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Wahlprogramm 2013

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Bundestagswahlprogramm 2013
von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
ZEIT FÜR DEN
TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
ZEIT FÜR DENZEIT FÜR DEN
GRÜNEN
TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
GRÜNENGRÜNEN
WANDELWANDELWANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
zeit für den
teilhaben. einmischen. zukunft schaffen.
grünen
wandel
Inhalt
A. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.
Warum es Zeit ist, dass sich was ändert 7
1. Es ist an der Zeit, den grünen Wandel entschlossen
voranzutreiben 8
2. Warum wir den grünen Wandel brauchen 9
3. Unser Ziel: ein besseres Morgen 12
4. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen – Motoren
des grünen Wandels 15
5. Am 22. September GRÜN wählen 24
B. 100 % sichere Energie 27
1. Die Zukunft verdient unsere Leidenschaft 29
2. Die Energiewende von unten weiterführen 31
3. 100 % sichere Energie ohne Kohle und Öl 33
4. Atomausstieg sicher und schnell besiegeln 35
5. Bezahlbare Wärme und Strom für alle 37
6. Klimaschutz vorantreiben – europäisch und global 39
C. Anders wirtschaften 46
1. Grüne Transformation der Industrie – in Deutschland,
Europa und weltweit 48
2. Die Krise überwinden – durch ein solidarisches
und ökologisches Europa 55
3. Finanzmärkte an die Leine nehmen 58
4. Kleine und mittlere Unternehmen stärken 64
5. Es gibt viel zu tun – von Menschen für Menschen 67
6. Solidarische Ökonomie fördern 68
7. Nachhaltiges Wirtschaften statt blinden Wachstums 70
D. Besser haushalten 74
1. Ökologisch, gerecht und wirtschaftlich vernünftig:
die grüne Steuerpolitik 77
2. Starke Schultern schaffen mehr als schwache:
die grüne Einkommensteuer 82
3. Schulden abbauen: die grüne Vermögensabgabe 82Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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4. Unfaire Steuerschlupflöcher stopfen: grüner
Subventionsabbau 83
5. Eine andere Politik ist möglich: die grünen
Ausgabenprioritäten ab 2014 85
E. Teilhaben an guter Arbeit 88
1. Gute Arbeit braucht faire Löhne und Sicherheit 89
2. Gute Arbeit braucht einen effektiven Arbeitsschutz
und starke Mitbestimmung 92
3. Gute Arbeit braucht Zugänge 94
4. Gute Arbeit braucht gute Arbeitsvermittlung 98
5. Gute Arbeit in neuen Jobs 99
6. Gute Arbeit für gute Fachkräfte 100
F. Teilhaben an guter Bildung 104
1. Erneuerung der Bildungsinstitutionen 105
2. Erfolg ermöglichen: für gute Kitas und Schulen 107
3. Zugänge eröffnen in Ausbildung, Studium und
Weiterbildung 109
4. Grüne Wissenschaftspolitik: Freiheit und Verantwortung 111
5. Gemeinsam Verantwortung tragen: Kooperations-
verbot aufheben 115
G. Teilhaben an sozialer Sicherung 118
1. Grüne Grundsicherung 119
2. Grüne Bürgerversicherung: gerechte Finanzierung
des Gesundheitssystems 122
3. Grüne Gesundheitspolitik: ortsnah und bedarfsgerecht,
inklusiv und präventiv 123
4. Prävention, Hilfe und Entkriminalisierung statt
Fort setzung der gescheiterten Drogen- und Suchtpolitik 130
5. Grünes Pflegekonzept: menschenwürdig und
unterstützend 131
6. Grüne Rentenpolitik: mit der Garantierente gegen
Altersarmut 133TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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H. Teilhabe für Jung und Alt 140
1. Chancen für alle Kinder 141
2. Raum für Familie 143
3. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken 146
4. Freiraum für Jugendliche 146
5. Teilhabe und Selbstbestimmung im Alter 148
6. Ein neuer Generationenvertrag – ein neues
Zusammenleben 149
I. Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alle 153
1. Intakte Umwelt, gesundes Leben 154
2. Die Vielfalt der Natur schützen 156
3. Besser leben mit weniger Ressourcen 158
