 240, 251 ff.
Bürger*innen 11, 14, 20, 22 f., 35, 48, 91, 93, 117, 136, 160 ff., 167,
171, 175, 178, 182, 194 f., 209 f., 212 ff., 226, 232, 256
C
Chemieindustrie 63
CO₂ 18 ff.
CO₂-Preis 19 ff., 63
D
Daseinsvorsorge 73, 80, 90, 96, 118, 135 f., 138 f., 205, 210, 215
Datenschutz 16, 73, 78, 108, 125, 163, 183
Dekarbonisierung 19, 63, 81
Dekolonisierung 209
Demografischer Wandel 67
Demokratie 11, 80, 97, 160 ff., 167, 175 ff., 181, 197, 208, 212 ff.
217 f., 226, 229 f., 249, 254
Demokratisierung 73
Digitalisierung 10, 16, 30, 32 f., 38, 57 f., 61, 69, 73 f., 77, 87, 96 f.,
105, 107, 116 f., 124 f., 135, 148 f., 162 f., 167 f., 179, 209, 216,
229, 232, 251, 257
Digitale Kompetenz 100, 200
Digitale Plattformen 137, 180, 215
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN261Stichwortregister
Bundestagswahlprogramm 2021
Diskriminierung 98, 104, 109 f., 112, 122, 150, 161, 169 f., 172 f.,
182, 192, 210, 226
Diversität 77, 150, 158, 192, 194, 207, 209 f., 253
Drogenpolitik 129
E
Ehegatt*innensplitting 111
Ehrenamt 182, 211
Eigentum 225
Einflussnahme 175, 214 f., 251
Einkommen 12, 20, 50, 59, 91 ff., 98, 104, 111 ff., 115, 123, 131,
183, 189, 204, 206, 210
Einwanderung 68, 184
Einwanderungsgesellschaft 10, 169, 183 f.
Einwanderungsgesetz 114, 184
Elternschaft 103
Emissionen 18, 24, 33, 63
Empowerment 170
Energie 14 ff., 18, 19, 21, 23 ff., 60, 64 f., 83, 162, 209, 213, 221
Energiegeld 20, 90, 92
Energiewende 22 ff.
Erneuerbare Energie 14, 18 f., 21, 23 ff., 64 f., 162, 221
Engagement 135, 145, 152, 177 f., 181 f., 199, 207, 209 f., 219,
223 f., 238, 249
Entwicklungspolitik 48, 237
Erbschaftssteuer 92
Erinnerungskultur 208 f.
Ernährungspolitik 52
Europa 10, 11, 29, 34, 57 ff., 64 f., 75, 79, 87 ff., 93, 108, 154, 160,
173, 183, 211 f., 215, 217 ff., 221, 225, 228, 232 f., 238, 240, 243 f.,
248 f., 253 f.
Europäischer Binnenmarkt 73, 80 f., 83, 113, 215, 218
Europäisches Kriminalamt 195
Europäisches Parlament 212
Europäische Union 42, 59 f., 72 f., 80, 113, 161 f., 173, 185, 212 f.,
217, 228, 230, 238, 243, 249, 254
EU-Grundrechtecharta 214
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN262Stichwortregister
Bereit, weil Ihr es seid.
EU-Haushalt 87 f., 254
EU-Kommission 52, 72, 81, 86, 212
Europäische Integration 212, 226
Europäische Zentralbank (EZB) 86, 88 f.
Eurozone 88
Export 49, 250
Extremismus 196 f.
F
Fachkräfte 98, 100, 118, 128, 144 ff.
Falschinformationen 180
Familie 20, 36, 96 ff., 101 f., 106, 109 ff., 128, 130, 138, 141 f.,
145, 147 f., 158, 185, 202, 234 f., 239
Feminismus 172, 188
Feministische Außenpolitik 219, 247
Finanzpolitik 59
Finanzinstitut 91
Finanzmarkt 83, 86, 201
FinTech 85
Fiskalpolitik 88
Flucht 217, 220, 231, 243
Föderale Europäische Republik 162, 212
Föderalismus 257
Forschung 16, 50 f., 55, 59, 61, 64, 76, 87 f., 104, 122, 128 f., 134,
141, 154 f., 157, 165 f., 169 f., 208
Forscher*innen 143, 156, 159, 227
Fortschritt 9, 32, 154, 215, 226
Fossile Energie 14, 83
Frauen 62, 67, 77, 85, 103, 105, 109 ff., 121 f., 130, 153, 158, 161,
177 f., 185, 188 ff., 208 f., 225 f., 236, 246 f., 256
Frauengesundheit 122
Frauenhäuser 189 f.
Frauenquote 122
Freiheit 9, 12, 29, 48, 50, 80, 108, 113, 160 f., 195, 217, 220, 251, 258
Freiräume 99, 106, 149, 152, 155, 205
Frieden 10, 182, 221, 227, 229, 232 ff., 245 ff., 250
Friedenssicherung 252
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN263Stichwortregister
Bundestagswahlprogramm 2021
G
G20 225
Ganztag 146
Garantiesicherung 111 f.
Geburtshilfe 96, 121 f.
Geflüchtete 68, 123, 174, 183, 185 f., 220, 224, 231, 233, 238 ff., 243
Gemeinden 160, 171 ff., 241
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 246
Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU 254
Gemeinwohl 58, 62, 74, 138, 175, 213, 255
Gentechnikfreiheit 48
Gerechtigkeit 12, 58, 89, 91, 109, 161, 188, 219 f., 234
Geschlechtergerechtigkeit 29, 108, 207, 223, 233, 236
Geschlechtervielfalt 77
Gesellschaftliche Teilhabe 139 f., 153
Gesundheit 12, 21, 48 f., 55, 116 ff., 121 ff., 126, 136, 147 f., 173,
225, 227, 236
Gesundheitsberufe 118 f., 122, 128
Gesundheitspolitik 116
Gesundheitssystem 95 f., 120, 122, 124, 193, 225
Gesundheitsversorgung 10, 88, 96, 116, 118, 120, 123 ff., 127, 191
Gesundheitsvorsorge 41
Gesundheitswesen 118 f., 122 ff.
Gewaltfreiheit 219
Gewerkschaft 17, 51, 96, 108
Gleichberechtigung 10, 110, 160 ff., 168 f., 172, 177, 188, 256
Gleichheit 183
Globale Strukturpolitik 82, 217
Globalisierung 10, 99, 111
Grad / 1,5 Grad / Green New Deal 12, 18, 21, 34, 47, 59, 81, 221
Gremien 77, 124, 208
Grundeinkommen 112
Gründer*innen 62, 76, 138
Grundrechte 9, 78, 114, 132, 174, 180 f., 194, 214, 238, 243
Grundrechtecharta 114, 214
Grundsicherung 20, 111, 152
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN264Stichwortregister
Bereit, weil Ihr es seid.
H
Handel 10, 15, 55 f., 73, 79, 82, 92, 220
Handelsabkommen 79 f., 215, 247
Handelspolitik 73, 79 f., 82, 228 f., 233
Handwerk 17, 58, 70, 137
Hasskriminalität 100, 189, 192
Haushalt 89 ff., 102, 110, 133, 198
Haushaltspolitik 58
Herkunft 53, 98, 149, 170, 177, 194, 201
Hochschulen 66, 69, 117, 143, 152, 154 f., 156 ff.
Homeoffice 35, 95, 106
Humanitäre Hilfe 221, 223, 237
I
Industrie 13 ff., 19, 21, 23, 25, 27, 38, 46, 57, 62, 71, 82
Industriepolitik 59, 64
Industriestaat 219
Industriestandort 14, 57, 59, 62, 64
Infrastruktur 10, 15, 24 ff., 30, 34 f., 59, 75, 78 f., 87 f., 93, 98, 125,
135, 143 f., 148, 156 f., 162, 218, 251
Inklusion 112, 141, 158, 163, 209, 226
Innovation 10, 16, 55, 57 ff., 65, 68, 74 f., 104, 143, 154 f., 157,
221, 257
Innovationspolitik 68, 143
Integration 15, 82, 149, 158, 174, 184 f., 209, 212, 218, 226
Inter* 122 f., 192 f.
Internationale Politik 219, 246 f.
Internationaler Währungsfonds (IWF) 244
Internationale Zusammenarbeit 224, 236
Internet 60, 91, 96, 135, 138 f., 142, 236
Islam 172
Israel 232
Istanbul-Konvention 189, 230, 236
IT 194
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN265Stichwortregister
Bundestagswahlprogramm 2021
J
Journalismus 179
Jüdinnen und Juden 171
Jung und Alt 138
Justiz 161, 167, 189, 195
K
Kapital 84
Karenzzeit 176
Kinderarmut 98
Kindergrundsicherung 92, 98, 102, 111
Kinderrechte 97, 100
Kirchen 175
Kitas 52, 97 f., 142, 185 f.
Klima 13, 21, 40, 42, 80, 88, 220, 222
Klimaabkommen von Paris 18
Klimabewegung 20
Klimafinanzierung 221
Klimakrise 9, 12 f., 28, 35, 41, 47, 57, 62, 83, 88, 125, 143 f., 154,
166, 199, 207, 212, 228, 249
Klimaneutralität 10, 12, 14 f., 17, 24 f., 29, 33, 37, 57 f., 61, 156, 221
Klimapolitik 18, 227 f.
Klimaschutz 12, 14 f., 19 ff., 29, 33, 35, 40, 43, 52, 57 ff., 64 f., 69,
79, 81, 87, 89, 125 f., 137, 156 f., 166, 222, 229 f., 232, 256
Kolonialismus 209
Kommunen 11, 18, 22, 24, 28, 31 f., 37, 41, 45, 54, 61, 73, 97, 99,
117 f., 126, 129 ff., 133 ff., 149 f., 182, 185, 190, 205, 209 f., 214 ff.,
219, 241, 257
Kontrolle 78, 80, 87 f., 90, 107, 109, 117, 176, 196, 242, 251, 254
Kreislaufwirtschaft 15, 17, 45, 58, 63, 65 f.
Krisenprävention 219, 223, 232, 244, 246, 253
Krisenzeiten 248
Kryptowährungen 87
Kultur 10, 70, 85, 137, 166, 171, 205 ff., 215
Kulturelle Vielfalt 207
Künste 205, 207
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN266Stichwortregister
Bereit, weil Ihr es seid.
L
Landwirtschaft 22, 40 f., 43, 46, 48 ff., 53
Lebensgrundlagen 12 ff., 16, 35, 222, 233
Lebensmittel 43, 51 ff.
Leitwährung 89
Lobbyismus 175
Lobbyregister 175, 214
LSBTIQ* 121, 123, 150, 192, 237,
M
Marginalisierte Gruppen 246
Medien 129, 179, 227, 235
Medienkompetenz 97, 210
Medizin 100, 122
Mehrheitsentscheidungen 94, 213
Meinungsfreiheit 180
Menschenrechte 25, 79, 81 ff., 182, 211, 213, 217 ff., 221 f., 226,
229 f., 233 f., 236 ff., 241 f., 252
Menschenwürde 78
Mieter*innen 22, 24, 27, 130 ff., 134
Migration 186, 217, 222, 243
Minderheiten / Minderheitenschutz 226, 235, 237 f.
Mindestlohn 103
Mitbestimmung 17, 96, 99, 105, 113, 175, 211
Mobiles Arbeiten 92, 106, 138
Mobilfunkversorgung 138
Mobilität 13, 29 ff., 34, 36, 63, 76, 136, 174
Mobilitätswende 29, 31, 33, 35 ff., 64
Multilaterale Zusammenarbeit 218, 224
Multilateralismus 225, 227, 229, 254
N
Nachhaltigkeit 16, 58, 72 f., 76, 79, 126, 157, 207, 210, 221, 233, 257
Nachhaltigkeitsziele 34, 221
NATO 230, 249 f., 253 f.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN267Stichwortregister
Bundestagswahlprogramm 2021
Nebentätigkeiten 176
Neue Wohngemeinnützigkeit 131
NSU 197
O
Offene Gesellschaft 197
Ökologie 13, 20, 22
Ökologische Landwirtschaft 48
Ökosysteme 14, 48, 79, 83, 233
ÖPNV 29, 31 f., 36, 64, 140, 174, 182
Ost und West 227
OSZE 248 f.
P
Pariser Klimaziele / Pariser Klimaabkommen 12, 82, 217, 221
Parität 177
Parteispenden 176
Partizipation 148, 247
Patient*innen 118 ff., 120, 124 f., 127 f.
Pflege 95 f., 106, 108, 116, 122 ff., 140
Pflegeberufe 119, 128
Pflegekräfte 127
Planetare Grenzen 13, 15, 58
Politische Bildung 97, 179, 253
Polizei 100, 161, 167, 189, 193 ff., 203, 246
Prävention 98, 100, 116 ff., 121, 129, 171, 193, 196, 198, 202,
210, 225, 247, 251, 253
Q
Queer* 161, 188, 192
R
Rassismus 161, 170, 173, 181, 195, 197, 238
Recht auf Wohnen 130
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN268Stichwortregister
Bereit, weil Ihr es seid.
Rechtsanspruch 107, 139, 146, 152 f., 189
Rechtsextremismus 195 ff., 211
Rechtsstaatlichkeit / Rechtsstaat 167, 182, 197, 200 f., 214,
217 ff., 226, 229 ff., 241, 254
Regionale Daseinsvorsorge 135
Regionale Wirtschaftskreisläufe 38
Regulierung 34, 44, 50, 109, 129, 257
Religion 172
Rente 110, 114 f., 172
Rentenversicherung 114
Repräsentanz / Repräsentation 161, 168 f., 178, 207, 224, 247
Ressourcen 24, 57 f., 65, 86, 142, 201, 203, 217, 245, 249
Ressourcenverbrauch 16, 71, 90
Rüstungsexportkontrolle 250
S
Schule 100, 102, 117, 143, 147 f., 151
Schusswaffen 198
Schutzverantwortung 251
Schwangerschaftsabbrüche 191
Selbstbestimmung 106, 112, 129, 139 f., 188, 190 f., 193, 230,
236, 249
Sexualisierte Gewalt 203
Sicherheit 9, 11, 16, 28 f., 33, 39, 78, 95 f., 103, 111, 125, 143, 161,
170 f., 181, 193 f., 197 f., 200, 220, 228 f., 232, 242 f., 245 ff.
Sicherheitsbehörden 196 f., 200
Sicherheitsrat 224, 252
Sicherheitsversprechen 95 f.
Sinti*zze und Rom*nja 173
Solidarität 9 f., 89, 95, 197, 234
Solo-Selbständige 60, 108, 206
Sorgearbeit 110
Sozial-ökologisch 16, 34
Sozialleistungen 112, 185, 190
Sozialstaat 59, 95
Sozialunion 87
Sport 160, 199, 205, 209 ff.
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN269Stichwortregister
Bundestagswahlprogramm 2021
Stabilität 14, 86, 88, 229 f., 246, 248, 250, 252
Startups 58, 62, 76
Steuerpolitik 68, 223
Steuerhinterziehung 85, 87, 92 f., 201
Steuersystem 58, 90, 112
Strafrecht 54
Strafverfolgung 86, 100, 129, 180, 190, 193, 200
Strukturwandel 18
Studium 30, 67 f., 70, 101, 128, 143, 150 ff., 155
Subvention 19, 38, 58, 89, 214 f.
T
Tarif 124, 128
Teilhabe 29, 95 f., 98, 100, 111 ff., 121 f., 135, 139 ff., 145, 149, 153,
161 f., 165, 169, 175, 181 ff., 188, 192, 207, 209, 213, 223, 225, 233
Terror 197, 232
Tierschutz 49, 53
Tourismus 47, 71
Trans* 122 f., 192
Transparenz 26, 28, 50, 52 f., 66, 78, 86, 90, 132, 162, 176, 181 f.,
211, 214, 223
Treibhausgasneutralität 18, 63
Trennbankensystem 85
U
Umwelt 13, 40, 46, 48, 50, 55, 80, 201, 219, 222 f., 233
Umweltschutz 14, 69, 72, 222, 247
Unternehmer*innen 57 f., 74 f., 104, 123
V
Verbraucher*innen 15, 26, 44, 46, 49 f., 66, 69, 80, 86, 201, 203
Vereinte Nationen 224
Verkehr 13, 19, 32, 34, 46
Verkehrspolitik 29, 34
Verkehrswende 29, 32, 137
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN270Stichwortregister
Bereit, weil Ihr es seid.
Vermögen 59, 74, 91 f., 112 f.
Verschwörungsideologien 144, 155
Versorgungssicherheit 10, 14, 21, 23 f., 26, 122
Verteilung 16, 34, 43, 177, 217
Vielfalt 10, 40, 41 ff., 66, 102, 105, 155, 158 f., 161 f., 168 f., 171 f.,
177, 179, 192, 205 ff., 253
Völkerrecht 218, 251 f.
Vorsorge 96, 116, 126, 210, 217
W
Wachstum 13, 37, 58, 72
Wahlalter 178
Währungsordnung 244
Währungsunion 87 f.
Weiterbildung 13, 17, 64, 96, 105, 107, 123, 141 f., 152 f., 156,
164, 191
Weltgesundheitsorganisation / WHO 46, 52, 75, 140, 225
Weltordnung 219
Wettbewerb 10, 15, 57 f., 60 ff., 68 f., 72 f., 76, 81, 96, 201
Whistleblower*innen 199 f.
Wirtschaft 9, 15 ff., 27, 39, 57 ff., 66, 69 f., 72 f., 83, 85, 96, 101,
115, 139, 157, 164, 166, 176, 181, 188, 211, 214, 220, 237, 244
Wirtschaftspolitik 89
Wirtschaftssystem 17
Wissenschaft 9 f., 18, 55, 99, 119, 125, 144, 154 ff., 169, 181, 196,
209 f., 223, 247
Wohlstand 9 ff., 29, 57 ff., 62, 70, 72, 75, 91, 95, 97, 217, 219
Wohnen 96, 130 ff., 137, 140, 157, 173 f., 186
Wohnraum 96, 130 ff., 157
Wohnungsmarkt 130, 132
Würde 128, 160, 169, 219
Z
Zentralbank 88
Zivile Krisenprävention 232, 244, 246
Bundestagswahlprogramm 2021
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN271Stichwortregister
Bundestagswahlprogramm 2021
Zivilgesellschaft 18, 69, 154, 156, 161, 164 ff., 169, 174, 181,
196 f., 207, 209, 213, 215, 218, 227, 230 f., 247 f., 256
Zukunft 9, 11 ff., 18, 21, 30, 34, 48, 53, 55, 57, 59 f., 63, 67, 68,
71 f., 81, 83, 87, 107, 116, 118 f., 137, 139, 155, 157, 176, 178, 181,
211 f., 244, 248, 255 f.
Zweistaatenregelung 232
Informieren und mitmachen: gruene.de
Wahlkampf 2021
Wahlprogramm 2017
https://www.bundestagswahl-bw.de/wahlprogramm-gruene-2017
ZUKUNFT
WIRD
AUS MUT
GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
WIRD
AUS MUT
GEMACHT.
:
:
Dieses Bundestagswahlprogramm wurde
auf der 41. Bundesdelegiertenkonferenz
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom
16. bis 18. Juni 2017 in Berlin beschlossen.
Herausgeber*in
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
Telefon: 030 28442-0
Fax: 030 28442-210
E-Mail: info@gruene.de
Internet: www.gruene.de
V.i.S.d.P.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lea Belsner
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
Layout und Satz
KOMPAKTMEDIEN Agentur für
Kommunikation GmbH, Berlin
www.kompaktmedien.de
Titelgestaltung: W/O, Berlin
www.wolfosmankovic.de
Druck: CPI books GmbH, Leck
Bundestagswahlprogramm 2017
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
4
Inhalt
A. EINLEITUNG 7
B. UMWELT IM KOPF 14
I. Wir erhalten unsere Natur 17
II. Wir sorgen für gesunde Lebensmittel
und beenden Tierleid 25
III. Wir retten das Klima 33
IV. Wir begrünen unsere Wirtschaft für Umweltschutz,
Lebensqualität und neue Arbeitsplätze 40
V. Wir steigen um – komplett auf grüne Energien 48
VI. Wir sorgen für saubere, bezahlbare
und bequeme Mobilität 56
C. WELT IM BLICK 65
I. Wir kämpfen um Europas Zusammenhalt 68
II. Wir stehen ein für Frieden, globale Gerechtigkeit
und Menschenrechte 79
III. Wir machen den Welthandel fair 90
IV. Wir schützen Geflüchtete und bekämpfen
Fluchtursachen 98
V. Wir gestalten unser Einwanderungsland 111
D. FREIHEIT IM HERZEN 116
I. Wir streiten für Akzeptanz und Respekt,
für Vielfalt und Selbstbestimmung 119
Inhalt
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5
II. Wir stehen ein für Selbstbestimmung
und Gleichberechtigung 128
III. Wir sichern Freiheit 136
IV. Wir stärken die Demokratie und verteidigen
den freiheitlichen Rechtsstaat 146
V. Wir machen Verbraucherinnen und
Verbraucher stark 157
VI. Wir machen das Internet frei und sicher 164
E. GERECHTIGKEIT IM SINN 171
I. Wir investieren in Kindertagesstätten,
Schulen und Hochschulen 174
II. Wir kämpfen für bezahlbare Wohnungen
und lebenswerte Kommunen 183
III. Wir teilen den Wohlstand gerechter 190
IV. Wir machen den Sozialstaat sicher und zukunftsfest 197
V. Wir holen Kinder aus der Armut
und fördern Familien 209
VI. Wir kämpfen für gute Arbeit
und bessere Vereinbarkeit 216
VII. Wir gestalten die Digitalisierung 223
F. WOFÜR WIR VERANTWORTUNG
ÜBERNEHMEN WOLLEN 232
I. Zehn-Punkte-Plan für grünes Regieren 232
Stichwortregister 240
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
6
Einleitung
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 7
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-
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-
A. EINLEITUNG
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
am 24. September ist Bundestagswahl. Bevor wir Ihnen sagen, was
wir vorhaben, haben wir eine Bitte an Sie: Diskutieren Sie mit,
mischen Sie sich ein, gehen Sie wählen. Treten Sie mit uns für die
Werte ein, die unser Land und Europa stark und lebenswert ge
macht haben, die uns weit über Partei- und Ländergrenzen hinweg
verbinden: die Würde des Menschen, Gerechtigkeit und Gleichbe
rechtigung, Freiheit und Demokratie.
Diese Werte schienen uns bis eben noch selbstverständlich. Nun
erleben wir, wie sie hierzulande, in Europa und vielen Teilen der
Welt massiv infrage gestellt werden. Radikaler Nationalismus kehrt
zurück. Die ökologische Krise spitzt sich zu. Europa ist in sozialer
und wirtschaftlicher Hinsicht tief gespalten. Viele Menschen sind
auf der Flucht vor Kriegen und Krisen. Diese Bundestagswahl ist
wichtig, vielleicht historisch.
Wir haben es gemeinsam in der Hand, jetzt eine bessere Zukunft
zu gestalten. Wir können so wirtschaften, dass Boden, Luft und
Wasser sauber bleiben, dass wir die Grundlagen unseres Lebens
auch für die kommenden Generationen erhalten. Eine Gesellschaft
ist möglich, in der alle Menschen am Wohlstand beteiligt sind, in
der jede und jeder eine Chance bekommt und selbstbestimmt die
eigenen Ziele verfolgt. Wir wollen die Folgen des demografischen
Wandels nicht dem Schicksal überlassen, sondern das Beste daraus
machen: Vom generationengerechten Zusammenleben über die
Entwicklung ländlicher Räume bis hin zum Strukturwandel in Groß
städten sind Innovationen gefragt, nicht Fatalismus. Wir können
unseren Teil dazu beitragen, dass Fluchtursachen bekämpft werden
und nicht die Flüchtenden. Globalisierung und Digitalisierung sind
keine Naturgewalten, die sich gegen den Menschen richten. Sie
können unser Leben besser machen, wenn wir international faire
Regeln durchsetzen und die Bürgerrechte schützen. Auch hier müs
sen der Mensch und demokratische Grundwerte im Mittelpunkt ste
hen. Wir müssen uns jetzt entscheiden und mutig anpacken: für
eine soziale und ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft,
Einleitung
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
8
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die Arbeitsplätze sichert und neue schafft, und gegen weitere Um
weltzerstörung. Für eine Politik, die in unsere Infrastruktur und in
die Zukunft investiert und gegen ungebremstes Profitstreben auf
Kosten des Zusammenhalts. Für ein friedenstiftendes Europa, das
nach innen zusammenarbeitet und nach außen gemeinsam handelt
und gegen Hetze und Nationalismus.
Manche meinen, es sei heute schon viel erreicht, wenn Rück
schritte vermieden werden. Wir nicht. Mit den ökologischen Krisen
und vor allem der Klimakrise stellt sich der Menschheit die Exis
tenzfrage, nicht weniger. Mit der Krise Europas und dem Rückfall in
den Nationalismus stellt sich die Frage des Friedens und der Bedin
gungen für ein gutes Leben. Durch die globale Ungleichheit stellt
sich die Frage nach fairer Verteilung des Wohlstandes, zum Beispiel
durch fairen Handel. Es sind große Fragen, aber sie sind nicht weit
weg. Sie betreffen auch unser Zusammenleben und unseren Alltag.
Es wäre die Aufgabe der Großen Koalition gewesen, diese He
rausforderungen anzugehen. Sie hat es nicht getan. Die drei betei
ligten Parteien CDU, CSU und SPD verfolgen längst nur noch ihre
eigenen Interessen. Während die Koalition erschöpft ist, wachsen
die Probleme. Statt den Raubbau an der Umwelt zu stoppen, blo
ckiert sie beim Klimaschutz, würgt die Energiewende ab und ver
passt die Chancen auf zukunftsfähige Jobs. Sie ruht sich auf der
derzeit guten Wirtschaftslage aus, statt sie für den sozialen Zusam
menhalt und mehr Chancengleichheit zu nutzen. Nach einem Jahr
Willkommenskultur gibt sie zunehmend rechten Stimmungen nach.
Auf neue Bedrohungen reagiert sie mit immer schärferen Gesetzen,
anstatt mit kühlem Kopf gezielt Probleme zu lösen. Mit einer einsei
tigen Sparpolitik hat sie die Gräben in der EU vertieft. Mit ihrer Po
litik setzt sie eine gute Zukunft aufs Spiel.
Die Große Koalition lähmt unser Land und stärkt vor allem den
rechten Rand im politischen Spektrum unserer Gesellschaft. In Groß
britannien hat solch eine Stimmung das Land aus der EU herausge
sprengt und in den USA einen gefährlichen Narzissten an die Macht
gebracht. Damit es bei uns nicht auch so weit kommt, braucht es jetzt
echte politische Alternativen und eine neue, positive Dynamik.
Es gibt guten Grund für Mut und Zuversicht. Millionen Bürgerin
nen und Bürger haben in den vergangenen Jahren ehrenamtlich ge
holfen, Menschen auf der Flucht Schutz und eine neue Heimat zu
bieten. Ihnen gebührt unser ausdrücklicher Dank! Hunderttausende
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sind aufgestanden gegen eine neoliberale Handelspolitik, die Profi
te für Großkonzerne über das Wohl der Menschen und der Umwelt
stellt. Überall arbeiten Unternehmer*innen und Forscher*innen an
einem besseren Morgen. Eltern rackern sich ab, um ihren Kindern
eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Künstler*innen und Kreative
bereichern unsere lebendige Gesellschaft und kulturelle Vielfalt
mit ihren Ideen und durch spannende Innovationen. Viele engagie
ren sich gegen Diskriminierungen und für gleiche Rechte und Chan
cen. Diese Menschen sind unser Antrieb. Für sie und mit ihnen wol
len und können wir vieles zum Guten bewegen.
Wir wollen Deutschland zum ökologischen Spitzenreiter ma
chen. Wir sind die erste Generation, die die Auswirkungen der
Klimakrise spürt – und die letzte, die etwas dagegen tun kann. Des
wegen braucht es jetzt ein großes sozial-ökologisches Moder
nisierungsprojekt. Mit allem, was wir haben, kämpfen wir für Klima
schutz: Erneuerbare Energien werden mit uns günstiger, fossile
teurer. So machen wir die Energiewende wieder flott und steigen
schnellstmöglich aus der klimaschädlichen Kohle aus, wir fördern
das abgasfreie Auto und den umweltfreundlichen Verkehr. Wir ge
stalten eine innovative Wirtschaft, die mit „Öko – Made in Germa
ny“ Produkte und Dienstleistungen für die Zukunft entwickelt und
jede Menge neue Arbeitsplätze schafft – in Deutschland und Euro
pa. Wir machen Schluss mit industrieller Massentierhaltung und
landwirtschaftlichen Monokulturen, wir wollen eine Landwirt
schaft, die möglichst ohne Gifte auskommt. Mit uns gibt es gutes
Essen ohne Gift und Gentechnik.
Wir kämpfen für ein gerechteres Land. Wir wollen, dass jedes
Kind die gleichen Chancen hat – gleich welcher Herkunft, welchen
Geschlechts oder welcher Hautfarbe. Für uns kommt es nicht darauf
an, wo jemand herkommt, sondern wo jemand hin will. Jedes Kind
soll in unserem Land seine Talente und Stärken entfalten und sei
nen Traum verwirklichen können. Sicher werden nicht alle Chefärz
tin oder Chefarzt, aber alle sollen es werden können. Wir sorgen
dafür, dass Eltern mehr Zeit für ihre Kinder haben, dass Kitas und
Schulen intakt sind und Erzieherinnen und Erzieher besser bezahlt
werden. Wir finden uns nicht damit ab, dass bei uns, in einem der
reichsten Länder der Erde, jedes fünfte Kind in Armut lebt.
Wir wollen ein Netz sozialer Sicherheit, das bei Krankheit,
Arbeitslosigkeit und im Alter für alle da ist und vor Armut schützt.
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Unsere soziale Sicherung soll so gut sein, dass sie den Menschen
auch die Zuversicht gibt, Neues zu wagen, und niemanden aus
grenzt. Selbstbestimmung und ein gutes Leben sind in diesem Land
für alle möglich – mit guten Arbeitsbedingungen und einer Politik,
die der sozialen Spaltung entgegenwirkt, sodass weniger Menschen
in prekären Verhältnissen leben und alle an unserem Gemeinwesen
teilhaben können.
Wir kämpfen dafür, dass multinationale Unternehmen ihre Steu
ern hier zahlen und die Gesellschaft nicht länger um Milliarden
prellen, um ihren Vorständen obszöne Gehälter und Abfindungen zu
zahlen. Auch trägt das in unserem mittelständisch geprägten Land
zu einem fairen Wettbewerb bei, der besonders die Chancen von
Gründerinnen und Gründern sowie kleine und mittlere Unterneh
men fördert. Wir wollen, dass gesellschaftlicher Reichtum gerecht
geteilt wird, damit wir unsere öffentlichen Orte und Institutionen
auch gut finanzieren können: Kindergärten, Schulen und Hochschu
len, Krankenhäuser und Theater, Straßenbahnen und Busse genau
so wie schnelles Internet überall im Land.
Wir streiten für eine Gesellschaft, in der alle frei und sicher le
ben können. Eine Gesellschaft, in der jeder Mensch glauben kann,
was er will, lieben und heiraten kann, wen er will. Eine geschlech
tergerechte Gesellschaft, in der Frauen und Mädchen unabhängig
und selbstbestimmt leben und teilhaben, zum Beispiel weil Frauen
für ihre Arbeit genauso gut bezahlt werden wie Männer. Eine Ge
sellschaft, in der wir uns vor Terrorismus, rechtsextremer Gewalt
und Kriminalität schützen, ohne dabei unsere Freiheit aufzugeben.
Wir streiten dafür, dass Deutschland weiterhin Menschen, die auf
der Flucht vor Krieg und Gewalt sind, Schutz und Heimat bietet.
Weil Deutschland auf Einwanderung angewiesen ist, wollen wir
sie transparent und vernünftig regeln. Das Zusammenleben von
Menschen verschiedener Herkunft, Religion und Kultur bringt uns
weiter, aber es verlangt auch allen etwas ab. Deshalb stärken wir
das Band, das unsere Gesellschaft eint und zusammenhält. Das
Grundgesetz und seine Werte gelten für alle. Keine Toleranz der
Intoleranz.
All das erreichen wir nur in einem vereinten Europa. Europa ist
ein Ort des Friedens und der Freiheit. Das ist nicht selbstverständ
lich. Europa ist unsere Heimat und unsere Zukunft. Wir werden es
mit aller Kraft gegen Nationalismus verteidigen. Nur wenn wir in
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einem vereinten Europa zusammenarbeiten, können wir helfen, die
Konflikte in unserer Nachbarschaft zu lösen, Terrorismus, Flucht
ursachen, Steuerbetrug und Korruption zu bekämpfen. Wir wollen,
dass sich Deutschland und Europa den Problemen der Welt zuwen
den und mehr Verantwortung übernehmen, statt sich abzuschotten.
Wir setzen uns ein für den Frieden statt Rüstungsspiralen, für die
Menschenrechte und eine global gerechte Entwicklung statt Unter
drückung und Ausbeutung.
Globale Verantwortung fängt bei uns zu Hause an. Darum nutzen
wir die Gestaltungsmacht Deutschlands als viertgrößte Volkswirt
schaft der Welt, um die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten
Nationen zu erreichen. Damit sollen Umwelt- und Klimaschutz, Frie
den und Gerechtigkeit weltweit gefördert, und unsere Art zu leben
und zu wirtschaften sozial und ökologisch umgestaltet werden. Nur
mit einem solidarischen Europa können wir Mensch und Umwelt
besser schützen. Wir brauchen ein vereintes Europa, damit wir Ban
ken und Großkonzerne auf das Gemeinwohl verpflichten und wir
dem globalen Kapitalismus wirklich ökologische und soziale Zügel
anlegen können, damit die Wirtschaft den Menschen dienen kann.
Und mit Ihrer Stimme bei der Bundestagswahl entscheiden Sie auch
darüber, wie Deutschland in Europa auftritt und für welche Rich
tung es steht.
In vielen Landesregierungen und in etlichen Kommunen arbei
ten GRÜNE als Minister*innen, Landrät*innen, Bürgermeister*innen
oder andere Mandatsträger*innen bereits an der Lösung dieser
drängenden Probleme. Dort arbeiten wir bereits jeden Tag und er
folgreich: für eine tier- und umweltfreundliche Agrarpolitik und Kli
maschutz, für mutige und innovative Unternehmen, für gute Schu
len und Kitas, für gute Integration und die humanitäre Aufnahme
von Geflüchteten, für echte Gleichstellung und eine gut ausgestat
tete und ausgebildete Polizei. Grün wirkt. Doch für viele Verände
rungen braucht es auch im Bund eine Regierung mit uns GRÜNEN.
Wir wollen die Große Koalition ablösen. In den Ländern stellen
wir die Mehrzahl der Umweltministerinnen und -minister. Aber so,
wie es für den Atomausstieg einen grünen Bundesumweltminister
brauchte, braucht es für die Agrarwende und vieles mehr wieder
GRÜNE in der Bundesregierung. Unser Land ökologischer, weltoffener,
gerechter machen – das ist unser Anspruch an eine grüne Regierungs
beteiligung. Dafür treten wir an!
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Politik ist nicht machtlos. Sie gestaltet unser Zusammenleben.
Zukunft wird aus Mut gemacht. Jeden Tag. Es macht einen Unter
schied, wer regiert. Deshalb ist Ihre Stimme bei der Wahl entschei
dend. Welche Richtung unser Land einschlägt, liegt in unser aller
Hand. Wir werden manches ändern, anderes neu denken und voran
bringen. Helfen Sie uns zu erhalten, was in unserem Land wertvoll
und wichtig ist, und zu verbessern, was besser werden muss.
Es ist nicht immer leicht, die eigenen Ziele zu erreichen. Wir ha
ben das oft genug erlebt. Manchmal braucht es Umwege und Kom
promisse. Manchmal braucht es Widerstand und Kontroverse. Wir
wissen auch nicht für alles schon die Lösung. Die Ziele sind für uns
jedoch klar. Wir beschreiben sie Ihnen mit diesem Programm.
Unsere Ziele weisen einen Weg in eine ökologische, friedliche,
vielfältige, weltoffene und gerechte Zukunft. In eine gute Zukunft
für uns, unsere Kinder, unsere europäischen Nachbarinnen und
Nachbarn und für Menschen anderswo in der Welt. Lassen Sie uns
diesen Weg gemeinsam gehen! Stimmen Sie am 24. September 2017
für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN!
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B. UMWELT IM KOPF
Das Klimaabkommen von Paris ist ein Meilenstein für die Rettung
unseres Planeten. Wir haben das Wissen, die Technik und den
Erfinder*innengeist, um die Klimakatastrophe noch abzuwenden.
Wir stehen deshalb jetzt vor einer Entscheidung, die unser Leben
und das Leben unserer Kinder prägen wird. Kämpfen wir für den Er
halt unserer natürlichen Lebensgrundlagen oder sägen wir weiter
an dem Ast, auf dem wir sitzen? Setzen wir auf dreckige Kohle wie
Union und SPD oder auf schmutziges Öl wie Trump und Putin? Oder
brechen wir auf in ein neues, grünes Zeitalter?
Wir wollen anpacken: Denn Hochwasser, Dürren und das Anstei
gen des Meeresspiegels sind keine fernen Bedrohungen mehr. Sie
finden statt. Täglich. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es auf der
Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um etwa weitere vier Grad wär
mer. Wir sind dabei, mit unserer Art zu wirtschaften und zu konsu
mieren unsere Lebensräume zu zerstören – von den Regenwäldern
über unser Grundwasser und unsere Böden bis hin zu den Weltmee
ren. Und wir verursachen ein neues Artensterben, das unsere Um
welt ärmer und zerbrechlicher macht.
Die Folgen wären Hunger, Armut und Konflikte um knapper wer
dende Ressourcen, wie zum Beispiel Wasser. Die Kriege und Flucht
bewegungen der vergangenen Jahre wären nur ein laues Lüftchen
gegenüber dem Sturm, der kommenden Generationen drohte. Uns
geht es darum zu verhindern, dass blinder Wachstumsglaube und
ungebremstes Profitstreben unseren einzigartigen Planeten zer
stören. Wir wollen dafür eine Wirtschaft, die mit der Umwelt statt
gegen sie arbeitet, die nachhaltigen Wohlstand für alle ermöglicht.
Frieden, Sicherheit und ein gutes Leben für alle können wir in Zu
kunft erreichen, wenn wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen
schützen, statt sie weiter zu zerstören.
Wenn wir jetzt entschlossen handeln, ist das gleichzeitig auch
eine große Chance und der richtige Weg für unser Land in eine le
benswerte Zukunft, die Wohlstand und Sicherheit für alle schafft.
Auf diesen Weg haben sich längst viele Menschen und Unter
nehmen gemacht. Und schon einiges erreicht. Wir haben in den ver
gangenen Jahrzehnten Wälder geschützt, Abgase und Schadstoff
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belastungen reduziert und wertvolle Arten gerettet. Bürger*innen
schließen sich zusammen und erzeugen Strom durch Wind, Sonne
und Wasser, Ingenieur*innen tüfteln an immer besseren Elektro
fahrrädern, E-Autos und Lkw mit erneuerbaren Antrieben. Archi
tekt*innen und Bauarbeiter*innen bauen Häuser, die mehr Energie
erzeugen, als sie verbrauchen. Es sind viele, die davon profitieren:
Hunderttausende, die ihr Geld mit erneuerbaren Energien verdie
nen – von Stahlarbeiter*innen bis zu Installateur*innen. Genauso
ganze Wirtschaftszweige, die mit grünen Ideen schwarze Zahlen
schreiben und schon heute die Märkte von morgen erschließen.
Wir werden jetzt die nächsten Schritte der ökologischen Moder
nisierung gehen. Wir machen eine Wirtschaftspolitik mit ehrgeizi
gen Zielen, die den Unternehmen zwar etwas zumutet, aber gerade
durch Innovationen neue Möglichkeiten eröffnet, Planungssicher
heit schafft und neues Wissen und neue Technologien fördert. Wir
wollen einen fairen Wettbewerb, der die Folgekosten umweltschäd
lichen Handelns nicht weiter der Allgemeinheit aufbürdet. Das be
deutet: Die Unternehmen, die den Weg in die ökologische Erneue
rung gehen, unterstützen wir. Wir werden aber auch weiterhin mit
den Lobbyverbänden und den Unternehmen den Konflikt austra
gen, die ihre Geschäftsinteressen ohne Rücksicht auf die Umwelt
verfolgen. Freiwillige Selbstverpflichtungen helfen da wenig wei
ter. Wir werden alles dafür tun, dass Umweltrecht konsequent um
gesetzt wird und Bürger*innen sich ohne Hürden in Verfahren ein
bringen und auch klagen können.
Wir werden unsere Wirtschaft, unseren Verkehr sowie unsere
Energie- und Lebensmittelproduktion konsequent auf grünes Wirt
schaften und grüne Technologien umstellen. Mit einem konsequen
ten Ausbau der erneuerbaren Energien, dem Kohleausstieg und dem
Umstieg auf Elektromobilität. Mit dem Ausstieg aus der industriel
len Massentierhaltung und der Förderung einer menschen-, um
welt- und tiergerechten Landwirtschaft.
Klima- und Umweltpolitik sind auch eine Frage der Gerechtig
keit. Gerade diejenigen, die wenig haben, leben in Vierteln mit ho
her Luftverschmutzung oder großer Lärmbelastung. Global sind es
die Ärmsten, vor allem Frauen und Kinder, die von der Umwelt
zerstörung besonders betroffen sind – obwohl sie am wenigsten
dazu beitragen oder an den Entscheidungen beteiligt sind. Die
Kleinbäuerinnen und -bauern in Afrika, deren Land verdorrt, das
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Waisenkind, das auf hochgiftigen Deponien im Elektroschrott der
Industrieländer wühlt: Dagegen tun wir etwas: Wir recyceln unsere
Rohstoffe, beenden die schädlichen Subventionen für die Agrar
industrie, die zum Billigexport von europäischen Lebensmitteln in
alle Welt führen, und stoppen die Überfischung vor Afrikas Küsten.
Wir sorgen dafür, dass es bei Umwelt- und Klimaschutz gerecht
zugeht. Wo Jobs, zum Beispiel in der Kohleindustrie, verloren gehen,
kümmern wir uns schon heute um gute soziale Absicherung und
neue Jobperspektiven. Wo Preise endlich die ökologische Wahrheit
sagen, sorgen wir mit besseren Löhnen und angemessenen Sozial
leistungen dafür, dass die Preise auch von allen bezahlt werden
können.
Um eine lebenswerte Zukunft für unsere Kinder zu ermöglichen,
werden wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften so verändern,
dass wir die ökologischen Grenzen unseres Planeten respektieren.
Ökologische Politik bedeutet für uns Gemeinwohlorientierung, Bil
dung für nachhaltige Entwicklung, Teilhabe und Verantwortung für
kommende Generationen zu fördern. All das ist es, was wir mit der
sozial-ökologischen Transformation angehen wollen.
Der Schutz unserer Lebensgrundlagen ist unsere gemeinsame
Herausforderung. Zugleich schafft die ökologische Modernisierung
einmalige Chancen: auf sauberes Wasser und Luft, auf gesundes Es
sen, auf unzerstörte Naturlandschaften, auf mehr Lebensqualität
und weniger Lärm, auf neue Jobs und Innovationen, auf ein gutes
und friedliches Leben auf unserem blauen Planeten.
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I. WIR ERHALTEN
UNSERE NATUR
Der Mensch ist auf sauberes Wasser, gesunde Böden und gute Luft
angewiesen. Nur dann können alle frei, unbesorgt und gesund le
ben, können gestalten und genießen. Natur und Umwelt zu schüt
zen heißt, die Grundlagen unseres Lebens zu schützen. Doch wir
Menschen setzen die planetaren Grenzen mit unserer Art zu wirt
schaften und zu konsumieren mehr und mehr aufs Spiel. Der zu
kunftsvergessene Umgang mit der Natur und ihren Schätzen fällt
am Ende auf uns selbst zurück. Das Quecksilber, das die Kohlekraft
werke in die Luft pusten, der Plastikmüll, den wir in Flüssen und
Meeren „entsorgen“, die Pestizide und Arzneimittelrückstände, mit
denen wir unsere Böden und Gewässer belasten – all das löst sich
nicht einfach auf. Es gelangt in unser Trinkwasser, in unsere Atem
luft und in unser Essen. Es ist allerhöchste Zeit, das zu beenden. In
einigen Bereichen haben wir heute schon längst die Belastungs
grenze unseres Planeten überschritten.
Darum stellen wir GRÜNE die Umwelt und den Erhalt unserer Le
bensgrundlage in das Zentrum unserer Politik. Wer die Umwelt
schützt, kämpft für eine lebenswerte und gerechte Welt für alle. Wir
GRÜNE wollen unser Naturerbe, die biologische Vielfalt der Erde,
bewahren. Wir wollen das Verramschen unserer Umwelt beenden.
Wir wollen saubere Flüsse und Seen, ohne Gülle, Medikamenten
rückstände und Mikroplastik. Wir wollen Felder und Wiesen, auf de
nen Insekten und Vögel einen Lebensraum finden. Unser Ziel ist es,
eine lebenswerte Welt auch für unsere Kinder und die kommenden
Generationen zu erhalten. Dafür streiten wir mit Leidenschaft.
1. Kein Leben ohne Wasser
Wasser ist die Wiege allen Lebens und unser Lebensmittel Nummer
eins. Wir müssen es daher vor Verschmutzung schützen und endlich
auch in Deutschland überall einen guten ökologischen Zustand der
Gewässer erreichen. Zusätzliche Risiken wollen wir ausschließen.
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Darum lehnen wir Fracking nachdrücklich ab. Trinkwasser, Umwelt
und Gesundheit zu gefährden und Erdbeben zu riskieren, nur um so
auch noch den letzten Rest Erdgas und Öl aus dem Boden zu pres
sen, ist unverantwortlich. Auch müssen die bereits nachgewiesenen
Probleme mit Lagerstättenwasser, aber auch Methanemissionen bei
der Öl- und Gasförderung beseitigt und keine neuen, unabsehbaren
Gefahren befördert werden.
Diesen vorsorgenden Blick nehmen wir auch beim Hochwasser
schutz ein. Wir beugen vor, indem wir Bächen und Flüssen Raum
geben, sich wieder naturnah zu entwickeln. Wir verlegen Deiche zu
rück und weisen Überschwemmungsgebiete aus. So schützen wir
Bürger*innen und Unternehmen vor Schäden durch Hochwasser und
fördern eine artenreiche Tier und Pflanzenwelt, die in ausgedehn
ten Flussauen wichtige Lebensräume findet. Wir werden Hochwas
serschutzstrategien für ganze Fließgewässersysteme zur Anpassung
an die Folgen des Klimawandels entwickeln und so vermeiden, dass
Schutzmaßnahmen in einer Region beim folgenden Hochwasser zu
sätzliche Schäden in einer anderen Region verursachen. Flussvertie
fungen wie an Elbe und Weser lehnen wir ab.
Um unser Grundwasser, unsere Flüsse und Seen vor dem über
mäßigen Eintrag von Nähr- und Schadstoffen zu schützen, werden
wir die Güllemassen aus der industriellen Landwirtschaft eindäm
men. Wir wollen unser Wasser besser und wirksamer vor Rückstän
den und Schadstoffen, die bei Menschen und Tieren hormonverän
dernde Wirkung bis zur Unfruchtbarkeit zeigen oder krebserregend
sind, schützen. Dadurch werden erhebliche zusätzliche Kosten bei
der Trinkwassergewinnung vermieden. Über die Flüsse gelangen
Müll und Schadstoffe auch in die Meere, wo sie großen Schaden an
richten. Medikamentenrückstände, hormonwirksame Stoffe und
Schwermetalle reichern sich in der Nahrungskette an.
Nitrat und Phosphat aus der Landwirtschaft befeuern die Algen
blüte und schaffen Todeszonen in den Meeren und in den heimi
schen Gewässern. Acht Millionen Tonnen Plastik landen jedes Jahr
in unseren Ozeanen. Wir akzeptieren nicht, dass die Meere ein Raum
ohne Leben werden, in dem es mehr Plastik als Fische gibt, dies
würde auch unsere Existenz gefährden. Deshalb wollen wir Schluss
machen mit dem Eintrag von Plastik in Gewässer und Umwelt. Dafür
stärken wir national Abfallvermeidung, das Recycling, die Einfüh
rung von Mehrwegsystemen wie etwa bei To-go-Bechern und die
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Entwicklung abbaubarer Kunststoffe. Ebenso gilt es, den Eintrag
von Mikroplastik vor allem ins Wasser einzudämmen. So hat dies
etwa in Kosmetika nichts zu suchen; zugleich braucht es in Klärwer
ken Filterstufen zur Entfernung von Plastikpartikeln.
Das Leben in den Meeren steht auch durch zweifelhafte Fische
reipraktiken, wie den Einsatz von Grundschleppnetzen, und zu hohe
Fischereiquoten massiv unter Druck. Nach wie vor fischen euro
päische Trawler die Meere vor Afrikas Küsten leer und gefährden
damit nicht nur das Meeresökosystem, sie nehmen auch den Fi
scher*innen vor Ort ihre Lebensgrundlage. Darum wollen wir die
Überkapazitäten der europäischen Fangflotte abbauen und alle Fi
schereiabkommen ökologisch und sozial verträglich gestalten. Nut
zungsfreie Meeresschutzgebiete sollen dafür sorgen, dass sich das
Ökosystem Meer erholen kann, auch in Nord- und Ostsee. Kurzfris
tig müssen Naturschutzgebiete frei von Grundschleppnetzen und
Stellnetzen sein, die den Meeresboden umpflügen und Schweins
wale beziehungsweise Seevögel ersticken und ertrinken lassen.
Mittelfristig dürfen in der gesamten Ost– und Nordsee nur noch
alternative Fischfangmethoden zum Einsatz kommen, um die Fi
scherei in Einklang mit der Meeresumwelt zu bringen. An den Küs
ten Deutschlands wird derzeit noch mitten im Nationalpark und
UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer unter Gefährdung der Arten
vielfalt nach Öl gebohrt. Das wollen wir beenden. Dank der GRÜNEN
in Schleswig-Holstein wurden bereits Erkundungsbohrungen im
Nationalpark Wattenmeer verhindert.
2. Saubere Luft und gesunder Boden
Jedes Jahr sterben weltweit zehntausende Menschen, weil Stick
oxide und Feinstaub die Luft verpesten und zu Lungen- und Herz
Kreislauf-Erkrankungen führen. Auch wenn sich bei uns der Himmel
über den Städten nicht gelb einfärbt wie in vielen Städten Asiens,
ist auch bei uns der Kampf für saubere Luft längst noch nicht ge
wonnen. Jährliche Messungen zeigen, dass vielerorts Grenzwerte
bei Feinstaub und Stickoxiden überschritten werden. Hauptursache
sind Millionen von Dieselautos, die infolge der Tricks und Manipu-
lationen der Autoindustrie die Grenzwerte im Alltagsbetrieb oft
um ein Vielfaches überschreiten. Wir wollen, dass die betroffenen
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Autos so schnell wie möglich auf Kosten der Hersteller nachgerüs
tet werden, damit die Halter*innen nicht die Leidtragenden von
Fahrverboten sind, die die Bundesregierung mit ihrer Untätigkeit zu
verantworten hat. Um die Menschen zu schützen und die Schad
stoffbelastung der Atemluft zu verringern, wollen wir eine blaue
Plakette einführen, emissionsfreie Mobilität fördern, einen Großteil
der Beförderungsleistung auf den ÖPNV und das Rad verschieben,
die notwendige Nachrüstung von Baumaschinen, Dieselloks et ce
tera fördern und so die Einhaltung strenger Luftreinhaltungsnor
men sicherstellen. Nur so kann es gelingen, die Luft in unseren
Städten sauber zu bekommen. Mit verbindlichen Grenzwerten für
Innenraumluft werden wir zudem die gesundheitliche Belastung in
Wohnungen und Büros etwa durch Emissionen aus Laserdruckern
oder Kopierern reduzieren. Um Betroffene nicht weiter mit den
gesundheitlichen und finanziellen Folgen belasteter Wohn und Ar
beitsräume alleinzulassen, wollen wir anlassbezogene Luftschad
stoffmessungen für Innenräume und Schadstoffsanierungen im
Gebäudebestand fördern.
Auch unsere Böden sind in Gefahr und brauchen dringend
Schutz. Immer mehr landwirtschaftliche und naturnahe Flächen in
Deutschland werden zubetoniert. Die Industrialisierung der Land
wirtschaft überlastet unsere Böden mit Gülle und Pestiziden, ent
wässert und verdichtet sie. So können sie ihre wichtige Funktion für
einen funktionierenden Naturhaushalt und als Kohlenstoffspeicher
nicht erfüllen.
Wir streben das Null-Hektar-Ziel an: Künftig sollen nicht mehr
Flächen in Anspruch genommen werden, als an anderer Stelle wie
der freigelegt werden. So stoppen wir den Flächenfraß. Dazu führen
wir einen Mix an Instrumenten ein, um den Flächenverbrauch
schrittweise zu reduzieren und langfristig zu stoppen. Hektarweise
liegen alte Industrieflächen brach, die man wieder nutzen kann. So
ermöglichen wir wirtschaftliche Entwicklung, ohne dabei grüne
Wiesen einzuebnen. Wir streben in Abstimmung mit den Ländern
eine Sanierung aller Altlasten bis zum Jahr 2050 an und wollen ge
rade die Kommunen dabei unterstützen, alte, versiegelte Industrie-
und Brachflächen zu reaktivieren.
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3. Wir schützen Pflanzen und Tiere
Das Aussterben von Tier und Pflanzenarten, die Bedrohung der ge
samten biologischen Vielfalt, hat unabsehbare Konsequenzen für das
ökologische Gleichgewicht der Erde. Der Schutz der biologischen
Vielfalt ist bei uns genauso wichtig wie in den tropischen Regenwäl
dern oder in der Arktis. Jede dritte Art ist in Deutschland vom Aus
sterben bedroht.
Zu den Hauptgründen zählt die industrielle Landwirtschaft mit
ihren Pestiziden und Monokulturen. Heute kann man von Flensburg
nach Freiburg fahren, ohne immer wieder die Frontscheibe seines
Autos von Insekten reinigen zu müssen. Das ist keine gute Nach
richt. Denn „Pflanzenschutz“ heißt in der industriellen Landwirt
schaft heute vor allem Insektenvernichtung. In den vergangenen
Jahren hat die Zahl der fliegenden Insekten um 80 Prozent abge
nommen. Damit wird die Nahrungskette schon zu Beginn durch
trennt: Findet die Schwalbe keine Mücke, sind auch ihre Tage ge
zählt. So löschen wir die „Festplatte“ unserer Natur jeden Tag ein
Stück mehr und hinterlassen biologische Einöde statt blühender
Landschaften. Auch unsere Ernährung hängt von funktionierenden
Ökosystemen ab: Ohne die Bestäubungsleistung der Bienen sähen
unsere Supermarktregale ganz schön leer aus.
Wir GRÜNE setzen auf konsequenten Natur- und Artenschutz.
Damit erhalten wir nicht nur die natürliche Vielfalt und Schönheit
der Landschaft, eine intakte Natur leistet auch unbezahlbare Diens
te, zum Beispiel im Wasser-, Boden- und Luftschutz, und stellt wich
tige Grundstoffe für unzählige Produkte, etwa in der Chemie und
Medizin, zur Verfügung. Das gilt insbesondere für den Wald, dem auf
einem Drittel der Fläche Deutschlands eine besondere Rolle für den
Klima- und Artenschutz zufällt. Um die biologische Vielfalt zu
schützen, werden wir dafür sorgen, dass die bestehende Gesetzge
bung im Naturschutzbereich konsequent umgesetzt und wo nötig
an die Erfordernisse des Naturschutzes angepasst wird. Weiterhin
werden wir internationale Konventionen wie das Übereinkommen
über die biologische Vielfalt umsetzen.
Immer neue Gewerbegebiete, Straßen und Siedlungen planieren
die Natur zu und zerstören die letzten wilden Lebensräume für vie
le Tiere und Pflanzen. Wir GRÜNE wollen stattdessen Wildnis zulas
sen. Neben traditionellen artenreichen Kulturlandschaften wie zum
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Beispiel Heide oder den bunten Orchideenwiesen, die auf eine ex
tensive Bewirtschaftung angewiesen sind, schützen wir Wälder,
damit sie sich wieder zu Urwäldern entwickeln können, ebenso wie
Moore und Auen. So wie in Baden-Württemberg und Rheinland
Pfalz, wo unsere Landesregierungen zwei neue Nationalparks er
kämpft haben.
Für unseren Siedlungs- und Infrastrukturbedarf kann durch Um
nutzung und Nachverdichtung ausreichend Platz gefunden werden.
Wir unterstützen die Einrichtung von weiteren Nationalparks und
eine Ausweitung des Grünen Bandes. Natur hat für uns auch dann
einen Wert, wenn dieser nicht in Euro und Cent ausgedrückt werden
kann. Die Praxis der Land-, Fischerei- und Forstwirtschaft soll sich
künftig am Schutz der biologischen Vielfalt ausrichten. Deshalb
wollen wir unter anderem den Naturschutz im Waldgesetz veran
kern und naturnahe Waldbewirtschaftung unterstützen. Bei Eingrif
fen in die Natur werden wir die Ausgleichsregelungen so gestalten,
dass stets der größte Nutzen für die Natur und den Naturschutz er
reicht wird.
4. Ressourcen schonen – Vom Müllberg zum Kreislauf
Stetig steigt die Müllflut. Viele Produkte wie Plastiktüten und Ein
weg-Kaffeebecher werden nur kurz genutzt und dann weggeworfen.
Einige Hersteller gestalten ihre Produkte so, dass sie nicht reparier
bar sind. Damit schaden sie der Umwelt und den Verbraucher*innen.
Wir wollen längere Lebensdauern von Produkten fördern und da
durch zu einer Schonung von Ressourcen beitragen.
Ökologisch vorteilhafte Pfandsysteme werden von Getränkein
dustrie und -handel mit Unterstützung der Bundesregierung gezielt
unterlaufen. Wir GRÜNE wollen, dass unsere Ressourcen geschützt
werden, so werden wir unter anderem dafür sorgen, dass Plastikein
wegflaschen durch Mehrweg ersetzt werden. Mit einer Ressourcen
abgabe auf Produkte setzen wir einen Anreiz für Ressourcenschutz
und Effizienzmaßnahmen. Alle, die Ressourcen nutzen, sollen für
die ökologischen und sozialen Kosten ihrer Gewinnung bezahlen
und die Förderung einer echten Kreislaufwirtschaft mitfinanzieren.
Auch heute noch wird Abfall nicht ausreichend in den Kreislauf zu
rückgeführt. Mit einem Wertstoffgesetz, das anspruchsvolle Ver
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wertungsquoten festschreibt, machen wir Haus- und Gewerbemüll
zu einer Quelle für Neues. Dabei sehen wir die Verantwortung für
die Abfallsammlung bei den Kommunen.
Wir wollen eine Kreislaufwirtschaft, die mit neuen Produkten
neue Märkte erschließt und neue Arbeitsplätze schafft und zugleich
unseren Rohstoffverbrauch entscheidend verringert. Denn eine an
dere Ressourcenpolitik ist nicht nur ökologisch notwendig. Sie trägt
auch dazu bei, den Wettlauf um immer knapper werdende Ressour
cen, der mit Menschenrechtsverletzungen und kriegerischen Kon
flikten einhergeht, einzudämmen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Für sauberes Wasser ohne Gift und Plastik
Wasser ist unser wichtigstes Lebensmittel. Damit unsere Gewäs
ser einen guten ökologischen Zustand erreichen, richten wir das
Düngerecht an ihrem Schutz aus. Wir machen uns für eine inter
nationale Plastikkonvention zur Verringerung von Plastikmüll
stark, fördern innovative Projekte zur Abfallvermeidung und zei
gen dem unnötigen Einsatz von Mikroplastik in Kosmetikproduk
ten die Rote Karte. Hersteller von problematischen Medikamen
ten, Chemikalien und umweltschädlichen Pestiziden wollen wir
mit in die Verantwortung nehmen, die Schäden zu beseitigen.
Saubere Luft in Städten
Um die Luft in Städten sauberer zu machen und Fahrverbote zu
vermeiden, wollen wir, dass alle manipulierten Autos auf Kosten
der Autoindustrie so umgerüstet werden, dass sie die Grenzwer
te auch im Realbetrieb einhalten. Für die Folgeerkrankungen
sollen die Hersteller Verantwortung übernehmen, die Kosten
sollen nicht immer auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Mit
der blauen Plakette sollen Kommunen die Möglichkeit bekom
men, die Mobilität zum Schutz der Gesundheit ihrer Bürgerinnen
und Bürger zu steuern. Wir wollen neben dem öffentlichen Ver
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kehr sowie dem Radverkehr emissionsfreie Mobilität besonders
bei Fahrzeugen fördern, die viel in Innenstädten unterwegs sind.
Artenvielfalt schützen
Das große Artensterben ist neben der Klimakrise die zweite
existenzielle Bedrohung für unsere globalen Ökosysteme und
damit auch für uns Menschen. Wir wollen unsere Natur und un
seren Artenreichtum schützen. Dazu werden wir den Natur
schutz übergreifend in allen Politikbereichen verankern sowie
finanziell und personell angemessen ausstatten. In Naturschutz
gebieten sollen die Ziele des Naturschutzes Vorrang vor allen
anderen Nutzungen haben. Den Biotopverbund wollen wir bun
desweit ausbauen und Schutzgebiete ambitioniert umsetzen
und managen und großflächige Wildnisgebiete aus der Nutzung
nehmen. Einer der größten Artenkiller ist die industrialisierte
Landwirtschaft, besonders der flächendeckende massive Einsatz
von Gülle und Pestiziden. Wir werden deshalb Sofortmaßnah
men ergreifen, um die flächendeckende Vergiftung und Über
düngung unserer Landschaft einzudämmen, auf eine Reform der
EU-Agrarpolitik im Einklang mit der Natur drängen und einen
eigenen Naturschutzfonds fordern.
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II. WIR SORGEN FÜR GESUNDE
LEBENSMITTEL UND
BEENDEN TIERLEID
Unser Ziel ist eine vielfältige Landwirtschaft, die ohne Gift, Gentech
nik und Tierleid gesundes Essen für alle erzeugt. Eine Landwirtschaft,
in der die Leistungen unserer Landwirt*innen gewürdigt werden und
die ihnen ein gutes Auskommen verschafft. Die unsere Versorgung mit
gesunden und bezahlbaren Lebensmitteln sichert und auf gute Pro
dukte für den Wochenmarkt statt auf Massenproduktion für den Welt
markt setzt. Die unserem Klima nützt, statt ihm zu schaden. Die mit
der Natur arbeitet und nicht gegen sie. Eine Landwirtschaft, die die
Würde von Tieren achtet, statt sie beispielsweise durch Amputationen
an die Industriehaltung anzupassen. Und eine Agrarpolitik, die für fai
re Entwicklungschancen sorgt, damit Kleinbäuerinnen und -bauern
weltweit nicht mit hochsubventionierten europäischen Agrarfabriken
und deren Abfällen konkurrieren müssen.
Viele Bäuerinnen und Bauern haben sich bereits mit uns auf den
Weg gemacht hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft. Sie bewirt
schaften Flächen, reich an Streuobstwiesen, Hecken, bunten Wiesen
und Weiden. Doch leider sieht es oft auch ganz anders aus: industri
elle Massentierhaltung, zu viel Gülle auf den Feldern, Glyphosat und
Gifte für Bienen und andere Insekten. Für uns steht fest: Die industri
elle Agrarwirtschaft ist eine Sackgasse. Außer der Agroindustrie
kennt sie nur Verlierer*innen. Diese Art der Agrarwirtschaft vernich
tet ihre eigene Grundlage durch großflächige Monokulturen auf den
Äckern und die Beschränkung auf wenige Hochleistungstierrassen.
Auch für den Boden- und Hochwasserschutz hat diese Art der Agrar
wirtschaft fatale Folgen. Eine solche Landwirtschaft richtet unsere
Naturräume zugrunde und ist so zum größten Naturkiller unserer Zeit
geworden. Zudem müssen viele Landwirt*innen aufgrund des wirt
schaftlichen Drucks ihre Höfe aufgeben. Sie ist weder gut für die
Verbraucher*innen noch für die Bäuer*innen.
Unsere Landwirt*innen leisten viel. Sie arbeiten hart und ver
sorgen uns zuverlässig mit Lebensmitteln. Deshalb wollen wir für
landwirtschaftliche Betriebe eine sichere Zukunft schaffen. Doch
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anders, als es die Agrarindustrie uns glauben machen will, gelingt
das besser ohne Gentechnik, Ackergift und Qualzucht. All das spricht
dafür, die Agrarwende so schnell wie möglich durchzuset zen – im
mer mehr Landwirt*innen und Verbraucher*innen sind dabei auf
unserer Seite. In den Ländern zeigen wir, dass es zusammen geht.
Solange bundesgesetzliche Regelungen nicht greifen, unterstützt
zum Beispiel Niedersachsen auf Initiative der GRÜNEN die Bäuerin
nen und Bauern finanziell, die ihren Schweinen nicht die Ringel
schwänze abschneiden. Und damit Milchbäuerinnen und -bauern
wirtschaftlich überleben können, kämpfen unsere Landwirtschafts
minister*innen in den Ländern für einen fairen Milchpreis.
Der ökologische Landbau bleibt unser Leitbild. Wir GRÜNE wol
len dafür sorgen, dass der Ökolandbau in den nächsten sieben Jah
ren mit einer Milliarde Euro gefördert wird. Aber auch für die kon
ventionelle Landwirtschaft gilt: Die landwirtschaftliche Produktion
muss auf der gesamten Fläche umweltverträglicher werden. Wir
wollen Bäuerinnen und Bauern den Weg ebnen, dass auch die Land
wirtschaft ihre Klimaverpflichtungen erfüllt und bis 2050 von der
industriellen Landwirtschaft auf eine klimaneutrale, ökologische
Landwirtschaft umstellt. Wir werden bäuerliche Betriebe unter
stützen und Existenzgründer*innen fördern, die im Einklang mit der
Natur produzieren und unsere gewachsenen Kulturlandschaften –
von den Knicks in Schleswig-Holstein bis zur Almbewirtschaf tung
in Bayern – bewahren.
1. Raus aus der industriellen Massentierhaltung
Wir GRÜNE wollen die Art und Weise, wie wir unser Essen produzie
ren, verändern. Unter den Bedingungen der heutigen Nutztierhal
tung leiden in erster Linie die Tiere. Für uns steht fest: Die Zustände
der Agrarindustrie sind einer modernen Gesellschaft unwürdig.
Deshalb fordern wir radikale Änderungen in der Tierhaltung. Bei un
serem Einsatz für eine zukunftsfähige Landwirtschaft wissen wir
uns unterstützt von vielen Verbraucher*innen, die möglichst gut
und gesund essen wollen. Sie verstehen nicht, warum der Export
weltmeister Deutschland ausgerechnet bei der Versorgung mit Bio
lebensmitteln auf Importe angewiesen ist. Und warum regionale
Produkte im Handel Mangelware sind.
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Am schlimmsten ist die Entwicklung bei der industriellen Mas
sentierhaltung aus dem Ruder gelaufen. Die wachsenden Fleisch
exporte führen zu traurigen Rekordzahlen in den Schlachthöfen,
wo prekäre Beschäftigungsbedingungen oftmals den Arbeitsalltag
prägen. Zusammen mit der Mehrheit der Bürger*innen und vielen
Landwirt*innen wollen wir es nicht akzeptieren, dass gequälte Tiere
zusammengepfercht vor sich hin vegetieren und Schmerzen leiden
müssen, ohne je die Sonne zu sehen.
Wir wollen, dass die Tiere ein besseres Leben haben: mehr Platz in
den Ställen, Zugang zu frischer Luft und Tageslicht, kein Küken
schreddern, keine Amputationen und Qualzuchten, tiergerechte Füt
terung und deutlich weniger Antibiotika. Tierschutz schützt auch
unsere Gesundheit. Mit der Eindämmung des Antibiotikaeinsatzes
in der Landwirtschaft reduzieren wir auch die Gefahr multiresisten
ter Bakterien. Gute Arbeitsbedingungen und das Wohl der Tiere
müssen im Vordergrund stehen – von der Aufzucht und der Haltung
über den Transport bis zur Schlachtung. Wir wollen kleine regionale
Schlachthöfe und mobile Schlachteinrichtungen fördern, die Tier
transporte entbehrlich machen und Wege verkürzen. Wir wollen die
industrielle Massentierhaltung in den nächsten 20 Jahren beenden.
Das fördern wir mit einem Pakt für faire Tierhaltung, damit sich tier
und umweltgerechte Haltung auch wirtschaftlich rechnet. Auch aus
Klimaschutzgründen ist der Rückgang des Konsums tierischer Le
bensmittel eine gute Entwicklung.
In Schulen und Ausbildung sollen die globalen Folgen unserer
Lebensmittelproduktion thematisiert und verdeutlicht werden. Ko
mmunen sollen mitentscheiden können, ob Tierhaltungsanlagen
auf ihrem Gemeindegebiet entstehen. Zur Haltung unserer Nutztie
re existieren häufig keine oder unzureichende Gesetze. Deshalb ist
es unser Ziel, die Haltung aller Nutztiere in einer entsprechenden
Verordnung zu regeln. Zudem müssen die Informationen über Tier
haltung viel transparenter und zugänglicher gemacht werden. Dazu
gehört es neben der Freiheit von Krankheiten und Verletzungen
auch, das Wohl der Tiere zu beurteilen. Nur so können Verbrau
cher*innen wirklich eine Entscheidung darüber fällen, welches
Fleisch sie essen wollen.
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2. Für eine Landwirtschaft ohne Gift
Der massive Einsatz von umweltschädlichen Pestiziden hat verhee
rende Folgen für den Artenreichtum und den Erhalt der Bodenfrucht
barkeit. Wir GRÜNE wollen eine Lebensmittelproduktion, an der die
Bäuerinnen und Bauern verdienen und nicht die chemische Industrie.
Darum beenden wir den Einsatz von besonders schädlichen und ge
sundheitsgefährdenden Stoffen wie Glyphosat und Neonicotinoiden.
Hier nehmen wir besonders die großen Agrar- und Chemiekonzerne
in die Pflicht. Wir unterstützen die Bäuerinnen und Bauern dabei
pestizidfrei zu wirtschaften. Dazu legen wir ein Programm auf, das
den Pestizideinsatz eindämmt, und eine Pestizidabgabe enthält.
Damit stärken wir die Forschung bezüglich der Wirkungen von Pes
tiziden auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit. Die Zulas
sung neuer chemischer Wirkstoffe in der EU wollen wir einschrän
ken und aus dem Einflussbereich der Hersteller herausholen. Nur
was wirklich unbedenklich ist, darf auf den Markt gelangen.
Ein solcher Nachweis wird für gentechnisch veränderte Orga
nismen jedoch bis heute nicht erbracht. Genfood und Biopatente
braucht kein Mensch. Wir halten an unserem Standpunkt fest: Pflan
zen aus den Laboren der Agroindustrie haben auf unseren Äckern in
Deutschland und Europa nichts verloren.