4. Die Zukunft der Landwirtschaft ist grün 160
5. Massentierhaltung – nein danke! 163
6. Schluss mit der Tierquälerei 165
J. Nachhaltige Mobilität für alle 169
1. Ein Verkehrsnetz für alle 170
2. Mit der Energiewende auch die Verkehrs-
wende umsetzen! 172
3. Den neuen Bundesmobilitätsplan mit den
BürgerInnen entwickeln 174
4. Den Verkehr sicher und leiser machen 175
K. Verbraucherschutz für alle 179
1. VerbraucherInnen mächtig machen 180
2. Schluss mit der Abzocke 181
3. Energie zu fairen Preisen 182
4. Verbraucherrechte stärken 183
5. Gesunde Ernährung ohne Gentechnik 184
L. Freies Netz und unabhängige Medien für alle 188
1. Wirtschaften und teilhaben: Die Zukunft ist digital 190
2. Unsere Verantwortung für ein freies Netz 192Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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3. Bürgerrechte in der digitalen Welt stärken 194
4. Öffentlichkeit herstellen: eine neue Medienpolitik 196
5. UrheberInnen stärken, fairen Interessenausgleich
aushandeln 198
M. Demokratie erneuern 204
1. Mitreden, gehört werden, mitentscheiden 205
2. Parlamente stärken, Parteien öffnen 206
3. Demokratie im Alltag beleben 207
4. Engagement fördern 209
5. Informationsfreiheit und Transparenz konsequent
ausbauen 210
6. Entschlossen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorgehen 212
N. BürgerInnenrechte stärken 218
1. Sicherheit in den Dienst der Freiheit stellen 219
2. Daten schützen, Freiheit sichern 225
3. Den Rechtsstaat stärken 226
4. Diskriminierungsfreie Teilhabe ermöglichen 228
5. Barrieren beseitigen – das Selbstbestimmungsrecht von
Menschen mit Behinderung stärken 229
6. Menschen einbürgern – mit Integration und Inklusion 231
7. Flüchtlinge aufnehmen und menschenwürdig behandeln 233
8. Gleiche Rechte schaffen – Homo- und Transphobie
entgegentreten 236
O. Gleichberechtigung schaffen 240
1. Gleiche Anerkennung, gleiche Sicherheit,
gleiche Chance 241
2. Männer in neuen Rollen unterstützen 244
3. Die Demokratie vervollständigen 245
4. Über den Körper selbst bestimmen 246
5. Gewalt ächten 247
6. Europäische und internationale Frauenpolitik 249TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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P. Kunst und Kultur beflügeln 252
1. Kultureinrichtungen für alle öffnen 253
2. Gerechtigkeit für alle Kulturschaffenden 254
3. Eine Reform der Kulturförderung 256
4. Anstoß für Demokratie und Menschenrechte,
Nachhaltigkeit und Frieden 259
5. Erinnerung wachhalten – Verantwortung übernehmen 261
6. Es lebe der Sport 262
Q. Unsere Politik vor Ort 266
1. Bezahlbar grün wohnen 267
2. Die grüne Stadt entwickeln 270
3. Mehr Grün im ländlichen Raum 272
4. Kommunale Handlungsfähigkeit stärken 274
5. Regionen bedarfsgerecht und nachhaltig fördern 276
6. Kooperativer Föderalismus 277
R. Unser gemeinsames Europa 281
1. Für ein europäisches Deutschland 283
2. Für ein demokratisches Europa 286
3. Für eine europäische Energiewende 289
4. Für ein soziales Europa der Bürgerinnen und Bürger 291
5. Für Entscheidungen auf der richtigen Ebene 292
S. Unsere Eine Welt 296
1. Die große Transformation: Eine Welt macht sich auf
den Weg 298
2. Eine Welt der Gerechtigkeit 301
3. Eine Welt der Menschenrechte 305
4. Eine Welt des Friedens und der Schutzverantwortung 306
5. Schluss mit der unkontrollierten und geheimen
Rüstungsexportpolitik 309
6. Starke Vereinte Nationen, starkes Europa 312
7. Krisen bewältigen – dauerhaften Frieden ermöglichen 314
Schlusswort 319Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.A. Teilhaben. Einmischen. Zukunft
schaffen. Warum es Zeit ist, dass
sich was ändert
Liebe Wählerin, lieber Wähler,
wir wenden uns mit diesem Programm an Sie. Wir wollen Sie bei der
Bundestagswahl am 22. September für eine andere, für eine bessere
Politik gewinnen.
Wir wenden uns mit unserem Programm an alle, die meinen, dass
wir in unserer Gesellschaft jetzt einiges verändern müssen, um eine
gute, eine sichere Zukunft zu schaffen. Wenn wir die Klimakatastro-
phe so weit wie möglich aufhalten und die Energiewende verwirk-
lichen, wenn wir morgen in einer gerechten und modernen Gesell-
schaft leben wollen, dann können wir nicht abwarten – wir müssen
heute politisch handeln.
Wir GRÜNE haben immer versucht, Politik zu machen, die über
den Tag hinausdenkt, seit der Gründung der GRÜNEN in der Bundes-
republik im Jahr 1980 und im Osten seit 1989/90 als Grüne Partei in
der DDR und als Bündnis 90. Dabei waren wir mutig und ehrgeizig
und manchmal haben wir uns dabei auch geirrt. Aber aus unseren
Irrtümern haben wir gelernt, unser Ehrgeiz hat uns stark gemacht
und mit unserem Mut haben wir die Gesellschaft vorangebracht.
Wir wollten aus der Atomkraft aussteigen, als noch alle Mächtigen
Atomfans waren. Wir haben für biologische Lebensmittel gekämpft,
als noch kein Großhändler auch nur daran dachte, diese Produkte zu
verkaufen. Wir waren FeministInnen, wir haben die Quote gelebt,
während überwiegend Männerbünde regierten, die Frauen lieber
am Herd sahen. Wir kämpften an der Seite von Lesben, Schwulen,
trans- und intersexuellen Menschen, als diese sozial vielfach geächtet
wurden. Wir waren in Ost und West Kriegsdienstverweigerer und
Friedensbewegte, als Kalter Krieg und atomares Wettrüsten als poli-
tische Notwendigkeit galten. Wir zeigten bereits Verantwortung fürTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.die Eine Welt, als der Mainstream noch zwischen drei Welten unter-
schied und nur das nationale Wohl zählte.
Wir laden Sie auch heute ein, mit uns über den Tag hinauszu-
denken – mit uns zu diskutieren, was sich ändern muss und wo es
hingehen soll. Deutschland hat auf dem Weg zu einer grüneren
Wirtschaft und einer offeneren Gesellschaft einiges erreicht, aber
in vielerlei Hinsicht haben wir gerade erst angefangen.
1. Es ist an der Zeit, den grünen Wandel
entschlossen voranzutreiben
Wir müssen heute etwas ändern, damit auch die kommenden
Generationen frei entscheiden können, wie sie leben wollen. Wir
wollen heute etwas ändern, um zu einer Wirtschaftsweise zu kom-
men, die allen nutzt und nicht nur wenigen – die auf Erneuerbare
Energien gebaut ist statt auf Öl, Kohle, Atom und Gas, die unsere
Umwelt schützt, statt sie zu zerstören. Wir müssen dringend etwas
ändern, um das Auseinanderfallen unserer Gesellschaft in drinnen
und draußen, in arm und reich, oben und unten zu stoppen. Und
wir wollen heute etwas ändern, damit wir morgen endlich in einer
vielfältigen Gesellschaft leben, in der Kinder, Frauen und Männer,
Menschen verschiedener sexueller Identität, verschiedener Religi-
onen, aus unterschiedlichen Kulturen oder unterschiedlicher Her-
kunft endlich gleichberechtigt leben können und gleiche Möglich-
keiten haben.
Wir wollen alle von der Notwendigkeit des Wandels überzeu-
gen. Lobbyismus und Klientelinteressen werden wir entschieden
entgegentreten und sie in die Schranken weisen. Auch das ist die
Aufgabe demokratischer Politik.
Politik braucht Ideale, braucht Grundsätze und Werte, eine
nachvollziehbare Richtung – doch genau das vermissen wir und vie-
le andere bei dieser schwarz-gelben Regierung. Ohne Kompass gibt
es keine Orientierung, sind politische Schritte nur noch von tages-
politischen Bedürfnissen und Machtinteressen abhängig.
Wir wenden uns mit diesem Programm an alle IdealistInnen,
denn auch wir glauben: Eine bessere Gesellschaft ist möglich. Wir
wenden uns mit diesem Programm an alle RealistInnen, denn auchZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.wir wissen, dass die besten Ideale wenig wert sind, wenn wir nicht
nach machbaren Vorschlägen suchen, sie zu verwirklichen. Wir le-
gen in unserem Programm dar, welche Ideen, welche Grundsätze
und Werte grüne Politik anleiten – und machen deutlich, wie wir
diese Werte in konkrete Politik übersetzen.