Wir werden ein Gentechnikgesetz auflegen, das unsere Äcker
und unsere Teller frei von Gentechnik hält, auch wenn sie sich als
„neu“ tarnt. Und wir setzen uns dafür ein, dass die Verbraucher*innen
dank einer umfassenden Kennzeichnung auch erkennen können,
wenn ihr Fleisch, ihre Milch oder ihre Eier mithilfe von Futtermitteln
aus genetisch veränderten Pflanzen produziert wurden.
Digitalisierung in der Landwirtschaft kann einen wichtigen Bei
trag leisten, um ressourcenschonender, effizienter und tierwohlge
rechter produzieren zu können. Mit diesem Ziel unterstützen wir
auch die Forschung zum „Smart Farming“.
3. Klare Kennzeichnung
Unsere wichtigsten Verbündeten auf dem Weg zu einer nachhaltigen
Landwirtschaft sind die Verbraucher*innen. Doch die Lebensmittel
industrie macht es ihnen schwer, eine bewusste Kaufentscheidung
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zu treffen. Wir GRÜNE wollen, dass die Lebensmittelverpackung
sagt, was in ihr steckt. Darum werden wir eine eindeutige Kenn
zeichnung von Fleisch einführen, die deutlich macht, wie die Tiere
gehalten wurden – so wie bei der Kennzeichnung von Eiern. Und wir
führen die Kennzeichnung auch für verarbeitete Produkte ein. Dann
können Konsument*innen beim Einkaufen sich bewusst für tier- und
umweltfreundlich hergestellte Lebensmittel entscheiden.
Wir wollen, dass genießbare Lebensmittel auf dem Teller lan
den und nicht in der Tonne. Wir wollen verbindliche Reduktions
ziele bei der Lebensmittelverschwendung. Um diese Ziele zu errei
chen, sind alle gefragt: vom Handel über die Industrie und
Gastronomie bis zu den Verbraucher*innen. Deshalb wollen wir Su
permärkte ab einer gewissen Größe dazu verpflichten, nicht ver
kaufte, aber noch gute Lebensmittel kostenlos zur Verfügung zu
stellen. Dieses Angebot soll für alle Menschen offen sein. Dabei
soll sichergestellt werden, dass dies nicht zur Müllentsorgung
missbraucht wird. Menschen, die Lebensmittel aus dem Müll ret
ten, sollen nicht bestraft werden ( Kapitel: Wir machen Ver
braucherinnen und Verbraucher stark, S. 157).
4. Mehr Geld für grüne Landwirtschaft
Wir GRÜNE wissen: Der Umbau zu einer tier- und umweltfreund
lichen Landwirtschaft kostet zunächst einmal Geld. Gleichzeitig
sind wir davon überzeugt, dass eine andere Form der Landwirt
schaft für unsere Gesellschaft im Gesamten günstiger ist.
Wir wollen mit den Bäuerinnen und Bauern zusammenarbeiten,
die sich mit uns auf den Weg machen. Wir wollen, dass sie wieder
von ihrer Arbeit leben können, auch durch die Förderung bereits
etablierter, rein pflanzlicher Landwirtschaft. Die notwendigen Gel
der mobilisieren wir durch eine Umschichtung der europäischen Ag
rarmittel: Über 60 Milliarden Euro gibt die Europäische Union für die
Unterstützung ihrer Landwirt*innen aus, sechs Milliarden davon ge
hen direkt nach Deutschland. Aber bisher wird nur der Besitz von
Fläche belohnt, unabhängig davon, wie sie bewirtschaftet wird.
Deshalb erhalten nur 20 Prozent der Betriebe 80 Prozent der Mittel.
Die Bundesregierung hat großen Einfluss auf die Zukunft der euro
päischen Landwirtschaftspolitik. Wir wollen sicherstellen, dass die
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ser Einfluss genutzt wird: zugunsten der Landwirt*innen, der Konsu
ment*innen, der Tiere und der Natur.
Die intransparente und großflächige Aneignung von Landflä
chen durch agrarindustrielle Unternehmen und außerlandwirt
schaftliche Investor*innen ist eine traurige Realität in Deutschland.
Immer wieder kommt es zu massiven Preisexplosionen, während die
Bundesregierung sich vehement für die Interessen der industriellen
Landwirtschaft einsetzt. Das wollen wir beenden. Wir brauchen
endlich eine wirksame und transparente Regulierung des Marktes
für landwirtschaftliche Böden.
Wir wollen für die Agrarförderung das Prinzip „öffentliches
Geld für öffentliche Leistung“ so schnell wie möglich durchsetzen.
Unser Ziel ist eine europäische Agrarpolitik, die bei Lebensmitteln
den Umbau hin zu einer Landwirtschaft und einem Agrarmarkt
fördert, die auf Klasse statt Masse setzen. Die dafür sorgt, dass es
den Tieren in den Ställen besser geht. Die die Artenvielfalt erhält
und Klima, Wasser und Boden schützt. Wir wollen bäuerliche,
ökologische und regionale Wirtschaftsweisen unterstützen – und
nicht die exportorientierte, industrielle Agrarwirtschaft. Die euro
päische Agrarpolitik darf nicht mehr zulasten anderer gehen. Wir
wollen das Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität welt
weit sichern.
5. Tierschutz stärken
Auch außerhalb der Landwirtschaft wollen wir den Tierschutz stär
ken. Tiere empfinden Schmerzen, Leid und Angst. Deshalb streiten
wir GRÜNE dafür, Tiere um ihrer selbst willen zu schützen. Das
Staatsziel Tierschutz, das wir nach langem Kampf erreicht haben,
muss endlich mit Leben gefüllt werden. Deshalb brauchen wir ein
neues Tierschutzgesetz. Eine Mehrheit der Menschen in unserem
Land will wie wir keine Pelzfarmen dulden und das Leid von Wild
tieren im Zirkus und von Delfinen in Gefangenschaft beenden. Tiere
sind für uns keine Gegenstände, die zu Unterhaltungszwecken ge
quält werden dürfen. Wenn Tiere möglichst naturnah gehalten wer
den, können zoologische Gärten wichtige Funktionen übernehmen,
wie zum Beispiel bei Arterhaltungsprogrammen oder bei der Um
weltbildung.
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Wir GRÜNE wollen Tierversuche konsequent reduzieren und
schnellstmöglich überflüssig machen. Qualzucht wollen wir auch
bei Heimtieren beenden. Aus Tier- und Artenschutzgründen wollen
wir eine rechtskonforme Positivliste mit den Tierarten, die privat
gehalten werden können, aufstellen und Haltungsvoraussetzungen
formulieren wie etwa Sachkundenachweise für bestimmte Tier
arten. Kommerzielle Exotenbörsen wollen wir unterbinden. Der
Handel mit exotischen Tieren muss schärfer reguliert und strenger
kontrolliert werden. Illegalen Tierhandel wollen wir konsequent
verhindern. Die wichtige Arbeit der Tierheime soll endlich entspre
chend finanziert werden. Um den Tierschutz effektiver durchsetzen
zu können, werden wir ein bundesweites Verbandsklagerecht für
Tierschutzorganisationen schaffen und eine*n Bundesbeauftragte*n
für Tierschutz einsetzen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Kein Gift in der Landwirtschaft
Wir wollen eine giftfreie Landwirtschaft und gesunde Lebens
mittel auf unseren Tellern. Eine Landwirtschaft, die ohne Gly
phosat und Gifte für Bienen arbeitet. Der Einsatz von Glyphosat
hat einen erheblichen Anteil am dramatischen Artensterben. Neo
nicotinoide verursachen massenhaftes Bienensterben. Darum
werden wir sie verbieten. Wir wollen die Zulassungsverfahren so
ändern, dass nur noch für Menschen unbedenkliche Stoffe zuge
lassen werden und die Risiken für die Natur minimiert werden.
Ausstieg aus der Massentierhaltung
Tiere brauchen mehr Platz für Auslauf, Rückzug und zum Aus
leben arteigener Verhaltensweisen. Wir beenden das Küken
schreddern, die Qualzucht auf Kosten der Tiergesundheit und
den Missbrauch von Antibiotika. Die Schlachtung von Tieren darf
nicht im Akkord geschehen. Wir streiten für kleine regionale
Schlachthöfe und mobile Schlachteinrichtungen. Lebendtrans
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porte begrenzen wir konsequent auf vier Stunden. Gemeinsam
mit den Bäuerinnen und Bauern wollen wir den Strukturwandel
zu einer Landwirtschaft schaffen, die besser mit Tieren umgeht.
Wir wollen sämtliche – auch verarbeitete – Tierprodukte verläs
slich kennzeichnen, damit Verbraucherinnen und Verbraucher
beim Einkauf bewusst entscheiden können.
Alternativen zu Tierversuchen fördern
Wir wollen Tierversuche endlich konsequent reduzieren und
schnellstmöglich überflüssig machen. Jedes Jahr werden Millio
nen Tiere in Tierversuchen regelrecht verbraucht. Dabei verur
sachen tierfreie Methoden deutlich weniger Tierleid, außerdem
sind Erkenntnisse aus Tierversuchen nur bedingt auf den Men
schen übertragbar. Hier brauchen wir einen Paradigmenwechsel.
Damit das gelingt, wollen wir das Tierschutzrecht stärken und
Alternativen zu Tierversuchen, wie zum Beispiel Organchips, bei
denen der menschliche Organismus im Kleinstmaßstab simuliert
wird, zügig voranbringen. Auch an Hochschulen wollen wir tier
versuchsfreie Verfahren stärken, das Wissen in die Lehre über
führen und Studierenden die Möglichkeit geben, ohne Tierver
suche durch das Studium zu kommen.
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III. WIR RETTEN DAS KLIMA
Die vom Menschen verursachte Klimakrise wird zur Klimakatastro
phe, wenn wir den Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch re
duzieren. Das massive Verbrennen fossiler Energieträger wie Kohle
und Öl macht die Erde zum Treibhaus. Schon heute nehmen welt
weit extreme Wetterereignisse wie Stürme, Hitze und Dürren stark
zu. Der Meeresspiegel steigt an, Gletscher schmelzen ab und an vie
len Orten werden Wassermangel und Trockenheit immer dramati
scher. Das Meereis in der Arktis und Antarktis schwindet rasant, die
Permafrostböden von Kanada bis Sibirien tauen immer schneller
auf. Wenn wir diese Entwicklung nicht stoppen, könnten bis 2050
nach Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen bis
zu 250 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Heimat zu verlas
sen. Auch hierzulande spüren wir schon Veränderungen wie häufi
gen Hagel, Starkregen, Stürme und eine sich verändernde Tier- und
Pflanzenwelt. Das Umweltbundesamt warnt vor extremer Trocken
heit und Hitze, vor Überflutungen an Flüssen und den Küsten. Zu
dem ist auch unsere Gesundheit bedroht – durch Hitze, Infektions
erreger, Allergien.
Zum Glück haben fast alle Staaten der Erde die Notwendigkeit
des Klimaschutzes erkannt. Das Klimaabkommen von Paris 2015
war ein großes Hoffnungszeichen. Die Welt will umsteuern und die
Erderhitzung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst 1,5 Grad, be
grenzen. Das schnelle Inkrafttreten des Klimaabkommens macht
Mut. Jetzt muss es umgesetzt werden. Wenn Trump aus dem Klima
abkommen aussteigt, müssen Deutschland und Europa den Klima
schutz jetzt entschieden anpacken. Denn die Klimakrise wartet
nicht, bis es sich die US-Regierung vielleicht irgendwann wieder
anders überlegt. Wenn die USA sich aus der finanziellen Unterstüt
zung der am meisten vom Klimawandel betroffenen armen Staaten
zurückziehen, dann muss die EU dafür sorgen, dass diese Lücke ge
schlossen wird. In der Handelspolitik müssen CO2-Minderungsziele
eine Voraussetzung für neue Abkommen sein. Dafür wollen wir
noch stärker mit ambitionierten Staaten und auch US-Bundesstaa
ten wie Kalifornien zusammenarbeiten – wie es das grün regierte
Baden-Württemberg in seiner Klimaallianz bereits vormacht.
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Leider ignorieren CDU/CSU und SPD die Realität der Klimakrise
und riskieren fahrlässig die Zukunft unserer Kinder und die Zu
kunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. Deutschlands Emissionen sta
gnieren seit über sieben Jahren. Vom deutschen Klimaziel, unseren
CO2-Ausstoß bis 2020 im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent zu sen
ken, sind wir meilenweit entfernt. Angela Merkel und Martin Schulz
halten an der klimaschädlichen Kohle fest. Landwirtschaft und Ver
kehr stoßen immer mehr Treibhausgase aus, die energetische Mo
dernisierung von Gebäuden kommt nicht voran. Wir wollen in die
klimaneutrale Zukunft gehen und unsere Wirtschaft ökologisch
modernisieren. Dafür werden wir aus der Kohle aussteigen, die
erneuerbaren Energien weiter ausbauen, zusätzliche Mittel für
die ener ge tische Gebäudesanierung bereitstellen, Energieeffizienz
und alle Ar ten emissionsfreier Mobilität fördern und die Landwirt
schaft umwelt- und klimaverträglich machen. So sichern wir durch
zukunftsfähiges Wirtschaften Arbeitsplätze und gesellschaftlichen
Wohlstand.
1. Klimaabkommen von Paris jetzt umsetzen
Wir GRÜNE wollen das Abkommen von Paris mit Leben füllen. Das
zentrale Instrument dazu ist ein bundesweites Klimaschutzgesetz, so
wie wir GRÜNE es auf Landesebene zuerst in NRW und dann in zahl
reichen weiteren Bundesländern bereits eingeführt haben. Damit be
schreiben wir den Klimaschutzpfad bis 2050 und setzen verbindliche
und planbare Ziele. Neben Industrie und Energiewirtschaft müssen
auch der Verkehr, die Landwirtschaft und der Gebäudesektor ihren
Beitrag leisten. Sie sind es, die gegen den Trend steigende Emissio
nen zu verzeichnen haben. Werden die Ziele nicht erreicht, muss die
Politik nachsteuern. Nur so gelingt es, auf dem Modernisierungspfad
zu bleiben.
Dem Ausstoß von Treibhausgasen wollen wir endlich einen Preis
geben, der die ökologische Wahrheit sagt. Derzeit kommt viel zu gut
weg, wer die Atmosphäre aufheizt, denn CO2Zertifikate sind viel zu
billig. Der EU-Emissionshandel muss reformiert werden, damit der
Ausstoß von Klimagasen wieder echtes Geld kostet. Hierfür müssen
überschüssige CO2 Zertifikate dauerhaft gelöscht und die kosten
lose Zuteilung von Zertifikaten beendet werden.
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Durch einen gesetzlichen CO2-Mindestpreis und eine ehrliche
CO2-Bepreisung auch außerhalb des Emissionshandels sorgen wir
dafür, dass sich Investitionen in Klimaschutz betriebswirtschaftlich
lohnen und planbarer werden. Aus diesen Einnahmen schaffen wir
die Stromsteuer ab, reduzieren die EEG Umlage und finanzieren
weitere Klimaschutzmaßnahmen – zum Beispiel die Umstellung auf
kohlenstoffarme Industrieprozesse und zusätzliche Mittel für die
sozial verträgliche, energetische Gebäudemodernisierung. Denn die
Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien muss auch zu einer
Kostenentlastung bei den privaten Hauhalten führen. Strom aus er
neuerbaren Energien darf gegenüber den Klimakillern Kohle, Öl
und Gas nicht weiter benachteiligt werden.
Neben den nationalen Klimazielen müssen auch die europä
ischen Ziele an die Vereinbarungen von Paris zur Rettung des Klimas
angepasst werden. Für alle 27 Staaten der EU muss bis 2050 eine
CO2-Reduktion von mindestens 95 Prozent gegenüber 1990 ver
pflichtend sein.
2. Kohleausstieg jetzt einleiten!
Ohne einen zügigen Kohleausstieg sind all diese Mühen umsonst.
Mindestens 80 Prozent aller fossilen Brennstoffe müssen im Boden
bleiben, wenn „Klimaschutz“ mehr als eine Worthülse sein soll.
Wir GRÜNE wollen in den nächsten vier Jahren unsere volle Ener
gie dafür einsetzen, den Kohleausstieg unumkehrbar einzuleiten.
Weil Treibhausgase sich in der Erdatmosphäre anreichern, ist es für
das Klima entscheidend, dass unverzüglich der Ausstoß des klima
schädigenden CO2 reduziert wird; weniger entscheidend ist, wann
exakt das allerletzte Kohlekraftwerk vom Netz geht. Laufen alle
Kohlekraftwerke mit voller Kraft weiter, würde Deutschland sein
Emissionsbudget im Energiebereich mit Blick auf das 1,5-Grad-Limit
bereits bis 2025 aufbrauchen. Um das international zugesagte
deutsche Klimaziel für das Jahr 2020 überhaupt noch schaffen zu
können, werden wir unverzüglich die 20 dreckigsten Kohlekraftwer
ke vom Netz nehmen und den CO2-Ausstoß der verbleibenden Koh
lekraftwerke analog zu den Klimazielen deckeln. Wir werden den
Kohleausstieg im Einklang zu unserem Ziel 100 Prozent erneuerba
re Energien im Strombereich bis 2030 gestalten. Hierfür verwenden
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wir die Instrumente unseres Kohleausstiegsfahrplans, mit dem wir
das Ende des Kohlezeitalters in Deutschland planungssicher und
unumkehrbar gestalten.
Wir achten darauf, dass der Ausstieg in einem breit angelegten
Dialog erfolgt, wir werden ihn sozial verträglich gestalten und neue
Arbeitsplätze schaffen. Die Finanzierung des Strukturwandels muss
eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Energieunter
nehmen sein.
Den Aufschluss neuer Braunkohletagebaue und ihre Erweiterung
sowie den Bau neuer Kohlekraftwerke werden wir verhindern und
keine neuen Umsiedlungen mehr zulassen. Ein Kohleausstiegsgesetz
und ein novelliertes Bergrecht schaffen hierfür die Grundlage. Das
schafft Klarheit für die Unternehmen, die Beschäftigten und die
Menschen in den betroffenen Regionen. Um das Klima international
zu schützen, werden wir zudem die Hermes-Bürgschaften für den
Export deutscher Kohletechnik stoppen. Kohle hat keine Zukunft!
3. Klimaschutz auf allen Ebenen
Wir müssen auf allen Ebenen handeln, alle Möglichkeiten nutzen und
zeigen, wie es geht. Wenn wir die Erderwärmung wirklich auf deutlich
unter zwei Grad halten wollen, müssen wir die Art und Weise, wie wir
produzieren, wie wir uns fortbewegen, wie wir bauen, wie wir uns er
nähren, grundlegend ändern. Unsere Gesellschaft muss ihre Lebens
stile und Konsumgewohnheiten überdenken und nachhaltiger ge
stalten. Deshalb sind zum Beispiel der Rückgang des Konsums
tierischer Lebensmittel, die Zunahme des Fahrradverkehrs in den
Städten oder der Trend zum Urlaub vor Ort auch aus Klimaschutz
gründen gute Entwicklungen. Auch die Reduzierung des Rohstoffver
brauchs schont das Klima. Gerade bei den Bau- und Grundstoffen wie
Stahl, Zement stehen wir jedoch noch ziemlich am Anfang der Trans
formation.
Mit einer klimaneutralen Verwaltung des Bundes gehen wir vo
ran, zum Beispiel bei der öffentlichen Beschaffung, bei der Gebäu
desanierung, beim Fuhrpark. Gezielte Angebote sollen die kommu
nale Ebene ermutigen, uns zu folgen. Denn auch dort, wo es nicht so
offensichtlich ist, sind mit wenig Aufwand große Erfolge beim Kli
maschutz zu erzielen.
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Trotz all der Anstrengungen müssen wir uns an das Unvermeid
liche anpassen und uns – zum Beispiel durch städtisches Grün und
andere städtebauliche Maßnahmen, die zugleich mehr Lebensqua
lität schaffen – auf klimabedingte Starkregenereignisse, Stürme und
Extremhitze vorbereiten.
Auch Moorschutz ist Klimaschutz. Deshalb werden wir dafür sor
gen, dass intakte Moorböden besser geschützt und für trockenge
legte Moore flächendeckend Maßnahmen der Wiedervernässung
ergriffen werden.
Wir GRÜNE stellen uns auch der internationalen Verantwortung
Deutschlands. Wir setzen uns für einen gesamteuropäischen Dialog
über den Ausstieg aus Kohle und Atom ein. GRÜN steht für einen
europäischen Kohlekonsens und für eine europäische Unterstüt
zung der Transformationsprozesse in den Regionen. In den Ländern
des globalen Südens wollen wir eine alternative und kohlenstoff
arme Entwicklung, Klimaschutzinvestitionen und die Anpassung an
die unvermeidlichen Folgen der Klimakrise unterstützen. Das ist ge
recht, denn die Klimaveränderungen und Schäden in diesen Län
dern sind die Folgen des fossilen Zeitalters, von dem wir in Europa
wirtschaftlich mit am meisten profitiert haben.
Die Schäden unseres bisherigen Handelns abzufedern, hilft, faire
Chancen zu schaffen. Hilfen bei der Anpassung an die Klimakrise
eröffnen neue Lebensperspektiven auch in den besonders betroffe
nen Ländern. Diese Mittel ergänzen die allgemeine Entwicklungs
finanzierung.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Klimaschutzgesetz einführen
In Paris haben sich alle Staaten der Welt verpflichtet, die Erder
hitzung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Mit einem
Klimaschutzgesetz wollen wir die dazu notwendigen nationalen
Reduktionsziele rechtsverbindlich festlegen und Ziele für alle
relevanten Sektoren definieren: Stromerzeugung, Verkehr, Land
wirtschaft, Industrie und Gebäudeenergie. Dies unterlegen wir
mit ambitionierten Aktionsplänen in den einzelnen Sektoren:
vom Umstieg auf umweltfreundliche Mobilität über den Schutz
organischer Böden bis zur energetischen Gebäudemodernisie
rung. So geben wir Impulse für Investitionen in den Klimaschutz.
Klimaverschmutzung mit einem ehrlichen Preis belegen
Wer die Atmosphäre aufheizt, kommt viel zu gut weg, denn CO2-
Zertifikate sind viel zu billig. Der EU Emissionshandel muss re
formiert werden, damit die Kosten für den Ausstoß von Klimaga
sen von denjenigen getragen werden, die sie verursachen. Das
schafft auch fairen Wettbewerb für klimafreundliche Produkte
und Dienstleistungen. Überschüssige CO2 Zertifikate müssen da
her dauerhaft gelöscht und die kostenlose Zuteilung von Zertifi
katen beendet werden. Mit einem gesetzlichen CO2-Mindest
preis sorgen wir dafür, dass der Emissionshandel nicht weiter
leerläuft und dass Klimaschutzinvestitionen sich betriebswirt
schaftlich lohnen und planbar werden. Aus diesen Einnahmen
finanzieren wir weitere Klimaschutzmaßnahmen, zum Beispiel
die Umstellung auf kohlenstoffarme Industrieprozesse und die
sozial verträgliche, energetische Gebäudemodernisierung.
Kohleausstieg jetzt
Keine andere Technologie setzt mehr CO2 , Quecksilber und
Stickoxide in die Umwelt frei als die Kohleverstromung. Wir wol
len die Kohle in der Erde lassen und aus der Kohlekraft ausstei
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gen. Um das international zugesagte deutsche Klimaziel für das
Jahr 2020 überhaupt noch schaffen zu können, werden wir un
verzüglich die 20 dreckigsten Kohlekraftwerke vom Netz neh
men und den CO2-Ausstoß der verbleibenden Kohlekraftwerke
analog zu den Klimazielen deckeln. Wir werden den Kohleaus
stieg im Einklang zu unserem Ziel 100 Prozent erneuerbare
Energien im Strombereich bis 2030 gestalten. Dafür haben wir
einen Fahrplan Kohleausstieg vorgelegt, mit dem wir den Weg
zum Ende des Kohlezeitalters beschreiten. Um die Weichen rich
tig zu stellen, lassen wir keine neuen Tagebaue zu. Wir wollen
den notwendigen Strukturwandel in den Regionen gemeinsam
mit allen Beteiligten gestalten – ökologisch und sozial verträg
lich. Dafür richten wir einen Fonds ein, der auch für die Sanie
rung der Bergbaufolgeschäden eingesetzt werden soll.
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IV. WIR BEGRÜNEN UNSERE
WIRTSCHAFT FÜR UMWELT
SCHUTZ, LEBENSQUALITÄT
UND NEUE ARBEITSPLÄTZE
Die technologischen Sprünge der vergangenen beiden Jahrhunderte
haben den Wohlstand und die Lebensqualität vieler Menschen außer
ordentlich verbessert. Doch seit Langem ist klar, dass die industrielle
Wirtschaftsweise nicht nur Wohlstand schafft, sondern auch syste
matisch unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen zerstört. Materiel
les Wachstum steigert nicht in jedem Fall die Lebensqualität.
Die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft ist die
existenzielle Aufgabe unserer Zeit. Denn heute verschwendet unse
re Art zu wirtschaften noch wertvolle Ressourcen, heizt unser Klima
auf und bedroht weltweit unser Trinkwasser, unsere Luft und unse
re Böden. In unserem eigenen Menschheitsinteresse müssen wir das
dringend ändern. Und es ist möglich. Wir können unser Leben ver
bessern, ohne immer weiter materiell wachsen zu müssen.
Wir GRÜNE treten seit unserer Gründung für die ökologische Mo
dernisierung der Industriegesellschaft ein. Viele Menschen gehen
diesen Weg mit uns. Bürger*inneninitiativen und Nicht-Regierungs
organisationen kämpfen für Natur- und Umweltschutz. Unterneh
men schreiben mit grünen Ideen schwarze Zahlen, Unternehmens
initiativen setzen sich für Klimaschutz ein. Unser Land ist dabei seit
den 1970er-Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Abgase werden
inzwischen gefiltert, Abwässer nicht mehr einfach in die Flüsse ge
leitet, es wird ökologischer gebaut und produziert. Innovative
Unternehmer*innen und Tüftler*innen entwickeln Produkte und
Dienstleistungen, die dabei helfen, unsere Lebensqualität zu ver
bessern und den Ressourcenverbrauch zu senken. Sie sind die
Pionier*innen des grünen Wandels, eines neuen, nachhaltigen
Wohlstands.
Jetzt geht es darum, die Begrünung der Wirtschaft und vor allem
der Industrie quer durch alle Branchen voranzutreiben. Die grüne
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Energiewende hat gezeigt, dass es geht: Deutschland hat sich auf
den Weg gemacht, seine hoch entwickelte Industriegesellschaft
ohne Klimagase und Atommüll mit Strom zu versorgen. Nun
braucht es mutige grüne Politik und engagierte Bürger*innen,
Ingenieur*innen und Unternehmer*innen, um die ökologische Mo
dernisierung zum Ziel zu bringen.
1. Grünen Rahmen setzen für die ökologische Modernisierung
Grüne Wirtschaftspolitik macht ehrgeizige Vorgaben in Form von
Grenzwerten, CO2-Reduktionszielen und Produktstandards, die in
realistischen Zeiträumen erreicht werden können. Das mutet man
chen energieintensiven Unternehmen zwar etwas zu, schafft aber
Planungssicherheit und gibt Impulse für Investitionen. Wir sind die
Partei an der Seite der Unternehmen, die bei dieser Transformation
vorangehen und beispielsweise schon heute einen CO2-Preis bei ih
ren Investitionsentscheidungen zugrunde legen. Gleichzeitig för
dern wir dabei neue Technologien und Wissen. So können wir es
schaffen, die ökologische Modernisierung in den verschiedenen Sek
toren umzusetzen. Klar ist auch, dass die öffentliche Hand bei der
ökologischen Modernisierung nicht hinterherhinken darf, weswegen
wir die öffentliche Beschaffung konsequent auf die jeweils ressour
censchonendsten Produkte und Dienstleistungen ausrichten wollen.
Wir werden dafür sorgen, dass Preise die ökologische Wahrheit
sagen, denn die Verursacher*innen von Umweltzerstörung dürfen
die Kosten nicht länger auf die Allgemeinheit abwälzen. So setzen
wir auch die richtigen Anreize dafür, dass andere – umweltfreundli
chere – Techniken entwickelt und schnell marktfähig werden. Ein
Wettstreit um die beste ökologische Lösung kommt in Gang. Ökolo
gisch ehrliche Preise belohnen Unternehmen, die mit Ressourcen
pfleglich umgehen und Emissionen senken. Auch die Verbrau
cherinnen und Verbrauc her profitieren, wenn langlebige Geräte
Neuanschaffungen ersparen und klimafreundliche Heizungen die
Nebenkosten senken. Umweltschädliches Verhalten wollen wir
nicht weiter subventionieren. So sind zum Beispiel schwere Dienst
wagen und der Flugverkehr heute steuerlich bevorzugt, obwohl sie
ökologisch schädlicher sind als ihre Alternativen. Subventionen wie
diese belaufen sich auf über 50 Milliarden Euro pro Jahr. Es ergibt
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keinen Sinn, umweltschädliches Verhalten zu subventionieren. Eine
ökologische Finanzreform muss deshalb den Abbau dieser ökolo
gisch schädlichen Subventionen angehen. Dabei gilt es, in einem
ersten Schritt die umweltschädlichsten beziehungsweise die am
einfachsten zu kappenden Subventionen in Höhe von wenigstens
zwölf Milliarden Euro einzusparen. Dieses Geld wollen wir in den
Klimaschutz investieren und dabei gerade ärmere Haushalte bei In
vestitionen zum Energie- und Ressourcensparen unterstützen.
Durch eine ökologische Steuerreform wollen wir nicht mehr um
weltschädliche, sondern stärker ökologisch nachhaltige Produkti
onsprozesse, Erzeugnisse und Dienstleistungen begünstigen. Dabei
werden wir die Möglichkeit, neben sozialen auch ökologische Ziele
bei der Mehrwertsteuer zu berücksichtigen, wie zum Beispiel 2011
vom EU-Parlament und wiederholt vom Umweltbundesamt emp
fohlen, im Hinblick auf Umsetzbarkeit prüfen.
2. Mit grüner Industriepolitik den Industriestandort
und Arbeitsplätze sichern
Die ökologische Modernisierung ist die Zukunftssicherung für alle
Industriezweige in Deutschland. Alle Branchen müssen ihren Bei
trag zu Klima- und Ressourcenschutz leisten. Und für alle Branchen
gilt: Wenn wir den Anschluss verpassen, wie es zum Beispiel beim
Elektroauto droht, gehen Arbeitsplätze und Wohlstand verloren.
Konkret heißt das: weg vom Verbrennungsmotor und hin zum Elek
troantrieb beziehungsweise emissionsfreien Antrieb. In der Schiff
fahrt weg vom Schweröl hin zu alternativen Antrieben. Weg vom
Öl und Gas und hin zu nachwachsenden Rohstoffen in der Chemie
industrie. Die Bauwirtschaft kann mit Holzbau oder Textilbeton
Ressourcen und Emissionen einsparen. Damit sichern wir den Indus
triestandort Deutschland. Denn auch in der Zukunft wird unser
Wohlstand von guten und sicheren Arbeitsplätzen abhängen. Wir
tun das im Dialog mit Unternehmen, Gewerkschaften und der Wis
senschaft. Doch wenn nötig, auch im Konflikt mit den Lobbys der
alten Industrien.
Von besonderer Bedeutung ist in Deutschland die Automo
bilbranche. Ihr wollen wir helfen, den Sprung ins 21. Jahrhundert zu
schaffen, in der Mobilität ohne Schadstoffausstoß funktionieren
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muss. Das ist eine zentrale Frage mit Blick auf Umweltzerstörung
und Klimakrise. Dass dieser Sprung gelingt, ist aber auch von großer
Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land. Denn
wir wollen verhindern, dass Wolfsburg oder Stuttgart das Detroit
von morgen werden. Deshalb braucht es jetzt klare Rahmenbedin
gungen für diesen Industriezweig. Diese setzen wir mit einem kla
ren Fahrplan für den Ausbau der Elektromobilität und mit dem Aus
stieg aus dem fossilen Verbrennungsmotor ( Kapitel: Wir sorgen
für saubere, bezahlbare und bequeme Mobilität, S. 56).
Die ökologische Modernisierung ist ein gigantisches Innovations-
und Investitionsprogramm. Und sie ist ein Jobmotor. Sie schafft neue
Arbeit, nicht nur für Ingenieur*innen und Programmierer*innen,
sondern auch für Handwerker*innen und Bauarbeiter*innen. Jede in
die Gebäudesanierung investierte Milliarde schafft 10.000 zusätzli
che Arbeitsplätze im Baugewerbe, im Handwerk und in der Indus
trie. Seit zehn Jahren wächst der globale Markt für Umwelttechnik
und Ressourceneffizienz rasant. Deutsche Firmen sind bei Green
Tech gut aufgestellt. Deutsche und europäische Unternehmen kön
nen in diesen Bereichen viele zusätzliche Jobs schaffen. Daran wol
len wir arbeiten. Für uns ist dabei entscheidend, dass bei der ökolo
gischen Modernisierung gute Arbeitsbedingungen, Mitbestimmung
und tariflicher Schutz gelten: Auch deshalb fordern wir eine bun
desweite Fachkräfteallianz zwischen Staat und Wirtschaft zur Stär
kung des Handwerks. In den kohlenstoffintensiven Unternehmen
und Geschäftsbereichen werden allerdings auch Arbeitsplätze ab
gebaut werden. Hier kümmern wir uns um eine gute soziale Absi
cherung, um Weiterbildung und neue Chancen.
Unser Ziel ist es auch, dass so viel Kapital wie möglich aus fossi
len Energieträgern abgezogen wird und stattdessen dorthin fließt,
wo es nachhaltigen Wohlstand und neue Jobs schafft. Ganz nach
dem Motto: Die Steinzeit endete, obwohl es noch unzählige Steine
gab – und das fossile Zeitalter muss enden, obwohl es noch jede
Menge Kohle, Gas und Öl im Boden gibt. Das Stichwort dazu lautet
„Divestment“ und meint den Abzug von Investitionen aus Öl, Kohle
und Gas. Viele deutsche Konzerne, aber auch der Bund, Länder,
Kommunen, öffentliche Banken und Versicherer haben viel Geld in
fossile Energieträger investiert. Das heißt, auch mit öffentlichen
Geldern wird die Klimakrise befeuert. Wir wollen, dass die öffent
liche Hand hier vorangeht und ihre dreckigen Anlagen beendet,
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zumal diese Investments mehr und mehr zu einem finanziellen
Risiko werden. Denn die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens
macht solche Investitionen wertlos. Deshalb fordern wir: divest now!
3. Für die Entkopplung von Wohlstand
und Ressourcenverbrauch anders wirtschaften
Wachstum muss weltweit vom Umweltverbrauch entkoppelt wer
den – und Wohlstand wie Lebensqualität vom Wachstum. Wir wol
len eine Wirtschaft, die nicht blind immer weiter wachsen muss und
in der langfristige Nachhaltigkeit mehr zählt als kurzfristige Rendi
teziele. Wir GRÜNE möchten dem gesellschaftlichen Zwang zum
„Immer mehr und immer schneller“ entgegenarbeiten. Dazu werden
technische Innovationen allein nicht reichen. Es braucht auch die
Unterstützung durch nachhaltigen Konsum und eine andere Art des
Wirtschaftens. Es geht zum Beispiel nicht nur darum, den Verbren
nungsmotor einfach durch den Elektromotor abzulösen, sondern
auch darum, auf innovative Formen der Mobilität wie Carsharing
umzusteigen, ÖPNV sowie Fuß- und Radverkehr zu fördern und so
den Bedarf an Autos zu reduzieren, wie das etliche Menschen auch
schon tun. Andere engagieren sich beim gemeinschaftlichen Woh
nen, in der solidarischen Landwirtschaft, bei Energiegenossen
schaften oder Tauschringen im Sinne einer solidarischen Ökonomie,
was wir befördern wollen. Gleiches gilt für das Bauwesen, das
einen überwiegenden Teil der Ressourcen unserer Erde in Anspruch
nimmt, die es gilt, verantwortungsvoll zu nutzen. Hierzu braucht es
eine nachhaltige Baukultur, die alle Aspekte des Planens und Bau
ens berücksichtigt. Gute Baukultur ermöglicht Akzeptanz, Beteili
gung und Teilhabe ebenso wie das Recycling von Baustoffen, sie ist
Grundlage für die ökologische Modernisierung und für mehr Le
bensqualität in unseren Städten und Dörfern.
Wir wollen zuallererst die Art, wie wir Wohlstand überhaupt
messen, ändern. Wir schlagen dafür eine neue Form der Wirtschafts
berichterstattung vor. In den Zahlen des Bruttoinlandsproduktes
(BIP), das bisher die zentrale Messgröße ist, bilden sich Lebens
qualität und Wohlstand nicht wirklich gut ab. Auch die unbezahlte
Sorgearbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird und eine unver
zichtbare Grundlage unseres Wohlstands bildet, wird derzeit nicht
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berücksichtigt. In unserem Jahreswohlstandsbericht werden neben
ökonomischen auch ökologische und soziale Entwicklungen anhand
messbarer Kriterien dargestellt. Auch bei öffentlichen Unternehmen
sollte der Beitrag zum Gemeinwohl transparent werden. So wollen
wir als ersten Schritt für die Deutsche Bahn die Gemeinwohlbilan
zierung einführen. Und alle größeren privaten Unternehmen sollen
in ihrem Jahresabschluss zukünftig über Nachhaltigkeitsindikatoren
wie CO2-Emissionen berichten. Bestehende Ausnahmen für nicht bör
sennotierte Unternehmen sowie für viele Banken und Versicherer
wollen wir abschaffen.
Nur mit Kreativität und Erfinder*innengeist wird es uns gelingen,
anders und besser zu wirtschaften. Wissenschaft und Forschung als
Ideengeber, Vorreiter und kritische Begleiter brauchen deshalb Frei
räume. Gerade kleine und mittlere Unternehmen wollen wir bei der
ökologischen Modernisierung unterstützen, unter anderem durch
eine steuerliche Förderung ihrer Ausgaben für Forschung und Ent
wicklung. Mit einer Start-up-Finanzierung, Infrastruktur und einer
neuen, geeigneten Rechtsform geben wir den Pionieren des Wan
dels Rückenwind. Wir wollen speziell Frauen mit einem Förderpro
gramm bei der Gründung von Unternehmen finanziell unterstützen.
Sowohl die Gründung von Genossenschaften als auch die Gemein
wohlökonomie erachten wir als einen weiteren zentralen Baustein
eines anderen Wirtschaftens. Genossenschaften verbinden unter
nehmerisches Handeln mit Gemeinwohlorientierung und sind ein
krisenfester Motor einer gemeinwohlorientierten Ökonomie. Um
eine Gründungswelle von Genossenschaften anzuregen, wollen wir
die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft entbürokratisie
ren und von überkommenen Verfahrensvorschriften befreien.
4. Ökologische Chancen der Digitalisierung nutzen
Durch Digitalisierung können wir vieles in der Wirtschaft viel ökolo
gischer machen und zu einer ökologischen Mobilitäts- und Energie
wende beitragen. Um die Energieeffizienz zu verbessern, werden
wir die Wirtschaft unterstützen und Green-IT-Konzepte weiter vo
rantreiben. Smart Grids, also intelligente, digital gesteuerte Netze,
helfen zum Beispiel, die schwankenden Strommengen aus Wind und
Sonne auszugleichen. Wir können Verkehrsträger digital miteinan
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der vernetzen und Verkehrsströme so intelligenter steuern. Bits und
Bytes können Energie und Material nicht nur reduzieren, sondern
teilweise auch ganz ersetzen. Videokonferenzen ersetzen Geschäfts
reisen, Arbeit im Homeoffice reduziert Pendler*innenströme. Nie zu
vor war es so einfach, Dinge über Sharing-Plattformen zu teilen.
Das reduziert materiellen Konsum. Doch hierfür bedarf es höchster
Datensicherheits- und Verbraucher*innenschutzstandards.
So schaffen wir zukunftssichere Arbeitsplätze sowie neue Ge
schäftsmodelle und schützen unsere Lebensgrundlagen. Anderer
seits braucht es auch eine erfolgreiche Energiewende, sodass der
Energiekonsum im Zuge der Digitalisierung nachhaltig wird. Wie
wir die Digitalisierung mit fairem Wettbewerb und Zukunftsinvesti
tionen in einer krisenfesten Wirtschaft gestalten wollen, haben wir
im Kapitel „Wir gestalten die Digitalisierung“ beschrieben.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Umweltschädliche Subventionen abbauen,
in Klimaschutz investieren
Absurde über 50 Milliarden Euro an Steuergeldern werden jähr
lich für Klima- und Umweltkiller ausgegeben. Unter anderem
erhalten schwere Dienstwagen, der Flugverkehr und Diesel un
gerechte Steuerprivilegien. Wir GRÜNE wollen diese umwelt
schädlichen Subventionen abbauen und in einem ersten Schritt
zumindest zwölf Milliarden Euro einsparen. Dadurch, dass die
Preise zunehmend die ökologische Wahrheit sagen, unterstützen
wir die ökologische Umgestaltung unserer Wertschöpfungsket
ten und schaffen Anreize für grüne Innovationen, Klimaschutz,
nachhaltige Mobilität und eine umweltfreundliche Landwirt
schaft. Gleichzeitig gehen wir damit gegen eine der schädlichs
ten Formen der Steuerverschwendung vor.
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Divestment: Keine Kohle für die Kohle!
Trotz des Pariser Klimaabkommens stecken Investoren – vom
großen Versicherer bis zur kleinen Kommune – weiter viel Geld
in Klimakiller. Deshalb fordern wir: divest now! – Zieht das Geld
aus klimaschädlichen Geschäftsmodellen ab! Unternehmen sol
len dafür in ihren Jahresberichten die Klimarisiken von Gütern
oder Produkten offenlegen. So erhöhen wir den Druck auf Groß
investoren, CO2-intensive Finanztitel abzustoßen. Öffentlich
rechtliche Einrichtungen und Geldanlagen des Bundes sollen
dabei mit gutem Beispiel vorangehen. Ländern, Kommunen und
Pensionsfonds wollen wir helfen, klimafreundlich zu investieren.
Damit grüne Investitionsmöglichkeiten für alle Anleger*innen
erkennbar sind, wollen wir eine transparente Zertifizierung ein
führen.
Wahrer Wohlstand ist mehr als Wachstum: Für einen
Jahreswohlstandsbericht
Wohlstand ist mehr als die Entwicklung des Bruttoinlands
produkts. Wir wollen darum einen neuen Wohlstandsbericht ein
führen. Er misst neben ökonomischen auch ökologische, soziale,
gleichstellungpolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.
Denn Kriterien wie unser ökologischer Fußabdruck, Artenviel
falt, Einkommensverteilung oder ein Bildungs- und Gesund
heitsindex bilden unseren Wohlstand besser und umfassender
ab. Diese neue, ganzheitlichere Form des Jahresberichts macht
Fehlentwicklungen und politische Handlungserfordernisse deut
licher sichtbar.
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V. WIR STEIGEN UM –
KOMPLETT AUF GRÜNE
ENERGIEN
Energie ist der Treibstoff unseres Lebens. Wir alle sind auf sie ange
wiesen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten haben die Men
schen ihre Energie gewonnen, indem sie vor allem Kohle, Gas und
Öl verbrannten. Das hat die wirtschaftliche Entwicklung der Indus
triegesellschaften ermöglicht. Doch diese Art der Energiegewin
nung hat uns auch mit ungeheuren Abgasmengen in die Klimakrise
geführt. In den vergangenen 60 Jahren kam zur fossilen Energie die
Atomkraft dazu. Sie war und bleibt ein hochriskanter und extrem
teurer Irrweg. Kohle und Atom haben heute ausgedient. Wir GRÜNE
haben einen Plan für die Energiewelt der Zukunft. Es ist möglich
und unser Ziel, die Energieversorgung und Energiespeicherung von
Strom, Wärme und beim gesamten Verkehr komplett mit Sonne,
Wind, Wasser, nachhaltig erzeugter Bioenergie, Umgebungstempe
raturen und Erdwärme zu decken. Für die Verwirklichung dieser
Energiewende arbeiten wir seit unserer Gründung. So können wir
dauerhaft unseren Wohlstand sichern, ohne unsere Lebensgrundla
gen dabei zu zerstören. Sowohl Klimaschutz und Energiewende als
auch Umwelt- und Naturschutz sind für uns zukunftsentscheidend
und werden mit den Bürger*innen vor Ort gestaltet. Die Energie
wende hat bereits hunderttausende Jobs geschaffen – weitaus
mehr, als bei Kohle und Atom weggefallen sind. Damit ist die Ener
giewende nicht nur gut fürs Klima. Sie stärkt auch unsere Wirt
schaft und schafft sichere Arbeitsplätze.
1. Energiewende: Mit langem Atem zum Erfolg
Wir GRÜNE haben die Energiewende 2000 in Regierungsverantwor
tung mit den Beschlüssen zum Atomausstieg und der Förderung
grüner Energien eingeleitet. Das hat sich gelohnt. Heute sind be
reits zwölf Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet, die übri
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gen gehen in fünf Jahren vom Netz. Wir sagen: „Atomkraft? Nein
Danke!“ Schon ein Drittel des Stroms wird bei uns aus Wind, Sonne,
Wasser und Bioenergie gewonnen. Im von uns GRÜNEN mitregier
ten Schleswig-Holstein sind es schon 100 Prozent. Bei uns kommt
grüner Strom aus der Steckdose. Und der ist mittlerweile sogar
günstiger als Strom aus Kohle und Atom. Grüner Strom wird von vie
len kleinen Erzeuger*innen produziert. Dezentral und in der Hand
von Bürger*innen findet die Energierevolution statt. Ihr Engage
ment hat das Oligopol der vier großen Stromkonzerne gebrochen.
Die Energiewende ist ein industriepolitischer Meilenstein auf dem
Weg zu einer grünen Wirtschaft.
Doch trotz ihres Erfolgs ist die Energiewende kein Selbstläufer.
Und sie hat Gegner*innen. 2010 versuchten CDU/CSU gemeinsam mit
der FDP, den Atomausstieg rückgängig zu machen. Der permanente
Druck der Anti-Atom-Bewegung und letztlich die Katastrophe von
Fukushima ließ sie von diesen Plänen abrücken. Schwarz-Gelb muss
te sich den Realitäten beugen. Doch statt daraufhin auf 100 Prozent
Erneuerbare zu setzen, trieb die Bundesregierung die Solarindustrie
aus dem Land und vernichtete so mehrere zehntausend Arbeitsplätze
in einer Zukunftsbranche. Die Große Koalition bremst und deckelt
den Ausbau erneuerbarer Energie, wo sie nur kann. Sie zerstört die
Dynamik der Energiewende – so erreicht Deutschland seine Klima
schutzziele nicht.
Wir GRÜNE halten das für grundlegend falsch. Deutschland
muss den Weg der Energiewende entschlossen weitergehen. So wie
das GRÜNE in den Landesregierungen mit ambitionierten Ausbau
plänen bereits tun. Wir wollen die Energiewirtschaft auf Erneuerba
re umstellen und viele tausend neue Arbeitsplätze schaffen. In
Deutschland haben wir die Technik, die Fähigkeiten und den Willen
der Bürgerinnen und Bürger. Wir GRÜNE sind die politische Kraft,
die mit den Menschen gemeinsam die Energiewende zum Erfolg
führt und immer wieder nachjustiert, wo es sein muss. Wie bei
spielsweise in Schleswig-Holstein mit Blick auf die bedarfsgesteu
erte Befeuerung von Windkraftanlagen, um unnötiges nächtliches
Blinken zu vermeiden oder auch die temporäre Abschaltung bei Ak
tivität von Fledermäusen und starkem Vogelzug.
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2. Rein in die neue Stromwelt – vollständig auf
Erneuerbare umsteigen
Das grüne EEG ist auch eine Erfolgsgeschichte, weil es die Kosten
für Solar- und Windstrom weltweit drastisch gesenkt und so zur
nachhaltigen Entwicklung maßgeblich beigetragen hat. 100 Pro
zent Ökostrom bis 2030, das ist unser Ziel. Dafür werden wir den
Kohleausstieg einleiten und die schwarz-rote Ausbaubremse für Er
neuerbare abschaffen. So bringen wir die Dynamik in die Energie
wende zurück. Dazu braucht es eine Weiterentwicklung des Erneu
erbare-Energien-Gesetzes (EEG) und ein neues Strommarktdesign,
das heißt die Ausrichtung des Energiesystems auf erneuerbare
Energien und Lastenmanagement statt auf fossile Kraftwerke. Wir
GRÜNE wollen die jährlichen Ausbauziele kräftig anheben und an
die Klimaziele des Pariser Klimaabkommens anpassen.
Millionen Bürgerinnen und Bürger, die ihr Dach oder ihren Keller
zum Kraftwerk machen oder sich an Energiegenossenschaften be
teiligen, sind und bleiben dabei unsere wichtigsten Verbündeten.
Sie treiben den dezentralen Ausbau voran. Darum wollen wir alle
EU-rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um Erneuerbare-Ener
gien-Projekte vom bürokratischen Ausschreibungszwang und un
berechtigten Umlagen zu befreien. Die sinnwidrige Erhebung der
„Sonnensteuer“ wollen wir abschaffen und ein Ökostrommarkt
modell einführen, damit aus deutschen erneuerbaren Anlagen
Grünstrom auch wieder als Ökostrom vermarktet werden kann.
Auch Mieter*innen sollen von den Vorteilen einer klimafreund
lichen und kostengünstigen Energieversorgung profitieren, indem
wir das jetzige Bürokratiemonster durch einfache und handhabbare
Strommodelle für Mieterinnen und Mieter ersetzen. Wir führen die
milliardenschweren Strompreisrabatte für die Industrie auf ein Mi
nimum zurück und entlasten stattdessen die Verbraucher*innen,
Handwerk und Mittelstand. Nur noch solche Unternehmen, die tat
sächlich im internationalen Wettbewerb stehen, sowie energiein
tensive Prozesse sollen Rabatte erhalten, diese sollen zudem an die
Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen geknüpft werden.
Kommunen, in denen erneuerbare Energien ausgebaut werden,
sollen stärker vom Ausbau profitieren. Wir sorgen dafür, dass der
Ausbau erneuerbarer Energien und notwendiger Netze mit Natur-
und Landschaftsschutz konsequent gemeinsam gedacht und trans
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parent geplant wird. Wir wollen Bürger*innen frühzeitig die Möglich
keit geben mitzugestalten. Beim Netzausbau setzen wir vorrangig
auf Erdkabel und wollen, dass Freileitungen – zunächst in Natur
schutzgebieten und Vogelzugkorridoren – durch Vogelschutzmarkie
rungen nachgerüstet werden. Zur solidarischen Finanzierung der
Energiewende wollen wir eine verursachergerechte und auch regio
nal faire Verteilung der Kosten des Stromnetzes.
Durch eine Reform des Strommarktes schaffen wir neue Anreize
dafür, Energie flexibel und effektiv dann zu nutzen oder zu spei
chern, wenn viel Strom aus Sonne und Wind verfügbar ist. Zu diesen
Zeiten wollen wir Speicher auffüllen oder Strom in Wärme oder Gas
umwandeln, um damit Wohnungen zu heizen oder Fahrzeuge anzu
treiben. Hocheffiziente und zunehmend erneuerbare Kraft Wärme
Kopplung wollen wir dabei unterstützen, dass sie immer flexibler
auf den Strommarkt reagiert und so den Strom aus Wind und Sonne
ergänzt. Wir machen es möglich, aus erneuerbaren Quellen Strom
und Wärme zu erzeugen. Schikanöse Umlagen, Entgelte und über
bordende Bürokratie werden wir verhindern.
Zugleich muss die Erzeugung und Verteilung von Strom in Euro
pa besser vernetzt werden. Die Sonne scheint und der Wind weht
nicht immer. Aus europäischer Perspektive gibt es aber einen gro
ßen Ausgleichseffekt. Wenn man die Wetter- und Klimaregionen in
Europa vom Atlantik bis zum Baltikum, vom Mittelmeer bis Skandi
navien besser miteinander verzahnt, dann sinkt auch der Bedarf an
Speichern und Reservekraftwerken. Deshalb treiben wir die euro
päische Energieunion voran und wollen sie zu einer echten Klima
union ausbauen.
3. Effizienzrevolution auslösen
Nach wie vor gilt: Die beste Kilowattstunde ist die, die nicht ver
braucht wird. Wir wollen eine Effizienzrevolution einleiten. Darum
legen wir ein Energiespargesetz vor, das ambitionierte, aber realis
tische Vorgaben macht. Insbesondere in der Industrie gibt es noch
viele Einsparpotenziale. Mit unserem Programm „Faire Wärme“ und
konkreten Fördermaßnahmen zum Energiesparen greifen wir dabei
auch den Privathaushalten unter die Arme. Wir wollen die Nutzung
erneuerbarer Wärme im Gebäudebestand voranbringen, die energe
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tische Modernisierung von Häusern und ganzen Stadtvierteln för
dern sowie Nahwärmenetze und Abwärmenutzung ausbauen. Die
von der EU geforderten Vorgaben für energieeffiziente Gebäude
wollen wir so ausgestalten, dass neue Gebäude nur noch sehr
wenig Energie verbrauchen und hauptsächlich erneuerbar beheizt
werden.
Klar ist: Der Umstieg auf klimaschonende Wärme gelingt nur,
wenn Wohnen und Heizen bezahlbar bleiben. Missbräuchlichen Ver
drängungen von Mieter*innen bei Sanierung muss durch Änderungen
des Mietrechts ein Riegel vorgeschoben werden. Stromsparchecks
und Energieberatung sollen Standard werden. Gerade Haushalte mit
kleinem Geldbeutel wollen wir GRÜNE damit unterstützen. Auf euro
päischer Ebene werden wir uns für ambitionierte Vorgaben für Ener
gie- und Ressourceneffizienz einsetzen. Dazu wollen wir unter ande
rem das „Top-Runner“-Prinzip europaweit verankern: Für alle Geräte
mit dem gleichen Einsatzspektrum wird das effizienteste Gerät zum
Standard erhoben. Stromfresser, die diesen Standard nicht binnen
drei Jahren erreichen, verschwinden vom Markt.
4. Atomkraft endgültig abschalten
Auf dem Weg in die neue Stromwelt wollen wir die atomare Vergan
genheit endgültig hinter uns lassen. 2022 wird der letzte Meiler in
Deutschland vom Netz gehen. Außerdem wollen wir erreichen, dass
keine weiteren Strommengen mehr auf die AKWs Emsland und
Brokdorf übertragen werden, die mit ihrem Atomstrom die Netze für
den Ökostrom verstopfen. Solange noch Atomkraftwerke laufen,
müssen sie höchsten Sicherheitsstandards entsprechen. Deshalb
wollen wir das AKW Grundremmingen wegen der regelwidrigen
Sicherheitsmängel bei der Erdbebenfestigkeit sowie der Not- und
Nachkühlung unverzüglich stilllegen. Die Subventionierung der
Atomkraft muss ein Ende haben. Das wollen wir mit der Wiederein
führung der Brennelementesteuer erreichen. Da eine Neuanwen
dung atomarer Technologien für uns GRÜNE auf keinen Fall infrage
kommt, wollen wir Schluss machen damit, Steuergeld in die Erfor
schung von Kernfusion, Transmutation oder Reaktoren der vierten
Generation zu stecken. Aus dem Milliardengrab ITER muss Deutsch
land aussteigen.
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Mit dem Ende des Betriebs von Atomkraftwerken ist das atomare
Zeitalter jedoch noch lange nicht Geschichte. Für den hochgefährli
chen Atommüll brauchen wir ein Endlager. Mit dem von Winfried
Kretschmann angestoßenen Endlagersuchgesetz und dem Ergebnis
der Endlagerkommission wurde dafür eine gute Grundlage geschaf
fen: Denn in der jetzt beginnenden Suche haben Sicherheitskriteri
en Vorrang und die Bürger*innen in den betroffenen Regionen wer
den in einem ergebnisoffenen Suchprozess auf Augenhöhe beteiligt.
Wir werden das bestmögliche Endlager finden. Und das kann und
wird nicht Gorleben sein, denn wir haben für scharfe wissenschaft
liche Kriterien in der Endlagersuche gesorgt. Bis zur bestmöglichen
Endlagerung braucht der Atommüll die bestmögliche Zwischenla
gerung. Wir werden einen Prozess anstoßen, in dem unter Einbezie
hung der Länder, der Standortkommunen und der Zivilgesellschaft
entschieden wird, wie mit dem gefährlichsten Müll der Welt bis zur
Endlagerung umgegangen werden soll. Zudem setzen wir uns für
den sicheren Rückbau der stillgelegten Atomkraftwerke in Deutsch
land ein.
Unser Ziel ist es jedoch, dass überall in Europa das gefährliche
Spiel mit dem atomaren Feuer ein Ende hat. Schrottreaktoren wie
Tihange und Doel in Belgien oder Fessenheim und Cattenom in
Frankreich müssen sofort vom Netz. Wir wollen den Euratom-Ver
trag, in dem die Privilegien der Atomkraft festgeschrieben sind, an
die heutige Zeit anpassen. Wenn das nicht erreichbar ist, setzen wir
uns dafür ein, dass Deutschland aus Euratom aussteigt. Unseren
Kampf gegen die Atomkraft werden wir erst dann beenden, wenn
der Atomausstieg erreicht ist – in Deutschland, Europa und weltweit.
Der Atomausstieg ist daher auch Außenpolitik. Deswegen wollen
wir auch den Betrieb der Urananreicherungsanlage in Gronau und
der Brennelementefabrik in Lingen, die noch ganz Europa mit radio
aktiv strahlendem Brennstoff versorgen, schnellstmöglich, end
gültig und rechtssicher beenden.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Faire Wärme – klimafreundlich und bezahlbar
Die Energiewende muss im Wärmebereich vorankommen. Bei
den Gebäuden müssen wir Energie einsparen und die erneuerba
ren Energien ausbauen. Der Umstieg auf klimaschonende Wärme
gelingt nur, wenn Wohnen und Heizen bezahlbar bleiben. Dazu
wollen wir das Förderprogramm „Faire Wärme“ auflegen. Mit
mindestens zwei Milliarden Euro jährlich unterstützen wir die
energetische Modernisierung ganzer Wohnviertel. Mieterinnen
und Mieter stärken wir durch eine robuste Mietpreisbremse. Wir
minimieren die Umlage von Modernisierungskosten und führen
ein neues Klimawohngeld ein, damit auch Wohngeldempfän
ger*innen energieeffizient wohnen können. Wir unterstützen
Städte und Gemeinden bei der nachhaltigen Wärmeversorgung
mit 400 Millionen Euro für 10.000 Wärmespeicher. Mit „Mieter
strom“ vom Dach profitieren auch Mieter*innen von der Energie
wende. Nachhaltigkeit bei Energie, Baustoffen und Kosten muss
durch die Betrachtung des Lebenszyklus unserer Häuser künftig
Standard sein und schafft Arbeitsplätze bei Handwerker*innen
vor Ort.
Für grüne Energie – komplett auf Erneuerbare umsteigen
Wir wollen die menschengemachte Klimakrise noch aufhalten.
Das geht nur mit 100 Prozent Erneuerbaren. Bis 2030 wollen wir
unseren Strombedarf vollständig aus erneuerbaren Energien de
cken. Dazu werden wir die Obergrenzen für den Ausbau erneuer
barer Energien abschaffen und das Strommarktdesign sowie das
komplizierte Abgabensystem auf Energie zugunsten der erneu
erbaren Energien und der Speichernutzung novellieren. Bis zum
Jahr 2050 soll die Energieversorgung auch für Gebäude, Mobili
tät und Prozesswärme in der Industrie ausschließlich aus erneu
erbaren Energien erfolgen. Darum steigen wir zügig in die Ver
bindung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität ein und
nutzen sinnvolle Möglichkeiten der Elektrifizierung.
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Die atomare Lieferkette zerschneiden
Der Atomausstieg in Deutschland ist so lange unvollständig, wie
wir weiter Europas Atomreaktoren mit Brennelementen versor
gen. Als GRÜNE wollen wir deshalb die Urananreicherung in Gro
nau und die Brennelementefabrik in Lingen schließen. Solange
Atomkraftwerke noch laufen, müssen sie höchsten Sicherheits
standards entsprechen. Der Siedewasserreaktor Gundremmin
gen aber stellt ein besonderes Risiko dar. Ebenso die Schrottre
aktoren an unseren Grenzen wie Tihange und Doel in Belgien,
Fessenheim und Cattenom in Frankreich, Beznau in der Schweiz
oder Temelin in Tschechien. Wir setzen uns dafür ein, dass sie
sofort vom Netz gehen.
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VI. WIR SORGEN FÜR SAUBERE,
BEZAHLBARE UND BEQUEME
MOBILITÄT
Wir sind jeden Tag unterwegs – zur Arbeit oder zum Einkaufen, wir
besuchen weit entfernte Verwandte und fahren in den Urlaub. Mobil
zu sein, gehört zu unserem Leben. Wir GRÜNE wollen es für jede und
jeden einfach machen, sein Ziel so umweltfreundlich und nachhaltig
wie möglich zu erreichen. Verkehr 2017 heißt: Immer mehr Menschen
steigen um auf Bus, Bahn und Fahrrad – vor allem in den Städten. Der
öffentliche Nahverkehr erreicht neue Fahrgastrekorde. Fahrradfahren
und der Verkauf von E-Bikes boomen. Carsharing meldet immer hö
here Nutzer*innenzahlen. Die Menschen stimmen „mit den Füßen“ ab
und trotzen den oft noch widrigen Zuständen. Verpasste Anschluss
züge, überfüllte Busse und Straßenbahnen sind genauso wie trostlo
se Bahnhöfe und schlechte Fuß und Radwege häufig traurige Rea
lität. Gerade in ländlichen Regionen fehlt ein attraktiver und
flächendeckender Nahverkehr. Für viele heißt Verkehr 2017 deswe
gen immer noch in erster Linie Auto fahren, auch da es zu oft keine
Alternativen gibt. Gleichzeitig verfügen Teile unserer Gesellschaft,
wie zum Beispiel Frauen, ältere Bürger*innen und Menschen mit
Behinderung, aber auch Jugendliche viel seltener über ein eigenes
Auto und sind daher zwangsläufig auf einen guten ÖPNV angewie
sen. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass die Menschen in Zukunft
mit ÖPNV, mit der Bahn, auf sicheren Rad- und Fußwegen und mit
sauberen Autos ihre Ziele umweltfreundlich erreichen können. So
werden auch unsere Städte lebenswerter und grüner.
Verkehr 2017 heißt leider auch immer noch: 70 Prozent aller
klimaschädlichen Emissionen kommen in unseren Städten aus dem
Verkehr, zwei Drittel aller Bürger*innen fühlen sich durch Ver
kehrslärm belästigt. Stickoxide und Feinstaub verursachen Atem
wegserkrankungen. An vielen Kreuzungen in Großstädten über
steigt die Schadstoffbelastung die zulässigen Grenzwerte. Staus
addieren sich im Jahr auf eine Gesamtlänge von einer Million Kilo
meter. Der Bundesverkehrsminister versagt hier komplett: Statt
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Verkehr zu vermeiden oder zu verlagern, wird Landschaft zubeto
niert, werden Lärm und Abgase erzeugt und immer mehr Ressour
cen verbraucht. Auf jeden neuen vermeintlichen Engpass reagiert
der Verkehrsminister mit dem Aus- und Neubau von Straßen. Über
teuerte Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 graben gezielten Investi
tionen in eine verlässliche Alltagsmobilität das Wasser ab. Über
flüssige Regionalflughäfen werden durch Millionensubventionen
künstlich am Leben gehalten.
Wir GRÜNE denken Mobilität neu mit Lebensqualität, ohne Lärm,
Dreck und Stau. Und dort, wo wir regieren, setzen wir das gemeinsam
mit grünnahen Bewegungen um. So hat das Netzwerk Volksent
scheid Fahrrad in Berlin dafür gesorgt, dass sich bei der städtischen
Verkehrswende was dreht. In Berlin bringt die grüne Verkehrsver
waltung gemeinsam mit den Radfahrer*innen ein Radgesetz als Teil
eines Mobilitätsgesetzes auf den Weg. Baden-Württemberg prescht
voran beim Ausbau der Infrastruktur für die E-Mobilität. Wir laden
alle ein, an der Verkehrswende aktiv mitzuwirken. Während die
Große Koalition in den 1960er-Jahren stecken geblieben ist und ihre
Verkehrspolitik weiterhin nur auf das Auto ausrichtet, wollen wir in
ein neues, zukunftsfähiges und vielfältiges Mobilitätsangebot inves
tieren. Dazu gehört für uns ein dichtes und modernisiertes Bahnnetz,
das Pünktlichkeit und aufeinander abgestimmte Anschlüsse in ganz
Deutschland – und dort wo möglich auch grenzüberschreitend in
ganz Europa – garantiert. Ebenso gehören dazu sichere und schnelle
Wege für alle Fahrradfahrer*innen von jung bis alt, leise Autos ohne
Auspuff und mit Fahrspaß sowie die Stromtankstelle gleich um die
Ecke. Wir setzen uns dafür ein, dass auch der Fußverkehr endlich eine
angemessene Wertschätzung und finanzielle Förderung erfährt.
Unser Ziel sind nachhaltige und familienfreundliche Mobilität
statt immer mehr Verkehr. Das bedeutet: saubere Autos und mehr
Car- und Bikesharing, ein besseres Zug- und ÖPNV-Angebot für alle
in der Stadt und auf dem Land. Unser öffentlicher Personenverkehr
muss von allen genutzt werden können – deshalb streiten wir dafür,
dass er barrierfrei gestaltet wird. Wir wollen bessere Fußwege und
mehr Raum zum Spielen und Flanieren in unseren Städten, bessere
Luft zum Atmen. Alle sollen wieder ruhig schlafen können, auch in
der Nähe von Flughäfen, Bahnstrecken und viel befahrenen Stra
ßen. Gemeinsam mit den Bürger*innen wollen wir die Verkehrswen
de einleiten.
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1. Erhalt vor Neubau, Schiene vor Straße, mehr Geld
für Radwege und neue Mobilitätskonzepte
Die Bedingungen für den Verkehr in Deutschland sind derzeit ein
seitig auf das Auto ausgerichtet. Das wollen wir ändern, damit un
sere Mobilität zukunftsfähig wird. Mit einem Bundesnetzplan an
stelle des straßenlastigen Bundesverkehrswegeplans beenden wir
GRÜNE das derzeitige Chaos in der Verkehrsplanung. Wir setzen
auf: Erhalt vor Neubau, Schiene vor Straße, mehr Geld für Radwege.
An den Bundesverkehrswegen wollen wir eine Million neue Bäume
pflanzen. Verkehrsinfrastruktur als Daseinsfürsorge darf nicht pri
vatisiert werden, auch nicht indirekt durch ÖPP oder wie bei
der jetzt geplanten Bundesfernstraßengesellschaft. Wir lehnen die
europafeindliche und bürokratische Ausländermaut ab und wollen
sie schnellstmöglich wieder abschaffen.
Wir schaffen faire Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrs
träger. Während jeder Zug auf jedem Streckenkilometer Trassenge
bühren bezahlen muss, ist nur knapp ein Prozent des Straßennetzes
mautpflichtig. Wir wollen alle Lkw ab 3,5 Tonnen und schrittweise
das gesamte Straßennetz der Bundes- und Landesstraßen in die
Lkw-Maut einbeziehen. Das ist verursachergerecht, denn ein einzi
ger voll beladener 40-Tonner verschleißt Straßen und Brücken so
stark wie mehrere zehntausend Pkw. Sogenannte Gigaliner lehnen
wir ab. Die Emissionen des Flugverkehrs tragen erheblich zur CO2-
Belastung bei. Deshalb müssen Fluggesellschaften endlich gerecht
besteuert werden: Es ist nicht einzusehen, warum Airlines von der
Kerosinsteuer befreit sind. Das wollen wir beenden. Der Einsatz von
billigem Schweröl für Fracht- und Kreuzschiffe muss drastisch ein
gedämmt werden. Wir fordern und fördern die Umrüstung auf um
weltfreundlichere Energieträger.
Lärm macht krank! Wir wollen deswegen deutlich mehr in Lärm
schutz investieren. Dazu haben wir alle Lärmquellen – vom Schie
nen- bis zum Luftverkehr – im Blick. Wir setzen uns dafür ein, die
rechtliche Grundlage für ein Nachtflugverbot, das sich an der
Nachtruhe orientiert, zu schaffen, und fordern verbindliche Lärm
minderungspläne, um den gesundheitsschädlichen Fluglärm zu re
duzieren. Wir wollen, dass die Grenzwerte für Lärmschutz an militä
rischen und zivilen sowie alten und neuen Flughäfen gleichermaßen
gelten. Den Wildwuchs von Regionalflughäfen, finanziert durch
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Subventionen, wollen wir beenden. Wir GRÜNE fordern eine nach
haltige Bedarfsplanung für das Flughafennetz, die dafür sorgt,
Überkapazitäten abzubauen, und Lärm- und Klimaschutz endlich
konsequent berücksichtigt.
Damit man überall einfach von A nach B kommt, ist es unser Ziel,
die 130 Verkehrsverbünde in Deutschland miteinander zu verknüpfen.
Einfach einsteigen und losfahren, ohne sich im Tarifdschungel zu verir
ren und lange Fahrpläne zu studieren. Mit dem grünen MobilPass
schaffen wir die Möglichkeit, die eigene Reise durch ganz Deutschland
genau wie das Pendeln zur Arbeit mit einer einzigen Smartcard oder
App zu buchen und zu bezahlen – von Tür zu Tür. Gleichzeitig bleiben
anonym und analog verkaufte Fahrkarten erhältlich.
Die Fahrgäste sollen dann auch überall in Deutschland verschie
dene Verkehrsmittel vernetzt nutzen und kombinieren können: Bus
se, Bahnen, Fähren, Taxis, Carsharing und Leihräder. Wir wollen den
MobilPass so gestalten, dass andere Länder sich daran beteiligen
können. Wir setzen uns dafür ein, dass es möglich wird, europäische
Zugtickets über mehrere Länder hinweg einfach und bezahlbar on
line zu buchen.
Grüne Mobilität ist ökologisch und sozial. Um sie für alle bezahl
bar zu gestalten, wollen wir kostengünstige Tarife für Schüler*innen,
Bezieher*innen von Transferleistungen, Auszubildende und Senior*in
nen. Wir wollen, dass Regelsätze so ausgestaltet werden, dass sie die
Kosten von Sozialtickets decken. Auch alle, die wenig Geld haben,
sollen sich über Sozialtickets Mobilität ohne eigenes Auto leisten
können. In der entscheidenden Lebensphase der Familiengründung
wollen wir junge Eltern mit einem Elternzeit-Ticket unterstützen. Wir
wollen eine grüne Verkehrswende, die alle mitnimmt. Mobilität si
chert gesellschaftliche Teilhabe. Darum stehen wir einem umlage
finanzierten ÖPNV offen gegenüber. Wir wollen die rechtlichen Hür
den für Kommunen abbauen und mit Modellprojekten in der nächsten
Legislatur bundesweit zehn Kommunen fördern, die auf einen umla
gefinanzierten und kostenfreien ÖPNV umsteigen wollen.
2. Gute Bahn für alle
Entscheidend für die Verkehrswende sind gute Bahnen – im Fern-
und im Nahverkehr. Wir GRÜNE wollen den öffentlichen Verkehr
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stärken und die Fahrgastzahlen verdoppeln. Wir wollen mehr Gü
tertransport auf Schiene und Wasserstraße und so die Straßen ent
lasten. Dafür schaffen wir eine bessere Wettbewerbssituation für
die klimafreundlichen Verkehrsträger. Milliarden Euro werden der
zeit in Subventionen für Diesel, Dienstwagen und Flugverkehr oder
für überflüssige Straßen und Flugplätze verschwendet. Das ist öko
logisch enorm schädlich. Wir wollen stattdessen Schienennetze
und den Nahverkehr in Stadt und Land ausbauen und barrierefrei
gestalten. Mit dem „Zukunftsprogramm Nahverkehr“ wollen wir das
Angebot und die Qualität vor Ort mit jährlich einer Milliarde Euro
verbessern. Außerdem wollen wir mehr in den Lärmschutz investie
ren. Für uns GRÜNE ist klar: Ab 2020 sollen keine lauten Güterwa
gen mehr eingesetzt werden.
Mit dem Deutschland-Takt, einem bundesweit verknüpften Fahr
plan, wollen wir Fernverkehr und regionalen ÖPNV optimal aufei
nander abstimmen und den Güterverkehr von Anfang an mitdenken.
Dann sind lange Wartezeiten auf Anschlüsse Vergangenheit
Auch die Lücken im grenzüberschreitenden Bahnverkehr wollen
wir schließen. Weil Schnellbahn- wie auch Regionalbahnstrecken
grenzüberschreitend selten ausgebaut sind, entscheiden sich Men
schen im europäischen Verkehr viel zu häufig für das Flugzeug oder
das Auto. Das wollen wir ändern. Die Bahn soll zu einer attraktiven
Alternative im europäischen Verkehr werden. Wenn der Zugverkehr
zuverlässig und reibungslos funktioniert, ist das Zugfahren für viele
die erste Wahl.
Wir wollen, dass dabei mindestens alle Großstädte wieder im
Fernverkehr angefahren werden. Wir wollen eine Bahnreform in An
griff nehmen, die die Interessen der Fahrgäste in den Mittelpunkt
stellt und ein vielfältiges und attraktives Angebot auf der Schiene
entstehen lässt. Das Bahnfahren und der Güterverkehr sollen billi
ger werden, dafür wollen wir die Trassenentgelte senken. Durch die
Reform muss das Netz von den Transportgesellschaften der DB AG
sauber getrennt und in neutrale staatliche Verantwortung über
führt werden. So schaffen wir die Voraussetzung für mehr Verkehr
auf der Schiene. Auf dem Schienennetz ist Elektromobilität längst
bewährte Praxis. Allerdings nur auf etwa 60 Prozent des Netzes. Wir
wollen diesen Anteil mit einem Elektrifizierungsprogramm rasch er
höhen und den Einsatz alternativer Antriebe und sparsamere Fahr
zeuge im Schienenverkehr fördern. Wir wollen mehr Güter auf der
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Schiene transportieren und setzen uns für eine intelligente Kombi
nation der Transportmöglichkeiten ein.
3. Das Auto der Zukunft fährt ohne Abgase
Selbstverständlich werden wir auch morgen noch mit Autos unter
wegs sein – mit dem eigenen, mit dem gemieteten oder dem ge
teilten. Gerade im ländlichen Raum sind die Alternativen Carsha
ring und ÖPNV noch nicht ausreichend. Aber es werden insgesamt
weniger Autos sein und sie werden mit Strom aus Sonne und Wind
oder Wasserstoff statt mit Diesel und Benzin angetrieben. Mit
emissionsfreien Fahrzeugen machen wir den Autoverkehr klima-
und umweltfreundlicher. Ziel muss es sein, einen erfolgreichen
Technologiewandel einzuleiten. Nur mit innovativen Antrieben
werden unsere Automobilhersteller wettbewerbsfähig bleiben und
zugleich wertvolle Arbeitsplätze in der Automobilindustrie erhal
ten. Das wirksamste Instrument sind ambitionierte CO2-Grenzwer
te, also Verbrauchsgrenzen, die auch auf der Straße eingehalten
werden. Aus industrie- und klimaschutzpolitischen Gründen muss
die nächste Bundesregierung ein klares Ziel setzen: Ab 2030 sollen
nur noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden. Das Zeitalter
der fossilen Verbrennungsmotoren ist dann zu Ende. Elektromobi
lität als Chance für eine klimafreundliche Mobilität ist aber mehr,
als nur den Verbrennungsmotor in Autos durch einen Elektromotor
zu ersetzen. Dafür werden wir Elektromobilität im Straßenverkehr
gezielt stärken durch eine Förderung aller Kommunen, die ihren
innerstädtischen Logistikverkehr auf E-Fahrzeuge und Lastenfahr
räder umstellen, sowie durch zeitlich befristete finanzielle Zu
schüsse für Elektro-Nahverkehrsbusse, Elektroautos und Elektro
lastenräder. Wir wollen die Dieselbusflotte schnellstmöglich auf
Elektrobusse umrüsten. Außerdem werden wir die Forschung an
den Mobilitätstechnologien der Zukunft verstärkt unterstützen.
Für eine gerechte Finanzierung wollen wir die Kfz-Steuer reformie
ren und ein Bonus-Malus-System für Neuwagen einführen. Wer viel
CO2 , NO x und Feinstaub-Emissionen verursacht, zahlt dann mehr.
Wir GRÜNE wollen die Besteuerung von Dienstwagen künftig an
den CO2-Ausstoß koppeln und verbrauchsarme Pkw deutlich bes
serstellen.
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Unsere Autos sollen nicht nur im Labor die vorgeschriebenen
Grenzwerte einhalten. Was zählt, ist der Verbrauch auf der Straße.
Anders als die Große Koalition, die den Betrug der Autokonzerne an
Umwelt und Verbraucher*innen gedeckt und vertuscht hat, finden
wir GRÜNE uns nicht damit ab, dass Abgasvorschriften für Pkw nur
auf dem Prüfstand eingehalten werden. Wir werden diesen Schwin
del und die bewusst in Kauf genommene Verletzung unserer Ge
sundheit beenden. Abgas- und Verbrauchstests müssen realistisch
und ihre Ergebnisse nachvollziehbar werden. Die Autoindustrie
muss auf ihre Kosten Fahrzeuge nachbessern, sowohl die schon im
Betrieb befindlichen als auch entsprechende Neufahrzeuge wie
zum Beispiel die der Euro-6-Norm, die nicht ihre Grenzwerte auf der
Straße einhalten. Wir wollen, dass unabhängige Institutionen wirk
same Kontrollen schaffen. Kommunen brauchen zusätzlich Unter
stützung, um Grenzwerte für bessere Luft auch durchzusetzen. Wir
GRÜNE geben ihnen rechtliche Instrumente an die Hand, Umwelt
zonen zu stärken, zum Beispiel durch die Einführung einer blauen
Plakette. Städte und Kommunen sollen mehr verkehrsrechtliche
Möglichkeiten bekommen, innerstädtischen Verkehr zu lenken, zu
begrenzen und sicherer zu machen. Dazu sollen sie zum Beispiel das
Recht bekommen, innerorts eigenständig und unbürokratisch über
die Einführung von Tempobeschränkungen wie Tempo 30 zu ent
scheiden. Wir fordern, dass Kommunen leichtere Möglichkeiten be
kommen, bauliche Verkehrsberuhigung auf überregionalen Straßen
umzusetzen. Zudem wollen wir es Kommunen rechtlich ermögli
chen, neue Konzepte wie zum Beispiel in Stockholm oder London
anzuwenden, um den ÖPNV zu stärken. Wir wollen Verkehrssicher
heit für alle Nutzer*innen des öffentlichen Raumes. Deshalb stre
ben wir die Vision Zero an – das Ziel, die Zahl der Verkehrstoten auf
null zu reduzieren. Zu schnelles Fahren ist kein Kavaliersdelikt, son
dern eine tödliche Gefahr, gegen die wir mehr tun müssen. Dazu
fordern wir ein Tempolimit auf Autobahnen von 120.
Unser Straßenverkehr stößt an Grenzen. Viele Städte sind mit
Autos zugeparkt und leiden unter Luftbelastung und Verkehrslärm.
Wir nehmen uns Städte wie Paris, Oslo und Zürich zum Vorbild und
begrünen die Innenstädte. Denn ruhiger Verkehrsfluss, ausreichend
Platz für Spiel und Bewegung sowie Natur inmitten der Stadt spre
chen für eine hohe Lebensqualität. Dazu zählt auch, dass wir Ver
kehr durch sinnvolle Siedlungsentwicklung und Ansiedlungspolitik
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vermeiden möchten. Wir wollen Maßnahmen ausbauen, um die
Falschparkenden zurückzudrängen. Für unsere Mobilität im Alltag
gibt es gute Lösungen – und die Menschen wollen sie. Über 80 Pro
zent der Deutschen fordern eine Verkehrsplanung, die auf mehr Fuß-
und Radwege setzt, Carsharing-Angebote ausweitet und den öffent
lichen Nahverkehr ausbaut. Der nationale Radverkehrsplan muss
endlich umgesetzt und finanziell unterlegt werden. Bequem, bezahl
bar und ohne Parkplatzsuche von A nach B kommen können in einer
Stadt der kurzen Wege – das sind Ziele einer modernen Verkehrspo
litik. Teil davon ist die Errichtung von Radschnellwegen oder die Um
nutzung von Straßenraum etwa für temporäre Spielstraßen.
Wir müssen jetzt die Weichen für einen klugen Umgang mit au
tonomen Fahrzeugen stellen. Auf der einen Seite bestehen Gefah
ren – wie zusätzlicher Verkehr oder die Verdrängung von Schie
nenverkehr. Gleichzeitig sehen wir viele Vorteile in Bezug auf
Verkehrssicherheit, die Stärkung des ÖPNV durch autonome Busse
oder die Reduzierung von Lärm und Flächenverbrauch. Besonders
öffentliche Nahverkehrsbetriebe müssen sich aktiv mit dieser Ent
wicklung auseinandersetzen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Deutschlandweiter MobilPass – überallhin, alles drin
Wir wollen die grüne Mobilität voranbringen: Dafür führen wir
den MobilPass ein. Mit einer Smartcard oder App werden sämtli
che Angebote des öffentlichen Verkehrs wie auch Car- und
Bikesharing abrufbar sein. Urlaubsreisen genauso wie der Weg
zur Arbeit können so aus einer Hand gebucht und bezahlt wer
den – ohne langes Studium von Tarif- und Nutzungsbedingun
gen. Nahtlos, kinderleicht und günstig. Mobilität für alle heißt
für uns: Allen Menschen, die mit wenig Geld auskommen müs
sen, machen wir besonders günstige Angebote. Wir achten dabei
auf Barrierefreiheit und breite Zugangsmöglichkeiten für
Bürger*innen jeden Alters. Das Investitionsprogramm „Zukunfts
programm Nahverkehr“ schafft ein verbessertes Angebot im
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ÖPNV – auf dem Land und in der Stadt. Den Fernverkehr verknüp
fen wir optimal mit den Anschlüssen des Regional- und Nahver
kehrs – mit dem Deutschland-Takt. Dieser Taktfahrplan macht
deutschlandweit alle Ziele nahtlos und verlässlich erreichbar.
Ab 2030 sollen nur noch abgasfreie Autos zugelassen
werden.
Wir GRÜNE wollen, dass zukunftsfähige Fahrzeugtechnik wei
terhin in Deutschland entwickelt und produziert wird. Für uns
GRÜNE ist die Entscheidung deshalb klar: Ab 2030 sollen nur
noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden. Dafür sind jetzt
die steuerlichen, fiskalischen und infrastrukturellen Vorausset
zungen zu schaffen. So kann Deutschland die Klima- und Um
weltziele erfüllen und die Industrie ihre Entwicklungsarbeit ver
lässlich auf die gesamte Elektromobilität ausrichten. Wer an
Diesel- und Ottomotoren festhält, hemmt die Fahrzeugindustrie,
sich fit für das 21. Jahrhundert zu machen.
Radverkehr ausbauen – mehr Platz für das Fahrrad
Immer mehr Menschen nutzen das Rad, weil es schnell, preis
wert und bequem ist. Wir wollen die Infrastruktur für Fahrräder
deutlich verbessern. Der Bund muss dabei mehr Verantwortung
übernehmen. Gemeinsam mit Ländern und Kommunen bauen
wir Radschnellwege und ein bundesweites Netz von hochwerti
gen Radfernwegen. Wir wollen die Fahrradmitnahme in allen Zü
gen durchsetzen. Wir werden Kaufanreize für elektrisch unter
stützte Lastenräder einführen, denn sie haben im Lieferverkehr
großes Potenzial. In der Straßenverkehrsordnung schaffen wir
fahrradfreundliche Regeln wie zum Beispiel den „Grünpfeil“ für
Radfahrerinnen und Radfahrer.
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C. WELT IM BLICK
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Welt immer stärker zusam
mengerückt. In Europa erleben wir dank der zivilisierenden Kraft
der Europäischen Union eine sehr lange Phase des friedlichen Zu
sammenlebens – so lange wie nie zuvor. Auch weltweit wurden
Grenzen geöffnet, Wirtschaftsbeziehungen globalisiert, länder
übergreifende Kontakte selbstverständlich. Immer weniger Men
schen leben in extremer Armut. Eine prägende Erfahrung der ver
gangenen Jahre war, europäisch wie international, dass die Welt
durch Zusammenarbeit an vielen Stellen zu einem besseren Ort
gemacht wurde. Wir haben bei der Klimakonferenz in Paris erlebt,
was geschafft werden kann, wenn der Wille da ist, gemeinsam an
zupacken. Auch die Selbstverpflichtung der Vereinten Nationen,
bis 2030 globale Nachhaltigkeitsziele zu erfüllen, war ein Erfolg
internationaler Zusammenarbeit. Genauso gibt uns Hoffnung,
dass es mit beharrlicher Diplomatie gelungen ist, ein Abkommen
mit dem Iran zu schließen, das das Risiko einer atomaren Aufrüs
tung reduziert. Diese Erfahrungen zeigen: Echten globalen Wandel
und kollektive Sicherheit erreichen wir nur gemeinsam und ko
operativ.
Doch gleichzeitig steht diese Welt vor dramatischen Herausfor
derungen. Eine Vielzahl von Kriegen, Krisen und Konflikten be
droht den Frieden und betrifft auch Europa. Dies gilt nicht zuletzt
für den äußerst brutalen Krieg in Syrien und den globalen Terror
des „IS“ und anderer islamistischer Gruppen. Die Kriegsparteien
haben das humanitäre Völkerrecht de facto außer Kraft gesetzt,
wir stehen vor einer der schlimmsten humanitären Katastrophen
unserer Zeit. So viele Menschen wie nie zuvor sind dazu gezwun
gen, ihre Heimat zu verlassen. Auf dem afrikanischen Kontinent
fliehen Menschen vor Gewalt, wirtschaftlicher Perspektivlosig
keit, geschlechtsspezifischer Verfolgung und den aktuell sich ver
schärfenden Hungerkatastrophen, besonders in Somalia, Südsudan,
Nigeria, aber auch im Jemen. Die soziale Kluft vergrößert sich.
Gleichzeitig verschärft die Klimakrise bestehende weltweite Un
gleichheiten. Ressourcenkonflikte um Wasser und Rohstoffe erhö
hen die Spannungen in vielen Regionen der Welt. Wirtschaftlicher
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Prosperität und neuem Wohlstand stehen Ungleichheit und ökolo
gischer Raubbau gegenüber.
Viele Staaten haben eine Mitverantwortung für das Entstehen
gegenwärtiger Krisen und Konflikte. Unter Präsident Putin hat
Russland mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, dem
militärischen Vorgehen in der Ostukraine und mit dem brutalen
militärischen Eingreifen auf der Seite Assads zu einer erheblichen
Verschärfung der internationalen Spannungen beigetragen. Wir
sehen mit Sorge, dass die Abrüstungsbereitschaft sinkt, die Rüs
tungshaushalte und Rüstungsexporte steigen und die längst über
wunden geglaubte Logik der Abschreckung von allen Seiten wie
der in Gang gesetzt wird.
Die unberechenbare Präsidentschaft von Donald Trump in den
USA und seine Politik des „America First“ stellen die Politik
Deutschlands und der Europäischen Union vor erhebliche neue
Herausforderungen. Damit die transatlantische Wertegemein
schaft stark bleibt, wollen wir den Austausch mit der amerikani
schen Zivilgesellschaft und Bundesstaaten stärken. Die wirtschaft
liche, militärische und kulturelle Polarisierung ist das Gegenteil
einer auf Verständigung und Kooperation orientierten Weltord
nung. Pläne für nationalistische Abschottung und Handelskriege,
das Leugnen der Klimakrise, die Negierung der Genfer Konvention
in Bezug auf das Hilfsgebot für Geflüchtete und auf das Verbot von
Folter untergraben das dringend notwendige gemeinsame Han
deln. Die Herausforderungen für globales Engagement für demo
kratische Werte und eine Friedenspolitik könnten also kaum grö
ßer sein.
Wir GRÜNE wollen unseren Beitrag dazu leisten, das Leben in
den kommenden Dekaden des 21. Jahrhunderts politisch friedlich
und sicher, ökologisch nachhaltig, solidarisch und sozial gerecht
zu gestalten. Wir wollen die multilaterale Kooperation und vor al
lem die Vereinten Nationen stärken. Die Weltgemeinschaft muss
Verantwortung für die internationale Friedenssicherung, globalen
Entwicklungschancen und die Durchsetzung und Verwirklichung
der Menschenrechte übernehmen. Die EU soll nach innen wie nach
außen ein Friedensprojekt sein. Das können wir erreichen, wenn
wir Europa weiterentwickeln, internationale Institutionen stärken
und Gerechtigkeit als grenzübergreifende Aufgabe begreifen. Es
geht um Zusammenarbeit statt Nationalismus.
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Wir wollen, dass Deutschland mehr globale Verantwortung für
den Frieden und Gerechtigkeit in der Welt übernimmt. Das fängt zu
Hause an. Eine Erhöhung des Rüstungshaushalts auf zwei Prozent
der Wirtschaftsleistung lehnen wir ab. Wir wollen mehr Mittel für
Krisenprävention bereitstellen und darüber hinaus die international
versprochenen 0,7 Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die glo
bale Entwicklung dauerhaft zur Verfügung stellen, und zwar ohne
die Kosten für Flüchtlinge im Inland anzurechnen. Wir wollen damit
Schluss machen, in Krisenregionen und Diktaturen Waffen zu ex
portieren. Wir GRÜNE wollen, dass Deutschland mehr tut, um Kon
flikte und Krisen zu lösen oder besser noch, sie zu verhindern.
Unser Ansatz gegen Fluchtursachen kann ein wichtiger Baustein
sein, um Menschen eine Lebensperspektive in ihren Ländern zu er
möglichen. Das heißt, wir werden Fluchtursachen bekämpfen und
nicht Geflüchtete. Wir GRÜNE wollen die Globalisierung nicht zu
rückdrehen, sondern im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer
Gerechtigkeit und menschenrechtlicher Prinzipien gestalten. Wir
brauchen endlich ein kohärentes Handeln im Rahmen der globalen
Nachhaltigkeitsziele, deswegen müssen wir aufhören, mit Rüstungs
exporten, unfairem Handel oder Steuervermeidungen unsere eige
ne internationale Zusammenarbeit zu hintertreiben.
Wer vor Krieg, Gewalt oder Verfolgung nach Deutschland flieht,
dem wollen wir Schutz bieten. Aber auch mit Blick auf die Einwan
derung wollen wir das Staatsbürgerschaftsrecht endlich der Re
alität anpassen. Wir GRÜNE sind überzeugte Europäerinnen und
Europäer. Eine starke, demokratische und reformierte Europäische
Union ist genau das, was wir in einer Welt der Unsicherheiten brau
chen. Wir wollen die deutsche Euro- und Europapolitik solidarischer
ausrichten, damit Deutschland dazu beiträgt, Europa zu einen und
zu stärken. Wir GRÜNE sind die Europapartei und stehen gerade
angesichts von nationalistischen und rechtspopulistischen Bestre
bungen ein für ein besseres Europa für alle Bürgerinnen und Bürger.
Die Europäische Union ist bis heute das beste Beispiel, wie supra
nationale Partnerschaft und Zusammenarbeit zum Nutzen aller
funk tionieren kann. Und sie macht damit Hoffnung: Eine friedliche
re, eine solidarische, eine bessere Welt ist möglich.
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I. WIR KÄMPFEN UM EUROPAS
ZUSAMMENHALT
Die bisherige europäische Einigung ist eine wahrhaft große histori
sche Errungenschaft. Sie bedeutet: Zusammenarbeit statt Nationalis
mus und nie wieder Krieg. Diese Leistung einiger Generationen von
Europäerinnen und Europäern darf nicht gefährdet werden. Leider ist
sie heute wieder sehr umstritten, rechtsnationalistische Bewegun
gen und Parteien stellen sie ganz infrage. Es erfordert neues Engage
ment, um sie zu sichern und weiterzuentwickeln. Dafür stehen wir
GRÜNE. Wir sind die politische Kraft, die Europa gegen den Rechtsna
tionalismus verteidigt und weiter den Weg der europäischen Integra
tion geht. Denn die Europäische Union ist unser Zuhause.
Mit der europäischen Einigung wurde eine lange und schmerz
volle Geschichte von Kriegen, Feindseligkeiten und Zerstörungen
endlich weitgehend überwunden. Heute ist die Europäische Union
eine Garantin für den Frieden und für unsere universellen Werte.
Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Geschlech
tergerechtigkeit, Religionsfreiheit, Achtung der Menschenwürde,
Menschenrechte, Toleranz, soziale Marktwirtschaft – das sind die
Grundlagen der Europäischen Union. Heute können wir Unionsbür
gerinnen und Unionsbürger innerhalb der EU grenzenlos reisen, stu
dieren, arbeiten und leben, wir können glauben, was, und lieben,
wen wir wollen. Wir GRÜNE stehen für dieses Zusammenleben in
Einheit und Vielfalt und diesen European Way of Life. Wir wollen die
se Errungenschaften weiter ausbauen und für alle erfahrbar machen.
Bis heute ist die Art und Weise, wie die Menschen und Staaten in
der Europäischen Union zusammenarbeiten und Konflikte lösen,
einmalig auf der Welt. Für eine gute Zukunft brauchen wir die Euro
päische Union umso mehr. Die großen grenzüberschreitenden Pro
bleme unserer Zeit sind für Kleinstaaterei zu groß: Kampf gegen die
Klimakrise, Hunger, Armut, Krieg und Terrorismus, Korruption, die
gerechte Gestaltung der Globalisierung sowie der Einsatz für eine
humane Flüchtlingspolitik und die Teilhabe aller am gesellschaft
lichen Wohlstand und am Fortschritt. Wir können all das nur mit
einer funktionierenden EU bewältigen. Sie muss die demokratische
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Antwort auf die Globalisierung sein. Auch deshalb sind und bleiben
wir GRÜNE überzeugte Europäerinnen und Europäer. „Mehr Europa“,
das heißt für uns, die EU dort stärker zu machen und weiterzuent
wickeln, wo gemeinsames Handeln notwendig und sinnvoll ist ent
sprechend dem Subsidiäritätsprinzip.
Gerade weil wir die Europäische Union schätzen und brauchen,
wollen wir sie sozialer, solidarischer, ökologischer und demokrati
scher machen. Wir wollen ein Europa, das allen Menschen Chancen
eröffnet. Gesellschaftliche Spaltung, Ausgrenzung, Willfährigkeit
gegenüber starken Lobbys und autoritäre Tendenzen nehmen wir
nicht hin. Wir GRÜNE werden die EU weiterentwickeln, denn wir ha
ben noch viel mit ihr vor. Gerade jetzt.
1. Für ein starkes Europa gegen Spaltung
und autoritäre Tendenzen
Die Erfolge der GRÜNEN in den Niederlanden und die Präsident
schaftswahlen in Frankreich und Österreich mit dem Sieg der über
zeugten Europäer Alexander Van der Bellen und Emmanuel Macron
haben gezeigt, wie man mit einem klaren europäischen Kurs Men
schen überzeugen kann. Mit der neuen französischen Regierung
unter Präsident Emmanuel Macron steht ein kraftvoller Partner für
Reformen in Europa zur Verfügung. Uns eint mit ihm der feste Glau
be an offene Gesellschaften in Europa. Frankreich und Deutschland
müssen einander nun auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam ein
starkes sozial-ökologisches Europa verwirklichen. Präsident Macron
hat zu Recht ein Ende der Austeritätspolitik und eine große europä
ische Investitionsoffensive gefordert. Wir werden diesen Kurs unter
stützen und zusammen mit den EU-Institutionen beherzt notwendi
ge Reformen in der Eurozone und der gesamten EU vorantreiben.
Wir lassen uns vom Ausgang des Brexit-Referendums und den
Erfolgen der Rechtspopulist*innen nicht entmutigen und treten
weiter für unsere Werte ein. Oberste Priorität in den Brexit-Ver
handlungen mit Großbritannien muss eine starke Europäische Uni
on sein. Der Zusammenhalt der EU 27 und die Interessen ihrer Mit
gliedstaaten haben zweifelsfrei Priorität, deswegen darf es keinen
„Austritt à la carte“ geben. Ein freier Zugang zum EU-Binnenmarkt
darf wie bisher nur möglich sein, wenn die Einheitlichkeit des Euro
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parechts, die Rechtssetzung und Jurisdiktion der Gemeinschafts
organe und die Geltung aller vier Grundfreiheiten, insbesondere der
Personenfreizügigkeit, gewahrt bleiben. Europa zusammenzuhalten,
wird in den Verhandlungen die Aufgabe der neuen Bundesregierung
sein. Dazu gehört, dass auch Deutschland bereit sein muss, mehr
finanzielle Verantwortung zu übernehmen, um die EU auch nach
dem Brexit überhaupt handlungsfähig zu halten. Die Bürgerinnen
und Bürger Großbritanniens gehören für uns zu Europa. Dem
Wunsch der Schott*innen und Nordir*innen wie auch der vielen
Menschen im Vereinigten Königreich, die in der EU bleiben wollen,
begegnen wir mit Offenheit und Sympathie. Wir werden uns darum
auch in Zukunft für eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU
und dem Vereinigten Königreich einsetzen. Darüber hinaus stellen
wir klar: Unsere Tür bleibt offen. Die Europäische Union bleibt ein
Projekt des Friedens und Zusammenwachsens. Deshalb reichen wir
allen die Hand, die weiterhin unter dem Dach der EU gemeinsam die
Zukunft gestalten wollen. Allen schon länger in Deutschland leben
den Brit*innen wollen wir einen einfachen Weg in die deutsche und
damit einen Verbleib in der EU-Staatsbürgerschaft ermöglichen.
Wir wollen Europa zusammenhalten. Wir wissen, das wird nicht
einfach. Wir begrüßen Initiativen, die in diesen Zeiten Europa kon
struktiv und visionär weiterdenken und für die EU auf die Straße
gehen. Ein Europa der lebendigen solidarischen Zivilgesellschaft,
die der europäischen Idee neuen Schwung verleiht, ist ein wichtiges
Korrektiv zum Europa der Staaten und zum aufkeimenden natio
nalen Egoismus. Daher unterstützen wir die vielfältigen proeuro
päischen Bürger*innenbewegungen in ganz Europa.
Denn die Differenzen innerhalb der EU sind groß. Wir arbeiten da
rauf hin, dass alle europäischen Mitgliedstaaten eine solidarische
Flüchtlingspolitik unterstützen. Wir wollen wieder offene Grenzen im
Schengen-Raum. Auch wir sind empört, wie mitten in Europa, etwa in
Ungarn oder Polen, die Demokratie und der Rechtsstaat ausgehöhlt
werden. Dagegen stellen wir uns. Wir wollen deswegen, dass die EU-
Grundrechtecharta EU-weit für alle Gesetze gilt.
Wir GRÜNE machen uns stark für ein Europa, das zusammenhält,
das Minderheiten – wie Sinti und Roma – schützt, antiemanzipatori
schen Tendenzen – zum Beispiel gegen die sexuelle Selbstbestim
mung von LSBTIQ* – abwehrt und in dem die einzelnen Staaten und
Bewohner*innen gegenseitige Solidarität zeigen. Dazu braucht es
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auch und gerade ein Umdenken vieler nationaler Regierungen. Das
gilt ebenso für die deutsche Bundesregierung. Europa kommt nur
voran, wenn alle bereit sind, Kompromisse einzugehen. Deshalb
muss Deutschland bereit sein, zum Beispiel bei der Europolitik und
seinen Exportüberschüssen, bei der Bekämpfung der Jugendarbeits
losigkeit und Projekten wie Nord Stream 2 oder bei Fragen der inne
ren und äußeren Sicherheit, stärker auf die Bedürfnisse anderer
europäischer Staaten einzugehen.
Um Europa für die junge Generation erlebbar und erfahrbar zu
machen, wollen wir den direkten Austausch – zum Beispiel mit ei
nem kostenlosen Interrail-Ticket zum 18. Geburtstag – verbessern.
Aufgabe der EU ist es, das gemeinsame kulturelle Erbe Europas zu
bewahren und die offene, gemeinsame Kultur zu fördern. Daher
wollen wir einen europäischen Nachrichten- und Bildungssender
einführen. Der gemeinsame Sender soll einen Beitrag zur Herstel
lung einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit leisten. Dafür
ist ein Sendeformat in allen wichtigen europäischen Sprachen, ins
besondere auch Russisch und Türkisch, von zentraler Bedeutung.
Unser Ziel bleibt eine EU, in der alle zusammenhalten und die
sich einvernehmlich weiterentwickelt. Ein Kerneuropa oder eine
Spaltung der EU lehnen wir ab. Ein Europa der unterschiedlichen
Geschwindigkeiten darf nicht der Standardmodus, muss aber mög
lich sein. Diese verstärkte Zusammenarbeit muss stets für alle EU-
Staaten offen und im Rahmen der EU-Verträge organisiert sein. Die
Rechte des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission sind
dabei uneingeschränkt zu achten.
2. In ein ökologisches und soziales Europa investieren
Die Wirtschaftskrise in Europa ist noch lange nicht überwunden.
Besonders in Südeuropa sind immer noch Millionen von Jugendli
chen ohne Job und berufliche Perspektive. Die Große Koalition
knausert beim EU-Haushalt, beharrt auf einer einseitigen Sparpoli
tik, unterstützt falsche Privatisierungen, behindert Schuldener
leichterungen für Griechenland, Eurobonds und öffentliche Investi
tionen und vertieft damit die Spaltung Europas. Wir brauchen einen
Paradigmenwechsel und schlagen ein sozial-ökologisches Moder
nisierungsprojekt vor, weg von Austerität hin zu mehr Zukunftsin
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vestitionen. Der Europäische Fonds für strategische Investitionen
(EFSI) muss reformiert und aufgestockt werden. Der notwendige
Dreiklang von Investitionen, Reformen und haushaltspolitischer
Solidität erklingt nur, wenn die Priorität für Investitionen nicht von
Austeritätspolitik verunmöglicht wird. Wenn wir regieren, wird das
eine unserer Prioritäten.
Als ersten Teil unseres Green New Deal für Europa schlagen wir
GRÜNE einen Pakt für nachhaltige Investitionen vor. Damit inves
tieren wir in die soziale und ökologische Erneuerung der europä
ischen Wirtschaft. Wir bringen eine starke Klima- und Energieunion
voran, unterstützen Innovation und neue Produktionstechnologien
in der Industrie, nutzen Ressourcen und Energie effizient, setzen auf
Kreislaufwirtschaft und eine Digitalisierung, die allen etwas bringt.
Wir wollen einen funktionstüchtigen europäischen Emissionshan
del, an ökologische Kriterien gekoppelte Landwirtschaftssubven
tionen sowie strenge ökologische und soziale Mindeststandards für
auf den europäischen Markt gebrachte Produkte und Rohstoffe.
Unsere Projekte sind bürgernah und gesamteuropäisch: Natur
schutz, grenzüberschreitende Bahn-, Energie- und Datennetze, For
schung, Kulturaustausch und Jugendprogramme. Der Green New
Deal wird auch für junge Menschen Ausbildungsplätze und Jobs
schaffen. Hierbei soll Deutschland eine Vorbildrolle einnehmen und
die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) stärker in die Unterstüt
zung insbesondere von europäischen mittelständischen Unterneh
men einbinden, damit diese Jugendliche mehr ausbilden und in
Arbeit bringen. Junge Menschen überall in Europa sollen wieder
spüren, dass Europa sie nicht alleinlässt. Das wollen wir über einen
neuen Zukunftsfonds im EU Haushalt finanzieren, der durch Mittel
aus einem neu geschaffenen europäischen Steuerpakt gespeist
werden soll. Der Pakt schafft mehr Steuergerechtigkeit und verrin
gert Steuerausfälle.
Schweizer Steuer-CDs, Luxleaks oder die Panama Papers zeigen
beispielhaft, wie sich Superreiche und internationale Konzerne um
ihren Beitrag für das Gemeinwohl herumdrücken oder, wie im Falle
der Cum-Ex-Steuertricks, sich sogar auf Kosten der Gesellschaft
bereichern. Mit dem Vorschlag zur gemeinsamen, konsolidierten
Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage soll die Besteuerung für
EU-weit operierende Unternehmen vereinfacht und Steuervermei
dung ausgeschlossen werden. Um schädlichen Steuerwettbewerb
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effektiv zu verhindern, sollte die Körperschaftsteuerbemessungs
grundlage mit einem Mindeststeuersatz für alle in der EU ansässigen
Unternehmen verbunden und regelmäßig zum Beispiel vom Europä
ischen Parlament überprüft werden. Steuervermeidung und -hinter
ziehung müssen wirkungsvoller verhindert und bestraft werden. Uns
entgehen jedes Jahr viele Milliarden Euro durch die bisherige Untä
tigkeit. Wir werden bei dem Kampf gegen Steuerbetrug auch national
vorangehen.
Wir wollen dem Vertrag von Lissabon eine soziale Fortschritts
klausel an die Seite stellen. Außerdem setzen wir uns ein für Min
deststandards im Bereich der sozialen Sicherung und des Arbeits
marktes. Wir streiten für das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche
Arbeit am selben Arbeitsplatz“ für alle Arbeiternehmer*innen. Uns
ist wichtig, die grenzüberschreitende Freizügigkeit von Arbeitneh
mer*innen sozial besser abzusichern, damit sie nicht durch ein Ras
ter national fragmentierter Sozialsysteme fallen. Wir wollen die
wirtschaftspolitische Steuerung über das Europäische Semester
stärken. Wir wollen, wie von der EU-Kommission empfohlen und
den Gewerkschaften gefordert, eine Lohnentwicklung erreichen,
die langfristig ein größeres außenwirtschaftliches Gleichgewicht
ermöglicht. Wir wollen keinen unfairen Wettbewerb der europä
ischen Staaten, Löhne zu drücken. Als Ziel in diesem Bereich setzen
wir uns für die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversiche
rung ein.
3. Für mehr Transparenz, mehr Beteiligung
und ein starkes EU-Parlament
Europas Demokratie lebt vom Mitmachen, Mitentscheiden, Sichein
bringen und -einmischen. Die EU ist demokratisch legitimiert. Aber
wie jede Demokratie hat sie Schwächen, die wir abbauen wollen. Zu
oft wird europäische Demokratie zu einseitig über das Handeln na
tionaler Regierungen bestimmt, anstatt über das Europäische Par
lament. Wir wollen eine größere europäische Öffentlichkeit und Le
gitimation erreichen. Deswegen wollen wir weiterhin europäische
Spitzenkandidat*innen für das Amt des oder der Kommissionspräsi
dent*in. Parteien sollen auch mit transnationalen Listen für das EU-
Parlament antreten. Dafür können wir nach dem Brexit einen Teil
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der frei werdenden Sitze der britischen Europaabgeordneten nut
zen. Wir wollen, dass das direkt gewählte Europäische Parlament
der zentrale Ort aller europäischen Entscheidungen wird und das
Recht erhält, eigene Gesetzesvorschläge einzubringen. Auch im Be
reich der Wirtschafts- und Währungsunion soll es gleichberechtigt
mitentscheiden; um dies vorzubereiten, soll ein Ausschuss für Eu
rofragen mit besonderen Informationsrechten eingerichtet werden.
Wir wollen die aktuellen Euro-Rettungsmechanismen in einen Euro
päischen Währungsfonds umwandeln, der durch das EP kontrolliert
wird. Das EP muss die alleinige parlamentarische Vertretung für
alle Unionsbürger*innen bleiben. Jegliche Formen von Euro-Neben
parlamenten lehnen wir ab. Um die Rückbindung der Eurogruppe
zum Europäischen Parlament zu stärken, schlagen wir vor, den oder
die EU-Kommissar*in für Wirtschaft und Währung als nächste*n
Präsident*in der Eurogruppe zu wählen. Die Abwahl der EU-Kom
mission und ihrer Präsidentin oder ihres Präsidenten muss über ein
konstruktives Misstrauensvotum durch eine einfache statt bisher
Zweidrittelmehrheit der EP-Abgeordneten möglich sein. Zur Ver
besserung der Transparenz sollte der Minister*innenrat grundsätz
lich öffentlich tagen und jede*r soll wissen können, welches Land
wie abstimmt. Auch die nationalen Parlamente wollen wir durch
vertraglich gesicherte umfassende Informationsrechte stärken, da
mit das Handeln der eigenen Regierung in Brüssel stärker beein
flusst werden kann. Für Europäische Bürger*inneninitiativen gibt es
heute unnötig hohe Hürden, die wir abbauen wollen. Schließlich
sollten alle Unionsbürger*innen in den Staaten, in denen sie leben,
die vollen bürgerlichen, sozialen und politischen Rechte genießen.
Unionsbürger*innen sollten ein Landtagswahlrecht in Deutschland
erhalten. Perspektivisch sollte die Unionsbürger*innenschaft zu ei
ner europäischen Staatsbürger*innenschaft fortentwickelt werden.
Wir fordern mehr Transparenz durch ein verpflichtendes Lobby
register. Ein „legislativer Fußabdruck“ soll sichtbar machen, wer mit
welchem Budget in wessen Auftrag und zu welchem Thema Einfluss
auf die Politik nimmt. Für Kommissionsmitglieder und höchste Ent
scheidungsträger*innen sollen striktere Karenzzeiten gelten, bevor
sie in neue Positionen wechseln können.
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4. Die EU als handlungsfähige Akteurin in der
Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik
Die europäischen Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass
die EU bei der Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik mehr
leistet, öfter mit einer Stimme spricht, mehr für unsere innere und
äußere Sicherheit tut. Wir GRÜNE setzen uns für eine stärkere Euro
päisierung der Außen-, Entwicklungs-, Friedens- und Sicherheits
politik ein. Kein europäisches Land ist allein in der Lage, den inter
nationalen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Das gilt
umso mehr in einer Zeit, in der sich durch die aggressive Groß
machtpolitik Russlands unter Präsident Putin, die von Abschottung
und nationalistischem Denken geprägte Politik des amerikanischen
Präsidenten Trump und die vielen Krisenherde im Nahen Osten und
in Nordafrika die Rahmenbedingungen für die Sicherheit der EU
grundlegend ändern.
Das Zivile steht dabei für uns im Vordergrund. Die Mittel und das
Personal für zivile Krisenprävention und die zivilen EU-Polizei- und
Rechtsstaatsmissionen müssen bedarfsgerecht und damit deutlich
erhöht werden. Wir stellen uns gegen einen fatalen Paradigmen
wechsel, bislang zivile Gelder aus dem EU-Haushalt für Militär oder
zur Abwehr von Flüchtlingen umzuverteilen sowie die Investitions
bank und das Instrument für Stabilität und Frieden zu militärischen
Zwecken zu missbrauchen. Wir wollen die gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP), die gemeinsame Sicherheits- und Vertei
digungspolitik (GSVP) und den Europäischen Auswärtigen Dienst
weiter ausbauen. Die EU soll aktiv an einer globalen Friedens
ordnung im Rahmen der Vereinten Nationen und an der Schaffung
eines gesamteuropäischen Systems kooperativer Sicherheit, aus
gehend von der OSZE, mitarbeiten. Die neuen Sicherheitsbedenken
der osteuropäischen Länder nehmen wir dabei sehr ernst. Eine Lö
sung des Konfliktes in der Ukraine kann nur eine politische und di
plomatische sein. Daher halten wir am Minsk-Prozess fest. Wir hal
ten gezielte Sanktionen der EU gegen verantwortliche Individuen,
öffentliche und privatwirtschaftliche Institutionen für ein wirksames
Mittel der Außenpolitik und halten derzeit an der Aufrechterhaltung
der Sanktionen gegenüber der Russischen Föderation fest.
Wir halten konkrete Schritte für eine verstärkte Zusammenarbeit
und Integration der Streitkräfte in der Europäischen Union für sinn
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voll und für einen Teil der Antwort auf die internationalen Entwick
lungen. Eine Erhöhung der Militärausgaben ist nicht sinnvoll und
wir lehnen auch entsprechende Forderungen aus der NATO, die Mi
litärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu stei
gern, ab. Uns geht es darum, durch engere gemeinsame Planung,
Kooperation und Koordination Fähigkeiten auf europäischer Ebene
zu bündeln, statt die Verschwendung öffentlicher Gelder fortzuset
zen. Dies muss mit einer Stärkung der Mitspracherechte für das Eu
ropäische Parlament und mit einer gemeinsamen restriktiven Rüs
tungsexportpolitik einhergehen.
Die EU muss auch bei der Gestaltung ihrer Nachbarschaftspolitik
aktiver werden. Die Erweiterungspolitik der EU ist für uns eine Er
folgsgeschichte. Sie steht für Frieden und Stabilität in Europa. Der
Beitritt jedes einzelnen Landes muss aber weiter konsequent von
Fortschritten im Beitrittsprozess und der Erfüllung der Kopenhagen
Kriterien abhängig gemacht werden. Wir wollen alle Staaten des
westlichen Balkans ohne Änderung ihrer Grenzen in die EU integrie
ren und das Beitrittsversprechen durch eine tiefgreifendere Zusam
menarbeit mit möglichst vielen gesellschaftlichen Akteur*innen
des Westbalkans glaubwürdig machen.
Wir GRÜNE stehen auch weiterhin fest an der Seite derjenigen in
der Türkei, die für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffen
heit eintreten. Wir verurteilen die von Erdogan eingeschlagene Po
litik hin zu einem autoritären Präsidialsystem, die massiven Angrif
fe auf Oppositionelle, auf die Zivilgesellschaft, auf die Meinungs- und
Pressefreiheit. Der Krieg des türkischen Militärs und der Terror der
PKK im Südosten der Türkei werden auf dem Rücken der Zivilgesell
schaft ausgetragen. Auch die militärischen Interventionen in Syrien
und im Nordirak lassen die Gewalt in der Region weiter eskalieren.
Für die Zukunft der Kurd*innen kann es nur eine friedliche und po
litische Lösung geben. Es braucht nun eine grundlegende Neuver
messung der europäisch-türkischen Beziehungen. Mehr denn je
müssen Deutschland und Europa klare Kante für Demokratie und
Menschenrechte zeigen. Darum werden wir deutsche Rüstungs
exporte in die Türkei stoppen. Politisch Verfolgte sollen in der EU
Zuflucht finden und der Visumszwang abgeschafft werden. Ver
handlungen über eine Ausweitung der Zollunion kann es erst ge
ben, wenn die Türkei eine Kehrtwende zurück zu Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit vollzieht. Das gilt auch für die Fortführung der
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Beitrittsgespräche, die de facto bereits auf Eis liegen. Sie jetzt kom
plett abzubrechen, würde das falsche Signal an die proeuropäischen
und demokratischen Kräfte in der Türkei senden. Für eine demokra
tische und weltoffene Türkei müssen die Türen zur EU offen bleiben.
Europa hat auch eine besondere Verantwortung für Afrika. Wir
wollen unsere Partnerländer dabei unterstützen, lebenswerte Per
spektiven für die Menschen vor Ort zu schaffen und damit langfris
tig auch Fluchtursachen zu beseitigen. Deshalb schlagen wir einen
Zukunftspakt zwischen der EU und Afrika vor. Außerdem wollen wir
die Einreisebedingungen für Auszubildende und Studierende aus
afrikanischen Ländern in die EU erleichtern.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Zukunftsfonds für ökologische und soziale Modernisierung
Wir GRÜNE wollen einen Zukunftsfonds im EU-Haushalt für Eu
ropa einrichten, der mittels öffentlicher Investitionen die ökolo
gische und soziale Modernisierung vorantreibt, darüber hinaus
Mitgliedstaaten in Notsituationen unterstützt und Wirtschafts
krisen bekämpft. An diesem Fonds sollen sich alle EU-Staaten
beteiligen dürfen, die im Gegenzug stärkere Maßnahmen gegen
aggressive Steuervermeidung und Steuerhinterziehung ergrei
fen. Mit einem solchen Steuerpakt starten wir eine Investitions
offensive für ein modernes und gerechtes Europa. Die soziale
Spaltung Europas wollen wir so durch die Einführung von Min
deststandards abbauen und die europäische Jugendgarantie
wollen wir stärken. In der EU soll jeder junge Mensch spätestens
vier Monate nach dem Schulabschluss einen Ausbildungs- oder
Arbeitsplatz erhalten.
Demokratie in der EU stärken – Europa der Bürger*innen
schaffen
Wir wollen Europa gemeinsam mit seinen Bürger*innen wei
terentwickeln, transparenter, demokratischer und erfahrbarer
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machen. Wir wollen das direkt gewählte Europäische Parlament
als zentralen Ort der europäischen Demokratie stärken, unter
anderem durch die Möglichkeit, eigene Gesetzesvorschläge ein
zubringen. Der Minister*innenrat und seine vorbereitenden Gre
mien sollen in Zukunft öffentlich tagen. Wir wollen ein verbind
liches Lobbyregister und einen legislativen Fußabdruck, damit
erkennbar wird, wer wann an einem Gesetz gearbeitet hat. Wir
wollen Beteiligungsinstrumente wie die Europäischen Bürger*in
neninitiativen und europäische Bürger*innenforen ausbauen.
Wir stärken den gesellschaftlichen Austausch und öffnen den
europäischen Friedensdienst für alle.
Zukunftspakt zwischen EU und Afrika
Europa hat gegenüber Afrika eine historische Verantwortung
und wir sind vielfältig miteinander verbunden. Wir wollen einen
Grünen Zukunftspakt mit den Ländern in Afrika, der gemeinsam
erarbeitet wird und der die Agenda der Afrikanischen Union un
terstützt. Im Zentrum stehen zivile Krisenprävention und der
Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen sowie funktionierende
Steuersysteme. Wir wollen eine nachhaltige wirtschaftliche Ent
wicklung fördern durch den Ausbau erneuerbarer Energien so
wie sozial-ökologische Investitionen. Insbesondere verfolgen
wir hierbei eine gerechte Agrar- und Handelspolitik mit einer
fairen Zusammenarbeit mit afrikanischen Produzent*innen und
einer nachhaltigen Weiterentwicklung der afrikanischen klein
bäuerlichen Landschaft. So schaffen wir Perspektiven für die
Menschen in Afrika.
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II. WIR STEHEN EIN FÜR
FRIEDEN, GLOBALE
GERECHTIGKEIT UND
MENSCHENRECHTE
Wir leben 2017 in einer Zeit dramatischer Umbrüche in der Welt
politik. Die Hoffnung auf eine globale Friedensordnung droht zu
schwinden. Kriege und Konflikte in der Nachbarschaft der Europä
ischen Union haben sich in den vergangenen Jahren weiter ver
schärft. In einer solchen Lage sind Besonnenheit, eine multilaterale
Ausrichtung, die Stärkung des Völkerrechts sowie zivile Ansätze
dringender denn je. Unsere Orientierung sind die vielen positiven
Entwicklungen weltweit. Wir werden Länder partnerschaftlich da
bei unterstützen, Menschenrechte zu schützen, demokratische und
rechtsstaatliche Strukturen zu stärken, sich nachhaltig zu entwi
ckeln und den Menschen ein Leben in Freiheit und Würde zu ermög
lichen. Leitbild unseres außenpolitischen Engagements sind die
Menschenrechte. Deutschland und die EU müssen mehr Verant
wortung für die Gestaltung einer friedlichen, gerechten und koope
rativen Weltordnung übernehmen. Deutschland muss selbst alle
menschenrechtlichen Abkommen vorbehaltlos ratifizieren und um
setzen. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass durch globale
Partnerschaft, Solidarität und Zusammenarbeit die Welt an vielen
Stellen zu einem besseren Ort werden kann. Diesen Weg wollen wir
GRÜNE entschlossen weitergehen.
Im Zentrum unserer Außen-, Sicherheits-, Friedens- und Ent
wicklungspolitik steht eine Stärkung des internationalen Rechts,
der multilateralen Zusammenarbeit und der zivilen Krisenpräventi
on, vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen, EU und OSZE. Die
Welt wird nur sicherer werden, wenn wir international nicht weni
ger, sondern enger zusammenarbeiten. Die NATO ist ein wichtiges
transatlantisches Bindeglied und spielt für die gemeinsame Sicher
heit in Europa eine wichtige Rolle. Wir wollen sie so transformieren,
das sie auch mit Dritten verstärkt zu kooperativer Sicherheit beitra
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gen kann. Deshalb setzen wir auch auf den Dialog im NATO-Russ
land-Rat. Dies gilt gerade jetzt. Den Rahmen für unsere Politik der
globalen Verantwortung bilden die nachhaltigen Entwicklungsziele
der Vereinten Nationen. Sie nehmen auch Deutschland und andere
Industrieländer in die Pflicht, gesamtpolitisch umzusteuern, denn
eine nachhaltige Entwicklung und der Einsatz für Frieden fangen zu
Hause an. Wir kämpfen für eine global nachhaltige Entwicklung, für
soziale Gerechtigkeit und für demokratische Teilhabe. Dazu gehört
die Eindämmung von Geldwäsche und Korruption.
Im Mittelpunkt internationaler Politik steht für uns der Mensch
mit seiner Würde, seinen unveräußerlichen Rechten und seiner Frei
heit. Uns leiten die Durchsetzung und Wahrung von Menschenrech
ten, insbesondere der Rechte von Frauen.
1. Menschenrechte, Krisenprävention und die Entwicklung
in den Mittelpunkt
In der globalisierten Welt sind Außen- und Innenpolitik heute
kaum mehr voneinander zu trennen. Ressourcenkonflikte, Flucht
bewegungen und die gemeinsame Herausforderung der Klimakri
se zeigen, dass die Probleme der Welt nur grenzüberschreitend
gelöst werden können. Frieden, Freiheit, ein Leben in Würde und
der Schutz der globalen öffentlichen Güter stehen allen Menschen
gleichermaßen zu. Wir kritisieren scharf, dass autoritäre Regime in
vielen Ländern diese Werte mit Füßen treten. Sie dürfen nicht als
unsere „Verbündeten“ betrachtet und politisch und militärisch ge
stützt werden. Demokratische Gesellschaftsmodelle geraten zu
nehmend unter Druck. Nicht nur in Russland, China oder Ägypten,
auch in der Türkei ist die massive Einschränkung von Meinungs
freiheit und Rechtsstaatlichkeit mittlerweile bittere Realität.
Menschenrechts verteidiger*innen müssen weltweit besser ge
schützt werden und müssen Thema der bilateralen Regierungs
verhandlungen sein. Wir wollen Menschenrechtsreferent*innen in
allen deutschen Botschaften. Die Arbeit von Nichtregierungsorga
nisationen und demokratischen Bewegungen wird immer öfter
von staatlicher Seite behindert und kriminalisiert. Das betrifft
auch die politischen Stiftungen und ihre Förderung zivilgesell
schaftlicher Strukturen vor Ort.
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Wir wollen die strukturellen Gründe für Ungleichheit, für Armut
und Hunger, für Klima- und Ressourcenkrise und für gewaltsame
Konflikte angehen. Wichtig dafür sind Politikreformen in Deutsch
land und anderen Industriestaaten im Sinne der nachhaltigen Ent
wicklungsziele, die Schaffung entwicklungsförderlicher Rahmen
bedingungen in Partnerländern und ein Ausbau der multilateralen
Zusammenarbeit. Unsere Wirtschafts-, Finanz-, Handels-, Agrar-
oder Rüstungsexportpolitik darf nicht länger Nachhaltigkeitsziele
wie Frieden, Menschenrechte und globale Gerechtigkeit konterkarie
ren. Deshalb wollen wir einen Rat für Frieden, Nachhaltigkeit und
Menschenrechte schaffen, der das Regierungshandeln mit Blick auf
die Nachhaltigen Entwicklungsziele prüft und Anpassungen emp
fiehlt. Wir werden verstärkt die Zivilgesellschaft fördern und auch
den Privatsektor nach verbindlichen menschenrechtlichen und
sozial-ökologischen Kriterien einbeziehen. Eine Privatisierung der öf
fentlichen Daseinsvorsorge lehnen wir ab. Öffentlich-private Part
nerschaften dürfen nicht zu neuen Schuldenkrisen führen und müs
sen dem Gemeinwohl und einer nachhaltigen Entwicklung dienen.
Mit unserer internationalen Zusammenarbeit wollen wir rechts
staatliche Strukturen stärken, soziale Sicherungs- und Gesund
heitssysteme ausbauen, Ernährungssouveränität herstellen, Klima
schutz fördern, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von
Mädchen und Frauen durchsetzen und den Zugang zu Bildung vo
ranbringen. Dafür reformieren wir die Instrumente unserer interna
tionalen Zusammenarbeit für mehr Effizienz und Wirksamkeit.
Vereinbarungen mit Partnerländern gründen wir auf beidseitige
Verpflichtungen – etwa bei der Steuerkooperation und klugen Ka
pitalverkehrskontrollen. Wir setzen uns für ein geordnetes Staaten
insolvenzverfahren bei den Vereinten Nationen und für eine Finanz
transaktionsteuer ein, deren Erlöse in großen Teilen für Maßnahmen
der Entwicklungs und Klimafinanzierung eingesetzt werden sollen.
Die Kopplung von Entwicklungszusammenarbeit an Rückübernah
meabkommen ist keine Grundlage für eine menschenrechtsbasierte
Entwicklungspolitik.
Die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Durchsetzung
der Frauenrechte sind wichtige Faktoren für eine menschenrechts
basierte Außen- und Entwicklungspolitik. Wir treten dabei auch ge
gen die Diskriminierung und für den Schutz der Menschenrechte
von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*, inter* und queeren
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(LSBTIQ*) Menschen ein. 2007 wurden in Yogyakarta Prinzipien zur
Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orien
tierung und die geschlechtliche Identität verabschiedet. Diese wol
len wir im Rahmen der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik
weiter fördern und umsetzen.
Das inzwischen fast 50-jährige und oft wiederholte Versprechen,
0,7 Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die weltweite Entwick
lung bereitzustellen, lösen wir endlich ein, ohne Kosten für Ge
flüchtete in Deutschland anzurechnen. Wir stehen für eine verläss
liche Entwicklungsfinanzierung und humanitäre Hilfe für Menschen
in Not sowie ein stärkeres finanzielles und personelles Engagement
im Rahmen der VN, der EU und der OSZE. Die Auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik spielt eine wichtige Rolle. Wir wollen deshalb
die Arbeit der Goethe-Institute, der Deutschen Welle, der politi
schen Stiftungen, des DAAD und anderer Akteure für den Dialog der
Kulturen stärken.
Der humanitäre Bedarf der Vereinten Nationen zur Vermeidung
von Hungersnöten oder schlimmsten Katastrophen wird von der
Staatengemeinschaft immer wieder nicht erfüllt und wenn, dann
häufig erst nach wiederholten Appellen und Sondergipfeln. Wir set
zen uns für ein humanitäres Versprechen der internationalen Ge
meinschaft ein, um flächendeckende Hungersnöte und schlimmste
Katastrophen rechtzeitig zu verhindern. Wir verteidigen das huma
nitäre Völkerrecht. Mit uns wird die Bundesregierung eine humani
täre Führungsrolle einnehmen und ihren Anteil am aktuellen Bedarf
zu jedem Jahresanfang finanzieren. Mit der Schaffung eines Insti
tuts für humanitäre Angelegenheiten wollen wir Deutschland in die
Lage versetzen, die humanitäre Hilfe wirksamer zu machen.
Trotz der akuten Krisen im Nahen und Mittleren Osten dürfen
Deutschland und die EU auch eine Friedenslösung im Nahostkon
flikt nicht aus dem Blick verlieren.
Wir GRÜNE setzen uns weiterhin für eine Zwei-Staaten-Rege
lung ein, um den Fortbestand des Staates Israel als nationale Heim
stätte des jüdischen Volkes und zum Wohle aller seiner Bewoh
ner*innen sowie die Schaffung eines souveränen, lebensfähigen
und demokratischen Staates Palästina auf der Grundlage der Gren
zen von 1967 zu gewährleisten. Es kann nur eine gewaltfreie Lö
sung geben. Wir wenden uns gegen Terror. Wir lehnen illegalen
Siedlungsbau ab. Wir bekennen uns zu der besonderen Verantwor
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tung Deutschlands gegenüber dem Staat Israel sowie seinem Exis
tenzrecht und seiner Sicherheit in gesicherten Grenzen als Eck
pfeiler deutscher Außenpolitik. Zugleich setzen wir uns ein für das
Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser in Selbstbestim
mung, Frieden und Sicherheit frei von Besatzung unter Wahrung
ihrer Menschenrechte in ihrem eigenen, demokratischen Staat zu
leben. Wir sind für die demokratische Stärkung des palästinensi
schen Staates, die Anerkennung durch Europa und die Aufnahme in
die VN.
Während wir der palästinensischen Zivilgesellschaft nicht ab
sprechen, selbst über gewaltfreie Strategien zur Beendigung der
Besatzung zu entscheiden, lehnen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen
Boykott Israels als Instrument deutscher und europäischer Außen
politik ab. Wir wollen weiterhin mit allen Kräften in Israel zusam
menarbeiten, die sich gegen eine Fortdauer der Besatzung und für
eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen.
2. Rüstungsexporte in Krisenregionen stoppen, Abrüstung
und Rüstungskontrolle voranbringen
Der Verkauf von Waffen und Rüstungsgütern in Regionen mit Krisen
und Konflikten verschärft diese, statt sie einzudämmen und zu lö
sen. So nähren Rüstungsexporte an Saudi-Arabien und andere Krieg
führende Parteien die Kriege im Nahen Osten, aber auch die Mili
tärdiktatur in Ägypten und den sogenannten Drogenkrieg in Mexi
ko. Besonders viele Opfer fordert der Einsatz von Kleinwaffen. Das
wirtschaftliche Interesse einzelner Unternehmen übertrumpft in
der Abwägungsentscheidung der Bundesregierung das Interesse an
Krisenprävention und Konfliktlösung. Damit muss endlich Schluss
sein. Deshalb werden wir mit einem Rüstungsexportgesetz gesetz
lich verbindlich und restriktiv neu regeln, dass der Handel mit allen
Rüstungsgütern an strenge Kriterien geknüpft und massiv begrenzt
wird. Der Endverbleib muss gesichert sein. Der Export in Staaten
außerhalb der EU, der NATO und an NATO-gleichgestellte Länder
darf nur in ganz wenigen und zu begründenden Fällen und nur im
Rahmen der VN Charta erfolgen. Rüstungsverkäufe in Konflikt
gebiete und Länder, in denen schwere Menschenrechtsver
letzungen stattfinden, müssen endlich ausnahmslos gesetzlich
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verboten werden. Die Rüstungsexportkontrolle muss vom Wirt
schaftsministerium ans Auswärtige Amt übertragen und durch um
fassende parlamentarische Kontrolle reguliert werden. In beson
ders heiklen Fällen soll der Bundestag vorab über anstehende
Genehmigungen informiert werden. Auf EU-Ebene kämpfen wir für
eine restriktive und parlamentarisch kontrollierte Rüstungsexport
politik. Wir wenden uns gegen die weitere Erosion bestehender
Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen. Wir wollen die Ver
trauensbildung, Abrüstung und Rüstungskontrolle wiederbeleben
und dabei mit eigenem Beispiel vorangehen.
Weltweite Abrüstung muss ein Grundpfeiler der deutschen und
europäischen Außenpolitik werden – gerade in unruhigen Zeiten.
Wir kämpfen für eine Welt ohne Atomwaffen und dafür, sie völker
rechtlich durch eine internationale Konvention zu ächten. Es ist un
verantwortlich, dass die schwarz-rote Bundesregierung im August
2016 gegen einen VN-Resolutionsentwurf zum Verbot von Atom
waffen gestimmt hat. Wir werden weiter für die vollkommene ato
mare Abrüstung kämpfen. Wir GRÜNE fordern den Abzug der letzten
Atomwaffen aus Büchel und die endgültige Aufgabe der völker
rechtswidrigen „nuklearen Teilhabe“. Wir sind strikt gegen eine ei
genständige atomare Bewaffnung der EU.
Wir setzen uns auch für eine internationale Konvention für das
Verbot autonomer Waffen und Kampfroboter ein und sind gegen die
Beschaffung oder Entwicklung bewaffnungsfähiger Drohnen für die
Bundeswehr. Wir fordern einen internationalen Verhaltenskodex
zur Cybersicherheit, der unter anderem eine Selbstverpflichtung
enthält, zivile (Netz-)Infrastruktur nicht zum Ziel oder Instrument
militärischer Angriffe zu machen. Wir wollen nicht, dass die USA
ihre Basen in Deutschland für völkerrechtswidrige Angriffe nutzen.
Die Überflugrechte und Militärbasen ausländischer Streitkräfte in
Deutschland dürfen ausschließlich im Sinne des Völkerrechts ge
nutzt werden.
3. Stärke des Rechts statt Recht des Stärkeren
Wir GRÜNE setzen auf die Stärke des Rechts statt auf das Recht des
Stärkeren. Die Anerkennung des Gewaltmonopols der Vereinten Na
tionen ist eine Voraussetzung dafür. Die VN sind aber nur so stark,
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wie ihre Mitgliedstaaten es erlauben. Deshalb setzen wir uns dafür
ein, dass Deutschland sich im Rahmen der VN, ihrer Unterorganisa
tionen sowie regionaler Organisationen wie der OSZE stärker finan
ziell und personell engagiert.
Wir sind davon überzeugt, dass dauerhafter Frieden nur poli
tisch, nicht militärisch erreicht werden kann. Deswegen sind zivile
Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung zentrale Anliegen
grüner internationaler Politik. Sie sind heute wichtiger denn je und
gehören ins Zentrum der deutschen Außenpolitik. Wir wollen au
ßerdem eine konsequente Friedenserziehung fördern.
Wir setzen uns dafür ein, die zivile Krisenprävention finanziell
und strukturell zu stärken. Dazu fordern wir ein strategisches und
kohärentes Handeln in allen Ressorts und Politikbereichen, das von
einem Nationalen Rat für Frieden, Nachhaltigkeit und Menschen
rechte überprüft wird. Wir wollen die Verbesserung von Frühwar
nungs-, politischen Analyse- und Mediationskapazitäten. Die Ar
beitsfähigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wollen
wir stärken und das Kapital der Deutschen Stiftung Friedens
forschung erhöhen. Notwendig ist auch der planmäßige Ausbau
schnell verfügbarer Polizei-, Rechtsstaats- und Verwaltungsexper
t*innen. Der Aktionsplan zur Umsetzung der VN-Resolution 1325
zum Schutz von Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten
und zur gleichberechtigten Einbindung von Frauen in die Krisenprä
vention, Konfliktbewältigung und Friedenskonsolidierung muss
finanziell unterfüttert und wirkungsorientiert ausgerichtet werden.
Wir wollen, dass Deutschland Mitglied im Europäischen Friedens
institut wird und bei den Vereinten Nationen und in der EU einen
Freundeskreis für Krisenprävention initiiert. Friedensmissionen der
Vereinten Nationen, der EU und der OSZE leisten weltweit einen
wichtigen Beitrag zur Konfliktbearbeitung und Friedenssicherung.
Wir wollen die deutschen zivilen und militärischen Beiträge in die
sen Missionen erhöhen.
Die Anwendung militärischer Gewalt ist immer ein Übel. Wir er
kennen jedoch an, dass es Situationen gibt, in denen militärische
Gewalt unter eng begrenzten Bedingungen als äußerstes Mittel ge
rechtfertigt sein kann. Das Konzept der Schutzverantwortung der
VN besagt, dass es Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist,
aktiv zu werden, wenn nationale Regierungen nicht in der Lage oder
willens sind, Menschen vor schweren Menschenrechtsverbrechen
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zu schützen. An erster Stelle muss immer die Prävention stehen,
also das Verhindern gewaltsamer Entwicklungen. Wir GRÜNE ste
hen zu einer Kultur der militärischen Zurückhaltung und für den
Primat des Zivilen. Wir machen uns die Entscheidung über Militär
einsätze niemals einfach, sondern prüfen mögliche Mandate kri
tisch und sorgfältig. Für uns gilt die VN-Charta. Wir werden Einsät
zen der Bundeswehr nur mit einem Mandat der Vereinten Nationen
zustimmen. Einsätze müssen grundgesetzkonform sein, das heißt
nicht in verfassungswidrigen Koalitionen der Willigen, sondern im
Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit wie den Vereinten Na
tionen, der Europäischen Union oder der NATO stattfinden. Es be
darf eines präzisen und umfassenden Mandates durch den Bundes
tag und einer sorgfältigen Abwägung der Gefahren, Chancen und
Risiken. Ein militärischer Einsatz der Bundeswehr muss in eine um
fassende zivile Gesamtstrategie und in klare Konzepte für die Zu
kunft des betroffenen Staates eingebettet sein.
Um strategische oder politische Fehler, wie beim Afghanistan
Einsatz, zu vermeiden, müssen komplexe internationale Friedens
einsätze permanent auf ihre Ziele, Wirksamkeit und Mittel hin über
prüft und angepasst werden. Deshalb fordern wir klare Prüfkriterien
für Auslandseinsätze und eine unabhängige Evaluierung.
Unrecht muss aufgearbeitet werden, deshalb unterstützen wir
Anstrengungen zur Aussöhnung und die Arbeit des internationalen
Strafgerichtshofs. Die Kapazitäten deutscher Behörden, Kriegsver
brechen nach dem Weltrechtsprinzip konsequent zu verfolgen, sol
len gestärkt werden.
Eine Blockade des VN-Sicherheitsrats bei zentralen Entschei
dungen droht das Völkerrecht und die VN zu schwächen und muss
überwunden werden. Die Vereinten Nationen müssen wieder hand
lungsfähiger werden. Im Falle einer anhaltenden Blockade des VN-
Sicherheitsrats sollte die Generalversammlung der VN das Recht
beanspruchen, mit qualifizierter Mehrheit den Sicherheitsrat für
blockiert zu erklären und an seiner Stelle friedenserzwingende
Maßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta zu beschließen. Gleich
zeitig sollte der Sicherheitsrat so reformiert werden, dass sich das
Gleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten verbessert.
Wir wollen auch in diesem Zusammenhang die Vereinten Natio
nen politisch und materiell stärken und unterstützen. Die Unter
stützung der Ziele und Missionen der Vereinten Nationen ist eine
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wichtige Aufgabe der Bundeswehr. Die Bundeswehr muss VN-fähi
ger und europatauglicher werden. Für diese Herausforderungen
muss die Bundeswehr gut ausgestattet sein. Dafür braucht es aber
keine Erhöhung des Verteidigungsetats, sondern klare sicherheits
politische Prioritäten, mehr europäische Zusammenarbeit und ein
Ende der ineffizienten Beschaffungspolitik der letzten Jahre. Es
muss endlich Schluss damit sein, dass mit industriepolitisch moti
vierten Prestigerüstungsprojekten und Wahlkreiswünschen einzel
ner Abgeordneter Steuergelder verbrannt werden.
Es hat sich bewährt, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee
ist. Wir lehnen alle Pläne zur Einschränkung des Parlamentsvorbe
haltes ab und wollen die Kontroll- und Mitwirkungsrechte des Bun
destages ausbauen. Wir wollen die innere Führung und den Aufklä
rungswillen bei Missständen in der Bundeswehr stärken und setzen
auf mehr staatsbürgerliche und politische Bildung. Es ist uns wich
tig, dass die Soldat*innen gute Rahmenbedingungen haben: eine an
gemessene Entlohnung, Führungskultur und Personalmanagement,
Vereinbarkeit von Familie und Dienst sowie eine Für- und Nachsorge,
die den schwierigen Anforderungen der Einsätze gerecht werden.
Die Anwerbung von minderjährigen Rekrut*innen lehnen wir ab.
An der Vision, den VN unter Beachtung der Parlamentsbeteiligung
eigene ständige Truppen zu unterstellen, halten wir fest.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
0,7 Prozent für globale Entwicklung statt zwei Prozent
für Aufrüstung
Wir lehnen eine Erhöhung der Militärausgaben auf zwei Prozent
der Wirtschaftsleistung klar ab. Stattdessen wollen wir, dass
Deutschland endlich sein Versprechen für mehr globale Gerech
tigkeit einlöst. Darum werden wir bis 2021 das Ziel erreichen,
0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für globale Entwicklung
auszugeben, indem wir die Ausgaben für Entwicklungszusam
menarbeit und internationalen Klimaschutz jährlich um zwei
Milliarden Euro erhöhen und auch danach die Klimagelder weiter
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anwachsen lassen. Ausgaben für Geflüchtete in Deutschland wer
den wir nicht anrechnen. Wir richten diese Gelder strikt an den
nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen aus.
Dies ist auch ein Beitrag zur zivilen Krisenprävention und langfris
tig zur Fluchtursachenbekämpfung. Der Kampf für eine nachhalti
ge Entwicklung und einen wirksamen Klimaschutz muss Hand in
Hand gehen.
Für ein Rüstungsexportgesetz – keine Waffen
in Krisenregionen
Wir wollen Rüstungsexporte in Krisenregionen und an Staaten
mit einer problematischen Menschenrechtslage mit einem res
triktiven und verbindlichen Rüstungsexportgesetz stoppen und
die bisherige Gesetzeslage verschärfen. Die Federführung bei
Rüstungsexportgenehmigungen wollen wir auf das Auswärtige
Amt übertragen. Über die Exportgenehmigungen soll künftig die
gesamte Bundesregierung im Konsensprinzip entscheiden. In vor
her klar definierten, besonders heiklen Fällen soll der Bundestag
vorab über anstehende Genehmigungen informiert werden. Wir
wollen Nichtregierungsorganisationen ein Verbandsklagerecht
einräumen, um die Rechtmäßigkeit genehmigter Rüstungsexpor
te durch eine Klage überprüfen zu lassen. Auf europäischer Ebene
kämpfen wir darum, eine EU-weite gemeinsame Rüstungsexport
kontrolle deutlich restriktiver zu gestalten.
Für starke Vereinte Nationen – internationaler Schutz
verantwortung gerecht werden
Wir setzen auf eine Politik, die an den Menschenrechten und am
Völkerrecht ausgerichtet ist. Der zentrale Akteur auf globaler
Ebene sind die Vereinten Nationen. In den bestehenden Struktu
ren und ihrer derzeitigen Ausstattung können sie den wachsen
den globalen Herausforderungen nicht mehr gerecht werden.