2. Warum wir den grünen Wandel brauchen
Die wirtschaftliche Lage ist in Deutschland auf den ersten Blick gut.
Unser Land hat viele beeindruckende, technologisch starke Unter-
nehmen, gut ausgebildete Beschäftigte und viele kreative Köpfe.
Sie haben Deutschland, vor allem über den Exporterfolg, besser
als viele andere Staaten durch die Finanz- und Wirtschaftskrise ge-
bracht.
Allein dieser ökonomische Erfolg ist nicht nachhaltig, weil unsere
Wirtschaftsweise noch immer viel zu viel zur Zerstörung der natür-
lichen Lebensgrundlagen beiträgt. Die Produktion unseres Essens,
unserer Handys, Autos, Kleider oder Möbel ist noch immer mit im-
mensen Emissionen und Ressourcenverbrauch verbunden. Das Erd-
klima heizt sich weiter ungebremst auf. Das wird von niemandem
mehr ernsthaft bestritten. Die Folgen der Klimakatastrophe haben
uns zum Teil schon jetzt erreicht, nicht nur in Australien und am
Nordpol. Schon jetzt nehmen Dürren, Stürme, extreme Hitze- und
Kälteperioden zu, schon jetzt flüchten jährlich weltweit Millionen
von Menschen vor den Auswirkungen der Klimakatastrophe. Die
Folgen dieser Entwicklung werden bald noch spürbarer werden.
Wir gehen noch immer verschwenderisch mit Rohstoffen um, deren
Vorkommen begrenzt ist und deren Abbau die Flüsse vergiftet, die
Erde verseucht, die Luft verpestet und Menschen von ihrem Land
vertreibt. Menschen in vielen Ländern der Welt verlieren durch un-
seren Lebensstil ihre Existenzgrundlage, sie bauen auf ihren Feldern
Futtersoja an für unseren Fleischkonsum, sie arbeiten unter fürch-
terlichen und gefährlichen Bedingungen für unsere Billigkleidung.
Auch Kinder schuften unter furchtbaren Bedingungen für unseren
Konsum. Wälder werden gerodet, Böden übernutzt, die Artenviel-
falt schrumpft in rasendem Tempo. So untergräbt unser Wohlstand
seine eigenen Grundlagen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Unser ökonomischer Erfolg ist nicht nachhaltig, weil die ein-
seitige Exportorientierung zu massiven Ungleichgewichten in der
Europäischen Union beigetragen hat und weil die Ungleichgewich-
te in unserer Gesellschaft immer größer geworden sind. Die Ein-
kommens- und Vermögensschere hat sich immer stärker geöffnet.
Während einige wenige hohe Gewinne einfahren, arbeitet mehr als
jede/r fünfte Beschäftigte für einen Niedriglohn, davon 6,8 Mil-
lionen deutlich unter 8,50 Euro. Obwohl immer mehr Menschen
in Arbeit sind, steigt dennoch die Armut. 10 % der Haushalte in
Deutschland verfügen über weit mehr als die Hälfte des gesamten
Nettovermögens. Die unteren 50 % der Haushalte in Deutschland
besitzen zusammen gerade einmal 1 % des Nettovermögens. In den
letzten zehn Jahren ist die Verschuldung der öffentlichen Hand um
800 Mrd. Euro gewachsen – das ungleich verteilte private Vermö-
gen hingegen hat sich von fast fünf auf über zehn Billionen Euro
mehr als verdoppelt. Marode Schulen, geschlossene Schwimmbä-
der, stillgelegte Bahnhöfe, fehlende Kita-Plätze, zu wenig Ganz-
tagsschulen – in den meisten Kommunen fehlt Geld für unsere
öffentlichen Einrichtungen. Diese Entwicklung stellt den Zusam-
menhalt der Gesellschaft in Frage.
Wir schaden unserer Zukunft, wenn in einem reichen Land wie
Deutschland mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Ar-
mut aufwachsen. Nicht nur das, auch ihre Aufstiegschancen sind
schlecht. In Deutschland entscheidet sich in der Regel schon mit
der Geburt, ob ein Kind später Abitur oder überhaupt einen Schul-
abschluss macht, ob es eine Chance auf einen Ausbildungsplatz
hat, auf ein selbständiges Leben in Würde. Die traurige Wahrheit
ist: Armut vererbt sich in unserem Land. Unseren Kindern sollte es
einmal besser gehen. Heute hoffen viele, dass es ihnen wenigstens
nicht schlechter geht.