Deswegen möchten wir Deutschland und die EU zu Vorreite
r*innen für die zivile Krisenprävention machen – konzeptionell,
finanziell und strukturell. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten
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Nationen (UNHCR) muss angesichts der rasant wachsenden
Flüchtlingszahlen auf der Welt lebensrettende Aufgaben besser
wahrnehmen können. Und die internationale Gemeinschaft muss
aktiv werden, wenn nationale Regierungen nicht in der Lage oder
willens sind, ihre Bürgerinnen und Bürger vor Völkermord, Ver
brechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder ethni
scher Säuberung zu schützen. Wir wollen die Vereinten Nationen
deshalb stärken, die Schutzverantwortung auch wirklich wahr
nehmen zu können. Wir wollen Reformen in den Strukturen der
Vereinten Nationen anstoßen und sie besser ausstatten, perso
nell und materiell.
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III. WIR MACHEN DEN
WELTHANDEL FAIR
Die Globalisierung ist durch drastische Widersprüche geprägt. Sie
macht die Beziehungen und den Austausch zwischen Ländern en
ger. Nie war es so einfach, in ferne Länder zu reisen. Auch Wissen
schaft und Kultur befruchten sich durch internationalen Austausch.
Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen umgeben uns Produkte, die
es ohne weltweiten Handel nicht gäbe. Deutschland profitiert von
offenen Märkten. Die Globalisierung hat auch in den Ländern des
globalen Südens zu einem Anstieg des Wohlstands und hunderte
Millionen Menschen aus extremer Armut geführt.
Doch die Globalisierung hat eben auch eine anarchische, unge
rechte und brutale Seite. In vielen ärmeren wie reicheren Ländern
werden Menschen in einer globalen Wertschöpfungskette ausge
beutet oder gegeneinander ausgespielt. Wohlstandsgewinne sind
sehr ungleich und ungerecht verteilt – zwischen Staaten und inner
halb von Staaten. Die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrund
lagen hat sich durch die Globalisierung beschleunigt. Und die ent
fesselten internationalen Finanzmärkte und große Konzerne haben
einen zu starken Einfluss auf politisches Handeln gewonnen. Des
wegen ist es unser Ziel, die Globalisierung auch durch die Stärkung
globaler Institutionen gerechter zu gestalten; zum Beispiel, indem
wir die internationalen Finanzströme besser regulieren ( Kapitel:
Wir teilen den Wohlstand gerechter, S. 190) und auch indem wir den
internationalen Handel neu gestalten.
Hunderttausende Menschen in Deutschland und anderen Län
dern Europas haben in den letzten Jahren gegen TTIP, TiSA und
CETA, gegen eine Fortsetzung der neoliberalen Globalisierung von
oben demonstriert. Wir kämpfen an ihrer Seite dafür, dass diese Ab
kommen gestoppt und auf Grundlage sozialer, ökologischer und
menschenrechtlicher Kriterien neu verhandelt werden. Im Fall von
CETA wollen wir alles dafür tun, damit das Abkommen in dieser
Form nicht ratifiziert wird.
Sowohl der nationalistische Weg, den Schattenseiten der Globa
lisierung mit Abschottung zu begegnen, als auch der neoliberale
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Weg, Globalisierung ohne Regulation zu forcieren, führen in den
Abgrund. Wir stehen für einen anderen Weg – den Weg friedlicher
und offener Kooperation und globaler Solidarität. Gerechter globa
ler Handel kann dafür sorgen, dass die Vorteile der Globalisierung
mehr Menschen zugutekommen.
Als exportorientierte, große Volkswirtschaft hat Deutschland
eine besondere Verantwortung. Deutschland muss deshalb dazu
beitragen, dass die Europäische Union als der größte Binnenmarkt
selbstbewusst eine führende Rolle bei der Regulierung des Welt
handels einnimmt und zeigt, wie fairer Handel möglich ist. Den
brauchen wir für eine sozial-ökologische Transformation.
1. Gerechte Regeln für die Welt
Um Handel fair zu gestalten, müssen Regeln von allen Ländern ge
meinsam verhandelt werden, also multilateral. Das muss im Rah
men der Welthandelsorganisation (WTO) geschehen. Denn sonst
machen die mächtigen Länder die Spielregeln und die armen haben
das Nachsehen. So wollen wir den Zugang zu günstigen Generika
für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen stärken. Insbe
sondere sollte die EU Länder des globalen Südens unterstützen, die
Schutzklauseln und Ausnahmen des WTO-Patentschutzsystems
(TRIPS) zu nutzen. Gleichzeitig dürfen diese Länder nicht mittels
Freihandelsabkommen gedrängt werden, eine Ausweitung des Mo
nopolschutzes und eine Einschränkung des Medikamentenzugangs
über TRIPS-plus einzuführen. Außerdem braucht es einen globalen
Forschungsfonds, um Anreize zu schaffen, vernachlässigte und In
fektionskrankheiten besser zu behandeln. Damit das gelingt, muss
die WTO grundlegend reformiert und unter dem Dach der Vereinten
Nationen neu belebt werden.
Mit der Verabschiedung der globalen Nachhaltigkeitsziele der
Vereinten Nationen und dem Abschluss des Pariser Klimaschutzab
kommens hat die Weltgemeinschaft zentrale Zielmarken zur Be
kämpfung von Hunger und Armut, zur Reduzierung von globaler
Ungleichheit und für den Erhalt unserer ökologischen Lebensgrund
lagen gesetzt. Die Industriestaaten können und müssen dabei im
Sinne einer fairen Lastenteilung vorangehen.
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Diese Zielmarken müssen auch für die Gestaltung des Welthan
dels und eine Reform der WTO gelten. So sollen alle am Welthandel
Teilnehmenden die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeits
organisation (ILO) einhalten. Vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt
muss Arbeit menschenwürdig sein und der weltweite Wettbewerb
um die niedrigsten Löhne aufhören. Wir haben das Ziel, in Zukunft
sowohl mit entwickelten wie auch sich entwickelnden Staaten eine
neue Generation von fairen und nachhaltigen Handelsabkommen
auszuhandeln. Durch ein Race to the Top von immer höheren globa
len Standards werden wir gute Arbeit garantieren und lokale Wert
schöpfung erhalten. Wir setzen damit in den fairen Handelsabkom
men neben klassischen Handelsfragen auch soziale, ökologische
und menschenrechtliche Standards – also unter anderem Regeln
zur Vermeidung von Steuerhinterziehung, für Korruptionsbekämp
fung, für Biodiversität, für Ernährungssouveränität, die Implemen
tierung von internationalen Sozial-, Klima- und Umwelt- sowie
Menschenrechtsnormen und die freie Gewerkschaftsbildung. Alle
sind gleichwertig einklagbar und sanktionierbar. Wir wollen kein
neues Handelsabkommen zwischen der EU und den USA oder ande
ren Staaten, ohne dass von allen zukünftigen Vertragsparteien das
Pariser Klimaabkommen unterzeichnet wurde und das Handelsab
kommen die Einhaltung der Pariser Ziele garantiert.
Die „Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer“
(G 20) muss ebenfalls für eine faire Globalisierung eintreten. Auch
wenn sie langfristig an die Vereinten Nationen rückgebunden wer
den sollte, kann es doch hilfreich sein, wenn die wirtschaftlich star
ken Länder zusammenkommen, um über internationale Regeln zu
beraten. Den Impulsen der G 20 zur Trockenlegung von Steuer
sümpfen und zur Kontrolle internationaler Finanzmärkte müssen
aber auch Taten folgen. Dazu wollen wir ein effektives Regelwerk
zur Bekämpfung von Steuer und Kapitalflucht durchsetzen, damit
unkontrollierte Abflüsse vor allem auch aus armen Ländern ge
stoppt werden. Die nächste Bundesregierung muss nicht nur weiter
ambitionierte Ziele im Rahmen der G 20 vorantreiben, sondern auch
verbindliche Umsetzungsmechanismen über die multilateralen Or
ganisationen etablieren.
Noch immer hungern weltweit rund 800 Millionen Menschen.
Zwei Milliarden Menschen sind mangelernährt. Besonders für
Mütter und Kinder drohen bei Mangelernährung schwerwiegende
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bleibende Gesundheitsschäden. Dabei wären genügend Nahrungs
mittel verfügbar. Das Recht auf Nahrung muss endlich konsequent
umgesetzt werden. Dafür braucht es eine faire europäische Han
dels- und Agrarpolitik. Außerdem werden wir bäuerliche Strukturen
hier und weltweit intensiver fördern mit dem Ziel, die Ernährungs
souveränität zu stärken. Auch die konsequentere Regulierung der
Finanzmärkte – gegen die exzessive Spekulation mit Nahrungs
mitteln – spielt eine wichtige Rolle beim Kampf gegen den Hunger.
Zudem bedrohen die Interessen von Agrarkonzernen wie Bayer und
Monsanto mit ihrer enormen Marktmacht den traditionellen Handel
von bäuerlichem Saatgut.
Die Patentierung von Saatgut sowie Landgrabbing bekämpfen
wir, denn sie bedrohen Biodiversität und Ernährungssouveränität,
indem sie insbesondere Frauen die lokale Existenzgrundlage neh
men. Wir setzen uns vehement dafür ein, dass Deutschland durch
nationale Gesetze und internationale Vereinbarungen dazu beiträgt,
dass Investoren und staatliche Institutionen die freiwilligen Leitlini
en der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten
Nationen zu Landrechten, Fischgründen und Wäldern einhalten.
2. Neustart für faire Abkommen
TTIP, CETA, TiSA, JEFTA oder andere Abkommen dieser Art sind so
umstritten, weil hier die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zur
Verhandlungsmasse wurden. Wir GRÜNE lehnen diese Abkommen
ab. Einige wenige große, länderübergreifende Konzerne profitieren,
kleine und mittlere Unternehmen haben das Nachsehen. Deshalb
demonstrieren dagegen Kleinbauern und -bäuerinnen in Burkina
Faso genauso wie der bäuerliche Familienbetrieb in Baden-Würt
temberg. Dabei sollten faire Handelsabkommen Umwelt-, Verbrau
cher- und Datenschutz sowie Arbeitsnormen und Menschenrechte
nicht schwächen, sondern international sichern und ausbauen.
Viele Kommunen fürchten, dass die öffentliche Daseinsvorsorge
in Handelsabkommen nicht ausreichend geschützt wird. Hier geht
es um Krankenhäuser, die Wasserversorgung oder um die kulturelle
Vielfalt. Wenn Ausnahmen für öffentliche Dienstleistungen nicht
klar definiert sind, garantieren sie keinen ausreichenden Schutz. Vor
allem sind diese Dienstleistungen nicht vom Investitionsschutz
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ausgenommen – Klagen gegen die kommunale Daseinsvorsorge
vor einem Schiedsgericht würden so möglich.
Wir GRÜNE fordern, das Vorsorgeprinzip in allen Handelsverträ
gen zu verankern. Dieses Prinzip stellt sicher, dass Produkte bei uns
erst auf den Markt dürfen, wenn klar ist, dass sie unbedenklich sind.
Es sorgt dafür, dass in der EU zum Beispiel 1.300 Substanzen nicht
für den Einsatz in Kosmetika zugelassen sind. Gentechnisch verän
derte Lebensmittel, Asbest oder Hormonfleisch sind verboten. Die
Regelsetzung in diesen sensiblen Bereichen dürfen auch durch re
gulatorische Kooperation nicht unterlaufen werden. Sogenannte
Investor-Staat-Schiedsverfahren oder ein Investitionsgerichtssys
tem (ICS) sehen Klageprivilegien für Konzerne vor. Wir wollen nicht,
dass demokratisch beschlossene Gesetze wie etwa der Atomaus
stieg oder Regeln für Aufdrucke auf Zigarettenpackungen dadurch
unterlaufen werden. Für solche Verfahren gibt es keine Begrün
dung. Sonderklagerechte für Investoren und große Konzerne leh
nen wir entschieden ab.
Wir setzen uns stattdessen für einen ständigen Handelsgerichts
hof unter dem Dach der Vereinten Nationen ein, vor dem Betroffene
gegen die Verletzung menschenrechtlicher, sozialer und umweltre
levanter Verpflichtungen durch transnationale Unternehmen kla
gen können. Der Vorschlag der EU-Kommission für einen multilate
ralen Investitionsgerichtshof (MIC) erfüllt diese Voraussetzungen
nicht. Bestehende Investitionsschutzabkommen wollen wir nach
verhandeln mit dem Ziel, die Vereinbarungen zu Schiedsgerichten
aus den Verträgen zu entfernen. Wir unterstützen den Prozess
der Vereinten Nationen für ein verbindliches Abkommen über die
Pflichten internationaler Konzerne.
3. Fairer Handel bringt Chancen für ärmere Länder
Fairer Handel kann eine nachhaltige Entwicklung in Gang setzen.
Wenn wir Entwicklungsländern Raum lassen, durch Zölle und Quo
ten ihre Märkte zu schützen, können sie ihre heimische Wirtschaft
aufbauen. Im Moment aber stoßen wir dem globalen Süden die Lei
ter weg, auf der wir selbst unser heutiges Entwicklungsniveau er
klommen haben. Subventionierte Importe aus Europa können ganze
Branchen in Entwicklungsländern zerstören. So hat zum Beispiel
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der Export von Milchpulver, Tomaten oder Hähnchenteilen aus der
EU die heimische Produktion in Westafrika verdrängt. Die Wirt
schaftspartnerschaftsabkommen mit Afrika drohen eine eigenstän
dige und nachhaltige Entwicklung in den Partnerländern zu verhindern.
Wir wollen sie deshalb stoppen und fordern neue Verhandlungen
nach menschenrechtlichen, sozialen und Umweltstandards ohne
Druck und Fristen. Wir wollen Entwicklungsländern handelspoliti
sche Schutzmaßnahmen ermöglichen, damit sie ihre jungen Indus
trien entwickeln können. Die EU sollte für Entwicklungsländer Zölle
auf verarbeitete Produkte senken oder ganz abschaffen, damit diese
ihre Wirtschaften breiter aufstellen und mehr Gewinn im Land hal
ten können.
Auch Unternehmen sind verantwortlich für die gesellschaft
lichen Folgen ihres Handelns. Wir wollen sie verpflichten, die Ein
haltung von Menschenrechten, Umwelt- und Sozialstandards in
ihrer gesamten Lieferkette nachzuweisen. Beim Verstoß gegen die
se Sorgfaltspflichten drohen den Unternehmen Sanktionen, denn
Selbst verpflichtungen wie im „Textilbündnis“ der Großen Koalition
reichen bei Weitem nicht aus. Opfer sollen zivilrechtliche Entschä
digungsansprüche erhalten.
Fair gehandelte Produkte müssen raus aus der Nische. Bessere
Kennzeichnung muss Konsument*innen in die Lage versetzen, mit
ihrem Einkauf an der Ladentheke über den Herstellungsprozess von
Produkten abzustimmen.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Neustart für faire Handelsabkommen
Handelsabkommen, die anders als TTIP, CETA und TiSA trans
parent verhandelt wurden und an sozialen, ökologischen und
menschenrechtlichen Kriterien ausgerichtet sind, können eine
gerechte Globalisierung fördern. Sie sollten Umwelt-, Verbrau
cher*innen- und Datenschutz sowie Arbeitsnormen und Men
schenrechte international sichern. Wir fordern, das Vorsor
geprinzip in allen Handelsverträgen zu verankern und dabei
kommunale Daseinsvorsorge, öffentliche und soziale Dienstleis
tungen sowie Kultur auszunehmen. Statt Klageprivilegien für
Konzerne fordern wir einen ständigen Handelsgerichtshof unter
dem Dach der Vereinten Nationen, vor dem auch Betroffene
gegen Investoren klagen können. Er soll auf völkerrechtliche
Verpflichtungen sowie die ILO Kernarbeitsnormen achten. Wir
wollen multilaterale Verhandlungen im Rahmen der Welthan
delsorganisation (WTO) wieder stärken.
Lieferketten offenlegen für mehr Transparenz
Auch Unternehmen sind verantwortlich für die gesellschaftli
chen Folgen ihres Handelns. Wir wollen menschenrechtliche
Sorgfaltspflichten im deutschen Recht gesetzlich verbindlich
verankern, die entlang der Lieferkette einzuhalten sind. Zudem
braucht es mehr Transparenz, wirksame Sanktionen bei Men
schenrechtsverstößen und zivilrechtliche Klagemöglichkeiten
für Betroffene. Diese Maßnahmen schaffen Rechtssicherheit.
Davon profitieren Betroffene und Unternehmen gleichermaßen.
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Hunger bekämpfen – Nahrungsmittelspekulation
verhindern und Saatgut sichern
Noch immer hungern weltweit etwa 800 Millionen Menschen.
Für die Ärmsten der Armen wird der Preis von Nahrungsmitteln
schnell zur Überlebensfrage. Doch Spekulationen mit Nahrungs
mitteln führen zu Hunger und Leid. Das wollen wir eindämmen.
Dazu begrenzen wir die Menge, die einzelne Akteur*innen von
einem Produkt am Markt kaufen dürfen. Doch nicht nur Markt
monopole bei Nahrungsmitteln sind ein Problem: Die Interessen
von Agrarkonzernen bedrohen den traditionellen Handel von
bäuerlichem Saatgut und damit das Recht auf Nahrung. Das
schafft riskante Abhängigkeiten und zerstört die Artenvielfalt.
Deshalb wollen wir die Rechte der Kleinbäuerinnen und -bauern
auf freien Austausch und kostenlose Wiederaussaat von Saatgut
sowie lokale Saatgutbanken fördern. Um dem Hunger in der
Welt wirksam zu begegnen, setzen wir uns weiterhin ein für
Landrechte und eine dezentrale Landwirtschaft, die agraröko
logische Prinzipien in den Vordergrund stellt. Sie gewährleistet
die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Bäuerinnen und Bauern,
schützt die Biodiversität und unterstützt die regionalen Wirt
schaftskreisläufe.
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IV. WIR SCHÜTZEN GEFLÜCH
TETE UND BEKÄMPFEN
FLUCHTURSACHEN
Die Zahl der Menschen auf der Flucht wächst. Weltweit sind über
65 Millionen Menschen auf der Suche nach Schutz für sich und ihre
Familien. Flucht kennen viele Deutsche aus ihrer Familiengeschichte
von ihren Eltern und Großeltern, manche haben selbst noch Flucht
und Vertreibung als Folge des Zweiten Weltkriegs erlebt. Viele sind
aus der DDR in den demokratischen Westen geflohen. Menschen flie
hen vor Krieg, politischer Vertreibung und Verfolgung, immer häufi
ger auch vor den Folgen der Klimakrise und Umweltzerstörung. Wir
erleben die große Herausforderung der Fluchtbewegung an den
Grenzen Europas genauso wie hierzulande. Doch die meisten Men
schen fliehen in Regionen nahe ihrer Heimat, fast zwei Drittel inner
halb der Grenzen des eigenen Heimatlandes, in der Hoffnung, zurück
kehren zu können.
Unser Land hat in einer Zeit, wo andere Staaten sich weggeduckt
haben, vielen Menschen Zuflucht geboten. Wo einige Tausende ge
gen Geflüchtete gehetzt haben, haben Millionen Menschen gehol
fen und dadurch gezeigt, wie stark die Zivilgesellschaft in Deutsch
land ist. Auch die Mitarbeitenden in Verwaltungen und Institutionen
sind über sich hinausgewachsen. Die deutsche Bundesregierung hat
zuerst mit Humanität reagiert. Dafür hatte sie unsere Unterstüt
zung. Doch leider hat sie sich von dieser Politik schnell abgewen
det. Das Asylrecht hat sie massiv verschärft und zusammen mit
anderen europäischen Regierungen betreibt sie die Abschottung
der EU. Während Trump plant, eine Mauer zu bauen, versteckt sich
Europa mittlerweile hinter Zäunen und Stacheldraht. Diese Ab
schottung ist unmenschlich und verschärft auf Dauer die Probleme.
Wir wollen, dass Deutschland besser als 2015 auf humanitäre
Herausforderungen vorbereitet ist. Die Mitarbeiterinnen und Mitar
beiter der Kommunen, anderer Behörden, Organisationen und viele
Freiwillige waren an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, tausen
de Flüchtlinge wussten nicht, ob sie Schutz finden können, mancher
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Flüchtling wurde fünfmal und andere gar nicht registriert. Wir wol
len wissen, wer nach Europa kommt, wir wollen geregelte Verfahren
und eine Kontrolle der europäischen Außengrenze. Nicht jeder, der
zu uns kommt, kann bleiben, aber jeder hat Anspruch auf ein rechts
staatliches Verfahren und den Schutz seiner Menschenrechte auch
nach einer Ablehnung. Jede Abschiebung ist mit großen menschli
chen Härten verbunden. Deshalb möchten wir für all jene, die kei
nen Anspruch auf Asyl haben, die freiwillige Rückkehr stärken.
Nicht jeder abgelehnte Asylantrag führt zu einer Abschiebung. In
vielen Fällen wird aus rechtlich verbrieften humanitären Gründen
ein Aufenthaltstitel vergeben und nicht abgeschoben. Wir finden
das richtig, halten an dieser Politik fest und stellen uns gegen
den an Zahlen ausgerichteten Abschiebepopulismus der Großen
Koalition.
1949 hatte die Bundesrepublik im Grundgesetz eines der libe
ralsten Asylrechte verankert – auch als Lehre aus der deutschen
Geschichte. Wir kämpfen entschlossen für das individuelle Grund
recht auf Asyl. Der uneingeschränkte Zugang zu einem fairen Asyl
rechtsverfahren muss garantiert sein. Die inhumanen Asylrechts
verschärfungen der letzten Jahre lehnen wir ab. Sie behindern
vielfach die Integration. Unfaire und fehlerhafte Asylverfahren füh
ren zu Rekordzahlen von Klagen bei den Verwaltungsgerichten.
Das wollen wir ändern.
Das Mittelmeer darf nicht weiter zum Massengrab werden. Wir
lassen nicht zu, dass sich die EU ihrer Probleme entledigt, indem sie
Flüchtlinge in den Lagern Nordafrikas verelenden lässt. Denn für
uns ist eines klar: Flüchtlinge sind keine Ströme, Lawinen oder Wel
len, es sind Menschen. Menschen wie wir, mit Hoffnungen und Sor
gen, mit Kindern und Familien, aber einem Schicksal, das es weniger
gut mit ihnen meinte als mit uns. Wir wollen eine aktive Flücht
lingspolitik betreiben, die die Dauer der Asylverfahren deutlich ver
kürzt, damit lange Wartezeiten für Asylsuchende ein Ende haben
und diese gut integriert und ihnen eine gleichberechtigte Teilnah
me ermöglicht wird.
Menschen sind schon immer gewandert. Menschen auf der
Flucht brauchen Sicherheit und unsere Hilfe. Für Menschen, die aus
freien Stücken in Deutschland leben und arbeiten möchten, braucht
es Regeln wie ein Einwanderungsgesetz ( Kapitel: Wir gestalten
unser Einwanderungsland, S. 111).
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1. Unser Plan für eine aktive Flüchtlingspolitik
Für uns besteht eine Flüchtlingspolitik aus vier Schritten. Erstens
machen wir ernst mit der Bekämpfung von Fluchtursachen. Die bes
te Flüchtlingspolitik ist eine, die Flucht unnötig macht.
Zweitens sorgen wir durch legale Wege dafür, dass Flüchtende
nicht länger ihr Leben auf gefährlichen Fluchtrouten riskieren müs
sen. Wir werden Kontingente einrichten, wie beispielsweise ein groß
zügig angelegtes Resettlementprogramm, das Menschen einen si
cheren Weg eröffnet und unter der Leitung des UNHCR ein fester
Bestandteil der Flüchtlingspolitik in Deutschland wird. Der faire An
teil Deutschlands wird sich an dem vom UNHCR errechneten Bedarf
ausrichten. Das ist unsere Untergrenze für eine humanitäre Politik.
Auch humanitäre Visa, die Schutzbedürftigen ermöglichen, sicher
nach Europa zu kommen und hier Asyl zu beantragen, können legale
Fluchtmöglichkeiten schaffen. Resettlement ist eine Ergänzung zum
bestehenden Flüchtlingsschutz der Genfer Flüchtlingskonvention.
Das individuelle Asylrecht wird dadurch nicht angetastet.
Der dritte Punkt sind schnelle, faire und rechtsstaatlich ein
wandfreie Verfahren. Es muss schnell Klarheit darüber geschaffen
werden, ob ein Asylantrag zur Anerkennung führt. Erstver sorgung
und Unterbringung bis zur Verteilung sowie die Identifizierung, die
Registrierung und die Weiterverteilung der Schutzsuchenden auf
die Mitgliedstaaten sollten nach Möglichkeit bereits in den Ein
trittsländern innerhalb der EU organisiert werden. Das darf aber
nicht zu unmenschlichen Flüchtlingslagern wie in den gegenwärti
gen Hotspots führen. Die Erstaufnahme muss eine menschenwürdi
ge Unterbringung gewährleisten, die insbesondere Rücksicht nimmt
auf die Bedürfnisse von Frauen, Kindern, Kranken und besonders
verletzliche Gruppen. Nach der Identifizierung und Registrierung
muss die rasche Verteilung in andere Mitgliedstaaten erfolgen.
Die De-facto-Isolierung in großen Erstaufnahmeeinrichtungen über
Monate hinweg lehnen wir GRÜNE ab. Schnelle Verfahren führen zu
schneller Klarheit für die Betroffenen. Dazu gehört eine freiwillige
und möglichst zügige Rückkehr derjenigen, die nach dem Abschluss
rechtsstaatlicher Verfahren kein Bleiberecht in Deutschland erhal
ten. Wir werden neben unserer vollen Unterstützung für anerkannt
schutzbedürftige Menschen auch verantwortungsvoll mit denjeni
gen umgehen, die kein Bleiberecht in Deutschland erhalten und
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rückgeführt werden müssen. Dabei muss auch darauf geachtet wer
den, dass Geflüchtete nicht von staatlicher Stelle zur freiwilligen
Rückkehr gedrängt werden. Sammelabschiebungen sind für uns in
akzeptabel. Mit uns in der Bundesregierung wird es keine Abschie
bungen in Krisenregionen geben, die so unsicher sind wie zum Bei
spiel Afghanistan momentan. Für uns steht das Schicksal des
einzelnen Menschen im Mittelpunkt.
Viertens werden wir diejenigen, die bleiben, gut aufnehmen
und tatkräftig dabei unterstützen, unsere Sprache zu lernen, eine
Wohnung und eine Arbeit zu finden, um schließlich hier eine neue
Heimat finden zu können.
2. Fluchtursachen bekämpfen
Die beste Flüchtlingspolitik ist und bleibt diejenige, die Menschen
davor bewahrt, ihre Heimat verlassen zu müssen. Eine Politik, die
daran arbeitet, die strukturellen Ursachen der Zerstörung von Le
bensgrundlagen langfristig zu beheben. In der globalisierten Welt
hilft es dabei wenig, wenn alle mit dem Finger auf die anderen zei
gen. Fluchtursachenbekämpfung heißt deshalb für uns GRÜNE zu
nächst, nach der eigenen Verantwortung zu fragen.
Wir in Europa exportieren Rüstungsgüter in Krisengebiete, über
fischen die Weltmeere und nehmen in Kauf, dass unsere Agrarex
porte andernorts die Existenzgrundlage von Bäuerinnen und Bau
ern zerstören. Die Ursachen von Flucht und Vertreibung lassen sich
weder mit höheren Zäunen noch mit Patrouillenbooten oder durch
Pakte mit Autokraten lösen. Wir GRÜNE setzen uns deshalb für eine
kohärente internationale Politik ein und fordern strukturelle Refor
men in Bereichen wie Handel, Landwirtschaft, Energie, Fischerei,
Außenpolitik und Klimaschutz, wie sie die nachhaltigen Entwick
lungsziele vorgeben. Wir werden die ärmsten Staaten bei der An
passung an Klimaveränderungen entschieden unterstützen. Und
wir brauchen eine faire Handelspolitik. Rüstungsexporte in Krisen
gebiete und an Staaten mit hochproblematischer Menschenrechts
lage werden wir stoppen.
Die EU muss mehr zur Bewältigung der Krisen und Kriege beitra
gen, vorrangig im Rahmen der Vereinten Nationen. Zivile Krisenprä
vention wird daher ein zentrales Feld grüner internationaler Politik
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bleiben. Um Menschen zu helfen, die sich bereits auf den Weg ge
macht haben, muss die deutsche humanitäre Hilfe in einer krisen
haften Zeit wie dieser auf weit über eine Milliarde Euro stabilisiert
werden und UN-Hilfsorganisationen wie das World Food Pro
gramme brauchen zudem eine dem Bedarf entsprechende stabile
Finanzierung. Länder wie Jordanien, Türkei, Pakistan, Libanon,
Äthiopien oder Kenia nehmen weltweit die meisten Flüchtlinge auf.
Die internationale Gemeinschaft darf diese Länder aus humanitären
Gründen nicht im Stich lassen.
3. Für eine menschenrechtliche und solidarische
europäische Flüchtlingspolitik
Alle europäischen Staaten müssen ihrer Verantwortung in Europa
und der EU gerecht werden. Eine menschenrechtliche Flüchtlings
politik muss die Beseitigung von Fluchtursachen, die Schaffung
sicherer und legaler Fluchtwege nach Europa und die Seenotret
tung im Fokus haben.
Wir kämpfen für eine menschenrechtskonforme und rechtsstaat
liche EU-Flüchtlingspolitik, die sich durch einen fairen Zugang zum
Asylverfahren auszeichnet und die Gewährleistungen der Genfer
Flüchtlingskonvention umsetzt. Die Mitgliedstaaten der EU müssen
sich die Verantwortung für schutzsuchende Menschen fair und soli
darisch teilen, damit Staaten an den EU-Außengrenzen wie Italien
und Griechenland entlastet werden. Im Rahmen eines europäischen
Verteilungsmechanismus müssen die familiären Bindungen von
Flüchtlingen, Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikation und Chan
cen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. Wir halten das für
den richtigen Weg für eine schnelle Integration und werden darum
mit den EU-Partnerinnen und Partnern ringen, auch in dem Wissen,
dass das noch ein weiter Weg ist. Dazu gehört, europaweit einheit
liche Asylverfahren mit hohem Schutzstandard zu implementieren.
Der drohenden Aushöhlung menschenrechtlicher Standards bei der
Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems stellen wir
uns entgegen. Das Dublin-System hat von Anfang an nicht richtig
funktioniert. Wir wollen ein neues, solidarisches System, das auf
einer gerechten Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten
basiert.
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Nach unserem Verständnis der europäischen Werte und der Soli
darität ist es Aufgabe aller 27 Mitgliedstaaten, Geflüchteten Schutz
zu gewähren. Bisher ist es ein großes Problem der Flüchtlingspoli
tik, dass sich einige EU-Staaten dieser Solidarität verweigern. Für
dieses Dilemma gibt es kein Patentrezept. Eine vorübergehende
Lösung kann deshalb auch bedeuten, dass sich nur einzelne Staaten
innerhalb der EU im Sinne einer offenen Flüchtlingspolitik koordi
nieren – aber eine dauerhafte Lösung ist das nicht.
Die gegenwärtige Abschottungspolitik der EU und vieler natio
naler Regierungen gegenüber Geflüchteten ist menschenrechtlich
verheerend, beschädigt die europäische Wertegemeinschaft, ver
stärkt nationale Egoismen und bietet in keiner Weise Lösungen für
die Fluchtursachen. EU-Länder, die sich einer aktiven Aufnahme
und den Standards für die Versorgung und die Verfahren der Ge
flüchteten verweigern, müssen die finanziellen Aufwendungen der
anderen Mitgliedstaaten mittragen.
Der Türkei-Deal schirmt Europa nicht nur vor Verantwortung,
sondern Präsident Erdogan auch vor Kritik ab. Die EU hat sich da
durch gegenüber der Türkei erpressbar gemacht und nimmt damit
billigend die dramatische Situation geflüchteter Menschen in der
Türkei in Kauf. Auch wird mit der EU-Türkei-Vereinbarung davon ab
gelenkt, dass Staaten wie Griechenland und Italien nach wie vor
Unterstützung bei der Aufnahme und Versorgung von Asylsuchen
den benötigen. Diesen Türkei-Deal wollen wir beenden. Es ist eine
gesamteuropäische Aufgabe, die Kontrolle an den Außengrenzen si
cherzustellen und damit zu gewährleisten, dass wir wissen, wer im
Land ist. Dabei setzen wir auf eine europäische Grenzkontrolle, die
den gemeinsamen Schutz der Menschenrechte zur Grundlage hat
sowie das Vertrauen in das Schengen-System stärkt. Statt Grenzen
dichtzumachen oder auszulagern, setzen wir auf legale und sichere
Zugangswege, etwa durch Kontingente der EU bei der Aufnahme
von Geflüchteten. Wir werden auf die zügige und bereits beschlos
sene Umverteilung innerhalb Europas drängen. Hier müssen vor
allem die vielen auf der Flucht getrennten Familien im Fokus des
politischen Handelns stehen. Zudem werden wir die humanitäre
Hilfe und finanzielle Unterstützung für Geflüchtete in der Türkei
ausbauen. Dabei werden wir sicherstellen, dass diese Gelder auch
wirklich den flüchtlingssolidarischen NGOs und zivilgesellschaftli
chen Akteur*innen zugutekommen.
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Zudem dürfen durch Aufnahmeprogramme von Flüchtlingen in
Europa das Grundrecht auf Asyl und die Gewährleistungen der Gen
fer Flüchtlingskonvention nicht ausgehöhlt werden. Die Aufnahme
darf nicht auf Flüchtlinge aus bestimmten Weltgegenden be
schränkt werden.
Die falsche Politik des EU-Türkei-Deals darf keine Blaupause für
neue Abkommen mit Staaten in Afrika und dem Nahen Osten sein.
Derzeit bemühen sich die europäischen Regierungen darum, eine
Reihe weiterer solcher Abkommen zu schließen und die Grenzen
damit schon weit vor Europa in Afrika und im Nahen Osten zu schlie
ßen. Die De-facto-Auslagerung der europäischen Außengrenzen
durch Migrationspartnerschaften mit Staaten, in denen Menschen-
und Flüchtlingsrechte nicht gewahrt sind, lehnen wir ebenso ab wie
die Umwidmung entwicklungspolitischer Gelder für menschenrecht
lich problematische Grenzschutzprojekte. Menschenrechtswidrige
Rücknahmeabkommen werden wir zurücknehmen, denn sie sind mit
einer humanitären und modernen Asylpolitik nicht vereinbar.
Wir GRÜNE sind der Überzeugung, dass faire Wirtschaftsbezie
hungen, wirksame Entwicklungszusammenarbeit, Austauschpro
gramme oder zivilgesellschaftliches Engagement ein besseres Mo
dell sind, um mit nordafrikanischen Staaten in Dialogpartnerschaften
zu treten. Auch bei der Rückkehrpolitik gegenüber abgelehnten
Asylbewerber*innen werden wir gemeinsame Lösungen finden.
4. Verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik für Deutschland
Deutschland muss sich weiterhin seiner Verantwortung in der
Flüchtlingspolitik stellen. Die Bundesregierung hat die Entwicklung
hoher Flüchtlingszahlen, insbesondere aus Syrien, viel zu lange
ignoriert und war insbesondere im Jahr 2015 an vielen Stellen über
fordert. Ohne das starke Engagement der Bürgerinnen und Bürger,
von Kommunen und Vereinen wäre die Aufnahme der vielen Ge
flüchteten nicht möglich gewesen.
In den letzten zwei Jahren hat die Regierung das Asylrecht mas
siv verschärft. Dazu gehört neben der Beschneidung sozialer Rechte
zum Beispiel auch, dass nun kranke Menschen leichter abgeschoben
werden können und Abschiebungen ohne Ankündigung möglich
sind. Das führt dazu, dass junge Menschen selbst aus der Schule zur
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Abschiebung abgeholt werden. Wir lehnen diese Asylrechtsver
schärfungen ab und wollen sie im Sinne einer humanen und men
schenrechtlichen Flüchtlingspolitik korrigieren. Der Regierungspo
litik liegt der Irrglaube zugrunde, dass ein unattraktives Asylrecht
Flucht verhindert.
Wir GRÜNE halten die betriebene Ausweitung der angeblich „si
cheren Herkunftsstaaten“ für falsch. Mit der Bestimmung „sicherer
Herkunftsstaaten“ gehen für die Betroffenen erhebliche Beschrän
kungen von Verfahrensrechten, sozialen und wirtschaftlichen Rech
ten einher. Wir lehnen das Konzept „sichere Herkunftsstaaten“
deshalb ab und werden im Bund an unserer Position gegen eine
weitere Ausweitung festhalten. Wir wenden uns auch gegen die
Ausweitung und Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats.
Unsichere Staaten lassen sich nicht per Gesetz für „sicher“ erklären.
Gerade für Minderheiten wie Roma, LSBTIQ*, aber auch Frauen,
Oppositionelle, Journalist*innen oder die Verteidiger*innen von
Menschenrechten sind viele Länder oft nicht sicher.
Wir GRÜNE stehen für die uneingeschränkte Bewahrung des
individuellen Grund- und Menschenrechts auf Asyl, das entspricht
unserer Verantwortung in einer globalisierten Welt und ist für uns
ein Gebot des Völkerrechts und der Menschlichkeit. Mit uns wird es
deshalb keine Obergrenze geben.
5. Faire und rasche Verfahren
Die schnelle, qualitativ hochwertige Bearbeitung von Asylanträgen
durch das BAMF ist und bleibt von zentraler Bedeutung. Alle Schutz
suchenden müssen möglichst schnell wissen, ob sie in Deutschland
bleiben, ihre Familien zu sich holen und sich ein Leben aufbauen
können. Wir wollen Asylverfahren künftig zügiger binnen weniger
Wochen durchführen, damit lange Wartezeiten für Asylsuchende
ein Ende haben. Dafür haben wir ein Fast-&-Fair-Verfahren vorge
schlagen. Um die Verfahren qualitativ weiterzuentwickeln, setzen
wir darauf, dass verpflichtend unabhängige Rechtsberatung von An
fang an stattfindet.
Asylbewerberinnen und Asylbewerber, deren Anträge im Bun
desamt für Migration und Flucht länger als ein Jahr im Verfahren
sind, sogenannte Altfälle, sollen künftig eine Aufenthaltserlaubnis
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bekommen. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass in asyl- und
aufenthaltsrechtlichen Verfahren das Kindeswohl vorrangig be
rücksichtigt und kinderbezogene Fluchtgründe stärker anerkannt
werden. Familientrennungen im Rahmen von Abschiebungen wol
len wir verhindern. Denn gerade die Lebenssituation der Kinder ist
es, die Familien oftmals veranlasst, ihrer Heimat den Rücken zu
kehren.
Auch geschlechtsspezifische Fluchtgründe, wie zum Beispiel Ge
nitalverstümmelung, geschlechtliche Identität oder sexuelle Orien
tierung, müssen im Asylverfahren stärker berücksichtigt werden.
Zentral ist für uns auch die sichere Unterbringung für Frauen, Kin
der und LSBTIQ*, deren unbedingter Schutz vor jeder Form von Ge
walt sichergestellt werden muss.
6. Die Integration von Geflüchteten braucht gute Strukturen
Für die Menschen, die hier Zuflucht finden, wollen wir ein Integrati
onsgesetz, das diesen Namen auch verdient. Wir wollen, dass Inte
gration als partizipativer Prozess auf Grundlage der Werte unseres
Grundgesetzes erfolgt und ermöglicht wird. Derzeit entscheidet der
Aufenthaltsstaus beziehungsweise die sogenannte Bleibeperspek
tive über die Integration. Das schließt viele Geflüchtete aus und es
geht wertvolle Zeit verloren. Wir wollen Integrationsangebote von
Anfang an allen Schutzsuchenden öffnen. Dazu braucht es einen
Anspruch auf Teilnahme an gut ausgestatteten Integrationskursen,
angemessen bezahlte Kursleiter*innen, eine möglichst dezentrale
Unterbringung und den Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe,
Bildung und Ausbildung sowie arbeitsmarktpolitischen Maßnah
men. Ausländerbehörde, Jobcenter respektive die Bundesagentur
für Arbeit und das Sozialamt sollen die Neuankommenden aus einer
Hand beraten.
Menschen – insbesondere mit Kriegs- und Gewalterfahrungen –
aufzunehmen, ist eine Herausforderung für Neuankommende und
Einheimische. Jeden Tag leisten viele Haupt- und Ehrenamtliche in
unseren Kommunen Großartiges. Dieses Engagement muss flan
kiert werden von mehr professioneller Hilfe im Bereich psychosozi
aler Betreuung von Flüchtlingen. Wir wollen den Menschen das An
kommen erleichtern und ihnen unabhängig von Nationalität und
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vermeintlicher Bleibeperspektive das Recht auf einen Integrations
kurs geben. Eine wichtige Bedingung für gelingende Integration ist
zudem, anerkannten Flüchtlingen wie auch subsidiär Schutzberech
tigten unbürokratisch den Familiennachzug zu ermöglichen. Der Fa
miliennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten muss sofort wieder
ermöglicht werden, die Visumsverfahren müssen beschleunigt und
entbürokratisiert werden. Denn nur wer seine Familie in Sicherheit
und in seiner Nähe weiß, kann sich auf die neue Heimat mit aller
Kraft einlassen. Wir setzen uns für eine Erleichterung des Nachzugs
minderjähriger Geschwister von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen ein, da diese ebenfalls zur Kernfamilie gehören.
Der grundgesetzlich garantierte, besondere Schutz gilt nicht nur
für deutsche Familien. Geflüchtete werden oft schon allein durch
ihre Wohnsituation ausgegrenzt. Deswegen brauchen wir einen
schnellen Wechsel von Massenunterkünften in Wohnungen und da
für ausreichend bezahlbaren Wohnraum. Der kommt allen zugute,
genauso wie eine Bildungsoffensive für mehr gute Kindertages
stätten und Schulen. Menschen bringen nicht nur ihre Not, sondern
auch ihre Fähigkeiten und ihre Motivation mit, wenn sie bei uns Zu
flucht suchen. Deswegen wollen wir ihre Bildungs- und Berufsab
schlüsse schneller anerkennen und die bürokratischen Hürden bei
der Anerkennung abbauen. Wir wollen einen rechtmäßigen Aufent
halt während und nach der Ausbildung garantieren und die Vor
rangprüfung abschaffen, nach der deutsche Bewerberinnen und Be
werber bei Ausschreibungen bevorzugt werden müssen. Außerdem
wollen wir die Beschränkungen aussetzen, die für Geflüchtete bei
der Leiharbeit gelten. Geflüchtete Frauen können bisher zu wenig an
den Angeboten der Arbeitsmarktintegration teilhaben. Dafür wollen
wir niedrigschwellige Angebote schaffen – sowohl im Bereich der
Sprach- und Integrationskurse als auch bei den Arbeitsagenturen.
Dabei muss ausreichend Kinderbetreuung angeboten werden.
Wir setzen uns zudem für eine realitätstaugliche Bleiberechts
regelung und eine sichere Zukunftsperspektive für geduldete Men
schen ein. Viele geduldete Menschen leben mittlerweile über fünf,
manche sogar über zehn Jahre hier, viele haben eine Familie ge
gründet. Wir werden für diese Menschen endlich eine sichere Pers
pektive schaffen. Dafür brauchen wir neue Bleiberechtsregelungen,
die langjährig in Deutschland lebenden, beispielsweise gedulde
ten Menschen eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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ohne Einschränkungen ermöglichen. Bestehende Bleiberechtsrege
lungen müssen realitätstauglich gestaltet und angewendet wer
den. Die Ausschlussgründe müssen enger gefasst werden. Zählen
muss das aktuelle Verhalten. Jahrelange Benachteiligungen bei In
tegrationsmaßnahmen und erteilte Arbeitsverbote dürfen sich
nicht negativ auswirken. Wir wollen die Voraufenthaltszeiten für
ein Bleiberecht verkürzen und auch die Altersgrenze für gut inte
grierte Jugendliche und Heranwachsende auf 27 Jahre heraufset
zen. Menschen ohne Aufenthaltsstatus sollen Zugang zu Gesund
heit und Bildung erhalten. Wohnsitzauflage und Residenzpflicht
für Geflüchtete müssen wieder fallen. Das integrationsfeindliche
Asylbewerber*innenleistungsgesetz wollen wir abschaffen, die Ge
sundheitskarte für alle Geflüchteten einführen und die Dolmet
scher*innenleistungen bei Gesundheitsbehandlungen sicherstellen.
Die Standards der Kinder- und Jugendhilfe müssen ohne Abstriche
auch für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge gelten. Dafür muss
der Bund den Ländern und Kommunen ausreichend Geld zur Ver
fügung stellen. In den grün regierten Ländern haben wir die Kom
munen nicht alleingelassen, sondern massiv unterstützt. Frauen
und Männer, die sich einer Zwangsverheiratung entziehen wollen,
müssen ein eigenständiges und dauerhaftes Rückkehrrecht nach
Deutschland erhalten.
Welt im Blick
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Leben retten, sichere und legale Fluchtwege schaffen
Es muss sichere und legale Wege für Menschen auf der Flucht vor
Verfolgung, Krieg und Not geben. Menschen sollen nicht länger
auf unsicheren Booten ihr Leben riskieren oder an den Grenzen
Europas in schlecht ausgestatteten Lagern ausharren müssen.
Deswegen treten wir auf europäischer Ebene für ein Seenotret
tungsprogramm ein und werden unterdessen die zivilen, gemein
nützigen Rettungsorganisationen stärken. Zudem wollen wir
großzügige Aufnahmeprogramme schaffen, die Schutzbedür fti
gen nicht nur aus den Anrainerstaaten Syriens die legale Einreise
ermöglichen, sondern auch anderen Geflüchteten, die sich in
lang andauernden prekären Lagen befinden. Baden Württem
berg ist hier mit einem Kontingent für vom IS verfolgte Frauen
und Kinder vorangegangen. Das individuelle Grundrecht auf Asyl
darf nicht angetastet werden. Wir wenden uns gegen seine Aus
höhlung. Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete lehnen
wir ab. Unser Ziel ist ein bundesweiter Abschiebungsstopp nach
Afghanistan.
Familien zusammenführen
Sorge und Angst um die Liebsten sowie jahrelange Trennung
von Familienangehörigen sind oftmals das größte Hindernis, in
einer neuen Heimat anzukommen. Wir wollen deshalb die grau
same und für die Integration hinderliche Aussetzung des Famili
ennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte wieder rückgängig
machen. Außerdem werden wir mehr Personal an den deutschen
Botschaften einsetzen, um die Wartezeiten für Familienange
hörigen-Visa zu verkürzen.
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Integration von Geflüchteten anpacken,
Kommunen besser ausstatten
Viele der Menschen, die bei uns Schutz vor Krieg und Vertrei
bung suchen, können in absehbarer Zeit nicht in ihre Heimat zu
rückkehren. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, ihnen Perspekti
ven zu eröffnen. Die Grundlage dafür sind der schnellstmögliche
Zugang zu Integrations- und Sprachkursen ohne Einschränkung
durch den Aufenthaltsstatus, die Anerkennung von Abschlüssen
und mitgebrachten Kenntnissen sowie eine gute Beratungs
struktur zu Arbeitsmarktzugang und Wohnungssuche. Um Fehler
der Vergangenheit zu vermeiden, wollen wir Ländern und Kom
munen ausreichend Ressourcen zur Verfügung stellen, damit sie
diese Herausforderungen gut bewältigen können. Nur wenn In
tegration von allen Ebenen gleichermaßen getragen wird, kann
sie gelingen. Dieser Verantwortung wollen wir gerecht werden.
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V. WIR GESTALTEN UNSER
EINWANDERUNGSLAND
Schon immer hat Ein- und Auswanderung Deutschland geprägt und
verändert, vor Herausforderungen gestellt und uns als Gesellschaft
weitergebracht. In einem Europa der offenen Grenzen und in einer
Welt, die durch Handel und Digitalisierung noch enger zusammen
gerückt ist, ist die Migration ein Teil unserer Realität. Wir wollen
diese Einwanderung vernünftig regeln und die Integration fördern,
um das friedliche Zusammenleben von Menschen mit unterschied
licher Herkunft und Religion zu sichern. Wir empfinden es als Reich
tum, wenn wir in uns selbst, unseren Familien, Nachbarschaften und
den Freundeskreisen unserer Kinder unterschiedlichen Kulturen be
gegnen. Für uns zählt nicht, woher ein Mensch kommt, es zählt, wo
sie oder er hin will. Wir kennen die Vorteile vielfältiger Gesellschaf
ten: Sie entwickeln sich dynamischer und kreativer als solche in Ab
schottung.
Deutschland ist im Wettbewerb um den Zuzug von Fachkräften.
Unser Aufenthaltsrecht ist nicht darauf eingestellt, die Folgen des
demografischen Wandels durch die Einwanderung von Arbeitskräf
ten zumindest abzumildern. Unser Einwanderungsrecht ist kompli
ziert, unübersichtlich und überholt.
1. Ein modernes Einwanderungsrecht für ein modernes
Einwanderungsland
Wir GRÜNE haben einen Vorschlag vorgelegt, um das Einwande
rungsrecht zu liberalisieren und zu entbürokratisieren, ohne die
nachhaltige Entwicklung in anderen Ländern zu gefährden. Fachkräf
te, deren Ideen und Motivation unser Land dringend braucht, sollen
einfacher als bisher einen Arbeitsplatz in Deutschland suchen kön
nen. Wir werden Deutschland attraktiv machen für ausländische
Studierende und Menschen, die in Deutschland eine berufliche Aus
bildung absolvieren oder sich bei uns beruflich nachqualifizieren
möchten.
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Grüne Migrationspolitik ist emanzipatorisch. Wir sehen Migrati
on als Chance an, wenn sie richtig gestaltet wird. Darum müssen wir
die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Migrant*innen bei
uns erworbene Fähigkeiten auch wieder in ihren Herkunftsländern
anwenden können, sodass es nicht zu einem Braindrain kommt. Hier
lebenden Migrantinnen und Migranten soll es möglich sein, sich
länger im Ausland aufzuhalten, etwa aus beruflichen Gründen oder
um sich im Herkunftsland zu engagieren, ohne ihren deutschen Auf
enthaltstitel zu verlieren. Asylsuchende und Geduldete sollen ihren
aufenthaltsrechtlichen Status ändern können, wenn sie die entspre
chenden Voraussetzungen erfüllen (Statuswechsel). Es macht keinen
Sinn, von ihnen – wie es heute der Fall ist – zu verlangen, dass sie
dafür zunächst im Herkunftsstaat ein Visumverfahren nachholen. Das
ist eine zeitgemäße Einwanderungspolitik.
Wir wollen, dass ein Einwanderungsgesetz durch die Einrichtung
eines eigenständigen Einwanderungs- und Integrationsministeriums
flankiert wird, in dem alle migrations , flüchtlings , integrations und
staatsangehörigkeitsrechtlichen Abteilungen zusammengefasst wer
den. Dies hat sich in grün mitregierten Bundesländern bewährt.
2. Mehr Integration wagen
Integration stellt sowohl Anforderungen an die, die zu uns kommen,
als auch an alle, die schon länger hier leben. Integration ist ein
wechselseitiger Prozess, der von allen Beteiligten die Bereitschaft,
in unserer Gesellschaft zusammenzuleben, abverlangt. Dabei sind
die Werte des Grundgesetzes Grundlage für das Zusammenleben in
unserem Land, nicht eine diffuse „Leitkultur“. Für die, die zu uns
kommen, bedeutet Integration den Erwerb der deutschen Sprache,
einen Zugang zu guter Bildung, zum Arbeitsmarkt, zum Wohnungs
markt, zum politischen Leben, perspektivisch den Erwerb der deut
schen Staatsangehörigkeit sowie die Teilhabe an der demokrati
schen Wertegemeinschaft. Dies kann nur gelingen, wenn wir
strukturelle Hürden und Diskriminierung abbauen und Akzeptanz
fördern.
Wir GRÜNE setzen uns dafür ein, dass alle Menschen, die nach
Deutschland kommen, Anspruch auf Teilnahme an Integrations
angeboten erhalten, und wollen dafür auch zivilgesellschaftliche
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Initiativen besser unterstützen. Wir wollen Einwanderinnen und
Einwanderern attraktive Rahmenbedingungen anbieten, denn nur
dann werden sie und ihre Familien sich für eine Zukunft in Deutsch
land entscheiden. Nur wer einen sicheren Aufenthaltsstatus hat,
findet die nötige Sicherheit, sich bei uns niederzulassen und sich ins
politische und soziale Leben einzubringen. Wir werden für eine qua
litativ hochwertige Sprachförderung sorgen, die das Ziel einer zeit
nahen Eingliederung in den Arbeitsmarkt verfolgt.
Um gerade Frauen eine eigenständige Existenzsicherung zu
ermöglichen, wollen wir ihren Anforderungen zum Beispiel durch
eine gesicherte Betreuung ihrer Kinder Rechnung tragen. Wir wollen
unbürokratische Möglichkeiten für den Mit- beziehungsweise den
Nachzug von Familienangehörigen einführen sowie den Nachweis
von Deutschkenntnissen vor der Einreise abschaffen.
Das Bildungssystem werden wir so durchlässig gestalten, dass wir
auch gegenüber Migrantinnen und Migranten das Versprechen eines
sozialen Aufstiegs über gute Bildung einhalten können. Wir werden
die Bildungs- und Berufsabschlüsse schneller und großzügiger aner
kennen und ein verlässliches Bleiberecht während und nach der Aus
bildung schaffen.
Menschen, die sich ohne Papiere in Deutschland aufhalten, wol
len wir den Zugang zu den sozialen Rechten verschaffen. Verstöße
gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften wollen wir entkriminali
sieren, da das Strafrecht zur Sanktionierung von administrativem
Fehlverhalten nicht geeignet ist.
Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Re
ligion und Kultur verlangt allen Anpassungsleistungen ab. Das Band,
das eine Gesellschaft der Vielfalt eint und zusammenhält, sind un
ser Grundgesetz und die Akzeptanz von Grund- und Menschenrech
ten. In unserem gemeinsamen Land gilt das für alle, egal ob sie aus
Dresden oder aus Damaskus kommen.
3. Mehr Demokratie für die Einwanderungsgesellschaft
Wir wollen, dass aus Ausländern möglichst bald Inländer mit glei
chen Rechten und Pflichten werden. Wir setzen uns für ein liberales
Staatsbürgerschaftsrecht ein, das nicht nur schnelle Einbürgerun
gen, sondern auch das sogenannte Geburtsrecht sowie die Mehr
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staatigkeit ermöglicht. Wer in Deutschland geboren wird, ist für uns
deutsch, wenn ein Elternteil einen legalen Aufenthaltstitel besitzt.
Wir wollen die willkürliche Regelung, sich zwischen zwei Pässen
entscheiden zu müssen, gänzlich abschaffen und das Verbot der
Mehrstaatigkeit aus dem Staatsangehörigkeitengesetz streichen.
Einwanderinnen und Einwanderer sollen möglichst schnell und
möglichst gleichberechtigt am wirtschaftlichen, am kulturellen, am
gesellschaftlichen und am politischen Leben teilhaben können. Wir
halten es daher für sinnvoll, dass auch Staatsangehörige eines Lan
des außerhalb der Europäischen Union (Drittstaat) mit ständigem
Wohnsitz in Deutschland an kommunalen Wahlen teilnehmen kön
nen. Darüber hinaus setzen wir uns für weitere demokratische Par
tizipationsmöglichkeiten für Menschen mit ständigem Wohnsitz in
Deutschland ein.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Ein Einwanderungsland braucht ein Einwanderungsgesetz
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deshalb werden wir ein
Einwanderungsgesetz vorlegen. Fachkräften ermöglichen wir
ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche und schaffen dafür eine
Einwanderungsquote mit Punktesystem. Auch ein möglicher
Spurwechsel zwischen Asyl- und Einwanderungsrecht hilft da
bei, Fachkräfte zu gewinnen. So können Asylbewerber*innen
bei entsprechender Qualifikation eine Arbeitserlaubnis erhalten.
Wir wollen bestehende Berufsabschlüsse besser anerkennen
und die Arbeitsaufnahme in Deutschland erleichtern.
Hier geboren, hier zu Hause – für ein modernes Staats
bürgerschaftsrecht
Ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht muss den Realitäten
einer globalisierten Welt gerecht werden. Deshalb wollen wir
den Erwerb der Staatsangehörigkeit nach dem Geburtsortprin
zip verwirklichen. Wer in Deutschland geboren wird, ist deutsch,
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wenn sich ein Elternteil hier legal aufhält. Alle, die auch eine an
dere Staatsangehörigkeit besitzen, müssen sich nicht mehr zwi
schen der einen oder der anderen entscheiden. Wir wollen Ein
bürgerungen erleichtern. Alle Menschen, die ein dauerhaftes
Aufenthaltsrecht und ausreichende Deutschkenntnisse haben,
sollen schneller einen Anspruch auf die deutsche Staatsangehö
rigkeit haben.
Einwanderinnen und Einwanderern eine Stimme geben
Demokratie und Beteiligung müssen in einem Einwanderungs
land entlang der Vielfalt der Menschen organisiert werden. Mehr
Demokratie heißt für uns auch, dass mehr Menschen mitmachen
und sich beteiligen dürfen. So wollen wir das kommunale Wahl
recht nach dem Wohnortprinzip regeln und nicht nach der
Staatsbürger*innenschaft. Dann können auch diejenigen an
kommunalen Wahlen teilnehmen, die keinen deutschen oder EU-
Pass, aber ihren ständigen Wohnsitz hier haben. Menschen, die
hier leben, sollen auch mitbestimmen, wie wir zusammenleben.
Freiheit im Herzen
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D. FREIHEIT
IM HERZEN
In den letzten Jahrzehnten wurde unsere Gesellschaft offener und
vielfältiger. Das hat ihr gutgetan. Die Vielfalt ist ein Reichtum, der un
ser Land lebendig macht und wachsen lässt. Gerade aus der Zivilge
sellschaft heraus wurden wichtige Fortschritte erkämpft. Trotzdem
gibt es noch viel zu tun auf dem Weg hin zu einer modernen und of
fenen Gesellschaft, die allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben
ermöglicht. Dafür ist Freiheit eine wesentliche Voraussetzung für
eine lebenswerte wie sichere Gesellschaft. Denn weil die Menschen
auf einen Rechtsstaat vertrauen können, der ihre Grundrechte vertei
digt und Schutz bietet, können sie sich tatsächlich auch frei und si
cher fühlen in dem, was sie tagtäglich sagen oder tun.
Leider werden gerade auch die bisher erreichten Errungenschaf
ten infrage gestellt. Islamist*innen und Rechtsextremist*innen grei
fen sie mit terroristischen Anschlägen an. Rechtsnationale spalten
die Menschen in ein völkisches „die“ und „wir“. Sie wollen zurück ins
gesellschaftliche Vorgestern. Durch die sozialen Medien rollen Wel
len von Hass und Hetze. Dagegen setzen wir GRÜNE: keine Toleranz
gegenüber der Intoleranz! Wir kämpfen für Vielfalt, Offenheit und ein
friedliches Zusammenleben. Wir setzen uns für Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit ein. Denn nur ein starker, demokratischer Rechts
staat gewährt Sicherheit und schützt die Freiheit.
Deutschland 2017 gründet auf Vielfalt und Gleichberechtigung.
Mit uns gibt es keinen Rückfall in eine Gesellschaft, in der Richterin
nen oder Automechanikerinnen nicht vorgesehen waren und allein
erziehende Eltern schief angeschaut wurden. Kein Zurück in eine Zeit,
in der Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, zu
einem öffentlichen Skandal wurden. Wir wollen, dass allen Mitglie
dern unserer Gesellschaft, egal welchen Geschlechts, die Wahrneh
mung ihrer Freiheits- und Bürger*innenrechte möglich ist. Wir vertei
digen unsere Demokratie und die offene Gesellschaft gegen ihre
Feind*innen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit reicht bis in
die Mitte der Gesellschaft. Ihr sagen wir weiterhin den Kampf an.
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Wir dulden keinen Hass, keine LSBTIQ*-Feindlichkeit, keinen Se
xismus, keinen Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischen Rassis
mus, oder Antiziganismus. Wir kämpfen weiter gegen Diskriminie
rung und werden Freiheiten weiter ausbauen und die Gleichstellung
vorantreiben. Denn immer noch wird heute einigen Menschen
das Recht abgesprochen, gleichberechtigt dazuzugehören. Freiheit,
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung für alle Menschen sind
die Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Jede*r Einzelne sollte
sich nach eigenen Wünschen und Fähigkeiten entfalten und an der
Gesellschaft teilhaben können – dieser Anspruch ist in unserer urgrü
nen DNA verankert.
Deutschland ist ein sicheres Land. Wir wollen, dass das so bleibt.
Wo Bedrohungslagen sich wandeln, reagieren wir mit einer Sicher
heitspolitik, die wirksam neue Bedrohungen abwehrt, indem sie gel
tendes Recht effizient anwendet – statt mit Symbolpolitik. Wir stat
ten Gerichte, Polizei und Sicherheitsbehörden besser aus – mit mehr
Personal, einer guten Aus- und Weiterbildung und zeitgemäßer Tech
nik. Fehlerquellen und unverhältnismäßige Einschränkungen von
Bürger*innenrechten werden wir identifizieren und abstellen, Geset
ze ändern wir dort, wo sie lückenhaft sind, nicht auf Verdacht. Unser
Ziel ist ein öffentlicher Raum, in dem sich alle unbefangen und ohne
Angst bewegen können. Wir sind überzeugt, dass ein starker, demo
kratischer Rechtsstaat gleichzeitig Bedrohungen effektiv abwehren,
Grundrechte schützen und unsere Freiheit bewahren kann.
Wir wollen Humanität und Zusammenhalt stärken im Wissen, dass
zu einer Demokratie der Kompromiss genauso gehört wie der Res
pekt voreinander. Unser Leitbild sind das Grundgesetz, die EU-Charta
der Grundrechte und die Charta der Vereinten Nationen. Menschen
würde und die persönliche Freiheit des anderen zu achten, gleiche
Rechte für alle, unabhängig vom Geschlecht, sowie Religionsfreiheit
inklusive Religionskritik sind Fundamente unserer Demokratie. Die
Rechte unseres Grundgesetzes gelten für alle gleichermaßen, ohne
Einschränkung oder Relativierung. Sie zu schützen, ist unsere Ver
pflichtung und eine Lehre aus den dunkelsten Kapiteln der deutschen
Geschichte.
Demokratie lebt von Vertrauen. Vertrauen in diejenigen, die die
Bürgerinnen und Bürger im Parlament vertreten, sowie Vertrauen in
die demokratischen Institutionen. Wir wollen das Vertrauen in die
politische Kultur in Deutschland, Europa und der Welt stärken und
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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-zurückgewinnen. Wir stehen ein für faire Debatten, einen respektvol
len Wettstreit um die besten Wege und eine erfolgreiche Suche nach
Kompromissen.
Freiheit im Herzen
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 119
I. WIR STREITEN FÜR
AKZEPTANZ UND RESPEKT,
FÜR VIELFALT UND
SELBSTBESTIMMUNG
Unsere Gesellschaft ist in stetigem Wandel. In unseren Dörfern und
Städten, am Arbeitsplatz, in Schule und Sportvereinen begegnen
sich Menschen mit und ohne Glauben, verschiedenen Geschlech
tern, sozialen Herkünften und Hautfarben, sexuellen Orientierun
gen, mit und ohne Zuwanderungsgeschichten. Diese Vielfalt berei
chert unser Land. Wir GRÜNE schauen auch hin, wenn echte oder
vermeintliche Unterschiede zu Spannungen und Problemen führen.
Ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt funktioniert nur mit
Rechten und Pflichten, die für alle gleichermaßen gelten, und einer
klaren Positionierung gegen jede Form von Diskriminierung und
Menschenfeindlichkeit. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, die uns
allen etwas abverlangt und von der wir alle profitieren.
Menschenfeindliche Ideologien verhindern Integration und
gefährden den gesellschaftlichen Frieden – egal ob sie Rassismus,
Sexismus, Islamismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Islam
feindlichkeit, Antiziganismus oder LSBTIQ*-Feindlichkeit heißen.
Solchen Angriffen stellen wir GRÜNE uns mit aller Entschlossenheit
entgegen. Die gesellschaftliche Vielfalt ist Fakt, sie zu leugnen, ist
Ideologie. Im Wissen um die Verbrechen der Nazizeit stehen wir
GRÜNE für eine Gesellschaft, in der jede*r sicher und selbstbe
stimmt leben kann und die individuelle Freiheit sowie die persönli
che Identität geschützt sind, online wie offline. Sie erfahren erst
dort eine Grenze, wo die individuelle Freiheit anderer eingeschränkt
wird. Unser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft, die in ihrer Vielfalt
zusammenhält und die Menschen vor Diskriminierung schützt. In
der alle Menschen die gleichen Rechte und Pflichten haben, in der
alle am sozialen und demokratischen Leben gleichberechtigt teil
haben können.
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In einer offenen Gesellschaft müssen Konflikte friedlich und de
mokratisch ausgetragen werden. Deshalb wollen wir das Wissen
über Demokratie in unseren Bildungseinrichtungen stärken. Wir för
dern, dass sich in Sportvereinen, Museen, Theatern oder Behörden
gesellschaftliche Vielfalt abbildet. Im Alltag kommt es immer noch
oft zu Benachteiligungen gegenüber einzelnen Gruppen und Perso
nen. Wir wollen daher das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
(AGG) reformieren und ein Verbandsklagerecht einführen. Außer
dem muss Deutschland endlich die Blockadehaltung zur 5. Antidis
kriminierungsrichtlinie der EU aufgeben. Roma und Sinti sind seit
Jahrhunderten in vielen Ländern Europas ganz besonders rassisti
schen Anfeindungen und Ausgrenzungen ausgesetzt – auch bei uns
in Deutschland. Es wird Zeit, dass wir uns als Gesellschaft mit der
Situation von Sinti und Roma ehrlich und institutionell auseinan
dersetzen. Wir werden die Diskriminierung von Roma in der deut
schen Asylverfahrenspraxis beenden. Der Antiziganismus in den
Herkunftsländern wird in den Verfahren nicht angemessen berück
sichtigt. Auf deutscher wie europäischer Ebene setzen wir uns dafür
ein, die Situation der Roma nachhaltig zu verbessern. Wir wollen die
Beteiligung der Sinti und Roma an der Politikgestaltung in Deutsch
land sicherstellen. Wie das funktionieren kann, hat das grün re
gie rte Baden-Württemberg mit dem Rat für die Angelegenheiten
der Sinti und Roma gezeigt. Um die über Jahrzehnte andauernde
Bildungsbenachteiligung zu überwinden, wollen wir eine gezielte
Bildungsförderung. Dazu gehört auch ein neues Museum der Ge
schichte und Kulturen der Sinti und Roma in Deutschland.
1. Ein klarer Rahmen für das friedliche Zusammenleben
von Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen
und Religionen
Eine vielfältige, offene Gesellschaft baut auf die Grundrechte des
Grundgesetzes. Sie halten unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt zu
sammen und sichern das friedliche Zusammenleben. Dazu gehört,
dass Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, Kultur, Religion und
Weltanschauung selbstbestimmt leben und sich gegenseitig res
pektieren. Das gilt sowohl für diejenigen, die neu dazukommen, als
auch für diejenigen, die schon lange hier leben.
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Alle Menschen müssen die Freiheit haben, ihren Glauben zu le
ben oder abzulegen, keinen Glauben zu haben oder gemeinsam ei
nen Glauben zu pflegen – seien sie jüdisch oder christlich, musli
misch oder alevitisch, Humanist*innen, Atheist*innen oder frei von
religiös-weltanschaulichem Bekenntnis. Die Diskriminierung von
Andersgläubigen dulden wir genauso wenig wie die von vermeint
lich liberaleren Anhänger*innen der eigenen Religion. Wir wollen
den Dialog zwischen den Religionen und auch denen, die religions
frei sind, fördern und damit das gegenseitige Verständnis füreinan
der voranbringen. Religiöse Lehren, Praktiken und Traditionen dür
fen kritisiert werden, auch in der Kunst. Die Zahl der Menschen
ohne organisierte religiöse Bindung ist gestiegen. Nicht nur ihnen,
auch der wachsenden Vielfalt der Bekenntnisse in Deutschland
wollen wir gerecht werden, etwa in der Wohlfahrtspflege oder der
öffentlichen Gedenk- und Trauerkultur. Die historischen Staatsleis
tungen an die beiden großen christlichen Kirchen wollen wir end
lich ablösen. Die Kirchenfinanzen sollen transparenter werden und
den aktuellen Kirchensteuereinzug wollen wir so reformieren, dass
Gleichbehandlung und Datenschutz gewährleistet sind.
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften können eine
wichtige Stütze einer lebendigen Demokratie sein. Viele Menschen
engagieren sich aus ihrem Glauben oder ihrer Überzeugung heraus
gemeinsam mit uns für Geflüchtete, eine saubere Umwelt, weltwei
te Gerechtigkeit oder gegen Armut in ihrer Nachbarschaft. Sie leis
ten damit einen wichtigen Beitrag für den gesellschaftlichen Zu
sammenhalt.
Zu Pluralität und Demokratie gehört, dass sie sich Kritik und
dem öffentlichen Diskurs stellen, eigene Ansichten nicht verabso
lutieren und insofern nicht fundamentalistisch agieren. Der „öffent
liche Friede“ wird nicht durch kritische Kunst bedroht, sondern
durch religiöse und politische Fanatiker*innen, denen es an Kri
tikfähigkeit oder Respekt vor Anderen fehlt. Deswegen wollen wir
§ 166 Strafgesetzbuch (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religi
onsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen) streichen.
Egal wie wichtig es dem Einzelnen ist und um welches religiöse Be
kenntnis es geht: Kein heiliges Buch steht über dem Grundgesetz
und den Menschenrechten. Das bedeutet: Bürger*innen können
selbstverständlich ihre Wertüberzeugungen aus eigenen Quellen
ableiten. Auch religiöse Haltungen können Basis demokratischen
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Bewusstseins und politischen Handelns sein. Für uns ist wichtig, dass
das Grundgesetz uneingeschränkt gilt. Antidemokratischen Einstellun
gen und Fanatismus stellen wir uns entschieden entgegen.
Für uns GRÜNE gehört auch der Islam zu Deutschland, wie alle
anderen Religionen und Weltanschauungen. Wir verteidigen die
Religionsfreiheit der Muslime, und wir gehen nicht leichtfertig mit
islamischen politischen Organisationen um. Wir wollen islamische
Gemeinschaften, die ihren Glauben als Teil der offenen Gesellschaft
leben, mit Imam*innen und islamischen Religionslehrer*innen, die
an deutschen Hochschulen unter Wahrung der Freiheit der Wissen
schaft, wie bei anderen Theologien auch, ausgebildet worden sind
und die auch auf Deutsch predigen können. Islamische Gemein
schaften können und sollen als Religionsgemeinschaften im Sinne
des Grundgesetzes anerkannt werden, wenn sie die rechtlichen
Voraussetzungen dafür erfüllen. Sie können dann auch den Körper
schaftsstatus erlangen und gegenüber den Kirchen gleichbe
rechtigt werden. Die vier großen muslimischen Verbände DİTİB,
Islamrat, Zentralrat der Muslime, VIKZ erfüllen aus grüner Sicht
derzeit nicht die vom Grundgesetz geforderten Voraussetzungen.
Sie sind religiöse Vereine. Ihre Identität und Abgrenzung unterei
nander ist nicht durch Unterschiede im religiösen Bekenntnis be
gründet, sondern politischen und sprachlichen Identitäten aus den
Herkunftsländern und der Migrationsgeschichte geschuldet. Wenn
Muslim*innen sich bekenntnisförmig neu organisieren, würde das
aus ihren Organisationen keine Kirchen, aber islamische Glaubens
gemeinschaften in Deutschland machen, mit Anspruch auf recht
liche Gleichstellung. Dann wäre der Islam in Deutschland auch an
gekommen. Inakzeptabel ist es jedoch, dass Verbände aus dem
Ausland gesteuert und zu politischen Zwecken bis hin zu Spitzel-
tätigkeiten genutzt werden. Vor diesem Hintergrund ist besonders
wichtig, dass die Kooperationen zwischen Verbänden, muslimi
schen Gemeinschaften und dem Staat einen regelmäßigen Aus
tausch vorsehen – mit dem Ziel, dass die Verbände unabhängige,
inländische Strukturen entwickeln, die sich langfristig selbst tragen
können.
Der säkulare Staat muss den Religions- und Weltanschauungs
gemeinschaften gegenüber neutral sein und darf sich keine Reli
gion oder Weltanschauung zu eigen machen. Jede*r muss sich auf
diese Neutralität verlassen können.
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2. Endlich gleiche Rechte für Lesben, Schwule, Bisexuelle,
trans*, inter* und queere Menschen (LSBTIQ*)
Die eingetragene Lebenspartnerschaft hat die Akzeptanz von Les
ben und Schwulen deutlich gestärkt, sie aber rechtlich nicht gleich
gestellt. Deutschland ist hier der Zeit hinterher. Wir GRÜNE wollen
die Ehe endlich für alle öffnen und gleichgeschlechtlichen Paaren
die Adoption ermöglichen. Mit uns wird es keinen Koalitionsvertrag
ohne die Ehe für Alle geben. Zu einer modernen und innovativen
Familienpolitik gehört für uns aber auch, Menschen zu unterstüt
zen, die jenseits von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft
verbindlich und solidarisch zusammenleben. Kinder aus allen Fami
lienformen wollen wir gleichbehandeln und unterstützen. Wir wol
len den Schutz vor Diskriminierung im Artikel 3 des Grundgesetzes
um die Merkmale der sexuellen und geschlechtlichen Identität er
gänzen.
Wir wollen das Transsexuellengesetz durch ein Gesetz zur An
erkennung der selbst bestimmten Geschlechtsidentität mit ein
fachen Verfahren zur Änderung des Vornamens und Berichtigung
des Geschlechtseintrags ersetzen. Operationen zur sogenannten
„Geschlechtsanpassung und -zuweisung“ an intergeschlechtlichen
Säuglingen und Kindern wollen wir grundsätzlich verbieten.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN plädieren für eine dritte Option im
Personenstandsrecht. Trans* Menschen dürfen nicht pathologisiert
werden. Deshalb setzen wir uns national wie international dafür
ein, dass sie nicht mehr als psychisch krank klassifiziert werden.
Vielmehr muss ihre Gesundheitsversorgung besser gesichert wer
den. Mit einem bundesweiten Aktionsplan für Vielfalt und gegen
Homo-, Bi- und Transfeindlichkeit wollen wir Forschung, Aus- und
Fortbildung bei Polizei, Justiz und anderen staatlichen Akteur*innen
verstärken – insbesondere im Blick auf trans* Kinder und Jugend
liche, auf Prävention und eine sensible Opferhilfe. Bildungs- und
Jugendpolitik soll Menschenrechte und die Vielfalt sexueller Iden
titäten stärker berücksichtigen. Auch für bisexuelle junge Men
schen wollen wir Angebote schaffen, die ihre gesellschaftliche
Situation und persönliche Entwicklung stärken. In den Landesre
gierungen haben wir hier auch gegen Widerstände klare Akzente
gesetzt, zum Beispiel mit den Bildungs- und Aktionsplänen in vie
len Bundesländern.
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In vielen Staaten wird LSBTIQ* das Leben zur Hölle gemacht:
Verfolgung, Unterdrückung, Gewalt und Zensur. Hier muss Deutsch
land klar Position beziehen, Menschenrechtsverteidiger*innen aktiv
stärken und die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen für
die Stärkung der Rechte sexueller Minderheiten weltweit nutzen.
Wir setzen uns für einen zeitgemäßen Umgang mit HIV ein. Das
heißt für uns umfassende Aufklärung und passgenaue Prävention
sowie frühe Diagnose, Therapie und Unterstützung statt Stigmati
sierung und Ausgrenzung. Dazu gehört auch, das Potenzial der
medikamentösen Prophylaxe vor HIV zu nutzen, allgemein PrEP
(Präexpositionsprophylaxe) genannt. Studien über unter anderem
die Folgen des Langzeitgebrauchs, die Resistenzentwicklung und
weitere gesundheitliche Auswirkungen sind notwendig. Wir wollen
den zielgruppengenauen Einsatz und die entsprechende Finanzie
rung prüfen.
Wir werden die Aufarbeitung der Verfolgung und Diskriminierung
von LSBTIQ* in der deutschen Rechts- und Gesellschaftsgeschichte
vorantreiben. Jenseits des Strafrechts wurden auch lesbische Frauen,
Transsexuelle und Transgender im Nationalsozialismus verfolgt und
diskriminiert. Über die derzeitige beschlossene Rehabilitierung und
Entschädigung hinaus fordern wir eine angemessene und ausrei
chende Kollektiventschädigung, die jährlich für Projekte zum Beispiel
im Bereich der LSBTIQ*-Senior*innen zur Verfügung gestellt wird.
Wir wollen zudem die Entschädigung sowie die Wiederherstellung
der Würde aller Opfer erreichen, bevor auch hier der Zeitablauf eine
persönliche Entschuldigung unmöglich macht. Dazu wollen wir einen
Härtefonds einrichten.
3. Selbstbestimmung für alle: Barrierefrei und
gleichberechtigt leben
Wir GRÜNE streiten für eine inklusive Gesellschaft, in der alle Men
schen frei und selbstbestimmt leben und teilhaben können. Wir
wollen eine bunte, vielfältige Gesellschaft, in der es normal ist, ver
schieden zu sein, in der niemand ausgegrenzt wird und alle das Ge
fühl haben: Ich gehöre dazu. Jede*r soll die Unterstützung erhalten,
die jeweils benötigt wird. Uns geht es um Selbstentfaltung und die
Möglichkeit individueller Lebensentwürfe ebenso wie um die gesell
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schaftlichen Voraussetzungen für individuelle Freiheit. Unser Ziel ist
eine inklusive Gesellschaft, die frei von Barrieren sowie frei von Vor
urteilen und Diskriminierung ist. Eine inklusive Gesellschaft trifft
Vorkehrungen und schafft Rahmenbedingungen, damit alle teilhaben
können. Dazu gehört eine barrierefreie Infrastruktur ebenso wie uni
verselle Sicherungssysteme, die effektiv vor Armut schützen.
Für Menschen mit Behinderung ist Inklusion ein Menschenrecht.
Das Bundesteilhabegesetz der Großen Koalition erfüllt diesen An
spruch bislang nicht. Außerdem muss die Bundesregierung ihre
Blockade der horizontalen EU-Gleichbehandlungsrichtlinie endlich
beenden. Menschen mit Behinderungen erleben immer wieder Be
nachteiligungen: Auf dem Bahnhof, wenn Fahrstühle fehlen, wenn
die Kosten für Gebärdensprachdolmetschung nicht übernommen
werden oder bei der Wahl des Wohnortes. Wir wollen das Wunsch
und Wahlrecht durchsetzen und die Bedingungen für den Ausbau
des selbstbestimmten Wohnens mit Assistenz weiter verbessern.
Integrationsunternehmen sollen ausgebaut werden als echte Alter
nativen zu den Werkstätten. Wer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
arbeiten möchte, muss die dafür notwendige Unterstützung erhal
ten. Wir setzen uns für einen barrierefreien öffentlichen Raum ein,
in dem Gebäude, Medien, Produkte, Dienstleistungen und Veran-
staltungen besser zugänglich und nutzbar sind. Hierzu ist es unum-
gänglich, auch für die Privatwirtschaft verbindliche Vorgaben für
die Barrierefreiheit zu formulieren. Die von Bundesrat und Bundes
tag ratifizierte Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen muss endlich auch in Deutsch
land vollständig umgesetzt werden. Dazu gehört auch, die derzeit
noch bestehenden Einschränkungen beim Wahlrecht abzuschaffen.
4. Für eine Drogenpolitik, die auf Prävention, Jugendschutz
und Selbstbestimmung setzt
Der Krieg gegen Drogen ist gescheitert. Kriminalisierung und Re
pression sind keine erfolgreichen Mittel gegen den Missbrauch von
Drogen. Viele Menschen leiden unter den Folgen dieser Politik. Wir
wollen einen Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik und setzen
dabei auf Prävention, Hilfe, Schadensminderung, Entkriminalisie
rung und Forschung. Ziel ist es, das Selbstbestimmungsrecht der
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Menschen zu achten und gesundheitliche Risiken zu minimieren.
Wir fordern langfristig eine an den tatsächlichen gesundheitlichen
Risiken orientierte Regulierung von Drogen. Zudem soll intensiver
auf die Gefahren von Tabak und Alkohol hingewiesen werden. Wer
bung für Nikotin lehnen wir ab. Die Kriminalisierung von Drogen
konsument*innen muss beendet werden. Wer abhängig ist, braucht
Hilfe und keine Strafverfolgung. Wir wollen die zielgruppen
spezifischen und niederschwelligen Angebote in der Drogen und
Suchthilfe stärken. Gefährdungen wollen wir durch risikominimie
rende Maßnahmen, wie Spritzentauschprogramme, Drogenkon
sumräume und Substanzanalysen (Drug Checking), entgegentreten.
Dazu gehört auch die menschenwürdige Behandlung von Schwerstab
hängigen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die ideologiegeleitete Verbotstradition des Konsums von Can
nabis verursacht mehr Probleme, als sie bekämpft. Statt sinnfreier
Strafverfolgung, die zudem viele Millionen Euro kostet, setzen wir
auf Prävention für Kinder und Jugendliche, eine Stärkung der Sucht
hilfe für Abhängige und eine strenge Regulierung von Cannabis für
Erwachsene. Unser Cannabiskontrollgesetz weist den Weg, wie in
dividuelle Freiheit für Erwachsene und strikter Jugendschutz in eine
ausgewogene Balance gebracht werden können. Wir wollen einen
Jugendschutz mit strengen Kontrollen, mehr Prävention und die
Vermeidung von Gesundheitsrisiken für erwachsene Konsumenten
durch Regulierung und Kontrolle der Qualität.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Gleiche Rechte für gleiche Liebe – jetzt Ehe für Alle öffnen!
Ohne die volle Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren
bleibt jedes Reden über Akzeptanz heiße Luft. Für uns GRÜNE war
es ein großer Erfolg, die eingetragene Lebenspartnerschaft einzu
führen, aber noch sind wir nicht am Ziel. Noch immer bestehen
Diskriminierungen. Wir wollen diese Ungleichbehandlung gleich
geschlechtlicher Partnerschaften beenden und – längst über
fällig – die Ehe für Alle öffnen und auch gleichgeschlechtlichen
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Paaren die gemeinschaftliche Adoption ermöglichen. Gleiche
Liebe verdient gleichen Respekt und gleiche Rechte.
Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes
Leben ermöglichen
Wir wollen die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde
rung stärken. Dafür werden wir die VN-Behindertenrechtskon
vention konsequent umsetzen. Wir wollen, dass es keine Sonder
welten gibt, sondern Menschen mit Behinderung uneingeschränkt
teilhaben können am Leben in der Gesellschaft. Menschen mit
Behinderung sollen frei darüber entscheiden können, wo und
wie sie wohnen. Auch darüber, welche Assistenz, Pflege oder pä
dagogische Unterstützung sie möchten. Wir unterstützen Men
schen mit Behinderung entschieden bei Bildung, Ausbildung und
Arbeit. Statt Werkstätten für Menschen mit Behinderung auszu
bauen, werden wir ihre Öffnung zum allgemeinen Arbeitsmarkt
über das Budget für Arbeit, Unterstützte Beschäftigung und In
tegrationsbetriebe fördern.
Klare Regeln schaffen statt kriminalisieren –
Cannabiskontrollgesetz einführen
Für Anbau, Handel und Abgabe von Cannabis wollen wir ein klar
geregeltes und kontrolliertes System schaffen. Dabei greifen –
im Gegensatz zu heute – Verbraucher*innen- und Jugendschutz
sowie Suchtprävention. Inhaltsstoffe sollen zukünftig über
wacht und Altersbeschränkungen eingehalten werden. Der Ver
kauf von Cannabis soll unter strenger Wahrung des Jugendschut
zes durch lizenzierte und geschulte private Verkäufer*innen
erfolgen. So trocknen wir den Schwarzmarkt aus. Das entlastet
Strafverfolgungsbehörden von zeitraubenden, kostspieligen
und ineffektiven Massenverfahren. Therapie-, Präventions- und
Hilfsangebote wollen wir bedarfsgerecht ausbauen. Auch dafür
wollen wir Erträge aus der Cannabissteuer einsetzen.
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II. WIR STEHEN EIN FÜR
SELBSTBESTIMMUNG UND
GLEICHBERECHTIGUNG
Die Hälfte der Macht den Frauen, das ist seit unserer Gründung un
ser Anspruch. Unsere Parteigeschichte ist geprägt vom Feminismus
und von Frauen, die ihre Rechte durchsetzen – mit den Männern
wenn möglich, gegen sie wenn nötig. Wir haben Themen in den
Bundestag getragen, die zunächst verlacht und dann Jahrzehnte
später doch umgesetzt wurden. Vergewaltigung in der Ehe ist heute
strafbar. Diskriminierung ist verboten. Wir machen immer und über
all feministische Politik. Wir verstehen feministische Politik konse
quent als eigenständiges Politikfeld mit einer Querschnittsaufgabe,
die alle anderen Gesellschaftsbereiche durchdringt. Frauen sind
heute oft sehr gut ausgebildet und beanspruchen selbstbewusst
und selbstverständlich ihren Platz in vielen Bereichen unseres Zu
sammenlebens. Sie haben im Schnitt gleiche oder höhere Bildungs
abschlüsse und Qualifikationen. Wir haben Gesetze, die Hürden ab
bauen und Gleichberechtigung fördern.
Und dennoch glauben wir, dass es heute einen neuen feministi
schen Aufbruch braucht. Die Welle des Rechtsnationalismus, die
über die USA und Europa rollt, richtet sich auch gegen die Freiheit,
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung von Frauen: In den USA
regiert ein Präsident, der aus seiner Frauenverachtung keinen Hehl
macht. In Polen konnte eine weitere Verschärfung des bereits stren
gen Gesetzes gegen Schwangerschaftsabbrüche nur knapp verhin
dert werden. In Deutschland machen Rechtspopulist*innen gegen
Gleichstellung und Gender Mainstreaming mobil und wollen Frauen
wie Männer am liebsten wieder in traditioneller Rollenaufteilung
sehen.
Wir wollen diesen alten und neuen Frauenfeind*innen keinen
Millimeter nachgeben. Wir wollen nicht zurück in eine Gesellschaft,
in der alleinerziehende Mütter schief angeschaut wurden und ande
re über das Leben von Frauen glaubten bestimmen zu können. Wir
wollen stattdessen die noch bestehenden Ungerechtigkeiten besei
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tigen. Wir wollen mehr. Und unsere Gesellschaft kann mehr. Chan
cen, Macht, Geld und Zeit wollen wir endlich gerecht zwischen
Frauen und Männern teilen. Pfleger*innen und Erzieher*innen wer
den schlecht bezahlt, vor allem schlechter als vergleichbare „Män
nerberufe“. Das Dienstleistungsprekariat ist überwiegend weiblich.
Das werden wir ändern, auch wenn es Zeit braucht. Anfangen müs
sen wir jetzt.
Wir wollen, dass Frauen endlich genauso entlohnt werden wie
Männer. Wir wollen Mädchen und Jungen die gleichen Chancen er
öffnen – jenseits von Klischees und starren Geschlechterrollen. Wir
wollen, dass niemand Frauen vorschreibt, wie sie zu leben haben,
was sie werden wollen, wie sie sich kleiden – keine religiösen
Ideolog*innen, kein Staat, keine Patriarchen. Wir treten Gewalt ge
gen Frauen entgegen. Sexistische Bemerkungen, anzügliche Sprü
che, körperliche Belästigung hat fast jede Frau schon erlebt. Das
wollen wir nicht länger akzeptieren.
Wir kämpfen dabei für die Selbstbestimmung von allen Frauen.
Wir wissen, dass es mehrfache Diskriminierungen gibt. Eine Frau
Özlem hat größere Probleme auf dem Arbeitsmarkt als Frau Müller.
Das Verfahren der anonymisierten Bewerbung wollen wir auswei
ten, um solche Diskriminierungen zu vermeiden. Wir wollen, dass es
jeder Frau möglich ist, so zu leben, wie sie es möchte. Wir wenden
uns gegen alle Versuche, Frauenrechte zu missbrauchen, um die
Angst vor zugewanderten Menschen zu schüren oder für rassisti
sche Argumentationen zu instrumentalisieren.
1. Für faire und gerechte Löhne
Uns GRÜNEN geht es darum, dass Frauen und Männer so leben kön
nen, wie sie es wollen. Zu den Voraussetzungen gehört, dass Frauen
am gesellschaftlichen Wohlstand, am Einkommen und Vermögen
gleichberechtigt teilhaben. Es geht um ihre wirtschaftliche Unab
hängigkeit in allen Lebensphasen. Da gibt es in Deutschland noch
einiges zu tun. Mehr Frauen denn je sind berufstätig. Aber viel zu
oft arbeiten sie in Minijobs oder prekärer Beschäftigung. Sie werden
schlechter entlohnt als Männer. Soziale Berufe, in denen über
wiegend Frauen arbeiten, werden nicht angemessen bezahlt. Sie
verdienen mehr Wertschätzung und bessere Arbeitsbedingungen,
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insbesondere durch einen Tarifvertrag „Soziale Dienste“, der dann
für alle gelten soll. Die Renten vieler Frauen sind jetzt schon niedrig
und das wird sich in Zukunft eher noch verschlechtern. Das ist un
gerecht. Und es schadet uns allen. Grüne Frauenpolitik unterstützt
Frauen darin, wirtschaftlich unabhängig zu sein und sich im Job
zu verwirklichen. Denn wer eigenes Geld verdient, kann sein Leben
selbst gestalten.
Wir wollen ein effektives Entgeltgleichheitsgesetz, das auch für
kleine Betriebe gilt. So können Tarifverträge und Vereinbarungen
auf Diskriminierung überprüft werden. Unser Ziel ist es, Minijobs in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umzuwandeln und da
für zu sorgen, dass die Beiträge durch Steuern und Abgaben sowie
soziale Leistungen so aufeinander abgestimmt werden, dass sich
Erwerbsarbeit immer rechnet. Dabei darf die Belastung mit Steuern
und Abgaben nicht sprunghaft steigen. Und wir streiten dafür, Beru
fe, die heute noch meist von Frauen ergriffen werden, beispielswei
se in der Erziehung, in der Pflege oder im Gesundheitssystem, auf
zuwerten und besser zu bezahlen.
Eine große Hürde für die Erwerbstätigkeit von Frauen ist das
Ehegattensplitting. Wir wollen weiterhin anerkennen, dass Paare, sei
es in der Ehe, in einer Lebenspartnerschaft oder einfach zu zweit, in
vielfältiger Weise Verantwortung füreinander übernehmen. Aber das
Ehegattensplitting ist unmodern und bildet die vielen Formen part
nerschaftlichen Zusammenlebens nicht ab. Es ist auch das Ehe
gattensplitting, das finanzielle Anreize setzt für keine oder nur ge
ringfügige Beschäftigung, für kleine Teilzeitjobs mit nur wenigen
Arbeitsstunden; es birgt erhebliche Armutsrisiken in sich. Aus diesen
Gründen werden wir zur individuellen Besteuerung übergehen und
das Ehegattensplitting durch eine gezielte Förderung von Familien
mit Kindern ersetzen. Dabei soll das neue Recht nur für Paare, die
nach der Reform heiraten oder sich verpartnern, gelten. Für Paare,
die bereits verheiratet oder verpartnert sind, ändert sich nichts. Sie
können sich für eine Individualbesteuerung entscheiden, wenn sie
vom grünen Familien Budget profitieren wollen. Die Reform des
Ehegattensplittings werden wir mit Verbesserungen bei den Leis
tungen für Familien verknüpfen, damit Ehen mit Kindern nicht
schlechter dastehen.
Frauen und Männer wünschen sich, Aufgaben im Beruf und zu
Hause partnerschaftlich zu teilen. Diesen Wunsch zu verwirklichen,
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wird im Alltag für viele Paare deutlich schwieriger, wenn Kinder
kommen. Das gilt vor allem für die Frauen. Denn sie übernehmen
nach wie vor den Großteil der Arbeit im Haushalt und der Fürsorge
für Kinder und Pflegebedürftige. Grüne Zeitpolitik unterstützt Men
schen dabei, die Sorge für andere und die Anforderungen im Job
unter einen Hut zu bringen und diese Arbeit zwischen Männern und
Frauen fair zu verteilen. Für Kinderbetreuung, Pflege und Weiterbil
dung soll es möglich sein, finanziell abgesichert die Arbeitszeit
zu reduzieren. Mit der „flexiblen Vollzeit“ können Beschäftigte ihre
Arbeitszeit um bis zu zehn Wochenstunden reduzieren und wieder
erhöhen. Nach der Familienphase braucht es Unterstützung beim
Wiedereinstieg in den Beruf: Wir wollen deshalb endlich das Rück
kehrrecht auf Vollzeit einführen.
Aber wir führen auch den Kampf weiter, in den Führungsgremien
endlich Gleichberechtigung zu schaffen. Diese sind in Deutschland
weitgehend Männerrunden. Daran ändert das bisherige Quotenge
setz nur wenig: Es gilt für ganze 101 Unternehmen. Wir wollen das
ändern, mit einer 50-Prozent-Frauenquote für die 3.500 börsenno
tierten und mitbestimmten Unternehmen. Die Potenziale und Qua
lifikationen von Frauen zu verpassen, kann sich dieses Land nicht
weiter leisten. Darum wollen wir Maßnahmen für Führungspositio
nen auf allen betrieblichen Ebenen, in denen Frauen unterrepräsen
tiert sind. Denn nur so zieht Geschlechtergerechtigkeit in die Füh
rungsetagen ein.
2. Gewaltfrei leben
Gewalt gegen Frauen ist immer noch ein großes Problem in unserer
Gesellschaft. Bedrohungen, sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen
Frauen sind widerliche Taten. Sie müssen konsequent verfolgt und
bestraft werden.
Frauen sind oft gerade im eigenen Zuhause von Gewalt betrof
fen. Die meisten Übergriffe geschehen in der Partnerschaft, durch
Verwandte und Freund*innen. Vielen Frauen und ihren Kindern
bleibt trotz der Hilfe durch das Gewaltschutzgesetz keine andere
Wahl als der Weg in ein Frauenhaus. Aber weder die Zahl der Plätze
in Frauenhäusern noch die Hilfs- und Beratungsangebote sind der
zeit ausreichend. Das wollen wir ändern. Wir wollen für eine sichere
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Finanzierung von Frauenhäusern unter Beteiligung des Bundes sor
gen und damit sicherstellen, dass keine Frau in Not abgewiesen
werden muss.
Wir akzeptieren es nirgendwo, wenn ein Klima der Bedrohung
für Frauen entsteht. Die Unbefangenheit und Angstfreiheit im öf
fentlichen Raum, der sichere nächtliche Bummel durch die Stadt –
das ist gelebte Freiheit, die wir GRÜNEN mit allen rechtsstaatlichen
Mitteln verteidigen. Der öffentliche Raum gehört allen, alle müssen
sich dort selbstbestimmt und ohne Angst aufhalten können. Schon
kleine stadtplanerische Maßnahmen, wie eine bessere Beleuch
tung, können Angsträume reduzieren. Mehr Polizei vor Ort kann die
Sicherheit erhöhen.
Der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung muss ohne Wenn
und Aber gelten. „Nein heißt nein“ ist endlich Gesetz. Betroffene
von sexualisierter Gewalt brauchen Unterstützung von Polizei,
Ärzt*innen und Justiz und keine Mythen, die ihnen, ihrer Kleidung
oder ihrem Auftreten die Schuld zuweisen. Darum müssen Polizei
und Justiz umfassend geschult und sensibilisiert sein im Umgang
mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Wir wollen, dass für
Opfer von Vergewaltigungen eine qualifizierte Notfallversorgung
einschließlich anonymer Spurensicherung und der Pille danach si
chergestellt und die Finanzierung gewährleistet wird, ebenso die
therapeutische Begleitung durch Beratungsstellen und Ärzt*innen.
Frauen und Männer, die sich einer Zwangsverheiratung entziehen
wollen, müssen ein eigenständiges und dauerhaftes Rückkehrrecht
erhalten.
Die Rechte und den Schutz von Frauen und Männern, die in der
Prostitution arbeiten, wollen wir durchsetzen und stärken. Dazu
wollen wir freiwillige Beratungsangebote stärken und finanziell
unterstützen. Die Auswirkungen des Prostituiertenschutzgesetzes
werden wir evaluieren. Menschenhandel, zum Beispiel zum Zweck
der sexuellen Ausbeutung, ist ein abscheuliches Verbrechen und
muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Das heißt mithilfe des
Strafrechts, durch Information und Beratung sowie durch Schutz
und Hilfe für die Opfer. Opfer von Menschenhandel dürfen nicht
einfach abgeschoben werden. Ein dauerhaftes Bleiberecht würde
ihre Anzeige- und Aussagebereitschaft deutlich erhöhen.
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3. Über den Körper selbst bestimmen
Über den Körper selbst zu bestimmen, ist nicht leicht, wenn alle
eine Meinung dazu haben. Wir setzen uns für das Selbstbestim
mungsrecht von Frauen und Mädchen über ihren Körper ein. Bei un
gewollter Schwangerschaft brauchen Frauen wohnortnahe Unter
stützung und Hilfe, keine Bevormundung und keine Strafe. Erst
recht brauchen sie keinen Rückschritt bei bereits erkämpften Rech
ten und keine Einschränkungen erreichter Freiheiten. Wir wollen
das Recht einer selbstbestimmten Familienplanung stärken. Für
Menschen mit geringem Einkommen soll der kostenfreie und un
komplizierte Zugang zu Verhütungsmitteln sichergestellt werden.
Schönheitsideale und Körpernormen, wie sie beispielsweise in
der Werbung vermittelt werden, haben Auswirkungen auf unser Le
ben. Jungen und Mädchen, Frauen und Männer sollen möglichst frei
von solchen Vorgaben leben können und nicht aufgrund ihres Äu
ßeren Diskriminierung erfahren. Wir wollen den Respekt vor körper
licher Vielfalt fördern. Nicht die Werbewirtschaft allein sollte defi
nieren, was sexistisch ist und was nicht, sondern eine unabhängige
Kommission, die anhand konkreter Kriterien Empfehlungen für die
Werbewirtschaft abgibt.
Zur Selbstbestimmung gehört auch, dass Frauen die Wahl haben
zu entscheiden, wie und wo sie entbinden, dass die Qualität der
Versorgung überall gesichert ist und dass Hebammen nicht wegen
unzumutbaren Versicherungskosten, schlechter Bezahlung oder
schlechten Arbeitsbedingungen ihren Beruf aufgeben müssen.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Für ein echtes Entgeltgleichheitsgesetz – Frauen verdienen
gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit
Wir wollen endlich Lohngerechtigkeit zwischen Männern und
Frauen herstellen. Berufe mit hohem Frauenanteil wollen wir
gesellschaftlich und finanziell aufwerten – sei es in der Pflege,
in der Kindertagesstätte oder in sozialen Projekten. Wir wollen
ein Entgeltgleichheitsgesetz, das möglichst viele erwerbstätige
Frauen erreicht, nicht nur wenige. Dabei soll ein Lohncheck auf
decken, ob Frauen ungleich bezahlt werden. Tarifpartner*innen
und Arbeitgeber*innen sollen verpflichtet sein, tarifliche und
nicht tarifliche Lohnstrukturen auf Diskriminierung zu überprü
fen. Vor allem aber muss dieses Gesetz auch ein wirksames Ver
bandsklagerecht enthalten. Dann sind Frauen nicht auf den
schwierigen individuellen Klageweg angewiesen, weil Verbände
bei strukturellen Benachteiligungen klagen können.
Für eine gute Geburtshilfe – Hebammenarbeit sichern
Nur mit Hebammen gibt es gute Geburtshilfe. Nur mit ihnen kann
das Recht von Frauen auf freie Wahl des Geburtsortes und eine
selbstbestimmte Geburt verwirklicht werden. Wir wollen daher si
cherstellen, dass Hebammen nicht wegen unzumutbaren Versi
cherungskosten, schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbe
dingungen ihren Beruf aufgeben müssen. Krankenhäuser mit
Geburtsstationen sollen in allen Regionen gut erreichbar sein. Wir
wollen, dass neue Anreize gesetzt werden, damit Hebammen und
Geburtshelfer*innen auch in unterversorgten Regionen tätig sind.
Wir streben eine 1:1-Betreuung durch Hebammen in wesentlichen
Phasen der Geburt an. Für Geburten in und außerhalb von Kran
kenhäusern brauchen wir verbindliche Qualitätsvorgaben.
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Konsequent gegen Gewalt an Frauen
Wir wollen Gewalt gegen Frauen überall bekämpfen, denn die
physische und psychische Unversehrtheit ist ein zentrales Gut.
Ob zu Hause, im öffentlichen Raum oder bei Cybergewalt. Um
Schutz zu gewährleisten, brauchen Frauenhäuser genügend
Plätze. Wir wollen die Finanzierung von Frauenhäusern und Be
ratungsstellen sicherstellen und den Bund dabei in die Pflicht
nehmen. Für mehr Sicherheit und Schutz im öffentlichen Raum
setzen wir auf wirksame Sicherheitskonzepte und eine gute Zu
sammenarbeit von Sicherheitsbehörden mit Fachberatungsstel
len. Wir fordern Ansätze wie Security-Anlaufstellen für Frauen
bei Großveranstaltungen. Wir wollen, dass Präventionskonzepte
gegen sexualisierte Gewalt und Cybermobbing entwickelt und
die Anlaufstellen für Betroffene ausgebaut werden.
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III. WIR SICHERN FREIHEIT
Deutschland ist ein sicheres Land und es soll sicher bleiben.
Grundlage dafür sind unsere freie Gesellschaft und ein liberaler
Rechtsstaat – beide wollen wir stärken. Nur demokratisch kon
trollierte Institutionen, die den Menschen- und Bürger*innen
rechten verpflichtet sind, genießen das Vertrauen der Bürger*innen.
Nur ein freiheitlicher und damit starker Rechtsstaat garantiert den
nötigen Schutz wie auch Freiraum für die Selbstbestimmung und
die vielf ältigen Lebensweisen jeder und jedes Einzelnen in unse
rer Gesellschaft. Eine maßlose Politik immer weitreichenderer
Grundrechtseingriffe schwächt hingegen unsere Freiheit und
sorgt nicht für mehr Sicherheit. Stattdessen braucht es eine Politik
der inneren Sicherheit, die auf wirksame Prävention und effektive
Strafver folgung setzt, um die Menschen vor Kriminalität, Gewalt
und Diskriminierung zu schützen. Aufgabe der Sicherheitsinstitu
tionen ist es dabei, für die Rechte der Bürger*innen einzutreten
und neue wie alte Gefahren für Freiheit und Sicherheit wirksam zu
bekämpfen.
Unsere freie Gesellschaft und ihre Werte sind heute ganz unter
schiedlichen Angriffen ausgesetzt. Gewalt kann nie ein Mittel sein,
Überzeugungen durchsetzen zu wollen. Der menschenverachtende
Terror des Dschihadismus will unsere Demokratie destabilisieren,
wie das auch Rechtsextreme und Reichsbürger*innen versuchen.
Diesen Gefahren stellen wir uns entschlossen entgegen. Wir tun
dies mit rechtsstaatlichen Mitteln und zielgerichteten Maßnahmen.
Pauschale Verdächtigungen und anlasslose Datensammlungen sind
hier nur kontraproduktiv. Es ist viel wirksamer, gezielt mit verhält
nismäßigen Mitteln einige hundert Personen zu überwachen, die
hierfür auch einen hinreichenden Anlass geboten haben, als 80 Mil
lionen Bürgerinnen und Bürger anlasslos mit der Vorratsdatenspei
cherung, flächendeckender Videoüberwachung oder automatisier
ter Gesichtserkennung zu erfassen. Wir lehnen diese jeweils ab. Die
Sicherheitsbehörden benötigen vielmehr die Befugnisse, die erfor
derlich sind, um zielgerichtet Gefahren abwehren zu können. Poli
zeiliches Handeln braucht dabei ein gutes rechtsstaatliches Funda
ment – genau formuliert und kontrolliert.
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Die terroristischen Anschläge der jüngsten Vergangenheit wie
am Breitscheidplatz in Berlin, die zahllosen Angriffe auf hier schutz
suchende Menschen, aber auch die Erkenntnisse aus den NSU-Un
tersuchungsausschüssen offenbaren die Notwendigkeit, die Sicher
heitsbehörden für die aktuellen Bedrohungen besser aufzustellen.
Zudem ist das Vertrauen in den Staat angesichts rechtswidriger
Massenüberwachung durch deutsche wie internationale Geheim
dienste und das Eigenleben beim Verfassungsschutz beschädigt.
Die gegenwärtige Regierung versucht mit dem verzerrten Droh
bild eines gegen Terror und Kriminalität hilflosen Staates nur von
den eigentlichen Fehlentwicklungen in der Sicherheitspolitik abzu
lenken. Anstatt Fehler zu beheben, forciert die Bundesregierung
Gesetzesverschärfungen im Hauruckverfahren, ohne die Folgen ab
zuschätzen. Im besten Fall sind sie sicherheitspolitische Placebos,
im schlechtesten Fall weitreichende Grundrechtsverletzungen. Wir
sperren uns nicht gegen jede Gesetzesänderung, sind aber nicht be
reit, unwirksame Verschärfungen auf Kosten unserer Grundrechte
zu akzeptieren – erst einmal müssen die bestehenden Gesetze
wirksam angewendet werden. Viele der aktuellen Maßnahmen sor
gen für weniger Sicherheit, weniger Freiheit und eine weniger le
benswerte Gesellschaft. Sie gehören nach wissenschaftlichen Kri
terien auf den Prüfstand und im Zweifel korrigiert. Stattdessen
bedarf es einer wirksamen Anwendung der bestehenden Gesetze
und eines effektiven Grundrechtsschutzes.
Wir setzen auf das Konzept einer bürgernahen Polizei, die wie
auch die Justizbehörden über genug und gut ausgebildetes Personal
mit moderner Technik verfügen muss, sowie auf eine Zusammenar
beit der europäischen Sicherheitsbehörden, die auf klaren rechts
staatlichen Regelungen basiert.
1. Sicherheit in einem starken, weil freiheitlichen Rechtsstaat
Unsere rechtsstaatliche Sicherheitspolitik braucht eine Polizei, die
in der Gesellschaft anerkannt wird. Eine Polizei, die gut ausgestat
tet, fachkundig und bürgernah arbeiten kann. Die früheren Ein
sparungen waren ein schwerer Fehler. Für motivierte Polizeiarbeit
braucht es neben moderner Technik vor allem mehr Personal mit
guten Qualifikations und Karrierechancen sowie familienfreundli
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che Arbeitsbedingungen. Dafür setzen wir GRÜNE uns auch in den
Landesregierungen ein. Bund und Länder müssen kontinuierlich
ausbilden, einstellen sowie für Entlastung bei administrativen Auf
gaben sorgen. Wir brauchen Behörden, die an der Seite der Men
schen für Sicherheit sorgen und für unseren Rechtsstaat eintreten.
Deswegen unterstützen wir eine vielfältige und bürgernahe Polizei.
Immer mehr Frauen und Menschen mit sogenanntem Migrations
hintergrund im Polizeidienst helfen beim Bürgerkontakt und bei der
Verbrechensbekämpfung. Eine vielfältige Polizei, die unverhältnis
mäßigen Gewalteinsätzen oder sexistischen und rassistischen Dis
kriminierungen keinen Platz bietet, ist im Interesse von uns allen
und gerade auch der Beamt*innen selbst. Wir setzen uns daher für
eine Weiterentwicklung der Fehlerkultur, interkulturelle Kompe
tenz und Fortbildungen ein, fördern die anonymisierte Kennzeich
nung sowie unabhängige Polizeibeauftragte – als Ansprechpart
ner*innen für Bürger*innen wie Polizeibeamt*innen. Außerdem
brauchen wir gut ausgestattete Gerichte und Staatsanwaltschaften
sowie eine selbstverwaltete Anwaltschaft als unabhängiges Organ
der Rechtspflege. Der Zugang zum Recht muss für alle Menschen
gleichermaßen gewährleistet sein. Das Strafrecht darf immer nur
letztes Mittel sein.
Videoüberwachung kann an Gefahrenschwerpunkten eine un
terstützende Maßnahme sein – wenn sie anlassbezogen, verhältnis
mäßig, von ausreichend Personal begleitet erfolgt und regelmäßig
evaluiert und neu genehmigt werden muss. Denn Kameratechnik
kann gute Polizeiarbeit ergänzen, nicht aber ersetzen. Eine flächen
deckende Kameraüberwachung ist hingegen ein unverhältnismäßi
ger Grundrechtseingriff, der kein Mehr an Sicherheit schafft und
keine Straftaten verhindert oder diese nur verdrängt – anders als
präventive Konzepte wie beispielsweise durch bauliche Maßnah
men. Zudem müssen die Standorte von Kameras in der Öffentlich
keit für die Bürger*innen transparent sein.
Kriminalitätsfelder wandeln sich. Während die Kriminalität ins
gesamt sinkt, verunsichern andere Phänomene wie die hohen Ein
bruchszahlen viele Menschen, da sie hier konkret in ihrer Lebens
wirklichkeit getroffen werden. Daher wollen wir Schutzmaßnahmen
fördern und im Mietrecht Sicherheitseinbauten erleichtern – denn
wir setzen auf wirksame Maßnahmen zur Einbruchsprävention an
statt auf symbolische Strafverschärfungen.
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Organisierte Kriminalität ist vielfältig und, wie im Banden- und
Rockerbereich, international verflochten und stark nach außen ab
geschottet. Das erfordert besondere Bekämpfungskonzepte. Ein Fo
kus ist dabei auf die Abschöpfung illegaler Gewinne sowie auf eine
länderübergreifende Polizeizusammenarbeit zu legen. So lässt sich
auf künftige Bedrohungen zielgerichteter und flexibler als durch
Gesetzesänderungen reagieren.
So vielfältig die Probleme, so vielfältig sind auch die Ursachen:
Wir müssen den Blick auf die Sicherheitslage schärfen – anstatt ihn
auf die bloße Kriminalitätsstatistik zu verkürzen. Im Sinne periodi
scher Sicherheitsberichte sind kriminologische und praxisbezogene
Erkenntnisse zusammen zu denken. Nur so finden wir wirksame
Antworten auf diese Phänomene. Denn innere Sicherheit verstehen
wir als Querschnittsaufgabe: in vielen Politikbereichen, von der
Kommune über Bund und Länder bis Europa. Das erfordert Anstren
gungen von der Sozial- bis zur Bildungspolitik, vom Städtebau bis
zur Wirtschaftspolitik.
Internetkriminalität fordert die Strafverfolgungsbehörden be
sonders heraus. Die entsprechenden Befugnisse in der Strafpro
zessordnung sind hier effektiv wie rechtsstaatskonform auszuge
stalten. Und es braucht qualifiziertes Personal mit der nötigen
Technik. Um sich auf diese eigentlichen Herausforderungen kon
zentrieren zu können, wollen wir Justiz und Polizei von sachfrem
den Verwaltungsaufgaben und der Verfolgung von Bagatelldelikten
entlasten. So ist es beispielsweise unsinnig, dass Menschen im Ge
fängnis sitzen, nur weil sie ihre Strafe fürs Schwarzfahren nicht be
zahlen können.
Mehr Personal mit guter Ausstattung und eine optimierte inter
nationale Zusammenarbeit der Polizei, die nicht zwei Millionen
Überstunden vor sich herschieben, sind zwar nicht so billig wie Ge
setzesverschärfungen, verbessern aber direkt die Sicherheitslage.
Die gezielte und länderübergreifende Überwachung von Terrorver
dächtigen muss im Zentrum der polizeilichen Arbeit stehen – wo es
nötig ist, auch mit den gebotenen Mitteln rund um die Uhr, um sie
bei konkreter Gefahr auch kurzzeitig festzusetzen. Gefahrenabwehr
ist Aufgabe der Polizei. Zudem muss das System der Zusammenar
beit zwischen Bundeskriminalamt und den Staatsschutzdienststel
len der Bundesländer analysiert und verbessert werden. Es gilt hier,
klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu schaffen.
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Den regelmäßigen Rufen nach einem Einsatz der Bundeswehr im
Inneren erteilen wir eine klare Absage. Weil Terror und internatio
nale Kriminalität keine Grenzen kennen, brauchen wir Sicherheits
behörden, die in der Europäischen Union und international nach
klaren rechtsstaatlichen Kriterien, gemeinsamen Grundrechtsstan
dards und von den Parlamenten kontrolliert zusammenarbeiten.
Wir setzen uns für EU-weit hohe Standards für die Rechte von
Verdächtigen und Beschuldigten ein. Außerdem unterstützten wir
einen angemessenen Informationsaustausch zwischen den euro
päischen Sicherheitsbehörden sowie gemeinsame Europol-Ermitt
lungsteams – als wirksamen Ansatz gegen grenzübergreifende Kri
minalität und Terrorismus. Europa hat mit dem Schengen-Abkommen
eine gemeinsame Verantwortung für seine Außengrenzen – diese gilt
es durch ein Gesamtkonzept zu stärken, das den Schutz der Men
schenrechte zur Grundlage hat und Rechtssicherheit garantiert.
Einen wichtigen Beitrag zu unserer Sicherheitsarchitektur leis
ten die vielen freiwilligen Mitglieder der Feuerwehr, des Techni
schen Hilfswerks sowie der Rettungs- und Sanitätsdienste. Im Rah
men des Bevölkerungsschutzes möchten wir das ehrenamtliche
Engagement nachhaltig stärken und für moderne und zuverlässige
Ausrüstung sorgen.
2. Nazis, nein danke!
Rechtsextreme Fanatiker*innen, Reichsbürger*innen, Nazis und so
genannte Identitäre formieren sich. Es gibt eine zunehmend laute
rechte und rechtspopulistische Szene in Deutschland, die sich im
Internet oder bei den Pegida-Demos mit ihrer Hetzerei Gehör ver
schafft. Die Zahl rechter Straftaten hat ein Rekordniveau erreicht.
Wir stellen uns dem Rechtsruck und der zunehmenden Gewalt ent
schieden entgegen. Polizei und Justiz müssen rassistische und
rechtsextreme Straftaten konsequent verfolgen und ahnden. Wir
wollen den Schutz für Opfer rechter Gewalt verbessern. So müssen
Opfer von rechter Gewalt aussagen können und besser unterstützt
werden – in solch begründeten Fällen dürfen Menschen nicht ein
fach abgeschoben werden.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Anti
semitismus, Antiziganismus, antimuslimischer Rassismus, Homo
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und Transfeindlichkeit, Sexismus sowie die Abwertung von Obdach
losen, Langzeitarbeitslosen und Menschen mit Behinderung gilt es
überall dort zu bekämpfen, wo sie vorkommt – in rechtsextremen
Strukturen und rechtspopulistischen Bewegungen wie im Alltag,
bei Migrant*innen und Geflüchteten wie in der alteingesessenen
Bevölkerung. Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass sich
alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht,
ihrer sexuellen Identität, Weltanschauung, Religion oder ihres sozi
alen Status – frei und sicher bewegen und entfalten können – egal
ob etwa in Berlin, Sachsen oder Baden-Württemberg.
Wo immer Bürgerinnen und Bürger sich gegen Nazis engagieren,
sichern wir ihnen unsere volle Unterstützung und Solidarität zu: sei
es in Vereinen, Initiativen, Religionsgemeinschaften oder in der an
tifaschistischen Einhornaktion – ob durch Bildungs- und Beratungs
arbeit oder durch Demos und friedliche Blockaden von Nazi-Auf
märschen. Das wollen wir besser anerkennen und ihre finanzielle
Ausstattung sicherstellen.
Zum zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechts gehören
für uns auch Demonstrationen. Symbolische Strafverschärfungen
auf Kosten der Demonstrationsfreiheit lehnen wir ab. Sie machen
keine Versammlung friedlicher. Eine deeskalierende Einsatzstrate
gie sowie gut ausgebildete und ausgeruhte Einsatzkräfte sind hier
für alle Seiten viel sinnvoller.
3. Zäsur beim Verfassungsschutz
Der Staat muss Rechtsextremismus, alltäglichen und institutionell
verankerten Rassismus mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämp
fen. Sicherheitsbehörden müssen den Blick nach rechts außen
schärfen und dazu das breite Wissen zivilgesellschaftlicher Initiati
ven besser würdigen und als Expert*innenwissen in ihre Analysen
einbeziehen. Das Versagen gegenüber dem rechtsterroristischen
NSU hat deutlich gemacht: Das Bundesamt für Verfassungsschutz
ist dauerhaft auf dem rechten Auge blind und nicht in der Lage, für
die Demokratie gefährliche Entwicklungen zu erkennen. Auch die
zweifelhafte Rolle des Verfassungsschutzes im Fall Amri und beim
Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz weist auf Fehleinschät
zungen hin. Wir wollen daher die Verfassungsschutzbehörden
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grundlegend reformieren. Es braucht beim Verfassungsschutz einen
Neustart und ein sehr gründliches Überdenken des V-Leute-Wesens.
Wir wollen nicht, dass die zu beobachtenden Milieus querfinanziert
und schwere Straftaten aus diesen Szenen gedeckt werden.
Statt des Bundesamtes für Verfassungsschutz in seiner ineffektiven
aktuellen Form wollen wir ein personell und strukturell völlig neues
Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr gründen, das
mit nachrichtendienstlichen Mitteln klar abgegrenzt von polizeilichen
Aufgaben arbeitet. Die allgemeine Beobachtung demokratie- und
menschenfeindlicher Bestrebungen soll ein unabhängiges Institut zum
Schutz der Verfassung übernehmen, das ausschließlich öffentliche
Quellen nutzt. Schließlich sind Wissenschaft und engagierte Zivilge
sellschaft hier immer wieder ähnlich gut, wenn nicht manchmal bes
ser informiert als das Bundesamt für Verfassungsschutz.
4. Prävention ausbauen – für eine Kultur des Hinschauens
Wir wollen Prävention und Partizipation ausbauen. Wir müssen alles
unternehmen, damit junge Menschen erst gar nicht in menschenver
achtende und gewaltverherrlichende Ideologien abgleiten, gleich
wie sie politisch oder fundamentalistisch motiviert sind. Das ge
lingt durch eine Kultur des Hinschauens. Wir wollen Radikalisierung
von Anfang an verhindern: Deshalb müssen wir deutlicher und frü
her als bisher den Blick auf die elementare Bedeutung und positi
ven Effekte von parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaat und
Gewaltenteilung lenken. Dazu fordern wir eine Bildungsoffensive
in Kindertagesstätten und Schulen, Menschenrechtsbildung sowie
die Förderung von Demokratie- und Medienkompetenz junger Men
schen und eine Stärkung von Beratungsstellen, Jugendverbänden
und aufsuchender Jugendarbeit. Dazu gehören auch Justizvollzugs
anstalten, denn sie waren in der Vergangenheit ebenfalls Stationen
der Radikalisierung. Ein liberaler Strafvollzug kann diesen Kreislauf
mit gezielter Präventionsarbeit, besseren Haftbedingungen und der
Perspektive auf Resozialisierung durchbrechen. Prävention ist eine
Querschnittsaufgabe. Gerade an sozialen Brennpunkten müssen wir
auch mit städtebaulichen und wirtschaftlichen Maßnahmen für
Perspektiven sorgen, um Gewalt und No-go-Areas schon im Ansatz
entgegenzuwirken.
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Wir wollen Präventionsprogramme sowohl gegen Rechtsextre
mismus als auch gegen gewaltbereiten Islamismus und Salafismus
massiv ausbauen und zivilgesellschaftliche Ansätze stärken. Hier
gilt es, die Präventionsarbeit in und mit den Moscheegemeinden zu
unterstützen. Dabei ist eine breite Vernetzung wie etwa mit Polizei,
Schule und Jugendhilfe vor Ort besonders wichtig.
Wir wollen Straftaten vorbeugen. Deshalb sollen Bund, Länder,
Kommunen und zivilgesellschaftliche Institutionen gemeinsam in
einem bundesweiten Präventionszentrum arbeiten. Programme zur
Deradikalisierung und für Aussteiger aus der rechtsextremen und
islamistischen Szene wollen wir stärken. Um Terrorakte und Amok
taten zu verhindern, muss der Zugang zu Waffen erschwert werden.
Es ist immer noch viel zu einfach, an illegale Schusswaffen und um
gebaute Dekorationswaffen zu gelangen. Alle gefährlichen Waffen
müssen lückenlos registriert und die Eignung und Zuverlässigkeit
der Besitzer*innen regelmäßig geprüft werden. Wir wollen eine eu
ropaweite einheitliche Kennzeichnung und gemeinsame Standards
für die Deaktivierung von Feuerwaffen einführen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Kampf gegen rechts stärken
Wir sagen rechten und rechtspopulistischen Kräften in unserer Ge
sellschaft den Kampf an. Viele Initiativen, Vereine oder Kirchen ma
chen sich gegen Nazis und für eine weltoffene Demokratie stark.
Diese zivilgesellschaftlichen Institutionen verdienen staatliche und
politische Unterstützung und Anerkennung. Damit solche Struktu
ren unabhängig von politischen Mehrheiten und ohne bürokra
tischen Mehraufwand arbeiten können, wollen wir GRÜNE sie dau
erhaft mit einem Demokratiefördergesetz stärken, das ihnen ver
lässlich die nötigen finanziellen Grundlagen garantiert. Jeglichen
staatlichen Generalverdacht und Druck gegen zivilgesellschaftliche
Akteure, etwa anlasslose Überwachungen durch den Verfassungs
schutz, lehnen wir ab. Außerdem müssen auch staatliche Bildungs
und Beratungsangebote gegen rechte Gewalt ausgebaut werden.
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Der Radikalisierung von Jugendlichen vorbeugen
Wir müssen alles unternehmen, damit junge Menschen nicht in
menschenverachtende, gewaltpropagierende Ideologien abglei
ten. Dazu wollen wir eine umfassende und wirkungsvolle Prä
ventionsstrategie gegen gewaltbereiten Islamismus anwenden.
Ein bundesweites Präventionszentrum soll die Aufgaben koordi
nieren und alle relevanten staatlichen und zivilgesellschaftli
chen Akteur*innen vernetzen. Dazu gehören: verschiedene Res
sorts der Bundesregierung, die Sicherheitsbehörden, Länder und
Kommunen sowie Jugendhilfe, Jugendverbände, Demokratieini
tiativen, islamische Organisationen, Wissenschaft und Medien.
Auch regionale Netzwerke für die konkrete Präventionsarbeit
vor Ort wollen wir fördern.
Neustart beim Verfassungsschutz, aus Fehlern lernen
Wir wollen das Leben in Deutschland für alle Menschen sicherer
machen. Das geht nur geleitet von dem Grundsatz konsequenter
Rechtsstaatlichkeit, mit starkem Schutz für unsere Menschen-,
Grund- und Bürger*innenrechte. Dafür braucht es grundlegende
Reformen und den Willen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu
lernen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in den letzten
Jahren mehrfach bewiesen, dass es nicht Teil der Lösung, son
dern Teil des Problems in der Sicherheitsarchitektur in Deutsch
land ist. Es braucht einen strukturellen Neustart beim Verfas
sungsschutz. Wir wollen die Aufgaben trennen. Ein neues
Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr soll
mit nachrichtendienstlichen Mitteln, klar abgegrenzt von der
Polizei, Terror und Spionage aufdecken. Es soll dabei helfen,
dass sich alle in diesem Land, von Punkerin bis Bankerin, von
Sachse bis Syrer, sicher fühlen. Dazu braucht es starke parlamen
tarische Kontrolle. Gleichzeitig soll ein unabhängiges Institut
demokratie- und menschenfeindliche Bestrebungen mit wissen
schaftlichen Methoden unter der ausschließlichen Nutzung von
öffentlichen Quellen beobachten, sodass die Zivilgesellschaft in
der Lage ist, darauf zu reagieren. Zudem ist das V-Leute-Wesen
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sehr gründlich zu überdenken. Wir wollen nicht, dass die zu be
obachtenden Milieus querfinanziert und schwere Straftaten aus
diesen Szenen gedeckt werden.
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Freiheit im Herzen
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IV. WIR STÄRKEN DIE
DEMOKRATIE UND
VERTEIDIGEN DEN
FREIHEITLICHEN
RECHTSSTAAT
Demokratie ist weder selbstverständlich noch unveränderlich. Sie
muss immer wieder neu erklärt und erkämpft werden, um die Men
schen zu überzeugen und sie als Wähler*innen zurückzugewinnen.
Sie braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich einmischen, egal ob
sie hier geboren oder eingewandert sind – die für ihre Werte, für
ihre Rechte und die der Anderen einstehen. Sie braucht demokrati
sche Institutionen, die für Beteiligung offen sind. Sie braucht ein
starkes Parlament, eine unabhängige Justiz und freie und unabhän
gige Medien. Und lebendige Organisationen, die sich vielfältig ein
bringen, von Parteien über Gewerkschaften, Religionsgemein
schaften bis hin zu NGOs, Stiftungen, Vereinen und Initiativen. Wir
setzen auf einen starken, demokratischen Rechtsstaat, der unsere
Freiheit sichert.
Demokratie braucht eine vernünftige Debatte, die auf Fakten
baut, auf gegenseitigen Respekt und den Austausch von Argumen
ten – statt auf Hass, Hetze und dumpfe Parolen. Der Erfolg autori
tärer und antidemokratischer Kräfte in Europa und den USA macht
deutlich, dass wir uns an einem historischen Scheideweg befinden:
Wir müssen als Gesellschaft für die im Laufe der europäischen Ge
schichte, auch jüngst wieder in der friedlichen Revolution in Osteu
ropa und der DDR erkämpften Grund- und Freiheitsrechte sowie die
Demokratie und die Prinzipien der offenen Gesellschaft einstehen.
Diese Errungenschaften machen uns aus und machen uns stark.
Wir werden deshalb mit aller Entschlossenheit verhindern, dass die
Uhr wieder zurückgedreht wird. Nationalismus, Rassismus und die
Feindschaft zwischen den Religionen und Bevölkerungsgruppen
haben bei uns keine Chance.
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1. Demokratie stärken durch mehr Transparenz
und Beteiligung
Demokratie lebt vom Vertrauen der Bürger*innen in ihre Repräsen
tant*innen, in ihre Institutionen und Entscheidungsprozesse. Mit
großer Sorge sehen wir GRÜNE, dass dieses Vertrauen in Deutsch
land und Europa geringer wird. Wir wollen deshalb die Demokratie
stärken – auch indem wir für mehr Transparenz und bessere Betei
ligung sorgen. Das Parlament ist für uns als zentrale Vertretung der
Bürger*innen Deutschlands die Herzkammer unserer Demokratie.
Doch wir haben gesehen: In Zeiten einer erdrückenden Mehrheit ei
ner Großen Koalition sind die Möglichkeiten der parlamentarischen
Kontrolle und Mitwirkung empfindlich eingeschränkt. Deshalb wol
len wir sie ausbauen. Die Arbeit des Bundestages muss transparen
ter werden, die Ausschüsse grundsätzlich öffentlich tagen. Um den
Einfluss von Lobbyist*innen und Interessengruppen offenzulegen,
wollen wir ein verpflichtendes öffentliches Lobbyregister einrich
ten. Um Lobbyeinflüsse im Entstehungsprozess von Gesetzen transpa
rent zu machen, sollen Abgeordnete zum einen mindestens zeitgleich
mit Verbänden Diskussions-, Referent*innen- und Kabinettsentwürfe
erhalten und zeitgleich mit den Ministerien beziehungsweise der
Bundesregierung die Eingaben der Verbände. Zum anderen wollen
wir zu diesem Zweck einen „legislativen Fußabdruck“ einführen.
Wenn Lobbyist*innen an Gesetzestexten mitwirken, muss das als
Quellennachweis kenntlich gemacht werden.
Bei Spenden an Parteien brauchen wir mehr Transparenz, damit
Bürger*innen erkennen können, ob eine Einflussnahme auf politi
sche Entscheidungen erfolgt. Um sichtbar zu machen, wer an Par
teien spendet oder diese mit Sponsoring unterstützt, wollen wir die
Veröffentlichungsgrenzen für Parteispenden herabsetzen und ent
sprechende Regeln auch für das Parteisponsoring einführen. Wir wol
len Spenden an Parteien auf natürliche Personen mit einer jährlichen
Obergrenze pro Person beschränken. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wen
den bis zu einer entsprechenden Änderung das geltende Recht an.
Höhe und Herkunft von Nebeneinkünften der Mitglieder des Deut
schen Bundestages sollen offengelegt werden.
Wir wollen Open Government voranbringen, eine Verwaltung,
die transparent und auf Augenhöhe mit Bürgerinnen und Bürgern
kommuniziert. Für die Öffentlichkeit relevante Informationen wer
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den dann nach den Kriterien von Open Data im Internet veröffent
licht. Den Einsatz von offenen und diskriminierungsfreien Stan
dards in Behörden und bei der Behördenkommunikation wollen wir
ausbauen. Wir wollen das bestehende Informationsfreiheitsgesetz
zu einem umfassenden Transparenzgesetz weiterentwickeln. In
Kommunen, Ländern und auf Bundes- wie europäischer Ebene bau
en wir die Bürger*innenbeteiligung aus. In den Ländern zeigen wir
dies zum Beispiel mit unseren Initiativen für Transparenzgesetze:
Wir stehen für eine Politik des Gehörtwerdens und der Bürger*innen
beteiligung. Wir beziehen Bürger*innen bei Planungs- und Bauvor
haben früher und besser ein. Dazu wollen wir die Gesetze und Vor
schriften weiterentwickeln, gerade auch für Großprojekte.
Das Petitionsrecht wollen wir zu einem wirksamen Mittel der
Bürger*innenbeteiligung ausbauen. Die Stärkung der Demokratie
hört für uns jedoch nicht bei den Parlamenten auf, sondern umfasst
auch die Demokratisierung verschiedener Lebensbereiche, wie zum
Beispiel Schule, Hochschule, Ausbildung oder Arbeitsplatz.
Demokratie lebt auch vom Vertrauen in die Wähler*innen, des
halb wollen wir GRÜNE Elemente direkter Demokratie auch in der
Bundespolitik stärken. Wir wollen Volksinitiativen, Volksbegehren
und Volksentscheide in die Verfassung einführen. Für eine offene
Gesellschaft spielt eine lebendige Zivilgesellschaft eine zentrale
Rolle. Wir setzen uns deshalb für mehr Rechtssicherheit im Gemein
nützigkeitssektor ein, insbesondere um die steuerliche Gleichbe
handlung verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteur*innen sicher
zustellen. Hierzu soll auch der Katalog von gemeinnützigen Zwecken
angepasst und erweitert werden um die Förderung von Frieden,
Menschenrechten und Demokratie, aber auch um Beiträge wie die
Einrichtung und Unterhaltung des Freifunks. Die Förderung gemein
nütziger Organisationen soll mit verbesserten, klareren und einheit
lichen Publikations- und Transparenzvorschriften einhergehen.
Die Rechte von Minderheiten sowie Grundrechte und wesentliche
Verfassungsprinzipien dürfen durch Volksentscheide nicht zur Dispo
sition gestellt werden. Zum Kern der Demokratie gehört die Mehr
heitsentscheidung genauso wie der Minderheitenschutz. Bislang
werden Menschen, die unter ständiger gesetzlicher Betreuung ste
hen, vom Wahlrecht ausgeschlossen. Dies ist mit dem Grundgesetz
und der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar. Wir setzen
uns dafür ein, dass dieser Wahlrechtsausschluss aufgehoben wird.
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Das Demonstrationsrecht darf nicht vom Geldbeutel abhängen und
durch illegitime Abmahnpraktiken ausgehöhlt werden. Überhöhte
Gebühren für Unterlassungsklagen unterbinden wir durch die Präzi
sierung eines gesetzlichen Streitwerts.
Damit möglichst viele Menschen am demokratischen Prozess teil
nehmen können, wollen wir Kommunalwahlen auch für Menschen
öffnen, die hier mit Aufenthaltsrecht, aber ohne deutschen oder EU-
Pass leben. Die Teilnahme an Wahlen ist ein wesentlicher Schritt für
eine gelungene Integration. Deswegen und damit möglichst viele
Menschen partizipieren, wollen wir Menschen, die dauerhaft in
Deutschland leben, die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen er
leichtern. Damit sich gerade junge Menschen früh einbringen kön
nen, wollen wir das Wahlalter bei allen Wahlen auf 16 Jahre absen
ken. Damit junge Menschen auch wirklich mitentscheiden und
mitbestimmen können, wollen wir die Institutionalisierung von poli
tischen Jugendgremien und deren Finanzierung voranbringen. Der
zeit sind Frauen in den Parlamenten massiv unterrepräsentiert. Wir
werden deshalb konkrete Schritte prüfen, ob beispielsweise ein Pari
tätsgesetz helfen kann, diesen unsäglichen Zustand abzustellen.
Damit die Wahlbeteiligung und daraus folgend auch die Reprä
sentanz in den Parlamenten nicht vom sozialen Milieu abhängig blei
ben, müssen die politischen Parteien direkter auf die Wähler*innen
zugehen und eine verständlichere Sprache verwenden.
2. Gesellschaftliches Engagement fördern,
Whistleblower*innen schützen
Millionen Menschen mischen mit und bringen sich ein. Sie tragen
im Kleinen zum großen Ganzen, zum Zusammenhalt unserer Gesell
schaft bei. Ihr Engagement ist vielfältig und bunt: Es reicht von
der Feuerwehr bis zur Geflüchteten und Nachbarschaftshilfe, vom
Chor über den Sportverein bis zum Engagement in Kirche, Synagoge
und Moschee. Es erstreckt sich vom Einsatz für Umwelt, Men
schenrechte bis zum Kampf für globale Gerechtigkeit. Engagement
braucht Unterstützung, zum Beispiel durch die Übernahme von Ver
sicherungen, Qualifizierung und zertifizierte Weiterbildungsmög
lichkeiten. Gleichzeitig wollen wir mehr Geld im Bundeshaushalt für
Fortbildungen und Supervision bereitstellen – damit Engagement
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nicht in Überforderung mündet! Wir wollen mit gezielter Informa
tion und Ansprache dafür sorgen, dass Angebote zum freiwilligen
Engagement allen gesellschaftlichen Gruppen offenstehen.
Freiwilligendienste eröffnen jungen Menschen neue Horizonte.
Wir wollen die Zahl der Freiwilligendienstplätze auf 200.000 erhö
hen, um mehr jungen Menschen diese Möglichkeit zu eröffnen. Den
Freiwilligen wollen wir ein persönliches Coaching mit Angeboten
zur Berufsfindung, Ausbildung und Studienplanung anbieten. Im
Dienst erworbene Kompetenzen sollen als Ausbildungs- oder Studi
enleistungen anerkannt werden können. Wer sich in hohem Maße
neben der Schule ehrenamtlich für unsere Gesellschaft engagiert
oder nach dem Schulabschluss ein Lebensjahr in den Freiwilligen
dienst steckt, dem möchten wir Danke sagen und eine Starthilfe von
1.500 Euro für den weiteren Weg ins Leben mitgeben.
Manchmal ist Engagement auch unbequem und stellt kritische
Fragen, aber es zeugt von einer lebendigen und verantwortungs
bewussten Zivilgesellschaft. Wer mitmischt und sich engagiert,
trägt zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft bei. Das wollen wir
GRÜNE fördern und für mehr gesellschaftliche Anerkennung dieses
Engagements sorgen, auch für staatliche Förderung, etwa durch die
Möglichkeit des Spendenabzugs. Zivilgesellschaftliche Organisati-
onen brauchen einen passenden und sicheren Rechtsrahmen. Auch
Bürger*innen, die – oft unter großen Risiken – Informationen über
Missstände der Öffentlichkeit zugänglich machen, müssen unter
stützt und mit einem Whistleblower*innen-Schutzgesetz geschützt
werden. Sie decken Unrecht und Ungerechtigkeiten auf und leisten
einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Es ist widersinnig, sie in
solch begründeten Fällen strafrechtlich zu verfolgen oder sie nicht
vor dienst- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen, wie Kündigung,
zu schützen. Wir wollen Edward Snowden politisches Asyl geben,
wie es das Europäische Parlament seit zwei Jahren fordert.
3. Freie Medien stärken
Freie und unabhängige Medien und der allgemeine Zugang zu vielfäl
tigen Informationen sind ein „Grundnahrungsmittel“ der Demokratie.
Doch sie stehen heute enorm unter Druck, die Medienwelt hat sich
in den vergangenen Jahren drastisch gewandelt. Wir GRÜNE wollen
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Freiheit im Herzen
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eine vielfältige und unabhängige Medienlandschaft verteidigen,
auch gegen die Angriffe von Populist*innen und Het zer*innen, die
ihrerseits mit Falschmeldungen und Meinungsrobotern objektive In
formation durch Propaganda ersetzen. Journalist*innen dürfen nicht
unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung überwacht und
kriminalisiert werden. Auch der Informantenschutz muss gesichert
sein. Unser Ziel ist eine Medienlandschaft, die vielfältig und innova
tiv ist und auch die kleinen Player ernst nimmt. Nicht-kommerzielle
Bürger*innenmedien sollen ihre Arbeit als gemeinnützig anerken
nen lassen können. Eine Voraussetzung für Qualitätsjournalismus
sind faire Arbeitsbedingungen für Journalist*innen, die ein unabhän
giges und anspruchsvolles Recherchieren und Berichten erlauben.
Das muss sich auch lohnen: Journalist*innen und Verleger*innen
sind an der langfristigen Wertschöpfung ihrer Werke, besonders im
digitalen Zeitalter, angemessen zu beteiligen. Dafür gibt es klüge
re Lösungen als das kontraproduktive Leistungsschutzrecht für
Presseverleger*innen, das wenigen nützt und vielen schadet – wir
wollen es daher so bald wie möglich wieder abschaffen. Stattdes
sen brauchen wir eine sinnvolle Förderung der Vielfalt von Medien.
Für eine unabhängige und qualitätsvolle Berichterstattung kommt
dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine wichtige Rolle zu. Jedoch
spiegeln die Rundfunk- und Fernsehräte sowie die Landesmedien
anstalten oft nicht die gesellschaftliche, religiöse, kulturelle und
weltanschauliche Pluralität Deutschlands wider. Das wollen wir
ändern. Wir brauchen einen glaubhaften und unabhängigen öffent
lich-rechtlichen Rundfunk. Dafür wollen wir seinen Auftrag stärken
und ihn vor Einflussnahme aus Politik und Lobbyverbänden schüt
zen. Deshalb muss er ohne staatliche oder kommerzielle Einfluss
nahme arbeiten können. Das geht nur, wenn der öffentlich-recht
liche Rundfunk auch weiterhin über Beiträge der Allgemeinheit
finanziert wird und frei von wirtschaftlichen Interessen bleibt.
Daher setzen wir GRÜNE uns dafür ein, dass er in Zukunft möglichst
ohne Werbung auskommt. Dafür können unsere Bürger*innen auch
erwarten, dass sie die von ihnen finanzierten Inhalte dauerhaft
im Netz abrufen können und die Kreativen angemessen vergütet
werden.
Und wir setzen uns ein für eine Vereinheitlichung des Jugend
medienschutzes über die verschiedenen Medien hinweg und für eine
aktive Stärkung der Medienkompetenz aller Altersgruppen. Millionen
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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Menschen in unserem Land spielen Computerspiele, allein oder zu
sammen, spontan oder auch auf immer organisiertere Weise. Wir wol
len die Computerspielekultur in ihrer Vielfalt und als E-Sport weiter
stärken und prüfen, inwiefern sie als Sportart anerkannt werden kann.
4. Kultur in ihrer Vielfalt fördern
Kunst und Kultur sind in ihrer Vielfalt für eine lebendige Demokra
tie unverzichtbar. Kultur ist weit mehr als das, was die Kulturschaf
fenden hervorbringen. In einer offenen Gesellschaft ist Kultur in
ständiger Bewegung und Veränderung. Wir GRÜNE widersetzen uns
deswegen allen Versuchen, eine nationale „Leitkultur“ durchzuset
zen. In der Kultur darf es keine Grenzen geben, die im Namen einer
angeblichen „kulturellen Identität“ darüber bestimmen, wer dazu
gehört und wer nicht. Eine demokratische Gesellschaft lebt vom
lebendigen Austausch der Kulturen – und sie eröffnet und schützt
künstlerische Freiräume. Kunst ist oft provozierend, hält der Gesell
schaft den Spiegel vor und schafft neue Ideen und Visionen. Wir
GRÜNE werden Kulturorte schaffen, bewahren und fördern. Die
Unabhängigkeit der Kultur von staatlicher und kommerzieller Be
vormundung ist für uns selbstverständlich. Denn Kunst hat weder
einen moralischen noch einen kommerziellen Auftrag zu erfüllen.
Kultur ist gemeinsames Gut. Um es zu bewahren und zu berei
chern, bedarf es der Aktivitäten öffentlicher Institutionen genauso
wie des privaten Engagements. Das heißt, dass wir das Schaffen von
Kultur fördern, die Kulturschaffenden unterstützen und die Rechte an
geschaffenen kulturellen Werken schützen wollen. Eine partizipato
rische und transparente öffentliche Kulturförderung ist für uns ein
entscheidender Träger kultureller Entwicklungsmöglichkeiten. Sie
eröffnet die Freiräume jenseits einer reinen Ökonomisierung von
Kulturproduktion und -vermarktung. So wollen wir etwa mit neuen
Finanzierungsstrukturen den deutschen Film auch abseits der Fern
sehbeteiligung stärker fördern – ebenso wie innovative Projekte vom
Filmstudio über das Stadttheater bis zur freien Szene.
Künstler*innen und Kulturschaffende brauchen eine stabile so
ziale Absicherung und verbesserte Verdienstmöglichkeiten durch
Mindestlöhne und Honoraruntergrenzen, die unter anderem in
öffentlichen Förderprogrammen verankert werden müssen. Wir
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 153
wollen sicherstellen, dass Urheber*innen und Verwerter*innen zum
beiderseitigen Nutzen zusammenwirken und dass öffentlich finan
zierte Kunst und Forschung nicht zuvörderst von privaten Unter
nehmen kommerzialisiert werden.