Es ist nicht minder skandalös, dass Eltern immer noch um einen
Kinderbetreuungsplatz kämpfen müssen, wenn sie einen wollen
und brauchen. Noch immer gibt es auch viel zu wenig Ganztags-
schulen und gute, ganztägig geöffnete Kitas in Deutschland. Seit
Jahrzehnten reden wir über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
seit Jahrzehnten tut sich viel zu wenig. Wahlfreiheit in der Kinder-
betreuung gibt es nur für diejenigen wirklich, die es sich finanziell
leisten können.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Familie ist da, wo Kinder sind. Und Familie ist selbstverständlich
da, wo Menschen füreinander einstehen und Verantwortung für-
einander übernehmen. Kinder brauchen Eltern und Menschen, die
sie lieben. Und es muss egal sein, ob die Eltern lesbisch, hetero oder
schwul sind. Die ideologische Verweigerung des Adoptionsrechts
und der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist diskriminierend und
muss überwunden werden. Es ist unwürdig, dass die notwendige
Modernisierung vom Bundesverfassungsgericht und nicht vom Par-
lament vorangetrieben wird.
Frauen und Männer sind in Deutschland immer noch nicht
gleichberechtigt. Frauen erhalten weniger Lohn, auch für vergleich-
bare Tätigkeiten, und steigen seltener in Führungspositionen auf.
Viel häufiger als Männer sind sie zu Niedriglöhnen und in unsiche-
ren Arbeitsverhältnissen beschäftigt, die keinen Spielraum für eine
eigenständige Absicherung bieten; sie sind deshalb auch öfters von
Altersarmut bedroht. Und sie tragen einen Großteil der häuslichen
Sorgearbeit und der Kindererziehung. Hier tut sich seit Jahren wenig.
Auch eine Frau als Kanzlerin macht noch keine gute Gleich-
stellungspolitik.
Es ist erschreckend, dass eine rechte Terrorgruppe über zehn
Jahre hinweg, angetrieben von einem blinden Hass auf alles, was
nicht ihrem kruden Weltbild entsprach, mit Bombenanschlägen und
kaltblütigen Morden ungehindert durch unser Land ziehen konnte.
Das Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden ist tief erschüttert.
Echte Konsequenzen aus diesem staatlichen Versagen wurden im-
mer noch nicht gezogen.
Es besorgt uns zutiefst, dass unter Merkels Führung das Euro-
pa der Nationalstaaten auf Kosten der Europäischen Gemeinschaft
reaktiviert wurde. Mit der Devise „An Deutschlands Wesen soll Eu-
ropa genesen“ gefährdet die Koalition Angela Merkels nicht nur
die weitere Integration, sondern auch das friedliche Miteinander
in der EU. Mit dem national fokussierten Blick hat Schwarz-Gelb
unter dem Deckmantel des Spardiktats in wenigen Monaten über
Jahrzehnte aufgebaute Eckpfeiler des Friedensprojekts EU – wie Ver-
trauen, Solidarität und Einheit in Vielfalt – ins Wanken gebracht.
Wir finden, das darf nicht so weitergehen. Wir wollen unsere
Demokratie und die Bürgerrechte stärken. Wir wollen gemeinsam
einen grünen Wandel hin zu einer Wirtschaft und GesellschaftTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.schaffen, der nicht auf Kosten des Planeten, nachkommender Ge-
nerationen oder wirtschaftlich schwächerer Menschen in anderen
Regionen geht. Ein grüner Wandel, der das Vertrauen in staatliche
Institutionen wieder stärkt.
Deutschland hat alle Mittel dazu, das zu schaffen: die Men-
schen, die Technologien, das Wissen.
Und auch den Willen. Denn die Gesellschaft ist weiter, als Merkel
und ihr Kabinett uns glauben machen wollen. Die große Mehrheit
will, dass es in unserer Gesellschaft gerechter zugeht, dass mehr
Beteiligung möglich ist und dass wir endlich Verantwortung für un-
sere Zukunft übernehmen. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-
ger hat längst verstanden, dass wir schonender mit unseren natür-
lichen Ressourcen umgehen müssen, dass wir einen neuen sozialen
Ausgleich und ein echtes Teilhabeversprechen brauchen, dass wir
unsere Demokratie erhalten und dafür aber auch etwas tun müssen.