Wir treten dafür ein, dass kulturelle Teilhabe und Bildung ge
stärkt werden. Kultur muss für alle Menschen zugänglich sein. Des
halb sollen Menschen schon von jung auf die Möglichkeit zur kriti
schen Auseinandersetzung mit Medien und Kultur bekommen. Die
kulturelle Bildung in Schulen und anderen Einrichtungen wollen wir
stärken. In diesem Kontext müssen wir insbesondere auch die Ar
beitsbedingungen für freie Kulturschaffende verbessern. Auch un
ser Kulturerbe soll zugänglicher werden. Dafür müssen wir es erhal
ten. Diese Sicherung wie durch die Digitalisierung und Konservierung
beim Film ist eine zentrale Aufgabe unserer Kulturpolitik und muss
finanziell und institutionell gefördert werden.
Unsere Auseinandersetzung mit Geschichte, insbesondere der
Shoa und des Nationalsozialismus, prägt auch unsere gemeinsame
Gegenwart und Zukunft. Eine kritische Perspektive auf die Wirkungs
geschichte und den Umgang mit dieser Vergangenheit bietet für uns
die Grundlage für unseren heutigen Einsatz gegen rechtes Gedan
kengut. Die aktuellen rechtsautoritären Tendenzen verdeutlichen
diese Notwendigkeit. Mit der Unterstützung von Kulturprojekten so
wie einer ausreichenden Finanzierung von Gedenkstätten zum Aus
bau multiperspektivischer Bildungsangebote wollen wir Erinne
rungskultur auch in der Einwanderungsgesellschaft fördern. Wir
brauchen neue Formen der Erinnerungskultur, um über Trennendes in
den Dialog zu treten und uns über gemeinsame Werte zu verständi
gen. Deutschlands kultureller Reichtum hat sich schon immer durch
Austausch und Öffnung entwickelt. Abschottung lässt jede kulturelle
Entwicklung verkümmern.
Die NS-Aufarbeitung ist auch auf dem Feld der Raubkunst nicht
abgeschlossen. Wir wollen mit umfassenden Aufarbeitungs- und Re
cherchemaßnahmen dafür sorgen, dass alle Raubkunstgüter zurück
gegeben werden können und den vielen betroffenen NS-Überleben
den und ihren Angehörigen wenigstens in dieser Frage – wenn auch
spät – ein Stück weit Gerechtigkeit wiederfährt. Die gesellschaftliche
und wissenschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie Hilfe für
deren Opfer und Benachteiligte sind für uns weiterhin ein großes
Anliegen.
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Freiheit im Herzen
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Lebenslange Teilhabe ist die Grundlage einer gemeinsamen
Kultur. Dafür braucht es auch aktive und barrierefreie Angebote.
Zudem müssen Förderentscheidungen in der Kulturpolitik nachvoll
ziehbar sein. Kriterien wollen wir daher vorab kommunizieren und
Förderentscheidungen transparent begründen. Es gilt, neue Förder
wege zusammen mit den Kulturschaffenden zu entwickeln und
auszuprobieren, um insbesondere kleinere Vorhaben gezielt zu för
dern. Bundeskulturpolitik darf sich hier nicht auf Schaufenster- und
Großprojekte beschränken. Kultur lässt sich nicht an Metropolen
festmachen, wir unterstützen und fördern Kultur gerade auch im
ländlichen Raum. Kulturelle Kooperation ist zumal in politisch ange
spannten Zeiten geeignet, den Zusammenhalt in Europa und der
Welt zu stärken. Um deutschen Kulturakteur*innen die Teilnahme an
Förderprogrammen der EU zu ermöglichen, gibt es bewährte Mo
delle, zum Beispiel Anschubfinanzierung als Hilfe zur internationa
len Projektentwicklung („seed money“) und Kofinanzierungsfonds
(„matching funds“). Wir GRÜNE werden die Förderung der Geschlech-
tergerechtigkeit im Kultur- und im Medienbereich, immer noch keine
Selbstverständlichkeit, weiter voranbringen. Kultur muss für alle zu
gänglich und erlebbar sein – unabhängig von Wohnort, Geldbeutel,
Herkunft, Alter, körperlichen Voraussetzungen oder Identität.
5. Wir gestalten eine nachhaltige Sportentwicklung
Sport tut gut. Unserer Gesundheit und unserer Gesellschaft. Sport
ermöglicht Integration und Inklusion. Deswegen wollen wir, dass
alle Menschen nach ihren Wünschen und Bedürfnissen Sport trei
ben können. Sport findet überall statt: in Vereinen, Fitnessstudios
oder privat im Park. Dazu brauchen wir bewegungsfreundliche
Städte, intakte Sportstätten sowie ausreichend Freiwillige. Breiten-
und Spitzensport müssen zusammen gedacht werden, denn beide
profitieren voneinander.
Fehlentwicklungen im Spitzensport, wie Doping, Korruption und
gigantomane Sportgroßveranstaltungen dürfen wir nicht zulassen.
Doping ist gesundheitsschädlich, unfair und gefährdet die Integri
tät des Sports. Auf nationaler und internationaler Ebene brauchen
wir wirksame Prävention, funktionierende Kontrollmechanismen
und eindeutige Konsequenzen bei Dopingverstößen. Spitzensport
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
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förderung darf sich nicht nur an Medaillen, sondern muss sich vor
allem an Athlet*innen orientieren. Die Dopingvergangenheit in Ost
und West gilt es lückenlos aufzuklären. Dopingopfer müssen wir an
gemessen unterstützen.
Korruptionsskandale auf höchster Ebene der Sportfunktionär*innen
und die zunehmende Kommerzialisierung bedrohen den Sport. Wir
machen weiter Druck und fordern Transparenz und Good Governance
auch im Sport. Bei Sportgroßveranstaltungen muss die Bevölkerung
einbezogen werden. Hier müssen Menschen- und Bürger*innenrechte
sowie soziale und ökologische Standards eingehalten werden.
Für Gewalt und Diskriminierung gib es im Sport keinen Platz.
Wir setzen hier besonders auf Prävention und wollen sozialpädago
gische Fanprojekte stärker unterstützen. Programme gegen Rechts
extremismus im Sport wollen wir bündeln und eine weltoffene und
vielfältige Fankultur fördern. Gleichzeitig schützen wir die Bürger*in
nenrechte von Fußballfans und diese vor ausufernden Datensam
mlungen und Kollektivstrafen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Freier Eintritt ins Museum, Zugänge verbessern,
Kultur fördern
Wir wollen sowohl die Teilhabe an Kultur ermöglichen, unab
hängig von Einkommen, Alter und Bildung, als auch die Entste
hung von Kultur in allen Branchen fördern. In unseren Museen
liegt das kulturelle Erbe in seiner ganzen Vielfalt. Allen Men
schen freien Zugang zu den Dauerausstellungen der Bundes
museen zu gewähren, ist für uns Teil der kulturellen Daseinsvor
sorge. Wir stärken partizipative Projekte kultureller Bildung und
öffnen darüber hinaus viele Wege zu kleinen wie großen Kul
turorten. Wir wollen Modellprojekte umsetzen, um neue Zugän
ge zu Kunst und Kultur zu erschließen und mehr Teilhabe zu
ermöglichen. Mit den Kulturförderprogrammen des Bundes för
dern wir eine breit gefächerte Kulturlandschaft, insbesondere
jenseits des ökonomisierten Mainstreams.
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Whistleblower*innen gesetzlich schützen –
Transparenz stärken
Wir wollen, dass Edward Snowden frei und sicher in einem de
mokratischen Land leben kann, wir wollen ihm Asyl in Deutsch
land anbieten. Wir haben ihm viel zu verdanken. Nur durch sei
nen Mut, mit Informationen an die Öffentlichkeit zu gehen,
wurde die skandalöse Ausspähung und Massenüberwachung
von Bürger*innen durch die NSA bekannt. Auch die Offenlegung
von massenhafter und organisierter Steuerhinterziehung durch
die Panama-Papiere, Luxleaks und bei Cum-Ex-Geschäften ver
danken wir Whistleblower*innen. Bürger*innen, die sich dafür
einsetzen, Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu ma
chen, die dem öffentlichen Interesse und dem Allgemeinwohl
dienen, müssen dabei unterstützt und geschützt werden. Des
halb wollen wir GRÜNE sowohl ein europäisches wie ein natio
nales Gesetz zum Schutz von Whistleblower*innen, das diese
Menschen vor Strafverfolgung und Kündigung schützt. Mehr
Transparenz wollen wir auch durch die Einführung eines öffent
lichen Lobbyregisters erreichen.
Mehr Beteiligung für eine lebhafte Demokratie
Direkte Demokratie ist für uns GRÜNE ein zentrales Anliegen.
Deshalb wollen wir Volksentscheide im Grundgesetz verankern
und direktdemokratische Beteiligung auf allen Ebenen stärken.
Das gilt auch für Jugendliche. Damit sie mitbestimmen können,
setzen wir uns dafür ein, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken.
Denn das Recht auf frühe Mitbestimmung und die entsprechen
de demokratische Bildung motiviert junge Menschen, sich in die
Gesellschaft einzubringen. Wer früh lernt, wählen zu gehen,
setzt dies auch später fort und motiviert andere, auch zu wählen.
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BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
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V. WIR MACHEN
VERBRAUCHERINNEN UND
VERBRAUCHER STARK
Täuschung, Tricksereien und Betrug – viele Menschen werden auch
im Jahr 2017 noch zu oft über den Tisch gezogen. Während US-ame
rikanische VW-Kund*innen angemessene Entschädigungen für ma
nipulierte Autos bekommen, gehen deutsche Kund*innen leer aus.
Datengiganten und mächtige Internetkonzerne sammeln und ver
werten unsere Daten nahezu unkontrolliert. Hinter bunten Verpa
ckungen und Fake-Siegeln verbirgt die Lebensmittelindustrie unge
sundes Essen von teils minderer Qualität. Baustoffe dürfen bisher
ungeprüft und undeklariert gesundheitsschädliche Substanzen ent
halten.
Verbraucher*innenschutz betrifft alle Menschen – in nahezu allen
Lebensbereichen. Von der ersten Kontoeröffnung über den täglichen
Einkauf bis zur Altersvorsorge. Als GRÜNE schützen wir Verbrauche
rinnen und Verbraucher vor Täuschung, Vertrags-Tricksereien und
Missbrauch von Daten. Wir kämpfen für mehr Transparenz, mehr ge
setzlichen Schutz und faire Klagerechte: So sieht grüner Verbrau
cher*innenschutz aus.
1. Nachhaltige Konsumentscheidungen ermöglichen
Ob T-Shirt, Steak oder Smartphone: Woher ein Produkt kommt, was
es enthält und wie es produziert wurde, bleibt viel zu oft im Dun
keln. Wer will schon mit seinem Einkauf für Kinderarbeit und andere
Menschenrechtsverletzungen, verseuchte Flüsse oder Tierleid ver
antwortlich sein? Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben
auch ein Recht auf Transparenz über die Herkunft von Produkten
und die Arbeits- und Produktionsbedingungen, unter denen sie her
gestellt wurden. Deshalb wollen wir transparente Lieferketten mit
sozialen und ökologischen Mindeststandards durch entsprechende
Offenlegungs und Sorgfaltspflichten erreichen. Es muss klar sein,
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was in einer Verpackung steckt. Nur wenn draufsteht, was drin ist,
hat nachhaltiger Konsum eine Chance.
Für Fleisch und Milch wollen wir eine einfache Kennzeichnung
einführen, die klar und deutlich zeigt, wie das Tier gehalten wurde –
so wie bei Eiern längst etabliert. Diese muss auch für verarbeitete
Produkte gelten. Dann können Konsument*innen Tierleid und Um
weltzerstörung die Rote Karte zeigen.
Für mehr Ernährungsvielfalt ist die Gemeinschaftsverpflegung
in Schulen, Kitas und Kantinen ein wichtiger Schlüssel: Gutes vege
tarisches und veganes Essen sollte zum alltäglichen Angebot gehö
ren. Menschen, die sich pflanzlich ernähren wollen, müssen dazu
auch die Möglichkeit haben – abseits vom trockenen Brötchen oder
einseitigen Beilagen.
Gutes Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Fehlernährung
und Übergewicht verursachen massive Gesundheitsprobleme bei
Kindern. Unser Ziel ist es, dass jedes Kind ein gesundes Mittagessen
bekommt. Wir wollen die Schulverpflegung ausbauen und durch
verbindliche Qualitätsstandards verbessern. Dem aggressiven Mar
keting für ungesunde Kinderlebensmittel wollen wir durch klare
Regeln für Werbung einen Riegel vorschieben. Kitas und Schulen
sollen frei von PR-Aktionen sein.
Kundinnen und Kunden werden entmündigt, wenn unverständli
che Nährwertangaben Dickmacher verschleiern oder vegetarische
und vegane Lebensmittel unklar gekennzeichnet sind. Wir wollen,
dass die Lebensmittelpackung die Wahrheit sagt, beispielsweise
durch eine Nährwertampel.
Transparenz muss auch bei der Lebensmittelhygiene gelten. Wir
wollen ein Hygienebarometer für Gaststätten einführen. So können
Verbraucherinnen und Verbraucher erkennen, wie ein Betrieb bei
der Lebensmittelüberwachung abgeschnitten hat.
Ob Lebensmittel, Kleidung, Möbel oder Baustoffe: Derzeit
herrscht ein undurchsichtiger Siegel-Dschungel. Zwischen nichts
sagender Industriewerbung und einem kontrollierten Qualitäts
siegel lässt sich schwer unterscheiden. Man muss teils Miss Marple
oder Sherlock Holmes spielen, um herauszufinden, wo und wie et
was produziert wurde und was enthalten ist. Darunter leidet die
Glaubwürdigkeit ganzer Branchen. Wir wollen mit dem Siegel
Dschungel aufräumen. Deshalb engagieren wir GRÜNE uns für Min
destanforderungen für die wichtigsten Branchen und klare Kriterien
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Freiheit im Herzen
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für beispielsweise „fair“ oder „regional“. So schaffen wir die Voraus
setzungen dafür, dass es echte Orientierung gibt.
Gesundheitliche Risiken durch Schadstoffe oder Rückstände in
Produkten und Lebensmitteln müssen ausgeschlossen werden. Das
gilt beispielsweise für hormonelle Schadstoffe wie Phthalate, die
in unzähligen Alltagsprodukten wie Verpackungen, Spielzeug oder
Kosmetik zu finden sind, oder für Mineralölrückstände in Lebens
mittelverpackungen.
Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wollen die Wegwerfge
sellschaft hinter sich lassen und ressourcenschonend konsumieren.
Hierfür wollen wir die Unternehmen dazu bewegen, zugunsten von
Verbraucherinnen und Verbrauchern zu nachhaltigen Lebensdauern
zurückzukehren. Außerdem müssen Produkte so gebaut sein, dass
sie bei einem Defekt repariert werden können, anstatt weggewor
fen zu werden. Das wird aber unmöglich gemacht, wenn Akkus fest
verschweißt werden, Updates nicht mehr zur Verfügung gestellt
werden, Kabel nicht mehr passen oder die Reparatur teurer ist als
der Neukauf. So wird technologischer Fortschritt zum ökologischen
und verbraucherpolitischen Rückschritt und es entstehen Müll
berge aus Elektronikschrott. In Zukunft müssen Produkte so gebaut
sein, dass sie länger halten, einfach zu reparieren sind und Akkus
und Batterien sich austauschen lassen. Das wollen wir über Vorga
ben für ein ökologisch sinnvolles Design und eine deutliche Verlän
gerung der gesetzlichen Mindestgewährleistungsfristen erreichen.
Es ist absurd, wie stark diese von den technisch möglichen Lebens
dauern der Geräte abweichen. Verbraucher*innen sollen zudem erst
nach zwei Jahren statt bisher sechs Monaten in der Beweispflicht
stehen. Wir fordern, dass bei Produkten künftig die zu erwartende
Lebensdauer angegeben wird, und wir setzen uns dafür ein, nach
schwedischem Vorbild den reduzierten Mehrwertsteuersatz auf Re
paraturdienstleistungen zu erheben.
2. Verbraucher*innenrechte gelten im Netz wie auf der Straße
Bisher gibt es in Deutschland und Europa anders als in den USA kei
ne finanziellen Entschädigungen für die vom Dieselskandal Betrof
fenen. Für Einzelne ist es oft viel zu schwer, das geltende Recht
auch zur Geltung zu bringen. So weigern sich etwa Fluggesellschaf
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ten, Entschädigungsansprüchen nachzukommen. Wir wollen end
lich Gruppenklagen ermöglichen, die das Prozessrisiko auf viele
Schultern verteilen.
Der Dieselskandal hat gezeigt, dass Verbraucher*innen- und Ge
sundheitsschutz für die Bundesregierung allenfalls zweitrangig
gegenüber der Diesel-Lobby sind. Wir brauchen eine Kehrtwende.
Staatliche Aufsichtsbehörden müssen endlich auch den Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem Ziel machen. Sie müs
sen sich dafür starkmachen, dass Verbraucherinnen und Verbrau
cher voll entschädigt werden, wenn sie über den Tisch gezogen
wurden. Unrechtmäßig erzielte Gewinne, beispielsweise durch Kar
tellverstöße, sollen den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu
rückgegeben werden, indem aus diesen Mitteln die unabhängige
Verbraucher*innenberatung gestärkt wird.
Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher auch im Netz
stärken und schützen. Wir akzeptieren nicht, dass Google, Face
book, WhatsApp und Co unsere persönlichsten Informationen hor
ten und exakte Persönlichkeitsprofile von uns anlegen. Wer im In
ternet unterwegs ist, hat das Recht zu wissen, an wen seine oder
ihre Daten weitergegeben werden, und muss dagegen widerspre
chen können. Gesundheitsdaten müssen auch digital geschützt
werden. Auch in Zeiten von Big Data müssen die Grundsätze des
Datenschutzes – Gesetzesvorbehalt, Erforderlichkeit und Zweck
bindung – konsequent durchgesetzt werden. Personenbezogene In
formationen sind hochsensibel und vom Grundgesetz besonders
geschützt. Die Debatte ums „Dateneigentum“ führt in die Irre. Statt
die Nutzung von Daten und den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen
und Bürger gegeneinander auszuspielen, setzen wir uns für einen
effektiven Persönlichkeitsschutz und die Ermöglichung innovativer
Angebote ein.
Die Menschen müssen sich auf ihr Recht auf kostenfreie Aus
kunft, Korrektur und Löschung ihrer Daten verlassen können. Die
sen Pflichten dürfen sich Unternehmen auch nicht dadurch entzie
hen, dass ihre Zentralen sich außerhalb Europas befinden. Dafür
fordern wir Ansprechpartner*innen dieser Unternehmen in Deutsch
land, an die man sich wenden kann.
Algorithmen bestimmen heute, wer wie viel zahlt, welche Wer
bung angezeigt wird und welche Kreditbedingungen wir bekom
men. Je nach Wohnort oder Endgerät sind manche Produkte unter
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schiedlich teuer. Gegen Ausspähung und Diskriminierungseffekte
braucht es klare Regeln – für Transparenz und Verbraucher*innen
schutz im Digitalen. Dazu gehört auch die Wahlfreiheit im Netz. Was
heute bei Telefon, SMS und Mail selbstverständlich ist, muss auch
bei Messenger-Diensten oder sozialen Netzwerken möglich sein:
unkompliziert zwischen Anbietern und Plattformen wechseln und
kommunizieren zu können. Dazu wollen wir Interoperabilität unter
stützen und deren Umsetzung von großen Anbietern fordern.
3. Besserer Schutz vor Abzocke durch Banken und Versicherer
Fünf Euro fürs Geldabheben an fremden Automaten, überhöhte Ge
bühren für Basiskonten, unverhältnismäßige Dispozinsen und un
zureichende Beratung bei Vermögensanlagen und Versicherungen.
Finanzieller Verbraucher*innenschutz ist dringend notwendig,
schützt vor Abzocke und steht für eine bessere Beratung: vom ers
ten Konto über Anlageberatung bis zur Altersvorsorge.
Die finanziellen Verluste durch falsche Anlageberatung werden
für die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher auf circa
50 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Das ist nicht nur volks wirt
schaftlicher Irrsinn, sondern beraubt Sparer*innen und Versicherte
und zerstört im schlimmsten Fall Existenzen. Doch trotz aller Ver
sprechungen der Großen Koalition stehen dabei immer noch nicht
die Bedürfnisse und Wünsche der Kundinnen und Kunden im Vor
dergrund, sondern Verkaufsvorgaben und Provisionsversprechen
für die „Berater*innen“. Deshalb werden wir Provisionen und Gebüh
ren deckeln und transparent machen. Unser Ziel, eine wirklich un
abhängige Finanzberatung auf Honorarbasis für alle, wollen wir
nach einer angemessenen Übergangszeit erreichen. Aber auch da,
wo es nicht um die großen finanziellen Fragen des Lebens geht, sind
Verbraucherinnen und Verbraucher den Instituten oft schutzlos
ausgeliefert. Dispozinsen von zwölf Prozent und mehr sind keine
Ausnahme. Wir GRÜNE wollen, dass kein Bankkunde in die Dispofal
le läuft. Deshalb werden wir den Dispozins deckeln und ihn deutlich
unterhalb des jetzigen Niveaus und in Abhängigkeit von einem Leit
zins gesetzlich begrenzen. Ebenso muss der Zugang zu einem güns
tigen Basiskonto sichergestellt sein, denn gesellschaftliche Teilha
be hängt heute auch von der eigenen EC-Karte ab. In der Alters vorsorge
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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wollen wir mit einem staatlichen Basisprodukt eine transparente
Alternative zum Dschungel der Altersvorsorgeprodukte schaffen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Wissen, was drin ist – Tierprodukte kennzeichnen
Kein Ei mit der 3! So lautet der Spruch der wohl erfolgreichsten
Tierschutzinitiative aller Zeiten. Seit die Haltungsform der Lege
hennen gekennzeichnet werden muss, ist nämlich Schluss mit
der Käfighaltung. Die Käufer*innen haben „mit dem Einkaufs-
beutel“ abgestimmt. Wir sind sicher: Das wird auch bei anderen
Produkten funktionieren. Deshalb fordern wir eine klare und ein
fache Kennzeichnung der Art der Tierhaltung auf sämtlichen
Tierprodukten – wie beim Ei. Auch bei verarbeiteten Produkten
soll die Packung besagen, was in ihr steckt. Künftig muss daher
auf der Packung gut sichtbar sein, wo und wie die Tiere gehalten
wurden.
Datenschutz ausweiten – Privatsphäre wahren
Datenhungrige Unternehmen speichern individuelles Verhalten
ihrer Kund*innen und nutzen diese Daten zur Profilerstellung.
Die bestehenden Schutzmechanismen wie das Prinzip der Ein
willigung laufen dabei ins Leere. Alle Verbraucherinnen und Ver
braucher haben das Recht zu wissen, wer was wann und wo über
sie speichert. Nur sie selbst – kein*e Arbeitgeber*in, kein Inter
netanbieter, keine Krankenkasse und auch nicht der Staat – dür
fen bestimmen, wer Zugriff auf ihre Daten hat und was damit
geschehen soll. Wir werden darauf drängen, dass bei der Anpas
sung der deutschen Datenschutzgesetze an die EU-Datenschutz
reform die hohen EU-Standards für klare Grenzen von Sammlung
und Verwertung persönlicher Daten und Informationen nicht
aufgeweicht werden.
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Freiheit im Herzen
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Gruppenklagen für Verbraucherinnen und Verbraucher
ermöglichen
Der Fall VW hat einmal mehr deutlich gemacht: Es ist für Ver
braucherinnen und Verbraucher zu schwer, ihre Rechte wirksam
durchzusetzen. Viele überlegen zweimal, ob sie den Aufwand
auf sich nehmen, ihre Rechte gerichtlich gegen einen Großkon
zern durchzusetzen. Wir wollen das einfacher machen. Verbrau
cherinnen und Verbraucher sollen sich zu Gruppenklagen zu
sammenschließen und gemeinsam durch Gruppenklagen ihre
Ansprüche klären können.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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VI. WIR MACHEN DAS
INTERNET FREI UND SICHER
Smartphone-App, soziale Netzwerke oder vernetzte Dienste in un
serem Zuhause: Der digitale Wandel verändert unsere Gesellschaft
immens. Innovationen können unsere Lebensqualität erhöhen, sei
es der erleichterte Zugang zu Informationen und onlinebasierter
Bürger*innenbeteiligung, seien es der intelligent gesteuerte Ener
gieverbrauch oder neue Formen von Teilen und Mobilität. Zugleich
treibt immer mehr Menschen der Schutz und die Sicherheit ihrer
individuellen Rechte und Daten im Internet um, angesichts der
Macht einzelner Konzerne, staatlicher Überwachung, ständiger
Erreichbarkeit oder zunehmenden Hasses und Hetze im Netz.
Wir wollen den digitalen Wandel politisch gestalten. Wir richten
unsere Politik an den Interessen der Menschen aus, nicht der Kon
zerne. Unsere leitenden Werte sind dabei: Freiheit, Gerechtigkeit,
Nachhaltigkeit und Demokratie. Für diese treten wir im Netz ein –
und gegen Hetze, Hass und Gewalt. Digitale Selbstbestimmung
treibt uns an und daher setzen wir uns ein für modernen Ver
braucher*innen- und Datenschutz, höchste Standards bei der
IT-Sicherheit, fairen Wettbewerb und Innovationsfähigkeit. Selbst
bestimmung im digitalen Zeitalter bedeutet auch, dass Verbrau
cher*innen die Kontrolle über ihre Geräte haben. Sie müssen bei
Bedarf die Software unabhängig vom Hersteller verändern können,
sodass Hersteller Geräte nicht durch ausbleibende Updates in Elek
troschrott verwandeln.
Wir wollen die Potenziale des digitalen Wandels für Bildung
und Forschung, gleichberechtigte Teilhabe, sozialen Fortschritt
und eine nachhaltige Wirtschaft nutzen. Für Innovationen im digi
talen Zeitalter, bessere (digitale) Infrastruktur und für mehr IT-
Sicherheit für alle Menschen und Unternehmen ist Regulierung
erforderlich. Gemeinsam mit einer engagierten Zivilgesellschaft
streiten wir für schnelles, neutrales Internet und starke Ver
braucher*innenrechte, mehr E-Government und offene Daten,
freie und offene Software sowie Vertrauen durch Sicherheit in der
digitalen Welt und gegen Massenüberwachung und uferloses Auf
rüsten der Geheimdienste.
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1. Schnelles und offenes Internet für alle
Schnelles Internet ist Teil der Daseinsvorsorge und Voraussetzung
für Teilhabe in der digitalen Gesellschaft. Eine zukunftsfähige und
nachhaltige Breitbandversorgung soll mittels Glasfaser überall in
Deutschland bis zu jeder Haustür (FTTB) sichergestellt werden. Mit
einer öffentlichen Netzgesellschaft wollen wir den flächendecken
den Glasfaserausbau voranbringen, dafür bringt der Bund min
destens den Erlös des Verkaufs seiner Telekom-Aktien (circa zehn
Milliarden Euro) ein. Damit gründen wir öffentliche Breitband
gesellschaften für den Glasfaserausbau im ländlichen Raum, um die
Versorgung mit schnellem Internet im ganzen Land sicherzustellen.
Zusammen mit Kommunen und weiteren Partner*innen können so
vor Ort Gesellschaften für den Glasfaserausbau gegründet werden.
Den schnellen und umfassenden Ausbau des zukünftigen 5G-Mobil
funknetzes werden wir aktiv unterstützen und uns dabei auch für
ein flächendeckendes freies und offenes WLANNetz einsetzen.
Wir setzen uns für echte Netzneutralität für alle ein, auch im
Mobilfunk, und kämpfen gegen ein „Zwei-Klassen-Internet“. Echte
Netzneutralität ist die Voraussetzung für einen fairen digitalen
Wettbewerb und einen offenen, barrierefreien Zugang für alle Men
schen. Mit der endgültigen Abschaffung der Störerhaftung schaffen
wir offene und rechtssichere WLAN-Zugänge. Die Freifunk-Bewe
gung wollen wir besser fördern. Wir setzen uns beim Mobilfunk für
eine konsequente Minimierung der Strahlenbelastung ein.
Wir wollen ein Urheber*innenrecht, das der Nutzungs- und Ver
wertungsrealität im Digitalen Rechnung trägt. Es muss bürger
rechtskonform sein und die Interessen von Verbraucher*innen,
Verwerter*innen und Urheber*innen fair ausgleichen. Wir müssen
mit Reformen des Urheber*innenvertragsrechts die angemessene
Vergütung von Kreativen stärken. Sie müssen ihre Ansprüche natio
nal und international besser durchsetzen können. Nutzer*innen
digitaler Inhalte sollen bei Ausleihe und Weiterveräußerung nicht
schlechtergestellt werden als bei analogen Gütern. Wissenschaftli
che Erkenntnisse bedeuten gesellschaftliche Teilhabe. Deswegen
unterstützen wir Open Access ebenso wie freie und nicht-kommer-
zialisierte Zugänge zu Lehr- und Lernmaterialien und setzen uns für
eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke ein. Gleichzeitig müssen
Urheber*innen angemessen und fair vergütet werden. Inhalte sol
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len auf unterschiedlichen Endgeräten nutzbar und mitnehmbar
sein. Bei der Digitalisierung des kulturellen Erbes wollen wir die
Gemeinfreiheit erhalten.
2. Gemeinsam gegen Hass im Netz
Mit Sorge beobachten wir die Verbreitung von Hass und Hetze im
Netz. Die Strafverfolgung hingegen hinkt diesen Auswüchsen weit
hinterher. Wir GRÜNE wollen dafür sorgen, dass Menschen, die sich
volksverhetzend äußern oder andere mit Mord- und Vergewalti
gungsfantasien bedrohen, konsequent zur Rechenschaft gezogen
werden. Große Anbieter sozialer Netzwerke gehören hier in die
Pflicht genommen, dürfen aber nicht in eine Richter*innenrolle
gedrängt werden. Sie müssen offensichtlich strafrechtswidrige In
halte umgehend löschen. Gerichte und Strafverfolgungsbehörden
müssen sie bei der Dokumentation und Verfolgung solcher Fälle un
terstützen. Dafür ist rund um die Uhr eine inländische Kontaktstelle
für Anfragen von Strafverfolgungsbehörden vorzuhalten und sind
entsprechende Reaktionsfristen einzuhalten, ansonsten drohen
Bußgelder.
Einer Aushebelung der anonymen und pseudonymen Nutzung
von Online-Diensten und damit der Meinungsfreiheit und -vielfalt
stellen wir uns klar entgegen. Auskunft über Bestandsdaten von
Nutzer*innen an private Dritte auf Entscheidung der Anbieter leh
nen wir ab. Strafverfolgungsbehörden und Gerichte müssen tech
nisch und personell so ausgestattet werden, dass sie Rechtsverstö
ße im Netz in angemessener Zeit bearbeiten können. Hasspostings
und Falschmeldungen sind oft auch ein Fall für die medienrecht
liche Aufsicht, die wir entsprechend ausstatten wollen. Im Netz
muss erkennbar sein, ob Mensch oder Maschine kommunizieren. Wir
fordern deshalb eine Kennzeichnungspflicht für Computerprogram
me (Social Bots), die eine menschliche Identität vortäuschen und zu
Zwecken der Manipulation und Desinformation eingesetzt werden
können.
Nicht alles, was hetzerisch im Netz geäußert wird, ist rechtswid
rig. Meinungsfreiheit gilt auch für abseitige, oftmals schwer erträg
liche Positionen. Wir fordern Internet-Unternehmen auf, intensiv
mit Organisationen zusammenzuarbeiten, die sich für Opfer von
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 167
Hass und Hetze, Rassismus und Diskriminierung im Internet einset
zen, und diesen auch direktere Meldewege zur Verfügung zu stel
len. Ein demokratisches Netz braucht Nutzer*innen, die Hass und
Hetze eine klare, ethisch begründete Haltung entgegensetzen, die
Inhalte kritisch hinterfragen, um Falschmeldungen keine Chance zu
geben, und die sich aktiv in Diskussionen mit Gegenrede einbringen,
um Betroffene von Rassismus und Mobbing zu unterstützen. Ein
freies, offenes und inklusives Netz lebt von der Einbindung und dem
Engagement der Zivilgesellschaft.
Digitale Kompetenz ist heute eine Grundvoraussetzung für
gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben. Wir wollen daher
mehr Programme für digitale Bildung und Medienkompetenz –
altersgerecht für Jung und Alt. Auch Polizei und Staatsanwaltschaf
ten müssen hier ihre Fähigkeiten erweitern. Wir benötigen mehr Be
ratungs- und Anlaufstellen für Opfer von Cybermobbing und Gewalt
im Netz sowie gut geschultes Personal der Strafverfolgungsbe
hörden, insbesondere zur Unterstützung von Frauen und Mädchen,
die besonders oft davon betroffen sind.
3. Vertrauen im Netz sichern
Wer ständig überwacht wird, ist nicht frei. Selbst wer glaubt, „nichts
zu verbergen zu haben“, ist angreifbar. Effektiver Grundrechte
schutz ist das Fundament einer freien Gesellschaft. Dies gilt auch
im digitalen Zeitalter. Menschen müssen wissen, wer wann was
über sie weiß. Datenschutz ist aber mehr als nur informationelle
Selbstbestimmung. Die Wahrung von Grundrechten im Digitalen
darf keinesfalls auf den oder die Einzelne*n abgewälzt werden.
Vielmehr bleibt der Staat in der Pflicht, private Kommunikation,
persönliche Daten, Beschäftigtendaten und digitale Infrastrukturen
effektiv zu schützen.
Je mehr hochsensible Informationen sich auf unseren digitalen
Geräten befinden, desto wichtiger wird, dass der grundrechtliche
Schutz für den Kernbereich unserer persönlichen Lebensgestaltung
konsequent beachtet und ausgebaut wird – gerade auch bei der
Strafverfolgung.
Auch im Digitalen bietet Prävention den effektivsten Schutz vor
Angriffen. Die bestehenden Aufsichtsstrukturen werden wir perso
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
168
nell und rechtlich deutlich stärken, um den Verbraucher*innen- und
Datenschutz konsequent zu gewährleisten. Das Bundesamt für Si
cherheit in der Informationstechnik (BSI) werden wir unabhängig
stellen. Ob private Kommunikation, öffentliche Stellen, die Wirt
schaft oder digitale Infrastrukturen – als GRÜNE setzen wir uns für
die Sicherheit aller im Digitalen ein. Hier muss der Staat endlich mit
effektiven wie rechtsstaatlichen Maßnahmen seiner Schutzpflicht
nachkommen. Daher lehnen wir es ab, dass staatliche oder private
Akteur*innen IT-Sicherheitslücken für den eigenen Nutzen und zum
Schaden der Allgemeinheit geheim halten. Vielmehr müssen sie
diese Lücken melden, damit sie rasch geschlossen werden können.
Die Bundeswehr muss sich auf neue Bedrohungslagen einstellen
und der Bund muss seine IT-Infrastrukturen besser schützen. Offen
sive Operationen in andere Systeme lehnen wir jedoch klar ab. Jeg
licher Einsatz digitaler Einsatzkapazitäten muss der parlamentari
schen Kontrolle unterliegen.
Mit der immer stärkeren Vernetzung unseres Alltags, wie etwa
beim „Internet der Dinge“, wachsen die Anforderungen für eine ver
lässliche IT-Sicherheit an die Wirtschaft. Wir setzen auf klare recht
liche Vorgaben, wollen aber auch Anreize für Unternehmen schaf
fen, in gute und sichere IT-Lösungen zu investieren. Wir fordern,
dass der Zeitraum, in dem Produkte mit zeitnahen Sicherheitsup
dates versorgt werden, für Verbraucher*innen einheitlich und gut
sichtbar gekennzeichnet ist und für eine typabhängige Mindestfrist
garantiert werden muss. Unternehmen wollen wir dazu anhalten,
IT-Sicherheit noch stärker bereits im Produkt- und Softwareent
wicklungsprozess zu berücksichtigen.
Freie, quelloffene Software und freie Formate und Standards
sind für uns einer der Eckpfeiler für sichere und zukunftsfähige IT-
Systeme. Wir wollen diese deshalb bei öffentlichen IT-Beschaffun
gen bevorzugen, insbesondere dann, wenn Bürger*innen diese ein
setzen sollen. So senken wir die Abhängigkeit von einzelnen
Herstellern, erhöhen die Transparenz und sichern die Nachnutzung.
Die öffentliche Förderung für die Entwicklung von freier Standard
software wollen wir mit Blick auf IT-Sicherheit ausbauen. Ebenso
wollen wir im Sinne eines nachhaltigen IT-Einsatzes die Rechte von
Nutzer*innen stärken, auf ihren Geräten freie und offene Software
und Firmware einzusetzen.
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 169
4. Für einen modernen Datenschutz
Datenschutz ist wesentliche Bedingung für eine freiheitliche Demo
kratie. Er ermöglicht freie individuelle und gesellschaftliche Entfal
tung und schützt vor Eingriffen des Staates und von Konzernen. Die
etablierten Datenschutzziele müssen in der Entwicklung und als
Voreinstellung von Technologie verankert werden. Personenbezo
gene Daten sind unveräußerlich und daher kein Handelsgut. Auto
matisierte Diskriminierung wollen wir unterbinden, sei es beim in
dividuellen Preis Profiling, beim KreditScoring oder auch bei der
inneren Sicherheit. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich alle Un
ternehmen an die rechtlichen Vorgaben wie das neue EU-Daten
schutzrecht halten. Wir sehen einen starken Datenschutz als inter
nationalen Wettbewerbsvorteil, den wir verteidigen und ausbauen
wollen. Den Mittelstand wollen wir aktiv im Bereich Datenschutz-
und IT-Sicherheit unterstützen und Anreize für datenschutzfreund
liche Lösungen setzen. Der Staat muss seine Verantwortung für
eine zukunftsfähige Regulierung endlich annehmen. Wir wollen für
die Bestandsdatenauskunft von IPAdressen eine Berichtspflicht
der Internetzugangsanbieter einführen und die Hürde für die Ab
frage erhöhen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Schnelles Internet für alle – Glasfaser ausbauen
Wir wollen, dass schnelles Internet mittels Glasfaser von der
Banken-City bis zu jedem Bauernhof direkt bis zur Haustür ver
fügbar ist. Eine öffentliche Netzgesellschaft soll den flächen
deckenden Glasfaserausbau unterstützen, der Bund bringt min
destens den Verkaufserlös seiner Telekom-Aktien ein, Kommunen
und weitere Partner*innen sollen auch mitmachen können. Den
schnellen Ausbau des zukünftigen 5G-Mobilfunknetzes werden
wir aktiv unterstützen. Wo 5G ausgebaut wird, muss auch WLAN
angeboten werden, damit wir einen offenen, freien und flächen
deckenden Zugang zu WLAN erhalten. Halten Unternehmen die
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
170
vertraglich zugesicherten Mindestbandbreiten nicht ein, werden
zukünftig Bußgelder und Schadenersatzzahlungen an die Kun
den fällig.
Sichere Infrastrukturen
Digitale Angriffe auf IT-Infrastrukturen vom Heimcomputer über
Bundestagsserver bis zu Energie- und Industrieanlagen sind an
der Tagesordnung. Wir GRÜNE wollen diese Systeme effektiv
schützen, uns aber auch der digitalen Aufrüstung in diesem
Bereich entgegenstellen. Der beste Schutz vor Angriffen sind si
chere und überprüfbare Systeme. Staatliche Stellen müssen ver
pflichtet werden, IT Sicherheit zu stärken. Bewusstes Offenhal
ten von Sicherheitslücken ist rechtsstaatlich mit der Schutzpflicht
gegenüber den Bürger*innen nicht zu verantworten, birgt un
kontrollierbare Risiken und gehört daher verboten. Um staatli
che und andere kritische Infrastrukturen zu schützen, werden
wir die Entwicklung von umfassenden Sicherheitskonzepten
vorantreiben und fördern. Eine durchgehende Ende-zu-Ende-
Verschlüsselung werden wir zum Standard machen.
Moderne Verwaltung mit E-Government
Mit mehr Mut zu Open Data, barrierefreien E-Government
Dienstleistungen und Open Government werden wir einen ent
scheidenden Beitrag leisten, um unsere Verwaltung zu moderni
sieren, Bürokratie abzubauen und unsere Demokratie zu beleben.
Wir setzen uns für Open-Data-Regeln ein, die Behörden ver
pflichten, vorhandene Daten von sich aus leicht auffindbar,
maschinenlesbar und kostenfrei und unter freier Lizenz für die
Öffentlichkeit bereitzustellen.
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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E. GERECHTIGKEIT
IM SINN
Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Diesen Wohlstand verdan
ken wir vielen engagierten Beschäftigten, innovativen Unterneh
men und einer langen Tradition sozialer Sicherungssysteme. Doch
längst nicht alle können an diesem gemeinsam erwirtschafteten
Wohlstand teilhaben. Auch in unserem reichen Land gibt es Armut
und Perspektivlosigkeit, die sich noch dazu über Generationen ver
festigt. Deshalb setzen wir uns seit unserer Gründung für mehr so
ziale Gerechtigkeit in unserem Land ein.
Während es in vielen Regionen seit Jahren nahezu Vollbeschäfti
gung mit gut bezahlten Jobs gibt, gibt es zugleich Gebiete, in denen
viele junge und ältere Menschen arbeitslos sind und keine Chancen
sehen. Andere haben Jobs mit Zukunft, reiben sich aber auf, um Fa
milie, eigene Interessen und Arbeit in Einklang zu bringen. Zu viele
arbeiten unter schlechten Bedingungen und hangeln sich von einer
befristeten Beschäftigung zur nächsten. Während viele von Globali
sierung und Digitalisierung profitieren, fürchten andere, ihre Jobs
an Roboter oder ans Ausland zu verlieren. Insbesondere Beschäftig
te, die einfache Dienstleistungen erbringen, leben mit stagnieren
den Löhnen und teilweise schlechten Arbeitsbedingungen. Pfle
ger*innen, Erzieher*innen und Polizist*innen müssen trotz ihrer
gesellschaftlich enorm wichtigen Arbeit mit vergleichsweise niedri
gen Einkommen über die Runden kommen. Die hohe Vermögens
konzentration bei einigen wenigen schadet auch laut OECD der
Wirtschaft und Gesellschaft, während viele mit geringem Einkom
men Schulden haben, kaum in die Zukunft ihrer Kinder investieren,
geschweige denn etwas zur Seite legen können. Diese Probleme
löst man nicht, indem man nur über die Erfolge redet.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Politik ist es, Bedingungen zu
schaffen, damit alle Menschen ihre Fähigkeiten einbringen und ein
gutes, selbstbestimmtes Leben führen können. Deshalb streiten wir
für eine inklusive Gesellschaft, an der alle Menschen teilhaben kön
nen. Wir wollen neue Chancen und bessere Arbeitsbedingungen
schaffen. Uns geht es um eine Gesellschaft, in der alle an dem ge
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
172
meinsam erwirtschafteten Wohlstand teilhaben können und die al
len gleiche Chancen und Möglichkeiten bietet. Die Sprossen der ge
sellschaftlichen Leiter dürfen nicht so weit auseinanderliegen, dass
Aufstieg kaum möglich ist. Gleichzeitig darf in unserer Gesellschaft
Armut keinen Platz haben, denn sie grenzt aus. Armut schadet aber
auch uns allen: nicht nur den Menschen, die ihrer Zukunftschancen
und der Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben beraubt werden,
sondern auch der Gesellschaft, die auf die Talente und Fähigkeiten
aller angewiesen ist.
Wir nehmen es nicht hin, dass in unserem Land 2,5 Millionen
Kinder in Armut leben. Wir wollen, dass jede und jeder mit eigener
Anstrengung und der solidarischen Unterstützung der Gesellschaft
ein gutes Leben führen und ihr Recht auf Selbstbestimmung und
Teilhabe verwirklichen kann. Bildung spielt für uns dabei eine ent
scheidende Rolle. Unser Bildungssystem ist durch die Reformen vie
ler grün mitregierter Länder besser, gerechter und durchlässiger ge
worden. Doch für echte Gerechtigkeit sorgt es noch nicht. Immer
noch entscheidet zu oft die soziale Herkunft über Bildungs- und
Aufstiegschancen. Das liegt insbesondere auch daran, dass in vielen
Schulen sortiert statt individuell gefördert wird.
Wir wollen Schulen, die auf die individuellen Bedürfnisse von
Schüler*innen eingehen und sie ermutigen, nicht blockieren und
bremsen. Um das zu erreichen, treten wir konsequent für den Aus
bau des möglichst langen gemeinsamen Lernens ein. Wir wollen
das Kooperationsverbot aufheben. Um Chancengerechtigkeit zu
schaffen, müssen Bund, Länder und Kommunen ohne Hindernisse
zusammenarbeiten können. Auch offene und inklusive Hochschulen
sind dafür ein wichtiger Schlüssel.
Wir werden ein großes Reformpaket auf den Weg bringen, um
Kinderarmut zu bekämpfen, Familien finanziell zu entlasten und
die Unterstützung von Alleinerziehenden deutlich zu verbessern.
Wir werden Steuersümpfe trockenlegen und dafür sorgen, dass
auch Superreiche endlich ihren fairen Beitrag zum Gemeinwohl
leisten. Wir wollen damit in die Entwicklung lebenswerter Quar
tiere, in Kindertagesstätten, Schulen, Stadtbüchereien, Jugend
zentren und in bezahlbare Wohnungen investieren – all das sind
Orte, auf die Menschen mit wenig Geld besonders angewiesen
sind, von deren guter Ausstattung aber die gesamte Gesellschaft
profitiert.
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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Wir werden die Zwei-Klassen-Medizin abschaffen und stattdes
sen mit einer Bürger*innenversicherung eine gute Gesundheitsver
sorgung für alle ermöglichen. Wir streiten für auskömmliche Renten
und eine gute Pflege im Alter. Wir wollen verhindern, dass Men
schen sich von einem unsicheren Arbeitsplatz zum nächsten han
geln müssen. Wir wollen den Menschen wieder mehr Souveränität
über ihre eigene Zeit geben, damit sie Beruf, Familie und Engage
ment besser miteinander verbinden können.
Ein solidarisches Sicherungssystem und eine starke Wirtschaft
bedingen sich gegenseitig. Wir setzen auf eine Wirtschaft, die fair
und stabil, innovativ und voller Gründergeist ist. Die Chancen der
Digitalisierung wollen wir ergreifen und diese Umwälzung so ge
stalten, dass sie allen nutzt. So stärken wir den gesellschaftlichen
Zusammenhalt und die Akzeptanz unserer Demokratie, die durch
Ungerechtigkeiten und Abstiegsängste gefährdet sind. Wir wollen,
dass alle an die Möglichkeiten in unserem Land glauben – und sie
auch tatsächlich nutzen können.
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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I. WIR INVESTIEREN IN
KINDERTAGESSTÄTTEN,
SCHULEN UND
HOCHSCHULEN
Alle, die hier leben, sollen sich verwirklichen und selbstbestimmt
leben können. Wenn das Kind aus einer Arbeiterfamilie später
Unternehmer*in wird und gute Arbeitsplätze schafft, wenn der al
leinerziehende Krankenpfleger es sich leisten kann, Pflegemanage
ment zu studieren, wenn die seit Längerem arbeitslose Lageristin
nach einer Weiterbildung einen neuen Job findet, wenn der schwer
hörige Junge zusammen mit den Nachbarskindern in der Schule um
die Ecke lernt und seinen Traum einer Ausbildung als Altenpfleger
erfüllen kann und die aus Syrien nach Deutschland geflüchtete Frau
Medizin studiert, dann haben wir viel erreicht. Dann sind wir unse-
rem Ziel, allen Menschen in Deutschland eine Chance auf ein gutes
Leben zu ermöglichen, ein gutes Stück näher gekommen. An man
chen Orten klappt das schon, da haben sich Menschen längst auf
den Weg gemacht: etwa an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln.
Einst als „Deutschlands schlimmste Schule“ bezeichnet, lernen in
dieser Gemeinschaftsschule nun Schüler*innen mit unterschiedli
cher Herkunft zusammen und alle profitieren. Viele von ihnen ma
chen als Erste ihrer Familie das Abitur. Oder an der Universität Duis
burg-Essen, die gezielt Jugendliche aus Familien ohne akademische
Erfahrung bis zum Bachelor begleitet. Davon brauchen wir mehr. Zu
oft bestimmt immer noch die Herkunft über die eigene Zukunft und
nicht etwa Talent oder Fleiß.
Es ist ein Skandal, dass es für Kinder aus Arbeiterfamilien bei uns
so schwierig ist aufzusteigen. Das wollen wir GRÜNE ändern. Jede
und jeder soll die Chance auf ein gutes Leben bekommen. Unsere
Gesellschaft braucht die Ideen, die umfassende Teilhabe und die
Kraft aller Menschen. Wir können und wollen es uns nicht leisten,
Menschen perspektivlos und abgehängt zurückzulassen. Dabei ist
uns wichtig, dass in dieser Gesellschaft nicht nur diejenigen geför
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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dert oder geschätzt werden, die ein Studium abgeschlossen haben,
sondern alle. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der nicht soziale
Herkunft, Geschlecht, ethnische Wurzeln oder körperliche Voraus
setzungen über die Zukunft von Menschen entscheiden, sondern
deren Wünsche und Talente. Wir stemmen uns gegen die Spaltung
in drinnen und draußen, wollen die Gesellschaft zusammenhalten
und Chancen gerechter verteilen. Deshalb wollen wir den Bür
ger*innen Steuerüberschüsse gerade auch in Form von besserer
Bildung zurückgeben. Wir wollen keine Steuersenkungen, die vor
allem Gutverdienenden zugutekommen, sondern mehr Investitio
nen in Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen unterstützen.
1. Mit guter, inklusiver Bildung Türen öffnen
Kindertagesstätten, Schulen, Jobcenter, Stadtbüchereien, Jugend
zentren und Volkshochschulen – all das sind Orte, die grundlegend
für eine chancengerechte Gesellschaft sind. Dort werden Chancen
verteilt – oder eben nicht. Deshalb ist die öffentliche Infrastruktur
vor Ort so wichtig. Doch ausgerechnet hier hat Deutschland drin
gend Nachholbedarf. Investitionen fallen seit Jahrzehnten dem
Rotstift zum Opfer. Öffentliche Stellen werden gestrichen. Schulen
verwahrlosen, Jugendzentren werden geschlossen und Stadtbüche
reien zusammengelegt. Diese falsche Schwerpunktsetzung werden
wir beenden. Wir werden der allgemeinen Bildung und der For
schung und Entwicklung wieder Vorrang einräumen. Es muss unser
Ziel bleiben, mindestens sieben Prozent (statt derzeit circa 4,2 Pro
zent) der Wirtschaftsleistung in die allgemeine Bildung und min
destens 3,5 Prozent (statt derzeit circa 2,9 Prozent) in Forschung
und Entwicklung zu investieren. Wir GRÜNE wollen Länder und
Kommunen dabei unterstützen, Kindertagesstätten, Schulen, Be
rufsschulen und Hochschulen besser zu bauen und auszustatten.
Diese Investitionen in die Zukunft zahlen sich aus. Denn sie schaf
fen für jede und jeden die Chance, von der eigenen Arbeit zu leben
und der Gesellschaft etwas zurückgeben zu können. In vielen Län
dern wurde unter grüner Beteiligung deshalb so viel Geld in Bildung
investiert wie noch nie zuvor.
Für den weiteren Ausbau des Angebots und zur Verbesserung
der Qualität soll der Bund mit mindestens drei Milliarden Euro pro
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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Jahr eine größere Verantwortung für die frühkindliche Förderung
übernehmen. Konkret heißt das: Alle Kinder bekommen einen An
spruch auf einen Ganztagsplatz in einer guten Kita, die mehr als nur
eine Betreuungseinrichtung ist und in der Kinder von null bis zur
Einschulung ganzheitlich und interkulturell gefördert werden, in
dem Erzieher*innen Zeit haben, jedes einzelne Kind zu unterstüt
zen. Als das Land, in dem das international verbreitete Erfolgs
konzept des Kindergartens erfunden wurde, wollen wir den ganz
heitlichen Gedanken nach vorne stellen und Qualität sichern.
Mindeststandards für die Qualität sollen das bundesweit sicherstel
len. Für ganzheitliche Bildung, Erziehung und Betreuung soll die
Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen unter
stützt werden. Das gut ausgebildete Personal muss deshalb Zeit ha
ben, Kindertageseinrichtungen als Orte für die ganze Familie und
vor allem frühkindlicher Bildung zu gestalten. Außerdem wollen wir
die Erzieher*innenausbildung neu gestalten und attraktiver ma
chen. Grundsätzlich ist unser Ziel die beitragsfreie Bildung von An
fang an – auch in Kitas. Zunächst muss in den Ausbau und in die
starke Verbesserung der Qualität investiert werden. Klar ist, dass
kein Kind von einer Kita ausgeschlossen sein darf, weil sich die El
tern diese nicht leisten können. Auch für einen Rechtsanspruch auf
Ganztagsbetreuung in der Grundschule bis zum Ende der vierten
Klasse für alle Grundschulkinder streiten wir. Schulen haben in den
vergangenen Jahren zahlreiche neue Aufgaben bekommen, die viele
Lehrer*innen, Erzieher*innen und andere Pädagog*innen unter teils
schwierigen Bedingungen bereits mit großem Engagement über
nehmen: Dazu zählen inklusiver Unterricht von Kindern mit und
ohne Behinderung, längeres gemeinsames Lernen, digitale und kul
turelle Bildung, Willkommensklassen oder auch Schulsozialarbeit.
Bildung soll vielfältige Möglichkeiten bieten. Dazu gehört auch, an
demokratischen Prozessen teilzuhaben. Wir setzen uns deshalb für
die Stärkung von demokratisch organisierten Schulen ein. Schulen,
an denen junge Menschen fürs Leben lernen und die auf eine gute
Zukunft vorbereiten, müssen selbst Orte der Zukunft sein. Um die
Ziele einer nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen zu er
reichen, ist es erforderlich, entlang der Bildungskette von der Kita
bis zur Erwachsenenbildung die Voraussetzungen dafür zu schaf
fen. Dies erfordert die Umsetzung der Maßnahmen eines Nationa
len Aktionsplans Bildung für nachhaltige Entwicklung.
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 177
Der Bund sollte seine neuen Möglichkeiten, finanzschwache
Kommunen im Bildungsbereich zu unterstützen, nun rasch nutzen
und ein Förderprogramm zur Sanierung von maroden Schulen auf
legen, das auch die baulichen Grundlagen für den Auf- und Ausbau
von Ganztagsschulen legt und an eine umfassende Beteiligung und
ein Konzept für eine moderne, zeitgemäße pädagogische Architek
tur geknüpft wird. Auch um einen Ausbau des längeren gemeinsa
men Lernens umsetzen zu können. Denn in unseren Schulen gelingt
es zu selten, ungleiche Startchancen auszugleichen. Dafür werden
wir in den nächsten fünf Jahren zehn Milliarden Euro bereitstellen
und so 10.000 Schulen fit für die Zukunft machen. Damit Schulen
den Kindern Chancen eröffnen, die unter schwierigen Bedingungen
aufwachsen, und auch jene fordern, die viel leisten können. Diese
schmale Öffnung der Verfassung war ein erster Schritt. Wir GRÜNE
streiten weiter dafür, das Kooperationsverbot komplett aufzuhe
ben. Bund und Länder müssen ihre gemeinsame Verantwortung
auch gemeinsam übernehmen können. Wir wollen auch vergleich
bare Schulabschlüsse in ganz Deutschland erreichen. Dafür muss
der Bildungsföderalismus entkrustet werden.
Wir schlagen den Ländern eine gemeinsame Bildungsoffensive
vor. Denn die Qualität in Kita und Schule ist entscheidend. Gute in
klusive Bildung setzt nicht nur eine intakte Bildungsinfrastruktur
voraus, sondern auch gut ausgebildete Lehrer*innen, Erzieher*innen,
Sozialarbeiter*innen, Künstler*innen oder Handwerker*innen in
Schulen. Deshalb wollen wir mit einem Bundesprogramm Schulen
in benachteiligten Stadtquartieren oder Regionen mit mehr päda
gogischem Personal und mehr Mitteln ausstatten. Dann wäre es
auch möglich, den dringend nötigen Ausbau der Ganztagsbetreu
ung finanziell zu unterstützen. Der Bund könnte mithelfen, dass es
für alle, die das wünschen, einen Platz an einer Ganztagsschule
oder in der Hortbetreuung gibt.
Uns GRÜNEN geht es darum, allen Menschen zu ermöglichen, ihr
Leben selbstbestimmt zu gestalten. Im Moment aber spaltet sich
die Gesellschaft immer mehr in Gewinner*innen und Verlierer*innen.
Erwerbstätige mit Berufsausbildung verdienen im Laufe ihres Be
rufslebens eine Viertel Million Euro mehr als diejenigen ohne Aus
bildung. Deshalb fordern wir GRÜNE eine Ausbildungsgarantie, die
an die Stelle des unübersichtlichen Durcheinanders von Förder
maßnahmen tritt. Alle Jugendlichen sollen direkt nach der Schule
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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eine anerkannte Berufsausbildung beginnen können, anstatt ziellos
von Maßnahme zu Maßnahme geschoben zu werden.
Die Ausbildung junger Menschen ist eine gesamtgesellschaft
liche Aufgabe, an der insbesondere die Wirtschaft ein überge
ordnetes Interesse haben muss. Um die Ausbildungsbeteiligung
dauerhaft zu erhöhen und damit Betrieben wie Jugendlichen gute
Perspektiven zu sichern, befürworten wir branchen- und regions
spezifische Umlagen zur solidarischen Finanzierung der Berufs
ausbildung. Wir wollen allen Auszubildenden ein eigenständiges
Leben ermöglichen. Deshalb fordern wir eine Stärkung der Tarif
autonomie und ergänzend zu den einzelnen Tarifverträgen eine
Mindestausbildungsvergütung. Gleichzeitig setzen wir uns dafür
ein, dass die Berufsausbildungsbeihilfe einfacher in Anspruch ge
nommen werden kann und sich die Höhe realistisch an den Lebens
haltungskosten orientiert. Um Mobilität während der Ausbildung
zu garantieren, setzen wir uns für ein kostengünstiges Auszu
bildendenticket ein. Dadurch entstehen endlich bessere Bedingun
gen für den Fachkräftenachwuchs und gesellschaftlich zentrale
Branchen wie Handwerks-, Sozial- und Pflegeberufe werden auf
gewertet.
Auch das Thema Analphabetismus und mangelnde Grundbil
dung wollen wir gemeinsam mit der Wirtschaft stärker in den Fokus
nehmen und flächendeckend passende Angebote machen. Hoch
schulen müssen offen sein für alle – ob Arbeiter*innen- oder Akade
miker*innenkind, ob Mann oder Frau, jung oder alt, ob einheimisch,
eingewandert oder hierher geflüchtet.
Es liegt nicht am Können, dass heute nur ein Viertel der Kinder
von Nichtakademiker*innen studiert, gleichzeitig aber drei Viertel
der Kinder aus Akademiker*innenfamilien. Daher muss die Studien
finanzierung grundlegend verändert werden: Das BAföG muss wie
der zum Leben reichen und für Studierende jeden Alters und in Teil
zeit geöffnet werden. Wir wollen ein BAföG, das Sicherheit schafft
und nicht durch eine starre zeitliche Begrenzung Druck aufbaut.
Mittelfristig soll die Studienfinanzierung aus einem Studierenden
zuschuss für alle und einem Bedarfszuschuss für Studierende aus
ärmeren Elternhäusern bestehen. Die Alters- und Semestergrenzen
der studentischen Krankenversicherung müssen angepasst werden.
Studiengebühren lehnen wir ab. Auch die FernUniversität in Hagen
wollen wir weiter stärken.
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 179
Doch der Zugang zum Studium allein reicht noch nicht aus. Auch
die Vereinbarkeit von Familie und Studium beispielsweise durch die
Möglichkeit des Teilzeitstudiums und bessere Studienbedingungen
sind wichtig, also gute Lehre, ausreichend Beratungsangebote und
mehr Lehrende zur Unterstützung der Studierenden. Dafür wollen
wir die Bundesprogramme und Bund-Länder-Pakte endlich zu ei
nem stimmigen Gesamtpaket weiterentwickeln und verstetigen.
Dabei wollen wir auch Standards wie zum Beispiel Gleichstellung
verankern, um Frauen auf allen Ebenen unseres Wissenschaftssys
tems zu fördern.
Wir werden demokratische und partizipative Strukturen an
Hochschulen stärken. Wir setzen uns für mehr Kooperationen zwi
schen Bund und Ländern und zwischen den Hochschulen ein, weil
wir wollen, dass nicht nur an einzelnen Leuchtturmstandorten, son
dern überall gut studiert und geforscht werden kann. Wir wollen
einen Bund-Länder-Aktionsplan „Studentisches Wohnen“ auflegen.
Der Zugang zur Wissenschaft als Beruf muss gerecht sein. Wir
werden das Wissenschaftszeitvertragsgesetz überarbeiten und ei
nen Aufbruch für zusätzliche Stellen vorantreiben, um so die Situa
tion für Wissenschaftler*innen zu verbessern. Wissenschaftler*innen
brauchen faire Arbeitsverträge, weniger Abhängigkeiten und weni
ger Befristungen, damit sie ohne Existenzangst gut und frei for
schen können.
2. Bildung für eine digitalisierte und vernetzte Welt
Unser Leben wird immer stärker durch Software, Algorithmen und
digitale Endgeräte geprägt. Selbstbestimmung und gesellschaftli
che Teilhabe in allen Lebensbereichen werden so auch immer mehr
davon abhängig, ob wir digital mündig sind und welche digitalen
Kompetenzen wir haben. Dies stellt eine enorme Herausforderung
für unser gesamtes Bildungssystem dar.
Die Kulturtechniken der Digitalisierung – vom Programmieren
bis zum kritischen Umgang mit digitalen Geräten und Prozessen –
sollen allen Schülerinnen und Schülern vermittelt werden. Didakti
sche Konzepte und Modellerfahrungen dazu liegen bereits vor; wir
wollen uns dafür einsetzen, diese endlich in den Regelbetrieb zu
übertragen. Dafür sollen in einer gemeinsamen Anstrengung mit
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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allen Bundesländern Basiskompetenzen im Bereich Informatik, Me
dienanwendung und kritische Medienkunde als weiterer Baustein
naturwissenschaftlicher Bildung verbindlich eingebracht werden.
Auch im Bereich der Weiterbildung wollen wir dafür sorgen, dass
unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft digitale Kompeten
zen zum Teil der Allgemeinbildung werden.
3. Zugänge in Arbeit schaffen
Chancengerechtigkeit ist nicht nur eine Frage für junge Menschen.
Es muss auch darum gehen, dass Menschen, die mitten im Leben
stehen oder deren Lebensweg nicht gradlinig verläuft, ihre Zukunft
selbst in die Hand nehmen können. Den Grundgedanken des le
benslangen Lernens gilt es zu stärken. Das heißt für uns, dass es
auch später im Leben möglich sein muss, etwas dazuzulernen, sich
weiterzubilden oder auch beruflich zu verändern. Gute Bildung kos
tet Zeit und Geld. Beides ist für viele Menschen Mangelware. Die
grüne BildungsZeit Plus sorgt mit einem Mix aus Zuschuss und Dar
lehen dafür, dass gerade die Menschen, die heute noch viel zu
selten an Weiterbildungen oder dem Nachholen von Schul- oder
Berufsabschlüssen teilnehmen, die Zeit und die Kosten dafür auf
bringen können. Für vielfältige und hochwertige Bildungsangebote
braucht es weiterhin gute Arbeitsbedingungen und eine faire Be
zahlung für Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung.
Aber auch Menschen mit Behinderung, Jugendliche ohne Aus
bildung, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose oder ältere Be
schäftigte brauchen passgenaue Integrationsstrategien und Wei
terbildungsangebote. Die Arbeitslosenversicherung muss zu einer
Arbeitsversicherung werden, die alle Menschen unterstützt – und
zwar schon, bevor sie arbeitslos werden.
Erfolgreiche Integration fußt auf Chancen und Perspektiven. Wer
neu in Deutschland ankommt, soll seinen Alltag möglichst schnell
selbständig meistern können. Alle Asylsuchenden sollen sofort
nach ihrer Ankunft damit beginnen können, Deutsch zu lernen, und
einen Anspruch auf Teilhabe an den Integrationskursen erhalten.
Deshalb wollen wir, dass Geflüchteten der Weg in die Arbeitswelt
rasch offensteht. Dort lernen sie den deutschen Arbeitsalltag, ein
heimische Gepflogenheiten und hiesige Berufe kennen. Wir legen
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Gerechtigkeit im Sinn
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Wert auf frühzeitige Bildungsangebote und passende Sprachförde
rung. Um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration zu
verbessern und dafür zu sorgen, dass eine Ausbildung nicht länger
an einer unsicheren Bleibeperspektive scheitert, wollen wir, dass
Asylsuchende und Geduldete rechtssichere Aufenthaltstitel für die
Ausbildung und die anschließende Beschäftigung erhalten. Eine
Differenzierung nach Bleiberechtsperspektiven lehnen wir ab. Wir
wollen auch, dass Bildungs- und Berufsabschlüsse, genauso wie be
rufliche Kenntnisse, schneller und großzügiger anerkannt werden.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Qualität in Kindertagesstätten sichern –
mehr Erzieher*innen für unsere Kleinsten
Die Zukunft beginnt in der Kindertagesstätte. Kindertagesstätten
bieten Raum zum Spielen, Lernen und Sprechen – und Kindern
die Chance auf Bildungserfolg. Die Zeit, die eine Fachkraft für die
unmittelbare pädagogische Arbeit mit den Kindern hat, ist häufig
zu knapp bemessen. Deswegen wollen wir bundesweit in einem
Gesetz Qualitätsstandards festlegen und endlich die Vorausset
zung dafür schaffen, dass auch Kindern mit Behinderung ihr
Recht – wie jedes andere Kind in eine Kita gehen zu können –
nicht verwehrt wird. Ein*e Erzieher*in soll künftig höchstens drei
Kinder unter drei Jahren beziehungsweise höchstens zehn älte
re Kinder betreuen. Wir wollen in Aus- und Weiterbildung von
Erzieher*innen investieren und Rahmenbedingungen schaffen,
dass sie besser bezahlt werden. Der Bund soll sich mit mindestens
drei Milliarden Euro pro Jahr an den zusätzlichen Kosten beteili
gen. Außerdem sollen Elternbeiträge in der Kindertagesbetreu
ung sozial gestaffelt sein.
10.000 Schulen fit für die Zukunft machen
Wir wollen dafür sorgen, dass der Schulerfolg endlich nicht mehr
durch die soziale Herkunft vorbestimmt wird. Individuelle Förde
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Gerechtigkeit im Sinn
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rung braucht Zeit und Raum. In inklusiven Ganztagsschulen
können alle Schüler*innen ihre Begabungen und Interessen in
Kunst, Kultur und Sport gut entwickeln. Längeres gemeinsames
Lernen hilft allen Schüler*innen. Wir fördern deshalb gezielt den
Auf- und Ausbau von Gesamt- beziehungsweise Gemeinschafts
schulen. Wir arbeiten weiter daran, das Kooperationsverbot auf
zuheben, sodass der Bund sich finanziell beteiligen kann, den
Aufbau von weiteren Ganztagsschulplätzen überall im Land an
zustoßen. Mit vier Milliarden Euro soll sich der Bund beteiligen.
Wir wollen finanzschwache Kommunen gezielt entlasten und den
enormen Sanierungsstau auflösen. Um Schulen zu sanieren, stel
len wir in den nächsten fünf Jahren zehn Milliarden Euro bereit
und machen damit 10.000 Schulen fit für die Zukunft. Wir wollen
Schulen auch für die digitale Zukunft fit machen. Schulen sollen
dann finanziell unterstützt werden, wenn sie stimmige pädagogi
sche Konzepte für digitales Lernen vorlegen. Wir unterstützen
Kommunen dabei, Raum für die vielen neuen Schüler*innen zu
schaffen. Der Bildungsföderalismus darf nicht vorgeschoben
werden, um wichtige Zukunftsinvestitionen zu verhindern.
Studieren besser finanzieren
Bildungsgerechtigkeit bedeutet für uns, allen Studienchancen zu
eröffnen. Jede*r muss unabhängig vom Geldbeutel der Eltern
und von der Herkunft studieren können. Wir wollen in einem ers
ten Schritt dafür sorgen, dass das BAföG künftig automatisch
und regelmäßig erhöht wird und eine ortsabhängige Wohnpau
schale enthält. So können Studierende steigende Lebenshal
tungskosten und Mieten schultern. Im zweiten Schritt wollen
wir die Studienfinanzierung zum Zwei Säulen Modell weiterent
wickeln. In der ersten Säule erhalten alle Studierenden einen
Studierendenzuschuss – einen gleich hohen Basisbetrag für alle.
Mit der zweiten Säule kommt ein individuell bemessener Be
darfszuschuss hinzu. Beides soll, anders als das jetzige BAföG,
nicht zurückgezahlt werden müssen.
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II. WIR KÄMPFEN FÜR BEZAHL
BARE WOHNUNGEN UND
LEBENSWERTE KOMMUNEN
Zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit, in Kindertagesstätten und
der Schule verbringen wir zusammen unser Leben. Vor Ort werden
unsere Alltagsfragen beantwortet. Ist der Weg zum Job schnell er
reichbar und die Miete bezahlbar? Ist die Ärztin, der Arzt nur einen
Katzensprung entfernt? Fährt der Bus alle fünf Minuten oder exis
tiert gar keine Haltestelle? Gibt es fußläufig eine Lieblingskneipe,
Kinos und ausreichend Sportstätten? Ist der Dorfladen ein naher
und beliebter Treffpunkt oder längst geschlossen? Kann man ein
fach mal losradeln, ohne Slalom durch Schlaglöcher fahren zu müs
sen? Diese Grundlagen des Alltags sorgen für Wohlbefinden oder
Frust. Sie prägen unser Zusammenleben und bestimmen, ob ein Ar
beitsplatz erreichbar und die Balance zwischen Familie und Arbeit
möglich ist und ob alle Menschen leben können, wie und wo sie
wollen. Sie entscheiden mit, ob Kinder gut aufwachsen, ob ein gu
tes Leben im Alter möglich ist und die Pflege reibungslos funktio
niert. Die Lebensqualität wird vom Angebot vor Ort entschieden,
egal ob auf dem Land oder in der Stadt. Unsere Wohnorte sollen
Teilhabe und Chancen im Alltag unabhängig vom eigenen Geldbeu
tel ermöglichen. Ein umfangreiches und hochwertiges öffentliches
Angebot vor Ort ist ein Sprungbrett ins gesellschaftliche Leben, ge
rade für Menschen ohne großen finanziellen Spielraum.
1. Heft des Handelns in die Hände vor Ort
Kein Ort gleicht dem anderen. Während viele Städte und Ballungs
räume sich neuer Bevölkerungszunahme und wachsendem Wirt
schaftsdruck stellen müssen, leiden viele Klein- und Mittelstädte
unter struktureller wirtschaftlicher Schwäche. Dadurch verstärken
sich nicht nur soziale Ungerechtigkeiten, sondern ebenso regionale
Ungleichheiten. Es gibt wohlhabende und finanzschwache, wach
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sende und halb verlassene, alte und junge Städte und Gemeinden –
oft in direkter Nachbarschaft. Bei aller Vielfalt vor Ort und der ge
meinsamen Aufgabe, einen eigenen Weg einzuschlagen, ist eines für
alle gleich: Städte und Gemeinden müssen das Heft des Handelns in
der Hand behalten. Nur so können sie autonom handeln und passend
entscheiden, wer das Busangebot stellt, bezahlbares Wohnen schafft
oder das Wasserwerk und das Stromnetz betreibt.
Öffentliche Museen und Theater, sanierte Schulen, gute Sport
plätze und intakte Quartiere sorgen an vielen Orten für eine hohe
Lebensqualität. Marode Turnhallen, geschlossene Büchereien und
Kultureinrichtungen sowie schimmelige Schwimmbäder konzen
trieren sich in anderen. Die Schere zwischen armen und reichen
Städten, Gemeinden, Kreisen und Nachbarschaften geht immer wei
ter auseinander. Wir GRÜNE wollen deshalb struktur und finanz
schwachen Kommunen unabhängig von der Himmelsrichtung unter
die Arme greifen. Unser Ziel ist eine angemessene finanzielle Aus
stattung für alle. Mit einem Altschuldenfonds ermöglichen wir hoch
verschuldeten Städten und Gemeinden einen Neustart. Spürbare
Entlastungen von Sozialausgaben erleichtern gerade struktur
schwachen Kommunen das tägliche Geschäft. Die Einnahmen wer
den wir mit der kommunalen Wirtschaftssteuer verlässlicher und
die Grundsteuer gerechter machen, um auch so flächensparendes
Bauen zu begünstigen und gegen Flächenverbrauch und Bauland
spekulationen vorzugehen. Der Bund und die Länder dürfen unsere
Städte und Gemeinden nicht mehr mit immer neuen Aufgaben be
lasten, ohne das nötige Geld dafür zur Verfügung zu stellen. Unser
Grundsatz lautet: Wer bestellt, bezahlt. Außerdem brauchen wir
viel mehr nachhaltige Investitionen. Seit Jahrzehnten fallen immer
wieder Sanierungen und Instandsetzungen von öffentlicher Infra
struktur dem Rotstift zum Opfer oder werden ohne ökologischen
und nachhaltigen Nutzen realisiert. Dieser Investitionsstau konzen
triert sich ausgerechnet auf die ohnehin finanziell gebeutelten
Kommunen. Mit unserem grünen Investitionsprogramm im zwei
stelligen Milliardenbereich wollen wir in einem ersten Schritt bei
der Sanierung von Schulen helfen, da hier in vielen Orten die Not
am größten ist. Außerdem wollen wir die Kommunen bei fairer Be
schaffung durch mehr Beratungsangebote unterstützen.
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2. Bezahlbares Wohnen für alle
Die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung mitten in der Stadt ist
vielerorts vergleichbar mit der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Wohnungen sind heiß begehrt und häufig entscheidet die Zahlkraft
über die oder den neue*n Mieter*in. Das ist heute in vielen Städten
zu einer der großen sozialen Herausforderungen geworden, die fast
jede*n betrifft. Gerade lebendige, bunte Stadtteile sind hip und
durch starke Nachfrage auf frei werdende Wohnungen von Gentrifi
zierung bedroht. Doch der Geldbeutel darf nicht darüber entschei
den, ob Freund*innen, Kindertagesstätte, Jobs und Familie von der
eigenen Wohnungstür aus schnell zu erreichen sind. Bezahlbares
Wohnen in angemessenen Wohnungen ist für uns alle existenziell.
Unsere Wohnungen dürfen keine Spekulationsobjekte sein. Wir
wollen vielfältige und lebendige Stadtteile. Wir wollen verhindern,
dass immer mehr Finanzinvestor*innen den Wohnraum in unseren
Städten kontrollieren und missbrauchen. Deshalb sind Immobilien
spekulationen uneingeschränkt zu besteuern.
Wir GRÜNE setzen uns für eine gemeinwohlorientierte Woh
nungspolitik ein. Dafür wollen wir eine Million Wohnungen bauen
und sozial binden, dauerhaft günstig, lebenswert und mittendrin.
Wir stecken wieder Geld in preiswerten Wohnraum, statt den Bau
von Luxusobjekten zu unterstützen. Wir fördern Wohnungen für
junge Familien und Menschen mit weniger Einkommen. Wir schaf
fen mehr barrierefreie Wohnungen, um alten Bürger*innen und
Menschen mit Behinderung den Weg ins Heim zu ersparen. Wir wol
len mit einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit faires, gutes und
günstiges Wohnen schaffen, Genossenschaften wiederbeleben und
den sozialen Wohnungsbau viel stärker fördern.
Außerdem werden wir GRÜNE auch Menschen mit kleinen und
mittleren Einkommen helfen, Anteile an Genossenschaften zu er
werben. Der Bund darf sich nicht länger als Immobilienspekulant
betätigen, sondern soll Liegenschaften vergünstigt an Kommunen
abgeben, auch zum Beispiel zur Weitergabe an gemeinwohlorien
tierte Träger, wenn das städtebaulich oder wohnungspolitisch er
forderlich ist. Denn Wohnen ist für uns ein Teil der öffentlichen Da
seinsvorsorge.
All das reicht aber noch lange nicht aus. Wir werden Mietsteige
rung begrenzen, die Praxis des Raussanierens bekämpfen und Ver
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drängung beenden. Daher werden wir Mietsteigerungen, dort, wo
Wohnraummangel herrscht, in bestehenden Mietverträgen und in
Milieuschutzgebieten stärker begrenzen. Eine richtige Mietpreis
bremse ohne Hintertür muss her. Wir wollen ein ökologisches und
soziales Mietrecht einführen, damit in guter Lage die klimafreundli
che, warme Wohnung bezahlbar bleibt. Wir wollen es Städten er
leichtern, ihr kommunales Vorkaufsrecht wahrzunehmen. Wir wer
den durch die Anhebung des Wohngeldes bedürftigen Menschen
zusätzlich unter die Arme greifen, den Kündigungsschutz wieder zu
einem Schutzinstrument machen und Mieter*innenschutzverbände
stärken. Wir wollen den Kommunen mit Wohnraummangel ermögli
chen, selbst zu entscheiden, wo sie die Umwandlung von Miet- in
Eigentumswohnungen unterbinden. Wir wollen kurze Wege, mehr
Grün in der Stadt und mehr Treffpunkte und Leben in den Quartie
ren durch Stadtteilzentren fördern. Wir wollen gemischte Quartiere
stärken und der Verdrängung von kleinteiligem Gewerbe vorbeugen
und dazu Gewerbemietspiegel ermöglichen. Wir wollen die Zusam
menarbeit zwischen den Städten und Gemeinden stärken. Die The
men Wohnen und Mobilität wollen wir zusammen denken und eine
verbesserte Anbindung des städtischen Umlandes erreichen. Wir
unterstützen urbane Gärten, Wohnprojekte, Baugemeinschaften,
Bürger*innenenergie und generationengerechtes Wohnen. Flächen
sparendes Bauen und kompakte Raumkonzepte wollen wir stärken,
den Flächenverbrauch auf der grünen Wiese eindämmen und mehr
nachwachsende und gesunde Baustoffe einsetzen. Das Baurecht
werden wir modernisieren und ein faires grünes Wärmepaket aufle
gen, um Ressourcen und das Klima zu schonen – und zwar für alle
bezahlbar. Für lebenswerte Städte und Dörfer mit Identität, für öf
fentliche Plätze, Straßen und Gebäude zum Wohlfühlen unterstüt
zen wir die Entwicklung der Baukultur in den Metropolen wie in den
ländlichen Räumen.
3. Ländliche Räume – lebenswert und zukunftsfähig
Günstiger Wohnraum, ein eigener Garten und der Badesee gleich
um die Ecke, wer erträumt sich das nicht? Keine gute Schule,
Einkaufsmöglichkeiten, Busanbindungen, Ausbildungsmöglichkei
ten oder Jobs, eine schlechtere soziale und ärztliche Versorgung
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sind leider allzu oft die Kehrseite der Medaille, wenn man auf dem
Land lebt. Doch auch die Orte, die nicht so sehr im Fokus stehen,
wollen wir erhalten, pflegen und gedeihen lassen.
Dabei stehen wir vor großen Herausforderungen, denn die Alte
rung der Gesellschaft ist im ländlichen Raum besonders stark zu
spüren. Es sind vor allem die Jüngeren, die nach der Schule ihr Dorf
oder ihre Kleinstadt verlassen. Ein Nebeneinander von wachsenden
Städten sowie Dörfern und Gemeinden, in denen immer weniger
Menschen leben, entsteht. Wir wollen die Möglichkeiten suchen
und nutzen, die sich aus den Umbrüchen und dem Wandel vor Ort
ergeben.
Wir wollen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Erholen von Be
ginn an in der gesamten Region zusammen denken und planen,
barrierefrei und generationengerecht. Wir wissen, wie das auch mit
knappen Ressourcen gelingen kann. Hierfür wollen wir einiges um
krempeln. Die Frage, wie ein Lebensweg verläuft, darf nicht der
geografische Zufall entscheiden. Das ist auch eine Frage von Ge
rechtigkeit. Viele Regionen treten trotz Fördergeldern auf der Stel
le oder drohen, abgekoppelt zu werden. Deshalb braucht es einen
Neustart in der Förderpolitik. Neben der bisherigen wirtschaftsbe
zogenen Strukturförderung durch EU, Bund und Länder brauchen
wir mehr Investitionen in unsere allgemeine Infrastruktur. Dazu
wollen wir die Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern auf
die Förderung der regionalen Daseinsvorsorge in strukturschwa
chen Regionen unabhängig von der Himmelsrichtung im Grundge
setz ausweiten.
Wir machen uns stark für lebendige Ortskerne, damit Innenstäd
te und Dorfkerne weiter Wohnorte bleiben. Wir wollen schnelles
Netz – überall; wie wir das machen, beschreiben wir im Kapitel „Wir
gestalten die Digitalisierung“. Ärzt*innen und Krankenhäuser müs
sen erreichbar sein. Deshalb wollen wir die „Gesundheitsversor
gung aus einer Hand“ stärken. Wir unterstützen auch auf dem Land
das Prinzip „kurze Beine, kurze Wege“. In ländlichen Zwergschulen
können Kinder gemeinsam in kleinen Klassen jahrgangsübergrei
fend lernen und werden ganztägig gut betreut. Wir wollen Vereine
und Jugendarbeit stärken und Angebote für Jugendliche, wie Ju
gendzentren, ausbauen und so in den Zusammenhalt investieren.
Kleinstbetriebe sollen zusammenarbeiten können, um auszubilden.
Damit der Fachkräftenachwuchs auf hochwertige Arbeits- und Aus
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bildungsplätze trifft, wollen wir regionale Wirtschaftskreisläufe in
Schwung bringen. Mit einer gezielten Förderung wollen wir insbe
sondere für Frauen neue Perspektiven schaffen. So bleibt die Wert
schöpfung vor Ort und wir können Regionen beleben, die heute
mehr und mehr verwaisen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Kommunen finanziell entlasten und strukturschwache
Regionen gezielt fördern
Die Schere zwischen armen und reichen Städten, Gemeinden
und Kreisen geht immer weiter auseinander. Wir wollen struktur-
und finanzschwachen Kommunen unter die Arme greifen. Wir
werden die Kommunen spürbar von den Sozialausgaben entlas
ten, indem wir insbesondere die Kosten der Unterkunft und Hei
zung schrittweise übernehmen und den Kommunen so das tägli
che Geschäft erleichtern. Wir ermöglichen hoch verschuldeten
Städten einen Neustart, indem wir übermäßig hohe Schulden in
einen gemeinsamen Fonds (Altschuldentilgungsfonds) überfüh
ren. Das entlastet sie von drückenden Zinsen. Die Einnahmen
wollen wir mit der kommunalen Wirtschaftssteuer verlässlicher
machen. Strukturschwache Regionen brauchen unsere Unter
stützung. Deshalb wollen wir einen Neustart in der Förderpolitik
durch die Schaffung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe Regio
nale Daseinsvorsorge.
Eine Million dauerhaft günstige Wohnungen
Wir brauchen einen Aufbruch für bezahlbares Wohnen. Die Zeit
des Verkaufs und der Spekulation mit Sozialwohnungen muss en
den. Wir wollen eine Million zusätzliche preiswerte Wohnungen.
Im Neubau wie im Bestand, dauerhaft günstig und lebenswert,
möglichst nicht auf der grünen Wiese, sondern innerhalb unserer
Städte und Dörfer. Mit dem Konzept der Neuen Wohnungsge
meinnützigkeit werden wir wieder Genossenschaften, kommunale
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Wohnungsunternehmen und private Investor*innen für den sozia
len Wohnungsbau gewinnen. Das Prinzip dabei ist: Zulagen und
Steuerförderung im Tausch gegen günstigen Wohnraum.
Mietpreise bremsen – für ein Mietrecht ohne Schlupflöcher
Die Mieten explodieren seit Jahren. Damit muss jetzt Schluss
sein. Die Mietpreisbremse ziehen wir endlich richtig an und
schaffen unnötige Ausnahmen ab. Niemand darf wegen Luxus
modernisierungen verdrängt werden. Die Modernisierungsumla
ge in ihrer jetzigen Form ist schädlich. Daher kappen und senken
wir sie deutlich ab und schaffen eine neue, faire Kostenvertei
lung. Der Mietspiegel soll die ökologische Gebäudequalität be
rücksichtigen und die Miethöhen über einen längeren Zeitraum
abbilden. Wir werden die Zeitspanne ohne Mieterhöhungen aus
weiten und Mieter*innenschutzverbände stärken. Wir verdop
peln das Wohngeld, passen es dynamisch an und berücksichti
gen die Heizkosten wieder. Zudem führen wir beim Wohngeld
einen Klimazuschuss für energetisch modernisierte Wohnungen
ein, damit auch Wohngeldempfänger*innen energieeffizient
wohnen können.
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III. WIR TEILEN DEN
WOHLSTAND GERECHTER
Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, wenn das Wohl
standsgefälle in der Bevölkerung zu hoch ist. Die Schere zwischen
Arm und Reich hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahr
zehnten zu weit geöffnet. Obwohl die Wirtschaft stets gewachsen
ist, sank das reale Einkommen von Geringverdiener*innen und
Teilen der Mittelschicht, die Einkommen und Vermögen der Top
verdiener*innen wuchsen dagegen deutlich. Wir GRÜNE wollen das
ändern und alle fair an Wohlstand und Lebensqualität beteiligen.
Niemand soll in Armut leben. Wohlhabende sollen einen fairen Bei
trag zum Gemeinwesen leisten.
Das Auseinanderdriften von Arm und Reich schafft wirtschaftli
che Probleme. Wenn Wohlstandsgewinne bei der Mehrheit der
Menschen nicht ankommen, ist das nicht nur ungerecht – es fehlen
auch kaufkräftige Kunden. Stattdessen fließt zu viel Geld auf den
globalen Finanzmarkt, wo schon zu oft durch spekulative Blasen,
überhitzte Immobilienmärkte und Finanzkrisen Wohlstand vernich
tet wurde.
Zu große Ungleichheit schadet einer demokratischen Gesell
schaft. Denn sie gibt wenigen Menschen zu viel Macht. Und sie ist
ungerecht, denn der Bezug von großem Reichtum zu gesellschaft-
lich anerkannter Leistung geht verloren, während viele Menschen
trotz harter Arbeit kaum über die Runden kommen. Hohe Einkom
men können sich durch besondere Leistung, Anstrengung und Ver
antwortung rechtfertigen. Aber wenn das Dividendeneinkommen
einzelner Großerb*innen höher ist als das Jahreseinkommen aller
Vorstandsvorsitzenden von DAX-Unternehmen zusammen, wenn
Manager*innen das Hundertfache ihrer Angestellten verdienen und
Pflegekräfte, Polizist*innen oder Erzieher*innen unterbezahlt sind,
dann läuft etwas falsch.
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1. Für eine Wende am Finanzmarkt
Entfesselte und aufgeblähte Finanzmärkte haben keinen Nutzen für
die Gesellschaft und verschärfen die Ungleichheit. Der Anteil der
Finanzgeschäfte an der Volkswirtschaft ist in den vergangenen drei
Jahrzehnten stark gestiegen. Viele davon haben keine sinnvolle
Funktion für die reale Wirtschaft, weil Beschäftigte, Unternehmen
oder Verbraucher*innen nichts davon haben. Doch wenn Spekulati
onsblasen platzen, zahlen sie die Zeche.
Seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 sind in Europa noch immer
Millionen Menschen ohne Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit in
einigen südeuropäischen Staaten beträgt über 40 Prozent. Mit Mil
liarden Euro wurden Banken gerettet, Staaten ächzen unter den
Schulden, Geld für öffentliche Investitionen fehlt. Die europäischen
Regierungen haben daraufhin leider viel zu zaghaft reagiert. Der
Finanzsektor bläht sich wieder auf, Immobilienpreise und Mieten
steigen, dem Staat entgehen weiterhin wichtige Mittel durch Steu
ertricks und Betrug. Europäische Banken sind weiter instabil, auch
Bausparkassen, Lebensversicherer oder Pensionskassen haben Pro
bleme.
Wir müssen die Finanzmärkte nach der Finanzkrise noch besser
regulieren, damit sie wieder der Gesellschaft und der Realwirt
schaft dienen, sinnvoll die Investitionen in einer Volkswirtschaft
lenken und den Menschen vernünftige Geldanlagen ermöglichen.
Auch für die ökologische Modernisierung sind starke Finanzmärkte
von großer Bedeutung. Statt der derzeit sehr komplexen wollen wir
einfachere, aber härtere Regeln. Große Banken werden so gehin
dert, diese durch findige Tricks zu umgehen. Für kleine, regional
agierende Kreditinstitute wollen wir den bürokratischen Aufwand
reduzieren. Wir GRÜNE fordern außerdem eine Schuldenbremse für
Banken, damit sie selbst für ihre Verluste einstehen können. Auch
Versicherungen brauchen mehr Eigenkapital und für ihre Stabili
sierung sollen nicht nur Kund*innen, sondern auch ihre Eigen
tümer*innen herangezogen werden. Für Schattenbanken sind viel
strengere Regeln nötig. Den Hochfrequenzhandel werden wir mit
einer Finanztransaktionssteuer und geeigneten Marktregeln aus-
bremsen, damit langfristig orientierte Akteur*innen am Finanz
markt nicht geschädigt werden. Der Staat muss auch den Vertrieb
von schädlichen oder intransparenten Anlageprodukten verbieten.
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Zu große Banken sind eine Gefahr für die Realwirtschaft, da wir
sie nicht ohne Schaden für alle abwickeln können. Deshalb brau
chen wir eine stärkere Fusionskontrolle, die auch das sogenannte
„Too big to fail“-Kriterium berücksichtigt. Für Banken, die bereits zu
groß sind, wollen wir ein Trennbankensystem einführen, sodass das
Einlagengeschäft vom krisenanfälligen Handelsgeschäft getrennt
wird. Als Ultima Ratio muss für solche Banken auch eine Entflech
tung möglich sein. Verbraucher*innen müssen besser vor undurch
sichtigen und gefährlichen Finanzprodukten geschützt werden. Die
provisionsgetriebene Beratung wollen wir verbieten und einen
Umstieg zur Honorarberatung organisieren ( K Kapitel: Wir machen
Verbraucherinnen und Verbraucher stark, S. 157).
2. Für faire Löhne – Arbeit soll sich für alle lohnen
Die Kapitaleinkommen sind in den vergangenen Jahren stark gestie
gen, während die Arbeitseinkommen über viele Jahre weitgehend
stagnierten. Zuletzt sind die Reallöhne zwar wieder gestiegen, aber
es muss jetzt darum gehen, diese Tendenz zu verstetigen. Dafür
wollen wir das Tarifsystem wieder stärken. Tarifverträge sollten
einfacher allgemein verbindlich für alle Betriebe einer Branche gel
ten. Davon profitieren Beschäftigte und Arbeitgeber*innen glei
chermaßen.
Vorstände in großen Unternehmen konnten in den vergan
genen Jahren sehr hohe Gehaltssteigerungen durchsetzen. Das
Verhältnis zwischen ihren Einkommen und normalen Löhnen ist
inzwischen oft unverhältnismäßig zur Leistung. Diesem Trend
wollen wir entgegenwirken, indem wir die Rechte der Aktio
när*innen stärken. So wollen wir, dass Unternehmen verpflichtend
die Vorstandsvergütung in Relation zur Normalbelegschaft veröf
fentlichen müssen.
Die Mitfinanzierung von überhöhten Gehältern, Abfindungen
und Versorgungszusagen durch die Bürgerinnen und Bürger wollen
wir begrenzen. Die steuerliche Abzugsfähigkeit von Abfindungen
wollen wir daher bei einer Million Euro pro Kopf deckeln, jene von
Gehältern bei 500.000 Euro pro Jahr und Kopf. Das ist etwa das
30-Fache des Mindestlohns. Erfolgsbeteiligungen sollen grund
sätzlich an den langfristigen Erfolg des Unternehmens anknüpfen.
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Gleichzeitig sind bei Geringverdiener*innen die Löhne in den
vergangenen Jahrzehnten real gesunken. Der eingeführte Mindest
lohn war ein wichtiger Etappensieg. Er muss ausnahmslos für alle
Angestellten gelten. Damit Geringverdienende mehr im Geldbeutel
haben, wollen wir sie bei den Sozialabgaben entlasten. Viele Milli
onen Menschen arbeiten in Leiharbeit oder befristet. Was im Sinne
der Flexibilität gelegentlich sinnvoll sein kann, wird oft miss
braucht, um Löhne dauerhaft zu senken. Den Trend zu immer mehr
unsicheren Jobs wollen wir GRÜNE umkehren. Ohne guten sachli
chen Grund sollten Jobs nicht mehr befristet werden können und
Leiharbeit ab dem ersten Tag gleich bezahlt werden – plus Flexibi
litätsprämie.
Ein selbstbestimmtes Leben darf auch keine Frage des Ge
schlechts sein. Wir GRÜNE wollen, dass Frauen und Männer endlich
die gleichen Karrierechancen haben und gleiche Löhne für gleiche
und gleichwertige Arbeit erhalten. Wir setzen uns für ein echtes
Entgeltgleichheitsgesetz, die bessere Bezahlung von typischen
Frauenberufen sowie eine funktionierende Frauenquote ein.
Minijobs wollen wir in sozialversicherungspflichtige Jobs um
wandeln und dafür sorgen, dass die Beiträge durch Steuern, Abga
ben und soziale Leistungen so aufeinander abgestimmt werden,
dass sich Erwerbsarbeit immer rechnet. Dabei darf die Belastung
mit Steuern und Abgaben nicht sprunghaft steigen. So wird es at
traktiver, mehr als nur geringfügig zu arbeiten.
3. Für eine faire und ausgleichende Steuerpolitik
Steuern finanzieren unser Gemeinwesen. Sicherheit, Infrastruktur
und Bildung sind Voraussetzungen für eine funktionierende Gesell
schaft. Von ihnen profitiert auch unsere Wirtschaft. Die aktuell ent
spannte gesamtstaatliche Haushaltssituation ist bedingt durch his
torisch niedrige Zinsen und den hohen Beschäftigungsstand. Sie
darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass strukturelle Risiken weiter
bestehen. Um den Investitionsstau in unserem Land aufzulösen,
braucht es deshalb größere finanzielle Spielräume – insbesondere
für die Kommunen.
Ein gerechtes Steuersystem sorgt dafür, dass alle nach ihrer
Leistungskraft zu einer intakten und funktionierenden Gesellschaft
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beitragen. Hier liegt in Deutschland jedoch einiges im Argen. Arbeit
wird bei uns häufig höher besteuert als Zinsen und Renditen. Das
wollen wir GRÜNE ändern. Die ungleiche Besteuerung von Kapital
erträgen zu allen übrigen Einkünften wollen wir beseitigen, indem
diese Erträge wieder dem normalen, persönlichen Einkommens
steuersatz unterliegen.
Noch immer gehen uns hohe Steuereinnahmen verloren. Mit ag
gressiven Steuertricks, dem Bankgeheimnis und den Steuerdum
pingländern gibt es gerade für Superreiche zu viele Möglichkeiten,
sich der Steuerverantwortung zu entziehen. Dieser Praxis sagen wir
den Kampf an. Es darf keine anonymen Briefkastenfirmen mehr ge
ben. Geschäfte in Steuersümpfen, die Steuerbetrug systematisch
unterstützen, werden wir sanktionieren. Steuerliche Vorteile durch
Wohnsitzverlagerungen ins Ausland wollen wir beenden.
Auch Steuervermeidung wollen wir angehen. Alle international
tätigen Unternehmen sollen ab einer gewissen Größe ihre Gewinne
und Steuerzahlungen nach Staaten offenlegen, damit sichtbar wird,
wenn Konzerne wie Starbucks, Apple oder Google ihre Gewinne so
verschieben, dass sie in den Ländern, in denen sie gute Geschäfte
machen, keine Steuern zahlen. Tricksereien mit Lizenzgebühren und
Zinsen wollen wir unterbinden. Banken tragen in diesem Zusam
menhang eine besondere Verantwortung und dürfen weder direkt
noch indirekt durch entsprechende Beratung an der Steuerumge
hung beteiligt sein. So stärken wir auch unseren Mittelstand. Es
herrscht kein fairer Wettbewerb, wenn Amazon weniger Steuern
zahlt als der oder die Buchhändler*in um die Ecke.
Auch Vermögende können mehr zu unserem Gemeinwesen bei
tragen. Wir GRÜNE wollen eine verfassungsfeste, ergiebige und um
setzbare Vermögenssteuer für Superreiche. Selbstverständlich le
gen wir dabei besonderen Wert auf den Erhalt von Arbeitsplätzen
und die Innovationskraft von Unternehmen. Die Große Koalition hat
die Erbschaftssteuer komplizierter und nicht gerechter gemacht.
Sollte sie abermals vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern,
werden wir ein einfaches und gerechtes Erbschaftssteuermodell
entwickeln, das mit dem Grundgesetz übereinstimmt.
Wir wollen kleine und mittlere Einkommen durch eine Erhöhung
des Grundfreibetrags entlasten und zur Gegenfinanzierung den
Spitzensteuersatz oberhalb von 100.000 Euro an zu versteuerndem
Single-Einkommen erhöhen. Für Mittelstand, Selbständige und
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Gerechtigkeit im Sinn
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Arbeitnehmer*innen wollen wir das Steuersystem gleichzeitig ver
einfachen, um sie dadurch zu entlasten. Der Aufwand durch die
Buchführungs und Steuererklärungspflichten ist in den letzten
Jahren kontinuierlich gestiegen. Gerade Klein- und Jungunterneh
mer*innen wollen wir entlasten, damit sie im Wettbewerb bessere
Chancen haben. Dazu gehören erhöhte Abschreibungsgrenzen für
geringwertige Wirtschaftsgüter sowie eine Vereinfachung bei der
Umsatzsteuer mit Blick auf die aufwendigen Verfahren beim Handel
innerhalb der EU. Zusätzlich wollen wir prüfen, ob die Kleinunter
nehmer*innengrenze bei der Umsatzsteuer und der Gewerbesteuer
freibetrag angemessen angehoben werden sollten.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Schuldenbremse für Banken – Schattenbanken regulieren
Wenn eine Bank in Schieflage gerät, dann dürfen nicht länger die
Steuerzahler*innen die Last tragen. Wir wollen eine einfache,
aber harte Eigenkapitalquote, die Banken verpflichtet, ihre Ge
schäfte mit mehr Eigenkapital zu finanzieren. Diese soll schritt
weise angehoben werden und mittelfristig 10 Prozent des ge
samten Geschäftsvolumens umfassen. So können sie für ihre
Risiken besser selbst einstehen. Damit risikoreiche Anlagen
nicht länger aus dem regulierten Bereich ausgelagert werden
können, muss der Schattenbankensektor analog zum regulären
Bankensektor klare Regeln erhalten. Alle Gesellschaften, die im
weiteren Sinne Bankgeschäfte betreiben, müssen den gleichen
Regeln unterliegen wie Kreditinstitute.
Steuersümpfe trockenlegen – weltweite Regeln gegen
Steuervermeidung
Panama Papers, Offshore- oder Luxemburg-Leaks – wir nehmen
nicht hin, dass Konzerne und Superreiche mithilfe von Bankge
heimnis, Steuerdumpingländern und anderen Steuerlücken ihren
Beitrag zum Gemeinwohl unterschlagen. Darum kämpfen wir für
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
196
ein international verbindliches Regelwerk, das Mindeststan
dards für die Steuerpflichten von Unternehmen und Staaten
setzt. Auch zu Hause werden wir aktiv: Banken und Kanzleien
untersagen wir Geschäfte mit unkooperativen Ländern, interna
tionale Konzerne müssen ihre Gewinne nach Ländern aufschlüs
seln und Briefkastenfirmen entziehen wir durch ein Transparenz
register die Grundlage. So sorgen wir dafür, dass alle Unternehmen
ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahrnehmen und ihren
steuerlichen Beitrag leisten – der internationale Kaffeekonzern
ebenso, wie es heute schon der oder die Bäcker*in an der Ecke tut.
Mehr für das Gemeinwohl – Superreiche in die
Verantwortung nehmen
Wir wollen nicht, dass sich Superreiche und Spitzenmana
ger*innen von der Gesellschaft abkoppeln. Zu oft verliert die
Vergütung von Manager*innen den Bezug zum eigenen Beitrag
und zu den Durchschnittsverdiener*innen. Wir setzen ein klares
Stoppsignal: Zukünftig sollen Unternehmen nur noch maximal
500.000 Euro pro Kopf von der Steuer absetzen können. Auch
weil Manager*innengehälter zulasten der Allgemeinheit gehen,
wenn Unternehmen die Zahlungen als Betriebsausgaben abset
zen. Außerdem braucht es eine verfassungsfeste, ergiebige und
umsetzbare Vermögenssteuer für Superreiche, denn in wenigen
Ländern Europas sind die Vermögen so ungleich verteilt wie in
Deutschland. Selbstverständlich legen wir dabei besonderen
Wert auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Innovationskraft
von Unternehmen. Denn wir wollen, dass alle einen fairen Bei
trag leisten, wenn unser Gemeinwesen finanziert wird und Zu
kunftsinvestitionen getätigt werden.
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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IV. WIR MACHEN DEN
SOZIALSTAAT SICHER
UND ZUKUNFTSFEST
Gesund bleiben, auch im Alter würdig und selbstbestimmt leben, bis
zuletzt. Einen Platz in der Gesellschaft finden: All das schaffen wir
nicht allein. Nur zusammen und solidarisch können wir einander
soziale Sicherheit geben, uns bei Krankheit, Armut oder Verlust
des Arbeitsplatzes gegenseitig zur Seite stehen. Unser Ziel: Alle
Bürgerinnen und Bürger sollen gegen die großen Risiken des Lebens
gut abgesichert sein – zu fairen und gerechten Bedingungen.
Unsere sozialen Sicherungssysteme leisten viel, gerade auch im
internationalen Vergleich. Aber wir müssen dafür sorgen, dass der
Sozialstaat sein Versprechen auf Sicherheit auch in Zukunft noch
einlösen kann und dass es dabei gerecht zugeht. Digitalisierung,
Globalisierung und demografischer Wandel sind und bleiben große
Herausforderungen. Viele Menschen machen sich zu Recht Gedan
ken darüber, ob die Rente für einen guten Ruhestand reicht oder ob
beim Jobverlust Armut droht. Wenn Menschen den Abstieg fürch
ten, ist das Gift für den sozialen Zusammenhalt. Deshalb ist soziale
Sicherheit eine Bedingung für den inneren Frieden. Sie ist auch eine
Voraussetzung für Kreativität und Lebensmut. Denn wer verunsi
chert ist, kann nicht frei aufspielen. Gerade weil wir außen-, gesell
schafts- und wirtschaftspolitisch in unruhigen Zeiten leben, ist
soziale Sicherheit wichtiger denn je. Solidarität ist das Rückgrat un
serer Gesellschaft. Doch es gibt Gruppen, die sind schlecht abgesi
chert: kleine Selbständige mit unsteten Lebensläufen, Frauen ohne
eigene Rentenansprüche, niedrig Entlohnte ohne Geld für die Al
tersvorsorge. Die Angleichung der Renten Ost an die Renten West
treiben wir weiter voran. Dabei werden wir auch die Interessen der
zukünftigen Rentnerinnen und Rentner in allen Teilen des Landes
im Blick behalten. Wir müssen den Sozialstaat verbessern, damit er
sein Sicherheitsversprechen für alle halten kann.
Wie soziale Sicherung auch im Zuge der Digitalisierung und
aufgrund des demografischen Wandels nachhaltig, solidarisch und
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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armutsfest organisiert werden kann, ist eine der großen Herausfor
derungen der Zukunft. Wir wollen eine breite gesellschaftliche De
batte vorantreiben und Fragen von einer Einführung eines bedin
gungslosen Grundeinkommens, das gesellschaftliche Teilhabe er
möglicht, über die Frage einer Wertschöpfungsabgabe bis hin zu
institutionellen Reformen der Sicherungssysteme in den Blick neh
men. Viele von unseren Vorschlägen von der Kindergrundsicherung
bis zur Garantierente wurden auch von dem Vorschlag eines Grund
einkommens beeinflusst. Wir wollen diese Ideen weiterdiskutieren.
Wir brauchen Antworten auf bisher nicht geklärte Fragen. Dabei
wollen wir auch Erfahrungen aus anderen Ländern berücksichtigen
und das Grundeinkommen in einem Modellprojekt erproben.
1. Wie die Rente wirklich sicher wird
Um die Rente wieder sicher und verlässlich, nachhaltig und genera
tionengerecht zu machen, setzen wir uns dafür ein, das Drei-Säulen
System der Alterssicherung auf eine solide Basis zu stellen. In erster
Linie stärken wir die erste Säule, die gesetzliche Rentenversiche
rung. Denn sie ist und bleibt die wichtigste Säule, der Altersvorsor
ge. Durch die Rentenreformen der vergangenen Jahre ist das Ren
tenniveau gesunken. Eine Stabilisierung ist dringend notwendig.
Das heutige – gegenüber dem Jahr 1998 bereits erheblich abge
senkte – Rentenniveau sollte nicht weiter fallen. Dabei müssen
Rentenniveau und Beitragssatz in einem angemessenen Verhältnis
stehen, damit auch die junge Generation weiter in die gesetzliche
Rente vertrauen kann. Wer viele Jahre eingezahlt hat, soll von sei
ner Rente auch leben können. Mit der Garantierente wollen wir für
alle Menschen, die den größten Teil ihres Lebens rentenversichert
waren, gearbeitet, Kinder erzogen oder andere Menschen gepflegt
haben, ein Mindestniveau in der Rentenversicherung einführen. Die
Garantierente ist steuerfinanziert und die Höhe wird oberhalb der
Grundsicherung liegen. Es findet keine Bedürftigkeitsprüfung statt
und betriebliche und private Altersvorsorge wird nicht angerech
net. Um die gesetzliche Rente finanziell und solidarisch breiter auf
zustellen, wollen wir versicherungsfremde Leistungen aus Steuern
bezahlen und die Beschäftigungsbedingungen gerade für Frauen so
verbessern, dass sie öfter und gleichberechtigt erwerbstätig sind.
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Wir wollen den ersten Schritt zur Bürger*innenversicherung
gehen und hierfür die nicht anderweitig abgesicherten Selbständi
gen, Minijobber*innen und Abgeordnete in die gesetzliche Renten
versicherung einbeziehen. Auch Langzeitarbeitslose sollen wieder
versichert werden. Für die Selbständigen und insbesondere die
Existenzgründer*innen wird es Übergangsregelungen geben. Zu
dem wollen wir Selbständigen mit Beitragsrückständen bei der
Krankenversicherung helfen und Schulden erlassen. In einem spä
teren Schritt wollen wir auch Freiberufler*innen und Beamt*innen
in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Hierfür werden
wir mit den Ländern zusammenarbeiten. Bereits erworbene An
wartschaften auf Versorgung und bestehende Beamtenverhältnisse
bleiben dabei aus Gründen des Vertrauensschutzes unberührt.
Grundsätzlich halten wir an der Rente mit 67 fest. Wir wollen es
Menschen aber leichter machen, selbst darüber zu entscheiden,
wann sie in Rente gehen wollen. Dazu fördern wir eine echte Alters
teilzeit durch eine attraktive Teilrente ab 60 Jahren, die insbesonde
re Arbeitnehmer*innen in belastenden Berufen zugutekommt. Für
Menschen, die länger arbeiten wollen, soll sich das lohnen. Damit
sie eine höhere Rente erhalten, führen wir einfache Hinzuverdienst
regeln ein und erleichtern es, Teilrente und Erwerbseinkommen zu
kombinieren. So erleichtern wir es Menschen, selbst zu bestimmen,
wann sie in Rente gehen. Arbeitnehmer*innen, die nicht mehr arbei
ten können, sollen nicht länger auch noch dafür bestraft werden,
deshalb schaffen wir die Abschläge bei der Erwerbsminderungs
rente ab.
Neben der gesetzlichen Rente wollen wir auch die private und
betriebliche Altersvorsorge stärken. Kapitalgedeckte Altersvorsor
ge kann zu einem Bruchteil der Kosten und mit einer deutlich höhe
ren Rendite als in Deutschland durchgeführt werden. Wir wollen
deshalb einen Bürger*innenfonds in öffentlicher Verwaltung ein
führen und diesen sowohl für die betriebliche wie auch die private
Vorsorge öffnen. Bei hinreichender Größe kann die laufende Ver
waltungsgebühr sehr gering sein. Die Sparleistung der Menschen
kann so fast vollständig in die Altersvorsorge gehen. Der
Bürger*innenfonds soll nachhaltig investieren und dabei soziale
und ökologische Belange berücksichtigen.
Alle Arbeitgeber*innen sollen künftig ihren Beschäftigten eine
Betriebsrente anbieten und sie mit einem eigenen Arbeitge
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ber*innenbeitrag unterstützen. Kleinen Betrieben erleichtern wir
dies mit einer Änderung der Haftungsregeln. Wenn sie diese nicht
im eigenen Betrieb oder überbetrieblich organisieren, soll sie unbü
rokratisch über den Bürger*innenfonds durchgeführt werden kön
nen. Die Arbeitnehmer*innen sind nicht verpflichtet, das Angebot
ihrer Arbeitgeber*innen anzunehmen. Die öffentliche Förderung
der privaten Altersvorsorge soll in Zukunft vor allem Geringverdie
nenden zugutekommen. Die Entgeltumwandlung lehnen wir ab,
weil sie die gesetzliche Rente schwächt.
Viele Frauen sind von Armut im Alter bedroht. Sie leisten
mehr Erziehungs- und Pflegearbeit, arbeiten oft in Teilzeit oder in
schlecht bezahlten Branchen und erwerben weniger Rentenansprü
che. Für Frauen muss es einfacher werden, sich durch Erwerbsarbeit
selbst besser abzusichern. Mit guten Angeboten für die Kinderbe
treuung, einer Umwandlung der Minijobs in sozialversicherungs
pflichtige Beschäftigung, einem Rückkehrrecht auf Vollzeit, einer
echten Pflegezeit, einer fairen Abbildung von Pflegezeiten bei der
Rente und mit gleichem Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit
können wir die Rentenlücke für Frauen mittelfristig schließen. Auch
die Anrechnung von Aufwandsentschädigungen für Ehrenämter auf
die Rente werden wir neu ordnen.
Wir wollen die Benachteiligung der jüdischen Zuwanderinnen
und Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gegenüber Spät
aussiedlerinnen und Spätaussiedlern im Rentenrecht beenden.
2. Gesundheit solidarisch für alle – raus aus der
Zwei-Klassen-Medizin
Gesundheit und Pflege sind Teil der Daseinsvorsorge. Die Patientin
nen und Patienten gehören in den Mittelpunkt, an ihren Bedürfnissen
muss sich die Versorgung ausrichten. Wir wollen eine qualitativ
hochwertige, wohnortnahe Versorgung unabhängig von Alter, Ein
kommen, Geschlecht, Herkunft und Behinderung sicherstellen, re
gionale Über- und Unterversorgung gleichermaßen korrigieren. Um
zum Beispiel auch dünner besiedelte Regionen besser zu versorgen,
brauchen Kommunen und Regionen mehr Einfluss und sollten inno
vative Lösungen, wie die Gründung von lokalen Gesundheitszent
ren vorantreiben. Stationäre und ambulante Versorgung sind stark
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voneinander getrennt, was viele Nachteile für Patientinnen und Pati
enten hat. Wir wollen eine bessere Vernetzung, Koordination und
Zusammenarbeit aller im Gesundheitswesen und eine gemeinsame
Planung ambulanter und stationärer Leistungen.
Wir stärken die Patient*innenverbände und die Selbsthilfe. Wir
wollen eine Patient*innenstiftung, einen Härtefallfonds für Be
handlungsfehler und eine unabhängige Patient*innenberatung. Un
ser Ziel ist eine Primärversorgung, in der insbesondere Haus- und
Kinderärzt*innen sowie Angehörige weiterer Gesundheitsberufe
auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Deshalb setzen wir uns auch für
eine stärkere interdisziplinäre Ausbildung und eine Aufwertung der
Allgemeinmedizin ein.
Wir sollten aber nicht erst handeln, wenn die Krankheit schon da
ist. Das Gesundheitswesen muss Gesundheit besser fördern: Von
der Kindertagesstätte über die Schule bis zum Arbeitsleben und
dem Leben im Alter sollte ein gesundes Leben ermöglicht und un
terstützt werden. Geschlechtsspezifische Aspekte müssen in unse
rem Gesundheitswesen stärkere Beachtung finden.
Jedoch erleben wir heute in Deutschland eine Zwei-Klassen-Me
dizin. Gesetzlich Versicherte bekommen später einen Termin bei
Fachärztin oder Facharzt als privat Versicherte. Ärztinnen und Ärzte
lassen sich vor allem dort nieder, wo sie attraktive Lebens- und
Arbeitsbedingungen finden. In der privaten Krankenversicherung
(PKV) zahlen Alte und Kranke mehr als Junge und Gesunde. Oft sind
Versicherte durch die hohen Beiträge in der PKV schnell überfor
dert. Gleichzeitig werden viele Gutverdiener*innen in der PKV nicht
an der Solidarität mit den sozial Benachteiligten beteiligt. Das
übernehmen die gesetzlich Versicherten, also vor allem die mit ge
ringen und mittleren Einkommen. Ein solches System ist ungerecht
und nicht solidarisch.
Wir GRÜNE wollen die gesetzliche und private Krankenversiche
rung zu einer Bürger*innenversicherung weiterentwickeln. Alle
Bürger*innen, auch Beamt*innen, Selbständige und Gutverdienen
de, beteiligen sich. Auf Aktiengewinne und Kapitaleinkünfte wer
den ebenfalls Beiträge erhoben. Arbeitgeber*innen und Arbeitneh
mer*innen übernehmen wieder jeweils die Hälfte des Beitrags und
die bisher allein von den Arbeitnehmer*innen getragenen Zusatz
beiträge werden wieder abgeschafft. Bei den Arzthonoraren soll
nicht mehr zwischen gesetzlich und privat Versicherten unter
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schieden werden. Zuzahlungen für Medikamente und andere Selbst
beteiligungen wollen wir abschaffen. Mit der Bürger*innenversich
erung wäre Gesundheit stabil, zukunftsfest und fair finanziert und
alle Kassen würden auf Grundlage eines weniger manipulationsan
fälligen Risikoausgleichs um die beste Versorgung konkurrieren.
Wir wollen Menschen in psychischen Krisen möglichst frühzeitig
die passende Unterstützung und Therapie zukommen lassen, die
Hilfen vor Ort besser aufeinander abstimmen und die Prävention
ausbauen. Darüber hinaus ist die bessere Erforschung von alterna
tivmedizinischen Verfahren mit anerkannten Methoden erforder
lich. Wir wollen einen möglichst großen Infektionsschutz der Be
völkerung, auch im Interesse derjenigen, die nicht geimpft werden
können. Dafür setzen wir auf freiwillige Beratung und bessere In
formation.
Gute Versorgung erfordert ausreichendes Personal. Dazu setzen
wir uns für bundesweit verbindliche Bemessungsinstrumente bei
den Personalbesetzungen in der Pflege ein. Dadurch wird die Arbeit
wieder attraktiver. Ebensolche Regelungen braucht es in der Alten
pflege. Um die Qualität der Versorgung zu verbessern, streben
wir auch bei Berufsgruppen wie Hebammen und Entbindungs
pfleger*innen im Krankenhaus Regelungen für eine ausreichende
Personalbesetzung an. Die Geburtshilfe wollen wir stärken und
insbesondere bei angestellten und freiberuflichen Hebammen und
Entbindungspfleger*innen für eine bessere Vergütung sorgen. Wir
wollen darauf hinwirken, dass im Rahmen der Selbstverwaltung die
beteiligten Institutionen neue Vergütungsmodelle zur Stärkung der
physiologischen Geburt und Selbstbestimmung der Frauen sowie
zur Senkung der Kaiserschnittrate erarbeiten. Freiberufliche Heb
ammen brauchen eine dauerhafte Lösung für die hohen Beiträge
der Haftpflichtversicherung. Hierfür wollen wir eine gesetzliche
Haftpflichtversicherung für Hebammen und die anderen Gesund
heitsberufe.
Wir setzen uns ein für eine gute, zahlenmäßig ausreichende und
kostenlose Ausbildung aller Gesundheitsberufe, beispielsweise in
der Altenpflege, Physio oder Ergotherapie, Logopädie und für Heb
ammen. Zudem wollen wir die Psychotherapeut*innenausbildung
reformieren, auch um eine angemessene Ausbildungsvergütung zu
ermöglichen. Außerdem fordern wir bessere Mitspracherechte für
die Pflege und die anderen Gesundheitsberufe in den Gremien der
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Selbstverwaltung, damit sie mit ihren Erfahrungen und ihrem Wis
sen zu einer guten Weiterentwicklung des Pflege und Gesundheits
systems beitragen können.
Es bedarf zusätzlicher Ausbildungsplätze für die Gesundheits
berufe an Hochschulen und Universitäten, auch für Ärztinnen und
Ärzte. Zur Finanzierung müssen Bund und Länder zusammenarbei
ten. Viele Krankenhäuser leiden unter Finanzierungsproblemen.
Universitätskliniken benötigen aufgrund der spezialisierten Patien
t*innenversorgung eine solidere Vergütung. Wir wollen in allen Re
gionen eine bedarfsgerechte stationäre Versorgung sicherstellen.
Mit einer Reform wollen wir Qualität verbessern, Fehlanreizen zur
Leistungsausdehnung entgegenwirken und die Investitionsfinan
zierung auf die Schultern von Ländern und Krankenkassen verteilt
neu aufstellen. Die Notfallversorgung in Deutschland wollen wir
reformieren, damit Patient*innen adäquat versorgt werden. Die Di
gitalisierung kann im Gesundheitswesen vieles verbessern, etwa
für chronisch Kranke. Patient*innen brauchen dabei selbstbestimm
ten Zugang zu ihren Daten und einen höchstmöglichen Daten
schutz. Alle Patient*innen sollen einen Anspruch auf eine sichere
und vernetzte elektronische Patient*innenakte erhalten.
3. Gute Pflege – selbstbestimmt und würdig
Heute noch leisten pflegende Angehörige einen sehr hohen Anteil
an der Pflege und Sorgearbeit. Auch aufgrund des demografischen
Wandels wird dieses Potenzial zukünftig weniger werden. Ein ver
lässliches Wohn und Pflegeangebot, bei Bedarf auch „rund um die
Uhr“, ist immer stärker gefragt. Statt weiterer Großeinrichtungen
setzen wir dabei auf einen umfassenden Ausbau an ambulanten
Wohn und Pflegeformen. Notwendig sind auch Tages , Nacht und
Kurzzeitpflege sowie Einrichtungen wie Quartierstützpunkte oder
Nachbarschaftszentren, die auch „rund um die Uhr“ eine Pflege und
Unterstützung sichern. Dabei müssen die unterschiedlichen kultu
rellen, religiösen, sexuellen oder geschlechtsspezifischen Iden
titäten der Menschen Eingang in die Gestaltung der sozialen Infra
struktur und Pflegekonzepte vor Ort finden.
Ebenso wollen wir die Wohn und Pflegesituation für die Bewoh
nerinnen und Bewohner in den bestehenden Einrichtungen deutlich
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verbessern. Beim Aufbau von Hilfenetzen wollen wir die Kommu
nen unterstützen und ihnen mehr Rechte geben, selbst aktiv zu
werden. Wir wollen, dass die Angebote vor Ort Familien entlasten
und dass auch Menschen mit kleiner Rente die Hilfe bekommen, die
sie brauchen. Damit pflegebedürftige Menschen und ihre Angehöri
gen das für sie passende Angebot finden, schaffen wir einen Rechts
anspruch auf unabhängige Beratung durch Fallmanager*innen.
Menschen, die Verwandte oder Freundinnen und Freunde pfle
gen, wollen wir darüber hinaus besser unterstützen. Dafür schlagen
wir die dreimonatige PflegeZeit Plus und jährlich zehn Tage für aku
te Notsituationen vor. Pflegende erhalten eine Lohnersatzleistung
und werden von der Arbeit freigestellt.
Pflegerinnen und Pfleger müssen besser bezahlt werden. Durch
ausreichendes Personal wollen wir Überlastung vermeiden. Der
Pflegeberuf muss aufgewertet und die Arbeitsbedingungen verbes
sert werden. Eine gemeinsame Pflegeausbildung ist dabei ein wich
tiger Schritt. Dabei muss sichergestellt sein, dass das Ziel ohne Ver
lust bisher bestehender spezifischer Kompetenzen und ohne Verlust
von Ausbildungskapazitäten erreicht werden kann. Und wir treten
in den Dialog mit den Akteur*innen in der Pflege über neue Wege,
die Qualität in der Pflege zu sichern, zum Beispiel auch mit einem
unabhängigen Institut für Qualität in der Pflege. Schließlich wollen
wir auch die Pflegeversicherung zu einer Bürger*innenversicherung
machen und so langfristig ausreichend finanzieren.
Zu einer guten Pflege gehört auch, Sterbenden ein Lebensende
in Würde zu ermöglichen. Einen wichtigen Beitrag hierfür leisten
die Hospizbewegung und die Palliativversorgung, deren Rahmen
bedingungen wir verbessern wollen.
4. Schutz vor Armut, Unterstützung bei Arbeitslosigkeit
Die Grundsicherung muss das soziokulturelle Existenzminimum für
alle gewährleisten. Das verlangt die Würde des Menschen. Der Re
gelsatz des Arbeitslosengeldes II muss so berechnet und erhöht
werden, dass man menschenwürdig davon leben kann, soziale und
kulturelle Teilhabe möglich ist. Die Kinderregelsätze müssen sach
gerecht ermittelt werden, damit alle Kinder wirklich teilhaben
können. Für die Stromkosten wollen wir eine gesonderte Pauschale
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einführen und die Übernahme der angemessenen Wohnkosten si
cherstellen. Auch unvermeidlich nötige größere Anschaffungen,
wie Waschmaschinen, müssen möglich sein. Die Grundsicherung
werden wir zu einer individuellen Leistung weiterentwickeln, denn
das Prinzip der Bedarfsgemeinschaften benachteiligt Frauen und
zementiert ihre Abhängigkeit.
Wir wollen, dass das Grundrecht auf Existenzsicherung einfach
und zuverlässig wahrgenommen werden kann. Jobcenter sollen zu
Dienstleistern der Arbeitsuchenden werden und kooperativ mit ihnen
zusammenarbeiten. Wir stärken die Rechte der Leistungsberechtig
ten und setzen in der Grundsicherung nicht auf Sanktionen, sondern
auf Motivation, Anerkennung und Beratung. Daher wollen wir die
Sanktionen abschaffen. Dies gilt insbesondere für die Sonderregeln
für unter 25-Jährige und für die Kosten der Unterkunft und Heizung.
Gas- und Stromsperren müssen gesetzlich eingeschränkt werden.
Diskriminierende Regelungen nur für Grundsicherungsbeziehende
wollen wir streichen. Damit liegt der Fokus der Arbeitsvermittlung
wieder darauf, Arbeitslose passgenau dabei zu unterstützen, einen
neuen Job zu finden, etwa durch Weiterbildung, Sprachförderung, So
zialberatung, Eingliederungs- oder Gründungszuschüsse. Es braucht
zudem mehr Möglichkeiten, Konflikte ohne Prozess zu lösen. Dazu
wollen wir sicherstellen, dass Eingliederungsvereinbarungen nicht
durch einen Verwaltungsakt ersetzt werden.
Arbeit ist ein wichtiges Feld der sozialen Teilhabe, der Anerkennung
und der Sinngebung im Alltag. Deshalb wollen wir die Arbeitslosenver
sicherung zur Arbeitsversicherung weiterentwickeln, die Arbeitneh
mer*innen bereits im Job, aber auch bei Arbeitslosigkeit bei der Wei
terbildung unterstützt ( Kapitel: Wir kämpfen für gute Arbeit und
bessere Vereinbarkeit, S. 216). Wir geben auch Langzeitarbeitslose
nicht auf und fordern einen verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt. Da
bei soll der Grundsatz gelten: Wer Beiträge in die Arbeitslosenver
sicherung einzahlt, muss einen angemessenen Anspruch auf Arbeits
losengeld erhalten.
5. Sicherheit in der Selbständigkeit
Um die soziale und ökologische Modernisierung zu meistern, brau
chen wir auch die innovative Kraft von Gründer*innen. Wir wollen
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alle, die den mutigen Schritt in die Selbständigkeit wagen, dabei un
terstützen, sich besser und einfacher abzusichern und Ungleich
behandlungen gegenüber Arbeitnehmer*innen zeitnah abzubauen.
Gesetzlich versicherte Selbständige wollen wir bei den Kranken- und
Pflegeversicherungsbeiträgen mit geringeren Mindestbeiträgen sehr
deutlich entlasten. Wir wollen eine freiwillige Arbeitsversicherung
für Selbständige, die erschwinglich, für alle Selbständigen geöffnet
und gerechter ausgestaltet ist. Wahltarife sollen dabei mehr Flexibi
lität für Selbständige ermöglichen. Wir wollen alle nicht ander weitig
abgesicherten Selbständigen in die gesetzliche Rente einbeziehen
und ihnen eine größere Beitragsflexibilität als heute ermögli chen.
Selbständige sollen in guten Zeiten höhere Beiträge vor- oder nach
zahlen können, damit sie in schlechten Zeiten entlastet werden. Wir
stehen ohne Wenn und Aber zur Künstlersozialkasse. Analog zu Min
destlöhnen, die nur abhängig Beschäftigten zustehen, wollen wir
auch branchenspezifische Mindesthonorare ermöglichen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Gesetzliche Rente stärken, das Rentenniveau stabil halten,
Garantierente einführen
Für die meisten Menschen ist die gesetzliche Rente nach wie vor
die zentrale Säule der Altersvorsorge. Und sie ist viel besser als
ihr Ruf. Das Niveau der gesetzlichen Rente sollte nicht weiter
sinken. Wir können das schaffen und werden dabei darauf ach
ten, dass Rentenniveau und Beitragssatz in einem angemes
senen Verhältnis stehen, sodass auch die junge Generation
bedacht wird. Um die gesetzliche Rente finanziell besser aufzu
stellen und solidarischer zu finanzieren, wollen wir versiche
rungsfremde Leistungen aus Steuergeldern bezahlen und insbe
sondere Frauen bessere Beschäftigungsmöglichkeiten bieten
und gezielte Zuwanderung ermöglichen. Menschen, die den
größten Teil ihres Lebens gearbeitet, Kinder erzogen oder Ange
hörige gepflegt haben, garantieren wir eine echte Rente anstatt
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bedürftigkeitsgeprüfter Grundsicherung. Private und betriebli
che Vorsorge werden auf unsere Garantierente nicht angerech
net. Mittelfristig streben wir eine Rentenversicherung für alle
an. In einem ersten Schritt zur Bürger*innenversicherung wollen
wir Abgeordnete, Minijobber*innen und bisher nicht abgesicher
te Selbständige in die Rentenversicherung einbeziehen.
Die Bürger*innenversicherung im Gesundheitssystem –
erstklassig für alle!
Wir wollen eine gerecht finanzierte Bürger*innenversicherung
im Gesundheits- und Pflegesystem. Alle zahlen dort ein, auch
Beamt*innen, Selbständige, Unternehmer*innen und Abgeord
nete werden einbezogen. Alle werden bei Ärzt*innen auf dem
gleichen hohen Niveau behandelt. Das Zwei-Klassen-System,
in dem Privatpatient*innen bevorzugt werden, hat ein Ende.
Neben Löhnen und Gehältern werden auch auf Kapitaleinkünf
te Beiträge erhoben. Dabei werden wir Freibeträge auf Zinsein
künfte einführen. Bei den Löhnen zahlen Arbeitgeber*innen
und Ar beitnehmer*innen wieder jeweils die Hälfte des Beitra
ges und die Zusatzbeiträge werden abgeschafft. So werden Ge
sundheit und Pflege fair finanziert und die Finanzierungs
grundlage er weitert. Bürger*innen erhalten endlich echte
Wahlf reiheit: Alle Krankenversicherungen bieten künftig die
Bürger*innenver sicherung an und konkurrieren über die Höhe
des Beitrages, über den Service, das zusätzliche Leistungsan
gebot und vor allem die Qualität.
Zeit für gute Pflege – Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf fördern
Wenn nahestehende Menschen pflegebedürftig werden, müssen
viele Dinge geregelt werden. Dafür benötigt man Zeit, ebenso
um Angehörigen nahe zu sein und eine Zeit lang selbst die Pfle
ge zu übernehmen. Das wollen wir erleichtern: Mit der Pflege
Zeit Plus gibt es erstmals einen Lohnersatz für die Zeit der
Pflege. Für drei Monate ersetzen wir Menschen, die Angehörige
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selbst pflegen, ihren Lohn, genauso wie für Eltern in der Eltern
zeit. Zudem sollen sich Pflegende zehn Tage im Jahr freinehmen
können, um sich besonders intensiv um eine zu pflegende Per
son zu kümmern. Ganz so, wie sich Eltern freinehmen können,
wenn ihr Kind krank ist. Wir finden, wer für einen pflegebedürf
tigen Menschen Verantwortung übernimmt, hat unsere Unter
stützung und Wertschätzung verdient. Die PflegeZeit Plus ist
unsere Antwort darauf. Das kombinieren wir mit mehr entlasten
den Angeboten wie Betreuung, einer umfassenden ambulanten
Pflege und Betreuung. Die Kommunen sind die richtige Ebene,
um ein passendes Umfeld für alle Generationen zu schaffen,
dazu gehören auch mehr alternative Wohnformen wie Pflege
WGs und Hausgemeinschaften.
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Gerechtigkeit im Sinn
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Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 209
V. WIR HOLEN KINDER AUS
DER ARMUT UND FÖRDERN
FAMILIEN
Familien geben vielen Menschen Halt. In Familien stehen Menschen
sich nahe, sie lernen voneinander. Kinder können geborgen zu
selbstbewussten Persönlichkeiten heranwachsen. Familien beglei
ten alte Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. Für uns GRÜNE
ist Familie überall da, wo Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen. Familien leisten viel: füreinander, aber auch für die
Gesellschaft insgesamt. Doch viele tun das unter oft schwierigen
Bedingungen: In Alleinerziehendenfamilien muss eine Person die
Aufgaben allein schultern; in manch einer Familie reicht das Geld
hinten und vorne nicht. Immer noch übernehmen Frauen im Durch
schnitt fast doppelt so viele Stunden der unbezahlten häuslichen
Arbeit wie Männer. Doch immer mehr Paare wollen sich die Erzie
hung partnerschaftlich teilen, ohne dass dies zulasten der beruf
lichen Perspektiven geht. Wir GRÜNE stehen für eine zeitgemäße
Familienpolitik, die diese Lücke zwischen Wunsch und Wirklich
keit schließt. Fürsorge für andere kann das Leben bereichern. Und
gleichzeitig funktioniert auch unsere Gesellschaft nur, wenn Men
schen zusammenhalten.
Familien sind inzwischen so vielfältig wie das Leben selbst: Es
gibt verheiratete Paare mit Kindern, Alleinerziehende, Patchwork
familien, nichteheliche Familien, Regenbogenfamilien, Pflegefami
lien oder Familien ohne Kinder. Wir GRÜNE machen eine Politik, die
Familien in allen Formen und Modellen unterstützt. Deshalb sorgen
wir dafür, dass die finanzielle Absicherung von Kindern und Famili
en nicht länger vom Lebensmodell der Eltern abhängt. Den sozialen
Eltern, also Menschen, die wie in vielen Patchworkfamilien lang
fristig Verantwortung für ein Kind übernehmen, ohne dessen leibli
che Eltern zu sein, fehlt ein rechtlicher Rahmen für ihre Familien
form. Und das, obwohl sie feste Wegbegleiter*innen ihrer Kinder
sind. Wir wollen Pflegekinder und Pflegefamilien unterstützen und
ihre rechtliche Situation verbessern. Auch Pflegekinder haben ein
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210
Bedürfnis nach und ein Recht auf dauerhafte und stabile Lebens
verhältnisse.
Darüber hinaus wollen wir mit dem Pakt für das Zusammenleben
eine neue Rechtsform schaffen, die das Zusammenleben zweier
Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen, unabhän
gig von der Ehe rechtlich absichert.
1. Mehr Unterstützung für Familien
Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist heute eine der größ
ten Herausforderungen für Familien, nach wie vor vor allem für
Frauen. Wir wollen dafür sorgen, dass Eltern nicht die Puste aus
geht. Beweglichkeit und ein Abschiednehmen von überholten Mus
tern sind gefragt, um die Anforderungen der Arbeitswelt mit den
Bedürfnissen der Beschäftigten mehr in Einklang zu bringen und
dafür zu sorgen, dass Arbeit, Aus- und Weiterbildung sowie Studium
besser ins Leben passen. Viele Unternehmen haben dies erkannt
und angefangen, Arbeitszeit neu zu denken und innovative Konzep
te für ihre Belegschaften zu entwickeln. Solche Wege wollen wir
unterstützen: mit einer flexiblen Vollzeit, die es Beschäftigten er
möglicht, freier zu entscheiden, wie innerhalb eines Korridors von
30 bis 40 Stunden ihre persönliche Vollzeit aussieht; mit einem
Rückkehrrecht auf die ursprüngliche Stundenzahl nach einer Phase
der Teilzeit; mit einem Recht auf Homeoffice als Ergänzung zum
festen Arbeitsplatz sowie mit einer Pflegezeit, die hilft, die Sorge
für einen nahestehenden Menschen mit dem Beruf besser zu verein
baren. Vor allem aber mit einer gezielten Förderung von Familien
durch unser Konzept KinderZeit Plus. Die KinderZeit Plus löst das
Elterngeld ab und macht es rechtlich möglich, auch nach dem ers
ten Geburtstag des Kindes phasenweise die Arbeitszeit zu reduzie
ren. Familien bekommen damit mehr Beweglichkeit.
Familien brauchen eine sie unterstützende Infrastruktur. Frauen
und Männer können ihre Arbeit und ihr Leben mit Kindern nur dann
gut verbinden, wenn es gute Betreuungsangebote gibt. Neben ei
nem Rechtsanspruch auf eine ganztägige Kinderbetreuung gehört
dazu ganz zentral der flächendeckende Ausbau von Ganztagsschu
len, mindestens aber ein Rechtsanspruch auf Hortbetreuung. An
dernfalls brechen in vielen Familien alle Arrangements zur Verein
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barkeit von Familie und Beruf mit der Einschulung des Kindes weg.
Zur Entlastung pflegender Angehöriger sollen ambulante Unter
stützungsangebote flächendeckend ausgebaut werden. So ist ein
selbstbestimmtes Leben in vertrauter Umgebung für Pflegebedürf
tige und ihre Angehörigen möglich. Ältere Menschen haben viel
beizutragen. Sie engagieren sich ehrenamtlich in Projekten. Sie tun
das freiwillig, selbstbestimmt und mutig. Sie bauen Netzwerke auf
und gründen Organisationen, mit denen sie wirkungsvoller handeln
können.
Die Kinder- und Jugendhilfe unterstützt junge Menschen auf
dem Weg ins Erwachsenenleben. Ob Kinderbetreuung, Jugendar
beit, Hortbetreuung oder Hilfen bei der Erziehung: Fast alle nutzen
im Laufe ihres Lebens einmal diese Angebote. Und die Aufgaben
wachsen. Junge Menschen und ihre Familien brauchen eine gut
ausgestattete Kinder- und Jugendhilfe und eine Jugendarbeit, wel
che die Jugendlichen – so verschieden sie auch sind – erreicht. Ent
scheidend für ein Ende der Hilfe darf nicht der 18. Geburtstag, son
dern muss der tatsächliche Bedarf sein. Notwendig sind auch eine
Zusammenführung der Leistungs- und Unterstützungssysteme für
Kinder mit und ohne Behinderung im Jugendhilferecht sowie der
Erhalt des individuellen Rechtsanspruchs auf Hilfen zur Erziehung.
Das Aufwachsen von Kindern muss bestmöglich unterstützt wer
den. Hier darf es auch keine unterschiedlichen Standards für einhei
mische und geflüchtete Kinder geben. Alle Kinder und Jugendlichen
sollen bestmöglich vor Vernachlässigung, emotionaler und körper
licher Misshandlung oder sexuellem Missbrauch geschützt werden.
Deshalb: Wir brauchen mehr Präventionsangebote, damit es erst gar
nicht so weit kommt, sowie ausreichend Hilfs-, Beratungs- und The
rapieangebote für Kinder, denen etwas zugestoßen ist.
Dafür muss die Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhil
fe und dem Gesundheitswesen verbindlich geregelt werden. Hierzu
gehören klare Qualitätsvorgaben und eine entsprechende Finan
zierung. Die ausreichende finanzielle Unterstützung des „Fonds Se
xueller Missbrauch im familiären Bereich“ wollen wir gewährleisten
sowie die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des
sexuellen Kindesmissbrauchs dauerhaft absichern.
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2. Familien entlasten und Kinder fördern – mit dem
grünen Familien-Budget
Kinder leben bei uns sehr unterschiedlich. Sie haben alle die glei
chen Rechte, kommen aber nicht alle gleichermaßen zu ihrem
Recht. Um viele Kinder muss sich die Gesellschaft glücklicherweise
keine Sorgen machen. Doch aktuell leben auch fast drei Millionen
Kinder in Deutschland in Armut oder sind von Armut bedroht. Be
sonders gefährdet sind Alleinerziehende und ihre Kinder sowie Fa
milien mit drei und mehr Kindern. Armut schmerzt und grenzt aus.
Mit dem grünen Familien-Budget schnüren wir ein großes Re
formpaket, das zahlreiche Schwachstellen bei der Familienförde
rung angeht. Mit zwölf Milliarden Euro wollen wir Familien entlas
ten. Für uns ist die Bekämpfung von Kinderarmut ein prioritäres
Ziel. Wir stärken Alleinerziehende durch eine echte Existenzsiche
rung für Kinder. Wir entlasten so Familien mit geringem und mittle
rem Einkommen und beenden endlich die ungleiche Unterstützung
von Kindern entlang des Einkommens ihrer Eltern.
Das Familien-Budget besteht aus drei Reformteilen. Die Regel
sätze für Kinder und Erwachsene in der Grundsicherung müssen so
ermittelt werden, dass sie das Existenzminimum verlässlich und in
ausreichender Höhe absichern. Die Bedarfe müssen tatsächlich ge
deckt werden, auch die zur Teilhabe am sozialen Leben, an Bildung,
Kultur und Mobilität, soweit diese nicht durch Infrastruktur-Ange
bote gedeckt werden.
Eltern mit geringen Einkommen erhalten einen einkommensab
hängigen KindergeldBonus, der ihren Bedarf (sächliches Existenz
minimum) unbürokratisch und ohne Antrag garantiert. Eltern mit
geringen Einkommen erhalten den KindergeldBonus in voller Höhe.
Bei höheren Einkommen der Eltern wird der Betrag abgeschmolzen.
Als Basis für alle wollen wir eine einkommensunabhängige Kin
dergrundsicherung einführen, die das Kindergeld und die Kinder
freibeträge ersetzt. Dadurch erhalten Eltern mit kleinen und mittle
ren Einkommen für ihre Kinder endlich die gleiche Unterstützung
wie Eltern mit hohen Einkommen. Diese neue Kindergrundsiche
rung soll mit der Einführung einer Individualbesteuerung mit einem
übertragbaren Grundfreibetrag verknüpft werden. Für bereits Ver
heiratete und Verpartnerte gilt: Sie können entscheiden, ob sie das
alte Recht mit Ehegattensplitting, Kindergeld und Kinderfreibeträ
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gen behalten oder in die neue Regelung mit Kindergrundsicherung
und Individualbesteuerung wechseln. So stellen wir sicher, dass von
unserer Reform alle profitieren.
Mit dem Familien-Budget werden Kinderfreibetrag, Kindergeld,
Kinderzuschlag und Kinderregelsatz zu einer unbürokratischen Leis
tung zusammengeführt. Außerdem braucht es neben guter Bildung
auch echte Teilhabe von Kindern an zentralen gesellschaftlichen Gü
tern wie Sport, Musik und Kultur. Das heutige Bildungs- und Teilha
bepaket erreicht dieses Ziel nicht und soll deswegen abgeschafft
werden. Wir wollen stattdessen die bisherigen Leistungen für die be
troffenen Kinder zum Teil durch einen vom Bund finanzierten kosten
freien Zugang zu den entsprechenden Angeboten und zum Teil im
Regelsatz gewähren.
Das beste Mittel gegen Kinderarmut bleibt nach wie vor die Er
werbstätigkeit der Eltern. Deshalb ist es besonders für Mütter ganz
zentral, dass sie endlich eine angemessene Bezahlung in Jobs, die
zum Leben reicht, eine bessere soziale Absicherung sowie gute Be
treuungsangebote für ihre Kinder erhalten. Es ist wichtig, dafür zu
sorgen, dass Beruf und Familie vereinbar sind.