Doch diesen gesellschaftlichen Mehrheiten steht eine schwarz-
gelbe Koalition entgegen, deren Kanzlerin Klientelinteressen
schützt, statt sich auf die Seite des Wandels zu stellen. Verwandeln
wir also endlich die gesellschaftliche Mehrheit in eine politische
Mehrheit. Eine andere, eine bessere Politik ist möglich!
3. Unser Ziel: ein besseres Morgen
Wir können gemeinsam eine Wirtschaft schaffen, die Lebensqua-
lität für alle schafft, ohne Umwelt, Natur und unsere natürlichen
Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können gemeinsam eine ge-
rechte Gesellschaft schaffen, in der niemand ausgeschlossen ist von
Bildung und Arbeit und einem Leben in Würde.
Mit der Energiewende übernehmen wir eine weltweite Vor-
reiterrolle. Damit können wir in Deutschland zeigen, dass eine er-
folgreiche Industrienation den Umbau zu einer klimafreundlichen
Energieversorgung schaffen kann. Wir können dem stockenden
internationalen Klimaschutz so ganz neue Impulse geben und die
drohende Klimakatastrophe noch abwenden. Gleichzeitig können
mit diesen politischen Rahmenbedingungen innovative Unterneh-
merInnen hunderttausende neue Jobs schaffen und alte Abhängig-
keiten vom Import teurer Rohstoffe wie Kohle, Öl und Gas wer-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.den beseitigt. Das spart viel Geld und macht unsere Produktion
sauber. Die neue, saubere Energie wird dabei von vielen kleinen
Unternehmen in Bürgerhand erzeugt, nicht nur von einigen weni-
gen Großkonzernen, die heute den Wandel bremsen, weil sie uns
teuren Strom verkaufen wollen, ohne Konkurrenz fürchten zu müs-
sen. Wir ziehen endlich die Konsequenz daraus, dass die natürlichen
Ressourcen begrenzt sind und eine Energieversorgung der Zukunft
nicht auf Kohle und Öl aufbauen darf – und auf Atom schon gar
nicht. Der Ressourcenhunger der Industrie- und Schwellenländer ist
für die Konflikte auf unserem Globus mitverantwortlich. Der ge-
rechte Zugang zu Energie und der Nutzung von natürlichen Res-
sourcen ist aktive Friedenspolitik, genauso wie der Ersatz endlicher
Rohstoffe durch erneuerbare.
Die Wirtschaft, die wir brauchen, soll Wohlstand für alle schaf-
fen. Wir setzen auf eine nachhaltige Wirtschaft als Leitbild. Bisher
wird unsere Wirtschaft fast ausschließlich anhand ihres Wachs-
tums beurteilt. Die Fixierung von Politik und Medien allein auf das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat uns in die Irre geführt. Über die
wichtigsten Dinge, die das Leben lebenswert machen, sagt das BIP
nichts aus. Ist Wachstum mit Umweltzerstörung und Ungerech-
tigkeit erkauft, kann es uns unterm Strich sogar ärmer machen.
Deshalb brauchen wir einen neuen Gradmesser für Wohlstand und
Lebensqualität – einen neuen Wohlstandsindikator, der die sozia-
le und ökologische Dimension des Wohlstandes mit umfasst. Wir
wollen eine Wirtschaft, die den Menschen und nicht Märkte in den
Mittelpunkt stellt.
Wir haben es in der Hand, unsere Gesellschaft so zu gestalten,
dass alle Menschen gerecht an ihr teilhaben können, dass Arm und
Reich nicht unerreichbar weit auseinanderliegen, Wenige sich nicht
auf Kosten Vieler bereichern, und alle Zugang zu den Ressourcen
für ein selbstbestimmtes Leben haben. Wir wollen, dass sich jeder
Mensch gemäß seinen Fähigkeiten und Potentialen entwickeln
kann – in guten Kitas und Schulen und nicht abhängig vom Geld-
beutel der Eltern. Wir wollen eine solidarische Gesellschaft, in der
starke Schultern mehr tragen als schwache. Wir geben aber auch
klar Auskunft, wie wir die Mittel einsetzen wollen, um zu guten
öffentlichen Institutionen zu kommen, von denen alle profitieren.