3. Kinder und Jugendliche sollen mitbestimmen,
wie ihre Welt aussieht
Wir GRÜNE machen Politik für ein kinderfreundliches Land. Darin
kommen alle Kinder zu ihrem Recht, die aus den akademischen
Haushalten genauso wie die aus den Arbeiterfamilien; die, deren
Familien immer schon am gleichen Ort wohnen, genauso wie die,
deren Eltern nach Deutschland eingewandert oder erst vor Kurzem
zu uns gekommen sind; die mit Behinderung genauso wie die ohne;
Mädchen genauso wie Jungs. Ganz vorn steht deshalb für uns die
Festschreibung der Kinderrechte im Grundgesetz. Kinder und Ju
gendliche sollen mitbestimmen, wer ihre Welt gestaltet. Deshalb
wollen wir das Wahlalter bei allen Wahlen auf 16 Jahre senken. Wer
in der Kindheit ernst genommen wird und spürt, dass man Dinge
selbst verändern kann, geht als Erwachsener sicherer durchs Leben.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Für ein modernes Familienrecht – alle Familienformen
anerkennen und schützen
Familie ist da, wo Menschen füreinander Verantwortung über
nehmen. Über 30 Prozent aller Familien, in denen minderjährige
Kinder leben, sind keine Ehen, sondern: nichteheliche Familien,
Alleinerziehende mit Kind, Patchworkfamilien oder Regenbo
genfamilien. Für viele dieser heute selbstverständlichen Famili
enkonstellationen gibt es keinen klaren Rahmen, der ihre Rechte
benennt und ihre Familienform absichert. Wir wollen das Famili-
enrecht weiterentwickeln und für diese Familien ein Angebot
schaffen, das sie in ihrer Verantwortung als Eltern rechtlich
stärkt (Rechtsinstitut der elterlichen Mitverantwortung). Damit
wollen wir klar regeln, welche Rechte und Pflichten, beispiels
weise in der Schule, beim Arztbesuch oder im Alltag, aber auch
welche Verantwortung für das Kind die leiblichen und die nicht
leiblichen, aber miterziehenden Eltern haben.
KinderZeit Plus – damit Eltern mehr für ihre Kinder
da sein können
Eltern müssen vieles gleichzeitig schaffen: die Arbeit, den Haus
halt, Zeit für die Kinder, die Freunde – und sie wollen möglichst
auch ein wenig Zeit für sich selbst haben. Dabei ist es ihnen
wichtig, Erwerbsarbeit und Kindererziehung partnerschaftlich
untereinander aufzuteilen. Diese Ziele unterstützen wir durch
unsere grüne Zeitpolitik: Mit der KinderZeit Plus lösen wir das
Elterngeld ab. Denn es sind nicht nur die Kleinsten, die ihre
Eltern brauchen. Die grüne KinderZeit Plus ermöglicht es, die
Arbeitszeit für bestimmte Phasen zu reduzieren. Die KinderZeit
Plus kann genommen werden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind.
Damit unterstützen wir Eltern auch nach dem ersten Geburtstag
des Kindes. So bekommen auch Eltern mit geringem Einkommen
mehr Spielraum, um sich Zeit für ihre schon etwas größeren
Kinder zu nehmen. In der KinderZeit Plus erhält jeder Elternteil
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 215
acht Monate finanzielle Unterstützung – weitere acht Monate
können frei zwischen den Eltern aufgeteilt werden. Wir unter
stützen Eltern insgesamt also zwei Jahre lang.
Familien entlasten, Kinder fördern – mit dem grünen
Familien-Budget
Mit dem grünen Familien-Budget schnüren wir ein Zwölf-Milliar
den-Euro-Entlastungspaket, das zahlreiche Schwachstellen bei
der Familienförderung angeht. Denn derzeit ist die Kinder- und
Familienförderung trotz ihrer Vielzahl von Leistungen weder ge
recht noch wirksam. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in ei
ner Familie, die arm oder von Armut bedroht ist. Das wollen wir
ändern. Dazu wollen wir endlich die ungleiche Unterstützung
von Kindern entlang des Einkommens ihrer Eltern beenden.
Denn heute steht die Familienförderung kopf. Eltern mit hohem
Einkommen erhalten für ihre Kinder mehr Unterstützung vom
Staat als Eltern mit kleinem oder mittlerem Einkommen. Allein
erziehende werden durch dieses System besonders benachtei
ligt. Mit dem grünen Familien-Budget werden wir alle Kinder
gleich gut unterstützen und Familien in erheblichem Maße ent
lasten. Zukünftig werden Paare individuell besteuert und profi
tieren vom grünen Familien-Budget. Bereits Verheiratete und
Verpartnerte können entscheiden, ob sie das alte Recht mit Ehe
gattensplitting, Kinderfreibeträgen und Kindergeld behalten
wollen oder ob für sie die neue Regelung mit Individualbesteue
rung und grünem Familien-Budget günstiger ist. So stellen wir
sicher, dass von unserer Reform alle profitieren.
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VI. WIR KÄMPFEN FÜR GUTE
ARBEIT UND BESSERE
VEREINBARKEIT
Für die meisten Menschen ist Erwerbsarbeit ein ganz zentraler Teil
ihres Lebens. Sie stecken Energie, Lebenszeit, Können und Kreati
vität in ihre Aufgaben. Bei guter Arbeit wissen sie sich gebraucht
und finden Anerkennung bei Kolleg*innen, Mitarbeiter*innen und
Vorgesetzten. Fast jede*r wünscht sich eine gute Arbeit, die finanzi
ell absichert, erfüllt und Freude macht. Auch darin, nicht nur im
Lohn, liegt die große Bedeutung der Erwerbsarbeit für unsere Ge
sellschaft. Und auch deshalb sind Arbeitslosigkeit und ungerechte
Löhne großer Sprengstoff für den gesellschaftlichen Zusammen
halt.
Heute sind in Deutschland mehr Menschen erwerbstätig denn
je, in den letzten Jahren sind hunderttausende neue sozialversiche
rungspflichtige Arbeitsplätze entstanden und die Erwerbslosigkeit
ist relativ gering. Ein Viertel der Beschäftigten befindet sich jedoch
in kleinen Teilzeitjobs, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf, Minijobs oder
immer wieder in befristeten Jobs. Viele dieser Jobs sind unsicher,
schlecht bezahlt, erschweren die Lebens- und Familienplanung und
führen auf Dauer zu Armut im Alter. Nach wie vor sind Frauen am
Arbeitsmarkt benachteiligt. Überlastung, Stress und Zeitnot führen
zum Raubbau an der eigenen Gesundheit und Person. Das wollen
wir ändern.
Unsere Arbeitswelt wandelt sich sehr stark durch globalisierte
Unternehmen und digitalisierte Arbeitsplätze. Wir GRÜNE wollen
diese Entwicklungen fair für alle gestalten. jede*r soll unter guten
Bedingungen arbeiten können. Arbeitsplätze müssen alters- und al
ternsgerecht ausgestaltet werden. Soziale Berufe, in denen vor al
lem Frauen arbeiten, wollen wir aufwerten. Zudem sollen Frauen
und Männer endlich gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige
Arbeit bekommen. Wir unterstützen eine partnerschaftliche Auftei
lung von bezahlten und unbezahlten Aufgaben. Beide Partner*innen
sollen wirtschaftlich unabhängig sein, damit sie selbstbestimmt
leben können – auch im Alter.
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Bundestagswahlprogramm 2017
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1. Gute Arbeit statt prekärer Jobs
Arbeit muss gerecht bezahlt werden. Der allgemeine Mindestlohn ist
ein Meilenstein dorthin. Er muss aber für alle Angestellten gelten.
Eine Erhöhung des Mindestlohns begrüßen wir. Die Höhe des Min
destlohns sollte sich nicht nur an der Tarifentwicklung orientieren.
Sie soll ermöglichen, von der Arbeit in Würde leben zu können. Der
Schutz vor Lohndumping, fairer Wettbewerb und Beschäftigungssi
cherung müssen ebenfalls bei der Ermittlung der Höhe eine Rolle
spielen. Auch sollte die Wissenschaft in der Mindestlohnkommission
ein Stimmrecht bekommen. Außerdem brauchen wir mehr branchen
spezifische Lohnuntergrenzen oberhalb des Mindestlohns, damit der
unternehmerische Konkurrenzkampf nicht zulasten der Beschäftig
ten geht.
Durch die Digitalisierung unserer Gesellschaft und neue Ge
schäftsmodelle der Unternehmen arbeiten immer mehr Arbeitneh
mer*innen auch an Sonn- und Feiertagen, oft ohne für den Verzicht
auf arbeitsfreie Sonn- und Feiertage besonders entschädigt zu wer
den. Das wird dem hohen Wert des arbeitsfreien Sonn- und Feiertags
nicht gerecht. Für einen gerechteren Ausgleich wollen wir einen ver
bindlichen Flexibilitätszuschlag für alle, die an Sonn- oder Feierta
gen arbeiten müssen. Dieser soll im Rahmen der bestehenden Zu
schlagsregelungen steuer- und sozialabgabenfrei sein.
Gute Arbeit braucht gute Arbeitsbedingungen, insbesondere in
Bereichen, in denen Überlastung und prekäre Arbeit häufig vorkom
men. Flexibilität ist gut – es muss aber auf die richtige Balance mit
Blick auf die soziale Absicherung und die Mitsprachemöglichkeiten
der Arbeitnehmer*innen geachtet werden. Leiharbeiter*innen sol
len vom ersten Tag an mindestens die gleiche Entlohnung erhalten
wie Stammbeschäftigte – plus Flexibilitätsprämie. Von Werk- oder
Dienstverträgen muss die Leiharbeit klar abgegrenzt werden.
Scheinselbständigkeit wollen wir mit rechtssicheren Kriterien un-
terbinden. Arbeit auf Abruf soll dann nicht mehr möglich sein, wenn
die Tätigkeiten mit normalen Arbeitsverhältnissen erledigt werden
können, etwa über die Nutzung von Arbeitszeitkonten. Ohne sach
lichen Grund sollten Jobs nicht mehr befristet werden können. Gute
Arbeit darf nicht krank machen. Wir werden den Arbeitsschutz stär
ken, damit er wirksam vor Stress, Burn-out, Mobbing und Entgren
zung der Arbeit schützt.
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Immer weniger Jobs sind heute durch Tarifverträge abgedeckt.
Das muss sich wieder ändern. Tarifverträge sollen leichter allge
mein verbindlich gemacht werden können und für alle Betriebe ei
ner Branche gelten. Wir brauchen starke Betriebsräte. Wir wollen
sie besser schützen, ihre Mitbestimmungsrechte ausbauen und den
Schwellenwert für die paritätische Unternehmensmitbestimmung
auf 1.000 Beschäftigte absenken. Denn Partizipation und Demokra
tie sind auch im Wirtschaftsleben wichtig. Das soll ebenso für die
Kirchen, einen der größten Arbeitgeber im Land gelten: Auch für
ihre Beschäftigten wollen wir Koalitionsfreiheit und Streikrecht
gewährleisten. Zudem halten wir die persönlichen Loyalitätspflich
ten von Mitarbeiter*innen bei kirchlichen Trägern außerhalb des re
ligiösen Verkündigungsbereiches für unverhältnismäßig. Wir wollen
deshalb die Rechte der kirchlichen Arbeitnehmer*innen stärken und
Ausnahmeregelungen beschränken.
Minijobs scheinen eine gute Gelegenheit, etwas dazuzuverdie
nen. Aber sie haben zu keiner Zeit das Ziel erreicht, Brücken in regu
läre Beschäftigung zu bauen. Stattdessen haben sie sich als berufli
che Sackgasse und Armutsrisiko erwiesen, insbesondere für viele
Frauen. Minijobs wollen wir deshalb in sozialversicherungspflichti
ge Jobs umwandeln und dafür sorgen, dass die Beiträge durch Steu
ern und Abgaben und soziale Leistungen so aufeinander abge
stimmt werden, dass sich Erwerbsarbeit immer rechnet. Dabei darf
die Belastung mit Steuern und Abgaben nicht sprunghaft steigen.
So wird es attraktiver, mehr als geringfügig zu arbeiten.
2. Gute Weiterbildung für gute Jobs
Wir GRÜNE wollen alle Menschen in die Zukunft der Arbeit mitneh
men. Weiterbildung wird immer wichtiger – auch, weil die Menschen
immer älter werden und länger arbeiten. Mit der BildungsZeit Plus,
einem Mix aus Darlehen und Zuschuss, können wir Erwachsene, die
sich weiterbilden wollen, unterstützen. Damit es gar nicht erst zu
Arbeitslosigkeit kommt, wollen wir die Arbeitslosenversicherung zur
grünen Arbeitsversicherung weiterentwickeln, die für alle Beschäf
tigten und Selbständigen da ist. Sie wird, anders als bisher, nicht erst
im „Versicherungsfall Arbeitslosigkeit“ tätig, sondern unterstützt
unter Berücksichtigung der Veränderung von Branchen und Kompe
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tenzen vorbeugend mit Weiterbildungen und Qualifizierungen, um
Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Sie ist damit ein wirksames Instru
ment, um Menschen in Zeiten von technologischen Umbrüchen Si
cherheit zu gewähren und neue Perspektiven zu eröffnen. Sie bietet
soziale Sicherheit bei Arbeitslosigkeit und hilft beim erfolgreichen
Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.
3. Zugänge schaffen
Erwerbslose Menschen sollen in gut ausgestatteten Jobcentern und
Agenturen passgenau betreut werden, um sie dauerhaft in Arbeit zu
vermitteln. Auch Menschen mit Behinderung oder geflüchtete Men
schen brauchen genau auf sie zugeschnittene Angebote. Dazu ge
hören vor allem Qualifizierungen, Sprachförderung, JobCoaching
und unterstützte Beschäftigung, Eingliederungs- oder Gründungs
zuschüsse.
Teilhabe ist für viele mit Erwerbsarbeit verbunden. Allen muss
der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Es gibt aber Ar
beitslose, die absehbar keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt
haben. Darum ist der soziale Arbeitsmarkt unerlässlich. Wir wollen
Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, damit auch Arbeitslose mit
besonders vielfältigen Problemen wieder Zugang zum Arbeitsmarkt
bekommen – schrittweise und nachhaltig.
4. Zeit für mehr
Bisher forderten vor allem die Arbeitgeber*innen Flexibilität von
ihren Beschäftigten. Jetzt wird es Zeit, dass auch die Beschäftigten
mehr Zeitsouveränität bekommen, um Arbeit, Privat- und Familien
leben besser vereinbaren zu können. Dafür brauchen sie mehr Mit
spracherecht über den Umfang, die Lage und den Ort ihrer Arbeit.
Durch Wahlarbeitszeiten zwischen 30 und 40 Wochenstunden wol
len wir Vollzeit neu definieren und zu einem flexiblen Arbeitszeit
korridor umgestalten. Damit können Frauen leichter als bisher ihre
Beschäftigung ausweiten und Männer können in Teilzeit gehen,
ohne Karriereeinschnitte fürchten zu müssen. Auch ein Rückkehr
recht auf die ursprüngliche Stundenzahl muss endlich kommen. Für
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Betriebsräte soll es möglich werden, Betriebsvereinbarungen zu
Vereinbarkeitsfragen zu verhandeln. Zeitsouveränität darf nicht
dazu führen, dass unbezahlte Mehrarbeit entsteht und die Grenzen
von Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmen. Deshalb gehört
ein zeitgemäßer Arbeitsschutz unbedingt dazu sowie ein wirksamer
Beschäftigtendatenschutz. In den Unternehmen ist Kreativität ge
fragt, damit die Anforderungen der heutigen Arbeitswelt mit den
Bedürfnissen der Beschäftigten besser in Einklang gebracht wer
den. Immer mehr Arbeitgeber*innen haben dies bereits erkannt,
sich von überholten Mustern verabschiedet und innovative Konzep
te für ihre Belegschaften entwickelt. Alle anderen wollen wir davon
noch überzeugen.
Das Leben lässt sich nicht immer planen. Manchmal wird die
Pflege der Mutter wichtiger als der Beruf, manchmal wird ein Kind
krank. Wir wollen Menschen dabei unterstützen, das Verhältnis zwi
schen Arbeit und den Wechselfällen des Lebens neu auszubalancie
ren. Grüne Arbeitszeitpolitik will mehr Selbstbestimmung über die
eigene (Arbeits-)Zeit ermöglichen. Wir wollen anerkennen und un
terstützen, wenn jemand Verantwortung für andere übernimmt.
Denn die Unterstützung und Pflege alter und kranker Menschen ist
keine private Aufgabe. Sie ist gesellschaftlich wichtig und sie wird
derzeit überwiegend von Frauen geleistet. Wer Pflegebedürftige
unterstützt, für den schlagen wir eine dreimonatige PflegeZeit Plus
mit Lohnersatzleistung vor. Sie soll sich am Einkommen orientieren,
wie es beim Elterngeld der Fall ist.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Gute Arbeit für alle – auch für Menschen mit Behinderung
Wir wollen die Arbeitswelt gerechter gestalten. Leiharbeitskräf
te bekommen den gleichen Lohn wie die Stammbeschäftigten
und eine Flexibilitätsprämie. Zweifelhafte Dienst- und Werkver
träge, Scheinselbständigkeit und Befristungen ohne Grund er
setzen nicht mehr tariflich gut bezahlte Arbeit. Menschen mit
Behinderung haben das gleiche Recht, mit Arbeit ihren Lebens
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unterhalt zu verdienen. Dazu muss sich ihr Zugang zum allge
meinen Arbeitsmarkt verbessern. Die Ausgleichsabgabe werden
wir deutlich erhöhen und damit Betriebe fördern, die über ihre
Quote hinaus Menschen mit Behinderung ausbilden und beschäf
tigen. Die Schwerbehindertenvertretung werden wir stärken.
Das Budget für Arbeit, die unterstützte Beschäftigung und Inklu
sionsfirmen erleichtern den Einstieg in den allgemeinen Arbeits
markt. In den Werkstätten für Menschen mit Behinderung wird
allen, die den Einstieg nicht schaffen, ein fair entlohntes Ar
beitsangebot gemacht. Das „Mindestmaß wirtschaftlich verwert
barer Leistung“ als Voraussetzung für die Werkstätten schaffen
wir ab.
Flexible Vollzeit – Arbeitszeit freier gestalten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen mehr Mit
spracherechte über das Wieviel, Wann und Wo ihrer Er werbs
tätigkeit. Auch die Führung in Teilzeit sollte für Frauen und
Männer selbstverständlich möglich sein. Wir schlagen einen
Vollzeit-Arbeitszeitkorridor im Bereich von 30 bis 40 Stunden
vor. Innerhalb dieses Stundenkorridors sollen Beschäftigte ih
ren Arbeitszeitumfang frei bestimmen können. Um Beschäf
tigten wie Unternehmen Planungssicherheit zu geben, müssen
dabei Ankündigungsfristen eingehalten werden. Nur dringen
de betriebliche Gründe sollen die Anpassung der Stundenzahl
verhindern können. Der bestehende Rechtsanspruch auf Teil
zeit soll um ein Rückkehrrecht auf den früheren Stundenum
fang, um ein Recht auf Homeoffice als Ergänzung zum festen
Arbeitsplatz, sofern dem keine wichtigen betrieblichen Belan
ge entgegenstehen, und um eine Mitsprache bei der Lage der
Arbeitszeit ergänzt werden.
Mit einer Arbeitsversicherung Weiterbildung ermöglichen
Wir investieren verstärkt in die Qualifizierung und Weiterbildung
von Beschäftigten und Arbeitslosen, um sie für Berufe mit Zu
kunft fit zu machen und damit ihre Jobchancen zu verbessern.
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Dafür wollen wir die Arbeitslosenversicherung zu einer umfas
senden Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Sie soll für alle
Beschäftigten und Selbständigen da sein und sie absichern. Mit
dieser grundsätzlichen Reform der Arbeitsförderung kann es ge-
lingen, Zugänge in Arbeit auch für die zu schaffen, die es heute
besonders schwer haben: Für Menschen mit Handicap, Jugend
liche ohne Ausbildung, Langzeitarbeitslose, ältere Beschäftigte
und Geflüchtete gibt es künftig passgenaue und individuelle In
tegrationsstrategien.
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VII. WIR GESTALTEN DIE
DIGITALISIERUNG
Smartphones, 3-D-Drucker, Liefer-Apps, Online-Handel und Share
Economy – schon heute verändert die digitale Revolution unsere
Wirtschaft, unsere Arbeitswelt und unseren Alltag grundlegend.
Vieles spricht dafür, dass sich dieser Prozess noch einmal beschleu
nigen wird. Selbstfahrende Autos sind vielleicht schon in wenigen
Jahren auf der Straße, am Horizont winkt künstliche Intelligenz. Wir
wollen den digitalen Wandel aktiv gestalten. Denn wir sehen viele
Chancen und Möglichkeiten durch die Digitalisierung, die wir er
greifen wollen.
Wir wollen neue, gute Jobs in neuen Arbeitsfeldern fördern.
Wir wollen die ökologischen Möglichkeiten nutzen, die sich für die
Energie- und Verkehrswende durch intelligente Steuerung, Auto
matisierung oder Vernetzung ergeben. Für all das werden wir die
richtigen Weichen stellen. Wir wollen alle ermuntern und fördern,
die den Mut haben, etwas Neues zu wagen. Und wir wollen diejeni
gen unterstützen, deren Arbeitsplätze oder deren Zukunft bedroht
sind. Denn zugleich wirft dieser Wandel ethische Fragen auf
und erzeugt enormen Anpassungsdruck etwa im Bildungs-, Wirt
schafts-, Finanz- und Sozialsystem. Hier braucht es eine gesamtge
sellschaftliche Debatte für umfassende Lösungsansätze.
Die Digitalisierung trifft auf eine Wirtschaft, in der mit ökologi
schen Langzeitschäden, Investitions- und Nachfrageschwäche, zu
starker Konzentration von Vermögen und zu großem Ressourcen
hunger einiges im Argen liegt. Wir wollen Ordnung in dieses System
bringen. Dafür brauchen wir mehr Investitionen, damit unsere Wirt
schaft krisenfester und dynamischer wird. Dafür brauchen wir eine
öffentliche Hand, die auch gegenüber Konzernen durchgreifen
kann, um für fairen Wettbewerb, den Schutz der Verbraucher*innen
und den Erhalt öffentlicher Güter zu sorgen.
Es ist uns wichtig, die Digitalisierung mit klaren Regeln so zu ge
stalten, dass die Vorteile nicht nur wenigen in unserer Gesellschaft
zugutekommen, und Risiken, zum Beispiel beim Datenschutz oder
bei der Machtkonzentration einiger weniger Internetkonzerne, be
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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grenzt werden, um einem potenziellen Machtmissbrauch gerade
mit Blick auf die Verletzung von Persönlichkeitsrechten entgegen
zuwirken. Die Digitalisierung wird wie jede technologische Revolu
tion dafür sorgen, dass bestehende Tätigkeiten und Arbeitsplätze
wegfallen und neue entstehen. Das ist für viele Menschen ein be
rechtigter Grund zur Sorge. Hier sind wir als Solidargemeinschaft
gefragt. Wir wollen uns umso stärker aktiv für neue Jobs einsetzen.
Wir werden unsere sozialen Sicherungssysteme auf diesen Wandel
einstellen und ihre Zukunftsfähigkeit sichern. Wir werden dafür sor
gen, dass alle gute Bildung genießen können – und zwar ein Leben
lang. So können wir es schaffen, dass die Digitalisierung zu einem
Gewinn für unser Land wird.
Wir wollen einen digitalen Aufbruch, bei dem Unternehmen, Zi
vilgesellschaft und Politik gemeinsam dafür sorgen, dass wir durch
die Digitalisierung unserem Ziel, einer ökologischen und sozialen
Marktwirtschaft, die sich am langfristigen Wohlstandsgewinn statt
an kurzfristigen Profiten orientiert, näher kommen.
1. Mehr und nachhaltiger in unsere Zukunft investieren
Investitionen sind die Voraussetzung für eine dynamische und zu
kunftsfähige Wirtschaft und für wettbewerbsfähige Unternehmen.
Die Erträge, zum Beispiel von Investitionen in Bildung, sind deutlich
höher als die Zinsen, die wir derzeit für unsere Kredite bezahlen
müssen, und Zukunftsinvestitionen bedeuten mehr Nachfrage und
damit mehr Aufträge für unsere Wirtschaft vor Ort und gute Ar
beitsplätze. Auch das trägt dazu bei, die Wirtschaft krisenfester zu
machen. Wir investieren in Deutschland jedoch seit Langem viel zu
wenig – sowohl die Unternehmen als auch der Staat. Unsere Kinder
und Enkelkinder werden diese Fehlentwicklung ausgleichen müs
sen, wenn wir nicht schnell umsteuern. Die ausschließliche Fixie
rung auf die schwarze Null trägt nicht zur Generationengerechtig
keit bei. Diese erreichen wir erst, wenn neben der Begrenzung der
Verschuldung Investitionen in die Zukunft des Landes getätigt wer
den. Deshalb wollen wir mindestens zwölf Milliarden Euro pro Jahr
zusätzlich investieren. Damit das öffentliche Vermögen nicht weiter
schmilzt, soll zugleich eine neue Investitionsregel die bestehende
Schuldenbremse ergänzen. Wir wollen daher die Bilanzierungsre
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Gerechtigkeit im Sinn
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 225
geln für das öffentliche Vermögen umstellen, um dessen Wert und
Wertverlust transparent zu machen. Es macht keinen Sinn, sich über
die schwarze Null zu freuen, wenn auf der anderen Seite die öffent
liche Infrastruktur zusammenbricht. Die Zeche für heute versäumte
Investitionen zahlen immer die zukünftigen Generationen. Durch
den konsequenten Abbau umweltschädlicher Subventionen schaf
fen wir weitere Haushaltsspielräume für Investitionen.
Wir GRÜNE wollen in moderne Mobilität, bezahlbare und ener
gieeffiziente Wohnungen und einen Bildungsaufbruch – also in die
Zukunft unseres Wohlstandes – investieren. Wenn wir die Chancen
der Digitalisierung nutzen und sicherstellen wollen, dass die digita
le Gründer*innenzeit überall in Deutschland möglich ist, müssen
wir jetzt in ein schnelles und flächendeckendes Internet inves
tieren. Grundvoraussetzung dafür ist ein zukunftsfähiger Breit
bandausbau auf Basis von Glasfaser. Wir wollen dazu den Bundes
besitz an Telekom-Aktien im Wert von rund zehn Milliarden Euro
veräußern und in den Breitbandausbau investieren. Das Thema Di
gitalisierung muss dabei in der Bundesregierung besser koordiniert
werden und im Kabinett eigenständig vertreten sein.
Außerdem schaffen wir Planungssicherheit durch verlässliche
Rahmenbedingungen und wollen Unternehmen, die ihre Gewinne
nicht entnehmen, sondern reinvestieren, besonders fördern.
2. Fairer Wettbewerb statt Machtwirtschaft
Konzentrierte und verkrustete Märkte sind Gift für fairen Wettbe
werb. Wir GRÜNE setzen uns für diskriminierungsfreie und offene
Märkte ein, etwa bei der Netzneutralität. Echte Netzneutralität ist
die Voraussetzung für einen fairen digitalen Wettbewerb. Ein „Zwei
Klassen-Internet“ braucht niemand.
Wir sorgen für Preise, die die ökologische und soziale Wahrheit
sagen – wie bei der ökologischen Finanzreform und der Leiharbeit.
So haben nicht diejenigen Vorteile, die am meisten verschmutzen
oder ausbeuten. Die Rahmenbedingungen sollten so formuliert
sein, dass kleine oder junge Unternehmen sie ebenfalls meistern
können. Einfache, aber wirksame Regeln wie eine Schuldenbremse
für Banken, ein EU-weiter Mindeststeuersatz für Unternehmen und
ein funktionierender CO2-Emissionshandel sind weitere wichtige
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Hebel für einen fairen Wettbewerb. Sektoren und Märkte mit
sehr mächtigen Einzelunternehmen wollen wir besser regulieren,
damit nicht Einzelne auf Kosten der Verbraucher*innen, der Um
welt, der Persönlichkeitsrechte oder der Steuerzahler*innen ihre
Profite hochschrauben und einen Missbrauchsvorteil ausspielen
können.
Große Internetkonzerne wie Google, Facebook, Amazon und Co
verändern die Art und Weise, wie wir leben und wie unsere Wirt
schaft funktioniert, gerade rapide. Daten und Vernetzung gewinnen
für die Produktion, aber auch den Wert von Gütern und Dienstleis
tungen eine immer größere Bedeutung. Es ist denkbar, dass der
Wert eines Autos sehr bald stärker daran gemessen wird, wie gut
seine Vernetzung mit dem Internet ist und welche datengetriebe
nen Dienste und Programme es den Fahrer*innen anbietet, als wie
gut der Motor oder die Verarbeitung ist. Große Plattformen und
Portale gewinnen mit jedem und jeder Nutzer*in an Bedeutung. Ge
nerell gilt, wer die Daten hat und sie nutzt, hat einen Wettbewerbs
vorteil. Zum einen wollen wir sicherstellen, dass der Schutz unserer
Daten dabei immer gewährleistet wird. Zum anderen stellt diese
veränderte Wertschöpfung eine enorme Herausforderung für die
deutsche Wirtschaft dar. Unternehmen dürfen den Trend nicht ver
schlafen und müssen durch Innovationen fit bleiben. Wir wollen sie
dabei unterstützen, wettbewerbsfähig zu bleiben. Monopolartige
Strukturen wollen wir verhindern. Daher wird die öffentliche Hand
als Hüterin des fairen Wettbewerbs immer wichtiger. Wir setzen uns
deshalb für einen neuen politischen wie rechtlichen Ordnungsrah
men und eine Weiterentwicklung des Wettbewerbs- und Kartell
rechts ein, welche die Informations-, Markt- und Datenmacht ein
zelner Unternehmen effektiv begrenzt. Das bedeutet auch, dass
Großkonzerne, Banken, die „too big to fail“ sind, oder Netzmonopo
le in extremen Fällen entflochten werden sollten.
Damit der Mittelstand im Zuge der Digitalisierung im Wettbe
werb mit großen Unternehmen gut aufgestellt ist, wollen wir ein
IT-Beratungsnetzwerk für den digitalen Wandel einrichten. Dieses
dezentrale Netzwerk von Berater*innen soll in die Unternehmen
gehen können, die IT-Sicherheit überprüfen und anbieterunabhän
gige Verbesserungsvorschläge geben. Dabei sollen auch Empfeh
lungen ausgesprochen werden, wie das Unternehmen sich im
Prozess von Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung zu
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kunftsfähig aufstellen und auch mehr Frauen für die Branche ge
winnen kann.
Milliardenschwere Großunternehmen – auch aus der Digital
branche – nehmen wir in die Pflicht, ihrer gesellschaftlichen Ver
ant wor tung wieder gerecht zu werden. Für Großunternehmen muss
es wieder eine Selbstverständlichkeit sein, Steuern auf Gewinne zu
zahlen – wir werden sie darauf verpflichten. Ebenso müssen sie sich
an klare rechtliche Vorgaben halten, wie zum Beispiel das neue und
von uns federführend verhandelte EU-Datenschutzrecht. Außerdem
wollen wir einen europäischen digitalen Binnenmarkt schaffen, da
durch würden sich vielen innovativen europäischen Unternehmen
neue Chancen eröffnen.
3. Gute Arbeit 4.0
Die digitale Arbeitswelt wird vernetzter, technischer und auch flexib
ler sein. Und wir wollen, dass sie auch humaner, familienfreundlicher
und ökologischer wird. Mit der Digitalisierung verändern sich Arbeits
inhalte, Arbeitsplätze und Arbeitsstrukturen. Arbeit ist nicht mehr an
Ort und Zeit gebunden. Deshalb fordern wir auch ein Recht auf
Homeoffice als Ergänzung zum festen Arbeitsplatz und unter Berück
sichtigung der betrieblichen Möglichkeiten. Das schafft Zeitsouverä
nität und Freiräume für mehr selbstbestimmtes Arbeiten.
Die Digitalisierung stellt uns aber auch vor neue Herausforde
rungen: permanente Erreichbarkeit, Mehrarbeit und umfassende
Leistungskontrolle. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, ab
hängiger und selbständiger Tätigkeit, zwischen Selbstbestimmung
und Selbstausbeutung laufen Gefahr zu verschwimmen. Hier wol
len wir Beschäftigte und Selbständige schützen. Deshalb werden
wir den Arbeitsschutz an die digitale Arbeitswelt anpassen, betrieb
liche Mitbestimmungsrechte stärken und mit einem eigenständigen
Beschäftigtendatenschutzgesetz vor umfassender Leistungskon
trolle schützen. Solo-Selbständige und Kreative müssen zukünftig
für alle Lebenslagen sozial abgesichert sein und sie müssen fair
entlohnt werden. Deshalb wollen wir ein allgemeines Mindest
honorar als absolute Untergrenze für zeitbasierte Dienstleistungen
einführen und gleichzeitig branchenspezifische Mindes thonorare
für bestimmte Werke und Dienstleistungen ermöglichen, die gut zu
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den jeweiligen Branchen passen. Über Online-Plattformen vermit
telte Arbeit und die Zahl der Click worker*innen nehmen zu. Platt
formen dürfen weder für Lohndumping noch als rechtsfreier Ver
triebskanal missbraucht werden. Nur wenn die heutigen Sozial- und
Arbeitsstandards weiterhin gelten, entstehen fairer Wettbewerb
und gute Arbeitsbedingungen in der digitalen Arbeitswelt. Der digi
tale Wandel der Arbeitswelt hat bereits begonnen. Diesen Struktur
wandel wollen wir positiv gestalten.
Durch die Digitalisierung werden neue Arbeitsplätze entstehen,
aber manche Tätigkeiten werden auch automatisiert. Die ökologische
Modernisierung ist dabei eine Chance, damit nicht nur für Program
mierer*innen, sondern auch für Handwerker*innen und Facharbei
ter*innen neue Jobs entstehen. Digitale Kompetenzen werden von
zentraler Bedeutung sein. Deshalb fördern wir Weiterbildungen be
reits im Job und nicht nur bei Arbeitslosigkeit ( Kapitel: Wir kämp
fen für gute Arbeit und bessere Vereinbarkeit, Projekt Arbeitsver
sicherung, S. 216). Digitalisierung und Automatisierung bieten aber
auch die Chance der Reduzierung der Arbeitsbelastung, der Ermögli
chung anderweitigen Engagements, zum Beispiel im Ehrenamt, oder
der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hierfür
sind jedoch eine aktive politische Gestaltung der Umbruchprozesse
und das Stellen der richtigen arbeitspolitischen Weichen nötig.
4. Unternehmensgründungen fördern
Mit ihren Ideen und ihrer Schaffenskraft fordern Gründerinnen und
Gründer etablierte Unternehmen heraus, wagen Neues und moderni
sieren so unsere Wirtschaft. Aufgrund der Digitalisierung erleben wir
gerade eine neue Gründer*innenzeit. Es sind die Unternehmer*innen,
die die Energie-, Mobilitäts- und Agrarwende in die Praxis umsetzen
und zu einem Erfolgsmodell machen. Sie gehen ins Risiko und finden
kreative Lösungen. Wir wollen sie dabei unterstützen, indem wir für
Selbständige den Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen ver
bessern, neue Finanzierungsformen wie Crowdfunding stärken und
diese mit Förderbanken vernetzen sowie Co-Working- und Gewerbe
räume für Gründer*innen fördern.
Neben der Projekt- und Gründer*innenförderung wollen wir For
schungsaktivitäten in kleinen und mittleren Unternehmen auch
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steuerlich begünstigen, um das kreative Potenzial und den Erfin
dergeist dort noch stärker zu mobilisieren. Durch eine Steuergut
schrift von 15 Prozent sollen ihre Forschungs- und Entwicklungsaus
gaben künftig gefördert werden. Wir wollen ein unbürokratisches
und wirksames Förderinstrument für alle Gründungswilligen. Mit
dem grünen Gründungskapital bekommt jede*r, die oder der sich
selbständig machen will und ein überzeugendes Konzept vorlegt,
einmalig ein flexibles und zinsfreies Darlehen von bis zu 25.000
Euro. Die Rückzahlung erfolgt, sobald das Unternehmen Fuß ge
fasst hat. Wir wollen gerade für Kleinunternehmer*innen den
Zugang zu Mikrokrediten verbessern, indem der bürokratische und
finanzielle Aufwand verringert wird. Offene Standards, Schnitt
stellen, Daten und Software erleichtern es findigen Köpfen, neue
Geschäftsideen umzusetzen. Zudem wollen wir die Grenze zur So
fortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter auf 1.000 Euro
anheben. Und wir wollen einen bundesweiten One-Stop-Shop für
Gründer*innen einrichten, sodass alle nötigen bürokratischen Vo
raussetzungen und Beratungsleistungen an einem Ort aufzufinden
sind. Wir wollen politische Rahmenbedingungen so formulieren
und vereinfachen, dass kleine oder junge Unternehmen, Kultur
schaffende und Kreative sie ebenfalls meistern können – und große
Unternehmen sie mit ihren teuren Anwält*innen nicht mehr ein
fach aushebeln können.
Ein innovatives Land braucht starke Hochschulen. Wissenschaft
braucht neugierige Menschen und diese brauchen ausreichend Räu
me und eine gute Ausstattung, also eine moderne Infrastruktur des
Wissens. Dafür braucht es ein Modernisierungsprogramm, um den
Sanierungsstau aufzulösen: für mehr studentischen Wohnraum, den
Ausbau von Laboren und Bibliotheken, aber auch für digitale Infra
struktur. Mit diesem Vorschlag werden wir die Hochschulen wieder
auf die Höhe der Zeit bringen und ihre Grundfinanzierung verbes
sern, damit vielfältige, unabhängige und exzellente Forschung und
Lehre möglich ist.
Die Digitalisierung erleichtert auch die Gründung von Unterneh
men, die alternative Wirtschaftsformen im Blick haben – angefan
gen bei solidarischer Ökonomie über Social Entrepreneurship bis
hin zur Sharing Economy. Wir wollen solche Modelle politisch stär
ken und Offenheit als Leitprinzip für digitale Modelle des Teilens
verankern.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Wir investieren in die Infrastruktur der Zukunft
Wir GRÜNE wollen in die Infrastruktur der Zukunft investieren.
Den Ausbau von schnellem Internet wollen wir beschleunigen,
indem wir zehn Milliarden Euro in den Breitbandausbau investie
ren. Dafür veräußern wir die Telekom-Anteile des Bundes. Wir
wollen Elektromobilität fördern – und zwar auf allen Ebenen, sei
es beim Auto, der Ladeinfrastruktur, bei Bussen, Bahnen oder
Lastenrädern. Auch Radschnellwege werden wir fördern für die
Mobilität der Zukunft. Mit dem „Zukunftsprogramm Nahverkehr“
verbessern wir das Angebot und die Qualität des Nahverkehrs
vor Ort mit jährlich einer Milliarde Euro. Um bezahlbare Woh
nungen zu schaffen, wollen wir auf Bundesebene die soziale
Wohnraumförderung deutlich erhöhen und zusätzlich eine Milli
on Wohnungen durch die Neue Wohngemeinnützigkeit fördern.
Unser Investitionspaket für bessere Infrastrukturen in Bildung,
Ausbildung und Wissenschaft umfasst ein fünfjähriges Schul
sanierungsprogramm und ein Modernisierungsprogramm für die
Ausstattung von Hochschulen.
Ideen freisetzen – mit dem Forschungsbonus
für Unternehmen
Kleine und mittlere Unternehmen gestalten den ökologischen
und sozialen Wandel mit. Forschung und Entwicklung sind dabei
ihre wichtigsten Ressourcen. Wir wollen neue Ideen einfach und
unbürokratisch fördern – mit unserem steuerlichen Forschungs
bonus von 15 Prozent auf alle Forschungs- und Entwicklungs
ausgaben für kleine und mittlere Unternehmen. Firmen, die noch
keine Gewinne erzielen, bekommen diesen Bonus ausgezahlt. Das
hilft besonders den Gründer*innen und innovativen Start-ups.
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BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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Die digitale Arbeitswelt positiv gestalten und Selbstän
dige, Kulturschaffende und Kreative besser absichern
Die digitale Arbeitswelt bietet Chancen für mehr Zeitsouveräni
tät und selbstbestimmtes Arbeiten. Sie kann aber auch grenzen
los werden. Deshalb werden wir den Arbeitsschutz an die digita
le Arbeitswelt anpassen. Auch die Mitbestimmung braucht ein
Update. Wenn durch Vertrauensarbeitszeit ständig Mehrarbeit
entsteht, sollen Betriebsräte ein Mitbestimmungsrecht über die
Arbeitsmenge bekommen. Selbständige, Kulturschaffende und
Kreative schätzen ihre unternehmerische Freiheit, aber häufig
sind sie wegen geringen oder unregelmäßigen Einkünften nicht
ausreichend abgesichert. Wir wollen sie mit Mindesthonoraren
stärken und auch besser absichern. Dazu wollen wir eine Sen
kung des Mindestbeitrags zur freiwilligen Arbeitslosenversiche
rung erreichen und die Mindestbeiträge für die gesetzliche
Kranken- und Pflegeversicherung sehr deutlich senken. Als ers
ten Schritt zu einer Bürger*innenversicherung wollen wir Selb
ständige, die nicht anderweitig abgesichert sind, auch in die
Rentenversicherung aufnehmen. Die Künstlersozialkasse wollen
wir erhalten und weiter stärken.
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F. WOFÜR WIR
VERANTWORTUNG
ÜBERNEHMEN
WOLLEN
I. ZEHN PUNKTE PLAN
FÜR GRÜNES REGIEREN
Wir leben in Zeiten, in denen sich vieles ändert. Bedrohliches wie
auch Positives. Veränderung wird von manchen erhofft, von ande
ren befürchtet. Wir sind überzeugt, dass unser Land in einem ver
einten Europa das Beste noch vor sich hat – wenn wir jetzt beherzt
anpacken. Wir wollen dafür Verantwortung übernehmen.
Es braucht Mut zu Veränderungen, um unser Land voranzubrin
gen. Herausforderungen löst nicht, wer bloß über Erfolge von ges
tern redet und sich darauf ausruht. Wir wollen Fortschritt erkämp
fen. Mit vielen Verbündeten. Auch für diejenigen, die noch nicht an
ihm teilhaben.
Deshalb wollen wir regieren. Dafür brauchen wir Partner*innen.
Diese Partnerschaft muss darauf gründen, dass sich heute vieles än
dern muss, damit wir alle auch morgen gut leben können. Wer mit
uns koalieren will, der muss bereit sein, bei diesen Vorhaben ent
schieden mit voranzugehen.
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BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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1. Klimaschutz voranbringen
Die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen bestimmt unser
politisches Handeln. Das Klima zu schützen, ist eine Menschheits
aufgabe. Wir wollen, dass Deutschland seine Klimaschutzziele ein
hält – ohne Wenn und Aber. Bis zum Jahr 2050 wird die Energiever-
sorgung auch für Gebäude, Mobilität und Industrie ausschließlich
aus erneuerbaren Energien erfolgen. Wir beschleunigen die Ener
giewende, schaffen die Deckelung für den Ausbau der erneuerbaren
Energien ab und achten dabei auf einen fairen Übergang. Wir führen
einen nationalen Mindestpreis für Klimaverschmutzung ein. Die
Stromsteuer schaffen wir ab und führen im Gegenzug eine aufkom
mensneutrale CO2-Bepreisung ein. Wir steigen so aus der klima
feindlichen Kohle aus, dass wir die Klimaschutzziele und unser Ziel
100 Prozent erneuerbare Energie im Strombereich bis 2030 einhal
ten. Die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke schalten wir sofort ab,
damit Deutschland das Klimaschutzziel 2020 noch erreichen kann.
2. E-Mobilität zum Durchbruch verhelfen
Eine erfolgreiche Wirtschaft ist in Zukunft erneuerbar, effizient und
digital – auch in der Mobilität. Deshalb denken wir sie neu. Ohne
Lärm, Abgase und Stau. Wir werden eine intelligent aufeinander ab
gestimmte Mobilität zwischen abgasfreiem Auto, elektromobiler
Bahn und ÖPNV, Rad- und Fußverkehr auf den Weg bringen, die auch
erschwinglich ist. Dazu gehört für uns, den öffentlichen Fern- und
Nahverkehr flächendeckend auszubauen sowie die Infrastruktur für
Fahrräder deutlich zu verbessern. Zu einer intelligenten Mobilität
gehören auch Autos ohne Abgase. Wir wollen, dass das saubere
Auto auch in Deutschland entwickelt und gebaut wird. Deutschland
hat dafür weltweit die besten Ingenieurinnen und Ingenieure. Aber
es braucht einen ehrgeizigen politischen Rahmen und damit Plan
barkeit. Wir beenden die Ära des fossilen Verbrennungsmotors mit
klaren ökologischen Leitplanken. Wir wollen ab 2030 nur noch ab
gasfreie Autos neu zulassen und schaffen dafür entsprechend die
steuerlichen, fiskalischen und infrastrukturellen Voraussetzungen
für die emissionsfreie Mobilität der Zukunft. Wir beenden die Sub
ventionen für Spritfresser wie beim Dienstwagenprivileg. Wir kur
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Zehn-Punkte-Plan
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beln die E-Mobilität an, indem wir für Neuwagen ein Bonus-Malus-
System in die Kfz Steuer integrieren, von dem profitiert, wer weniger
CO2 ausstößt. Das befördert Innovation und sichert mit deutscher
Hightech Arbeitsplätze und Wertschöpfung.
3. Landwirtschaft nachhaltig machen
Immer mehr Menschen wollen gesunde Lebensmittel, die im Ein
klang mit der Natur hergestellt werden. Sie wünschen sich eine
Landwirtschaft, die unser Grundwasser und unsere Böden schützt,
die den Reichtum unserer Tier und Pflanzenwelt erhält, anstatt
Bienen- und Vogelsterben zu verursachen. Mit uns wird Deutsch
land auf eine nachhaltige Landwirtschaft umsteigen – ohne Acker
gifte und Gentechnik. Die industrielle Massentierhaltung schaffen
wir über die nächsten 20 Jahre ab. Wir setzen Tierschutzstandards
per Gesetz durch, die an den Bedürfnissen der Tiere orientiert sind,
die Qualzucht und quälerische Massentierhaltung beenden. Und wir
führen eine Haltungskennzeichnung für alle Tierprodukte ein – im
ersten Schritt für Fleisch. Wir schichten die europäischen Steuer
milliarden so um, dass Umweltschutz und Tierwohl zu neuen Ein
kommensmöglichkeiten für Landwirt*innen werden, denn die neue
Landwirtschaft gibt es nur mit den Bäuerinnen und Bauern.
4. Europa zusammenführen
Wir wollen das vereinte Europa stärken. Denn ohne ein vereintes
Europa wird es für uns alle weder Frieden noch Wohlstand noch
Sicherheit in der globalisierten Welt geben. Mit uns wird es eine kla
re Kurskorrektur in der deutschen Europapolitik geben. Denn es
braucht Partnerschaft mit Respekt auf Augenhöhe und mehr Solida
rität und Nachhaltigkeit statt einseitiger Sparpolitik. Wir werden
massiv in die ökologische Modernisierung und die digitale Zukunft
unseres Kontinents investieren und so auch zur Bekämpfung der Ar
beitslosigkeit in vielen Ländern beitragen – statt zwei Prozent der
Wirtschaftsleistung und damit allein in Deutschland 30 Milliarden
Euro mehr in Verteidigung zu stecken. Wir wollen mehr Transparenz
für Bürgerinnen und Bürger und mehr Entscheidungsrechte für die
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Parlamente in der Europapolitik. Durch gemeinsame Regeln werden
wir Steuerdumping und Geldwäsche wirksam entgegentreten. Wir
kämpfen dafür, dass CETA in dieser Form nicht ratifiziert wird.
5. Familien stärken
Wir wollen, dass das Aufstiegsversprechen für alle gleichermaßen
gilt. Dazu braucht es faire Chancen für alle. Wir investieren zusätz
lich in gute Bildung, in bessere Kita-Qualität und intakte und gut
ausgestattete Schulen – statt mit der Gießkanne Geld auszugeben.
Wir bekämpfen Kinderarmut und stärken Alleinerziehende. Wir ver
bessern die Familienförderung mit zwölf Milliarden Euro zusätzlich:
Das grüne Familien-Budget – mit allem, was dazugehört – stärkt
nicht nur Familien, sondern fördert auch die wirtschaftliche Unab
hängigkeit von Frauen. Und wir eröffnen damit endlich allen Kin
dern gute Chancen für ihr Leben – egal wie sie heißen, wo sie woh
nen und wer ihre Eltern sind.
6. Soziale Sicherheit schaffen
Mit der Digitalisierung der Arbeitswelt stehen wir vor einem großen
Umbruch. Wir wollen dafür sorgen, dass der Sozialstaat sein Verspre
chen auf Sicherheit auch in Zukunft noch einlösen kann und damit
Abstiegsängsten entgegentritt. Wir wollen soziale Sicherheit, die
vor Armut schützt und Teilhabe garantiert – egal ob bei Arbeitslosig
keit oder im Alter. Und wir wollen soziale Ungleichheit in Deutsch
land verringern. Deshalb bauen wir die sozialen Sicherungssysteme
schritt weise zu einer solidarischen Bürger*innenversicherung für alle
um. Wir stabilisieren das Rentenniveau. Wir beenden die Zwei-Klas
sen-Medizin und beteiligen Arbeitgeber*innen wieder paritätisch an
den Kosten. Und wir verbessern die soziale Absicherung von Selb
ständigen.
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Zehn-Punkte-Plan
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7. Integration zum Erfolg führen, Geflüchtete schützen
Es ist nicht wichtig, wo jemand herkommt, sondern, wohin sie oder
er will. Wer hier glücklich werden will, muss unser Grundgesetz und
seine Grundwerte anerkennen. In unserem gemeinsamen Land gilt
das für alle, egal ob sie aus Dresden oder aus Damaskus kommen.
Wir legen künftig in unserer Einwanderungsgesellschaft mehr Wert
auf Erziehung zur Demokratie für alle Kinder und Jugendlichen. Wir
reformieren das Staatsbürgerschaftsrecht: Wer in Deutschland ge
boren wird, ist deutsche*r Staatsbürger*in. Wir wollen, dass aner
kannte Geflüchtete ihre Familien nachholen dürfen, denn auch das
hilft ihnen, sich zu integrieren. Auch sie haben ein Recht, als
Familie zusammenleben zu können. Wir stehen für eine humane,
menschenrechtsorientierte und zudem gemeinsame europäische
Flüchtlingspolitik ein. Mit uns gibt es keine Grundgesetzänderung
für eine Obergrenze beim Asylrecht. Weitere Asylrechtsverschär
fungen und Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete lehnen wir
ab. Das sind wir unserer Geschichte und unseren Werten schuldig.
8. Gleichberechtigt und selbstbestimmt leben
Auch im Jahr 2017 sind Frauen und Männer immer noch nicht gleich
berechtigt. Wir sorgen dafür, dass gleichwertige Arbeit endlich
gleich bezahlt wird – egal, ob sie von Frauen oder Männern geleis
tet wird. Wir bringen ein wirksames Entgeltgleichheitsgesetz auf
den Weg. Alle sollen ein Recht auf Rückkehr in Vollzeit haben. Und
wir durchbrechen die gläserne Decke, an die Frauen in ihren Karrie
ren viel zu häufig stoßen. Quoten bleiben das wirksamste Mittel, ob
im DAX-Vorstand oder an den Spitzen von Verwaltungen. Wir wol
len die Ehe für Alle auch in Deutschland ermöglichen und das Adop
tionsrecht öffnen. Wenn zwei Menschen sich lieben und füreinander
Verantwortung übernehmen wollen, dann verdient das Respekt.
Das sehen in Deutschland die meisten Menschen so: Sie wollen,
dass Schwule und Lesben heiraten dürfen. In 22 Ländern weltweit,
davon 13 in Europa, können sich Schwule und Lesben das Jawort
geben. Warum soll in Deutschland nicht möglich sein, was vieler
orts geltendes Recht ist? Das Eheverbot für Schwule und Lesben
passt nicht zu unserem modernen Land Deutschland.
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9. Freiheit sichern
Wer frei leben will, muss sich sicher fühlen können. Islamistischer
Terrorismus ist eine der größten Bedrohungen unserer Zeit. Rechts
extreme Gewalt und Terror konnten sich in unserem Land viel zu
lange ohne effektive Gegenwehr ausbreiten. Frauen sind immer
noch in besonderer Form von Gewalt betroffen – sowohl im privaten
wie auch öffentlichen Raum, sowohl online wie offline. Rassismus ist
immer noch alltäglich und resultiert oft in Gewalt. Geflüchtete,
LSBTIQ*, sogar Obdachlose werden bedroht oder angegriffen. Hinzu
kommen hetzerisch geführte Debatten, die unsere Gesellschaft
spalten und verunsichern. Vielen Menschen macht zu Recht die hohe
Zahl der Einbrüche Angst. Wir stehen für eine effektive Sicherheits-
politik. Eine Sicherheitspolitik, die Bedrohungen ernst nimmt, aber
mit Augenmaß und unter Wahrung der Bürger*innenrechte reagiert.
Wir sorgen dafür, dass die Polizei zur Erfüllung ihrer wachsenden
Aufgaben gut ausgestattet ist, um effektiv schützen zu können. Wir
stärken die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Sicherheits
behörden. Wir setzen auf gezielte Überwachung statt massenhaften
Ausspähens aller Bürgerinnen und Bürger. Wir stärken das Prinzip
der Prävention als integraler Bestandteil der inneren Sicherheit.
Dazu gehört auch, das Waffenrecht zu verschärfen.
10. Fluchtursachen bekämpfen
Deutschland ist international ein verlässlicher Bündnispartner.
Doch wir tragen derzeit mit Rüstungsexporten an Diktaturen und
Krisenregionen zur Unsicherheit in der Welt bei. Deshalb beenden
wir solche Exporte mit einem verbindlichen Rüstungsexportgesetz.
Wir wollen nicht auf Kosten der Menschen in anderen Ländern Pro
fite machen und Konflikte dort anheizen. Deshalb stärken wir mit
fairen Handelsabkommen ökologische und soziale Standards welt
weit. Wir wollen die Überfischung vor den Küsten Afrikas beenden
und solche Agrarsubventionen streichen, die andernorts Landflucht
und Hunger befördern. Der Kampf gegen die Klimaerhitzung ist
auch ein Kampf gegen Fluchtursachen. Die beste Flüchtlingspolitik
ist diejenige, die Menschenrechte konsequent schützt und dazu bei
trägt, dass Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen.
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Unser verbindliches Angebot
Diese Vorhaben beschreiben nicht alle unsere Anliegen – aber die
wichtigsten. Sie sind unser Maßstab für eine Regierungsbeteiligung.
Sie sind unser verbindliches Angebot an Sie, die Bürgerinnen und
Bürger. Wenn Sie die GRÜNEN wählen, bekommen Sie dafür vollen
Einsatz.
Wir wollen den Stillstand und die Unentschlossenheit ablösen,
die die Große Koalition bietet. Deshalb sind wir bereit, nach der
Wahl mit allen Parteien außer der AfD zu sprechen, ob wir unsere
Vorhaben umsetzen können. Das entspricht unserem Verständnis
von Demokratie und Verantwortung.
Wir haben bereits einmal sieben Jahre lang in einer Koalition mit
der SPD unsere Republik erfolgreich regiert und nach vorne ge
bracht. Daran würden wir gerne wieder anknüpfen. Doch über mög
liche Mehrheiten entscheiden Sie als Wählerinnen und Wähler. Je
stärker die GRÜNEN im nächsten Deutschen Bundestag und einer
Bundesregierung sind, umso mehr Gewicht haben wir auch, um diese
Ziele durchzusetzen. Regieren können und werden wir, wenn die
Richtung stimmt und unsere Kernvorhaben umgesetzt werden kön
nen. Das ist für uns Anforderung, um verantwortungsvoll mit Ihrer
Stimme umzugehen. Wenn unsere Kernvorhaben nicht umgesetzt
werden können, dann werden wir aus der Opposition für Verände
rung und gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen. Sollte es erfolgrei
che Koalitionsverhandlungen geben, werden wir das Ergebnis unse
ren Mitgliedern in einer Urabstimmung vorlegen.
Wir wollen eine moderne und ökologische, eine vielfältige und
gerechte Gesellschaft. Wer mit uns regieren will, muss den Politik
wechsel auf den Weg bringen.
Zukunft wird aus Mut gemacht!
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Zehn-Punkte-Plan
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 239
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
240
Stichwortregister
A
Abfall 18, 22f
Abrüstung 66, 83f
Afrika 15–19, 65, 75–78, 95, 99, 104, 237
Agrarpolitik 11, 16, 24–26, 29f, 78, 81, 93, 97, 101, 228, 237
Antidiskriminierung 9, 81, 112, 117, 119–138, 148, 155, 161, 167, 169, 225
Antisemitismus 117, 119, 140
Antiziganismus 117, 119f, 140
Arbeit 8–11, 20, 23, 27, 34–36, 40–49, 54, 61, 63, 71–73, 77, 92f, 96, 101f,
106–114, 125, 127, 129–134, 138, 141, 150–153, 171–175, 179–181, 187f,
191–197, 201–206, 209–211, 214, 216–222, 227–231
Arbeit 4.0 227
Arbeitsmarkt 73, 102, 106–113, 205, 216–221
Arbeitsversicherung 180, 205f, 218–222, 228
Armutsbekämpfung 9, 14, 65, 68, 81, 90f, 121, 125, 130, 171f, 190, 197f, 200,
204, 209, 212f, 215f, 218, 235
Artenschutz 19–21, 24, 30f
Asylrecht 98–100, 104f, 236
Atomausstieg 11, 48f, 52–55, 94
Ausbildung 72, 77, 106f, 111–113, 127, 150, 174–181, 186f, 201–204, 230
Außenpolitik 53, 75, 83–85, 101
B
BAföG 178, 182
Bahn 45, 56–60, 72, 230, 233
Barrierefreiheit 63, 125
Behinderung, Menschen mit 125, 127, 141, 176, 180f, 211, 213, 219–221
Bildung 16, 47, 71, 81f, 106–113, 120, 123, 127, 139, 141–143, 155f, 164–167,
172, 175–182, 218, 223–225, 230, 235
Bisexuelle 81, 123
Bodenschutz 14, 17, 19–21, 25, 28–30, 33, 37f, 40, 234
Breitbandausbau 225, 230
Bundeswehr 84–87, 140, 168
Bürger*innenrechte 116f, 136, 144, 155, 237
Bürger*innenversicherung 173, 199–207, 231, 235
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 241
C
Cannabis 126f
CETA 90, 93, 96, 235
CO2–Ausstoß 33–39, 41, 45–47, 58, 61, 225, 233f
Cybermobbing 135, 167
D
Daseinsvorsorge 81, 93–96, 155, 165, 185–188, 200
Datenschutz 93, 96, 121, 160, 162, 164, 167–169, 203, 220, 223, 227
Demografischer Wandel 7, 111, 197, 203
Demokratie 7, 68, 70, 73, 76–78, 113–121, 136, 141–152, 156, 164, 169f, 173,
218, 236, 238
Deutschland–Takt 60, 64
Digitalisierung 7, 28, 45f, 72, 153, 166, 171–173, 179, 187, 197, 203, 217,
223–229, 235
Direkte Demokratie 147–149, 156
Divestment 43, 46
Drogenpolitik 125–127
E
EEG (Erneuerbare–Energien–Gesetz) 35, 50
E–Government 164, 170
Ehe für Alle 123, 126, 236
Ehegattensplitting 130, 212, 215
Einwanderung 10, 67, 99, 111–115, 153, 236
Einwanderungsgesetz 99, 112, 114
Elektromobilität (auch E–Mobilität) 15, 43, 57, 60f, 64, 230, 233f
Energie 8f, 15, 33–39, 41–55, 58, 72, 78, 101, 164, 189, 223–225, 228, 233
Energiewende 8f, 41, 45–51, 54, 233
Entgeltgleichheit 130, 134, 193, 236
Entwicklungszusammenarbeit 81, 87, 104
Ernährung 21, 30, 81, 92f, 158
Erneuerbare Energien 9, 35, 39, 50
EU–Parlament 42, 73
Euro 65–74
Europa 7–13, 16, 19, 25–37, 51–55, 57–60, 65–73, 76–79, 83–88, 90–94, 109, 111,
114, 117, 120, 128, 137–143, 146, 148, 150, 154, 156, 159f, 191, 196, 227, 232–236
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
242
Europäische Union (EU) 29, 67–79, 82–88, 91f, 94f, 97f, 100–104, 114–117,
120, 125, 140, 149f, 154, 162, 187, 195, 234
F
Faire Wärme 51, 54
Familie 57, 59, 98f, 103, 105–110, 123, 130–133, 171–173, 176, 178, 183–185,
209–216, 219, 227f, 235f
Familiennachzug 107, 109
Familien–Budget 130, 212, 215
Finanzmarkt 90, 92f, 190f
Flucht 7–12, 14, 33, 66–68, 70, 75–77, 80, 82, 88f, 98–110, 237
Flüchtlinge 11, 66f, 82, 87, 98–110, 121, 149, 174, 180, 211, 219, 222, 237
Forschung 28, 45, 52, 61, 72, 85, 91, 123, 125, 153, 164, 175, 202, 228–230
Frauen 10, 15, 44f, 56, 80f, 85, 93, 100, 105–109, 113, 124, 128–135, 149, 167,
179, 188, 193, 197–200, 202, 205f, 209f, 216–221, 235f
Freihandel 91
Freiheit 7–10, 68, 70, 76, 91, 116–170, 237
Frieden 8–11, 14, 65–70, 75f, 78–86, 119, 148, 197, 234
G
Ganztagsschule 177, 182, 210
Geburtshilfe 134, 202
Geflüchtete 11, 66f, 82, 87, 98–110, 121, 149, 174, 180, 211, 219, 222, 237
Gentechnik 9, 25–28, 234
Gerechtigkeit 7, 11, 15, 66–68, 72, 79–81, 87, 121, 128, 131, 134, 149f, 153f,
164, 171–173, 187
Geringverdiener*innen 190–193
Gesellschaftliches Engagement 104, 141, 146–150
Gesundheit 18–20, 23, 27f, 31, 33, 47, 58, 62, 81, 93, 108, 123–126, 154,
157–160, 173, 187, 200–203, 207, 211, 216
Gewaltschutz 124, 129, 131, 134
Gewässerschutz 17f, 23
Gleichberechtigung 7, 81, 116f, 128–131
Globalisierung 7, 67–69, 90–97, 171–197
Green New Deal für Europa 72
Gründer*innen 10, 26, 173, 199, 205, 225, 228–230
Grundsicherung 198, 204f, 207, 212f
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 243
Grüne Wirtschaftspolitik 41
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit 116f, 119f, 140f, 146, 167
Gruppenklagen 160, 163
Gute Arbeit 27, 43, 92, 174, 180, 205, 216f, 220, 224, 227f
H
Handel 8f, 26, 29, 31–35, 38, 66–69, 72, 78, 90–97, 83, 101, 111, 127, 136, 169,
191f, 195, 223, 225, 237
Handelsabkommen 90–96, 237
Hass im Netz 116, 164, 166f
Hebammen 133f, 202
Hochschulen 10, 32, 122, 172, 174f, 178f, 203, 229f
Hochwasserschutz 14, 18, 25
Humanitäre Hilfe 82, 102f
Hunger 14, 65, 68, 81f, 91–97, 237
I
Industriepolitik 9, 15f, 18–23, 25–30, 34f, 38, 40–43, 48–54, 61–64, 72, 87, 95,
157f, 170, 233f
Inklusion 119, 124f, 127, 141, 171f, 175–177, 180–182, 200, 211, 213, 219–221
Innere Sicherheit 11, 117, 132, 136–145, 167, 237
Integration 11, 68, 99, 102, 106–115, 119, 149, 154, 180f, 222, 236
Internationale Politik 7–24, 65–67, 75–97, 101f
Intersexuelle 81, 123
Islam 122, 144
J
Jahreswohlstandsbericht 45, 47
Jugendliche 56, 71f, 108, 123, 126, 144, 156, 174, 177f, 180, 187, 211, 213, 222, 236
Jugendschutz 125–127
K
Kennzeichnungspflicht 28f, 95, 158, 162, 166, 234
Kinder 9–17, 92, 99f, 106–113, 123, 126, 130f, 134, 142, 158, 171–178,
181–187, 198, 201f, 204–215, 235f
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
244
Kinderarmut 172, 209, 212f, 235
Kindertagesstätten 107, 142, 172, 174f, 181, 183
KinderZeit Plus 210, 214
Klimaabkommen 14, 33f, 44, 46, 50, 92
Klimapolitik 8–11, 14–18, 33–40, 46, 48f, 59, 61, 81, 87f, 91, 101, 233, 237
Klimaschutzgesetz 34, 38
Kohleausstieg 15, 35–39, 50
Kommunen 11, 20, 23, 27, 43, 47, 50, 53, 59–64, 93, 98, 104–110, 143f, 148,
165, 169, 172, 175, 177, 182–188, 193, 200, 204, 208
Kreative 10, 151, 165, 227–231
Kreislaufwirtschaft 22f, 72
Krisenprävention, zivile 75, 78f, 85, 88, 101
Kultur 8–10, 71f, 82, 90, 93, 96, 111–114, 120, 151–156, 166, 176, 179, 182, 184,
203f, 212f, 229, 231
L
Ländliche Räume 7, 56, 61, 154, 165, 186f
Landwirtschaft 9, 15, 18, 20f, 24–34, 38, 44, 46, 72, 93, 97, 101, 234
Lärmschutz 15f, 56–63, 233
Lebensgrundlagen 14–16, 40, 46, 48, 90f, 101, 233
Leiharbeit 107, 193, 216f, 220, 225
Lesben 81, 123f, 236
Lobbyregister 74, 78, 147, 156
LSBTIQ* 82, 106, 117, 119, 123f
M
Massentierhaltung 9, 15, 25–27, 31, 34
Medien 116, 125, 142–146, 150–154, 166f, 180
Meeresschutz 14, 17–19, 33, 101
Menschen mit Behinderung 125, 127, 141, 176, 180f, 211, 213, 219–221
Menschenrechte 11, 23, 66, 68, 76, 79–85, 88, 93, 95f, 99, 103–105, 113, 121,
123, 140, 148f, 157, 237
Mieten 54, 182f, 185f, 189, 191
Mobilität 15, 20, 23f, 34, 38, 42–46, 54, 56–64, 178, 186, 212, 225, 228, 230, 233
MobilPass 59, 63
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 245
N
Nachhaltigkeit 44f, 54, 65, 67, 81, 85, 91, 164, 234
Naturschutz 14–32, 48, 51, 72
Netzausbau (Stromnetz) 51
Netzneutralität 165, 225
NSU 137, 141
O
Ökologische Modernisierung 7, 16, 40–44, 191, 205, 228, 234
Open Data 148, 170
ÖPNV 20, 44, 56–64, 233
P
Pflege 127, 129–131, 134, 171, 173f, 178, 183, 190, 200–208, 210f, 220, 231
PflegeZeit Plus 204, 207f, 220
Prävention (Gesundheitsprävention) 123–127, 211
Prävention (Krisenprävention) 67, 75, 78–80, 83, 85, 88, 101, 136
Präventionszentrum 143f
Q
Queere Menschen 81, 123
R
Radverkehr 24, 36, 44, 56f, 63f
Rassismus 117, 119, 140f, 146, 167, 237
Rechtsextremismus 119, 141–143, 155
Rechtsstaat 68, 70, 75–81, 85, 99f, 102, 116f, 132, 136–146, 168, 170
Recycling 18, 44
Religionen 10, 68, 111, 113, 117, 120–122, 141, 146
Rente 130, 173, 197–200, 204–206, 231–235
Ressourceneffizienz 43, 52
Rüstung 11, 65–67, 76, 81, 83f, 87f, 101, 140, 237
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
246
S
Schuldenbremse 191, 195, 224f
Schulen 9–11, 27, 107, 142, 153, 158, 172, 174–177, 181f, 184, 187, 210, 235
Schwule 81, 123, 236
Selbstbestimmung 10, 70, 81, 83, 117, 119–133, 136, 164, 167, 172, 179, 202,
220, 227
Selbständige 194, 197, 199, 201, 206f, 218, 222, 227–231
Sexualisierte Gewalt 129, 131f, 134f, 211
Sicherheitspolitik 65, 71, 75, 79, 83f, 86f, 96, 117, 136–140, 144, 237
Sozialstaat 197–208, 235
Sozialversicherung 130, 193, 200, 216, 218
Sport 119f, 149, 152, 154f, 182–184, 213
Steuerpolitik 10, 130, 185, 193f, 196, 198, 218, 227
Strommarkt 50f, 54
Strukturwandel 7, 32, 36, 39, 228
Studium 32, 175, 179
Subventionsabbau 16, 41f, 46, 52, 57, 59f, 72, 94f, 225, 233, 237
Sucht 126f
Syrien 65, 76, 104, 109, 174
T
Tierschutz 27, 30–32, 162, 234
Toleranz 10, 68, 116
Transparenz 73f, 96, 147f, 155–161, 168, 196, 234
Transsexuelle 81, 123f
TTIP 90, 93, 96
Türkei 76f, 80, 102–104
U
Umweltpolitik 14–23, 26–30, 40–44, 46, 48, 56, 58–62, 64, 92–95, 98, 121,
134, 149, 152, 158, 225f
Umweltfreundliche Mobilität 34, 38, 42f, 44f, 46, 56–64, 225, 228, 230, 233f
Umweltschädliche Subventionen 41f, 46, 57, 59, 60, 72, 225, 233, 237
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 247
V
Verbraucher*innenschutz 22, 26–29, 32, 46, 157–165, 168, 191f, 223f, 226
Vereinte Nationen 11, 33, 65f, 75, 79–88, 125, 127, 176
Verfassungsschutz 137, 141–144
Verkehrspolitik 34, 36, 38, 41, 44–48, 56–64, 223, 231, 233
Vermögenssteuer 194, 196
Verteidigung 75, 84–87, 140, 168, 234
Vielfalt (biologische) 17, 19, 21f, 24f, 30, 47, 97
Vielfalt (kulturelle und gesellschaftliche) 10, 13, 68, 93, 111–116, 119–124,
130, 133, 136, 138, 149–152, 155, 166, 185, 238
Volksentscheide 57, 148, 156
Vorratsdatenspeicherung 136
W
Wahlalter 149, 156, 213
Wärme 48, 51f, 136
Weiterbildung 43, 117, 131, 149, 174, 180f, 205, 210, 218f, 221, 228
Welthandel 90–96
Wettbewerb 10, 15, 38, 46, 50, 58, 60f, 72f, 92, 111, 164f, 169, 194f, 217, 223–228
Whistleblower*innen 149f, 156
Wirtschaftspolitik 15, 40–47, 139
Wissenschaft 42, 45, 53, 90, 122, 142, 144, 165, 179f, 217, 229f
Wohlstand 7f, 14, 34, 40, 42–48, 66, 68, 90, 129, 224f, 234
Wohnen 44, 52, 54, 125, 179, 184–189, 213, 235
Z
Zeitpolitik 131, 214, 220
Zivile Krisenprävention 75, 78f, 85, 88, 101
Zukunftsfonds (im EU–Haushalt) 72, 77
Zukunftspakt (zwischen der EU und Afrika) 77f
Zusammenhalt 9–11, 43, 68–71, 113, 117, 119, 121, 149f, 154, 173, 175, 187,
190, 197, 209, 216
WAHLKAMPF 2017 —
INFORMIEREN UND
MITMACHEN:
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Dieses Bundestagswahlprogramm wurde auf
der 41. Bundesdelegiertenkonferenz von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 16. bis 18. Juni 2017
in Berlin beschlossen.
Dieses Bundestagswahlprogramm wurde auf
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 16. bis 18. Juni 2017
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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V.i.S.d.P. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Lea Belsner, Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 BerlinV.i.S.d.P. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Lea Belsner, Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 Berlin
Wahlprogramm 2013
https://www.bundestagswahl-bw.de/wahlprogramm-die-gruenen-2013