Wir arbeiten so an einer sozialen und ökologischen NeubegründungTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.unserer Marktwirtschaft. Wir schaffen endlich klare Regeln für die
Finanzmärkte. Gute Arbeit, gute Löhne, mehr Mitsprache der Be-
schäftigten – all das kann und muss zum wirtschaftlichen und sozi-
alen Erfolg beitragen.
Wir wollen in einer modernen Gesellschaft leben, in der Men-
schen gleichberechtigt sind und gleiche Chancen und Möglichkei-
ten haben – Frauen und Männer, Menschen mit Behinderungen,
Flüchtlinge, Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschied-
lichen Alters, Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener
sexueller Identität. Wir wollen unsere Demokratie wiederbeleben,
so dass neben den gewählten Parlamenten vor allem die Bürgerin-
nen und Bürger mitentscheiden – und nicht starke Lobbys, für die
das Gemeinwohl kein Kriterium ist.
Wir wollen einen respektvollen Umgang mit der Natur, der die
Artenvielfalt, den Boden, die Luft und das Wasser schützt. Wir
wollen eine naturnahe Waldwirtschaft. Wir wollen eine Landwirt-
schaft, die nicht mehr von tierquälerischer Massentierhaltung und
klimaschädlicher Fleisch- und Milchproduktion geprägt ist. Wir
wollen informierte Verbraucherinnen und Verbraucher mit gesi-
cherten Rechten – keine Lebensmittel- oder Datenschutzskandale
in Serie.
Wir richten unsere Politik nicht nach Himmelsrichtungen aus.
Weder Ost und West noch Nord und Süd dürfen gegeneinander
ausgespielt werden. Wir packen die Probleme dort an, wo sie beste-
hen. Unser Ziel sind gleiche Chancen, Möglichkeiten und vergleich-
bare Lebensverhältnisse in allen Regionen. Auch deshalb bedarf es
auch über 20 Jahre nach der friedlichen Revolution der Solidarität
zwischen den ost- und westdeutschen Ländern. Wir können auch
heute noch viel voneinander lernen und uns gemeinsam entwi-
ckeln. Grüne Politik denkt und handelt auch vor Ort. Städte und
Dörfer sind zentrale Orte des öffentlichen Zusammenlebens. Es
wird Zeit, dass die Kommunen wieder in die Lage versetzt werden,
ihre Aufgaben wahrnehmen zu können, denn Zusammenleben und
Demokratie bekommen hier ihr Gesicht.
Wir wollen ein europäisches Deutschland – kein deutsches Euro-
pa. Die Bundesrepublik hat vom Zusammenwachsen Europas pro-
fitiert wie kein anderes Land. Doch in der Krise hat sich gezeigt,
dass Europa Reformen braucht. Wir sind uns sicher: Um die großenZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Herausforderungen zu gestalten, brauchen wir mehr Europa. Aber
wir brauchen auch ein anderes Europa: ein Europa, das miteinan-
der mehr gegen Jugendarbeitslosigkeit und Armut unternimmt,
das gemeinsam den Weg hin zu den Erneuerbaren Energien geht,
das Flüchtlinge schützt, anstatt die Grenzen Europas zu tod-
bringenden Mauern aufzurüsten. Ein Europa mit gemeinsamen
Sozialstandards und mehr Kooperation in Steuer- und Finanz-
fragen. Wir brauchen ein demokratisches Europa der Bürgerinnen
und Bürger statt ein Europa der Regierungen, Verwaltungen und
Expertokratie.
Wir stehen für eine Politik, die global denkt und handelt. Unsere
ambitionierte innenpolitische Reformagenda geht einher mit einer
global durchdachten Politik. Den Schutz des Klimas, den Erhalt der
natürlichen Ressourcen und der biologischen Vielfalt gibt es nur
global. Unser Ziel ist es, Menschenrechte umzusetzen, Armut zu
reduzieren, Frieden zu sichern sowie Geschlechtergerechtigkeit und
Demokratie zu fördern.
Wir glauben, dass viele in Deutschland so denken, vielleicht
sogar die meisten. Doch um zu diesem Ziel zu kommen, müs-
sen wir noch vieles verändern. Und wir müssen es bald tun, denn
eine falsche Wirtschaftsweise und eine ungerechte Gesellschaft
ver ursachen Schäden, die nicht mehr zu reparieren sind. Wir
glauben, der grüne Wandel ist der richtige Weg zu diesem bes-
seren Morgen.
4. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen –
Motoren des grünen Wandels
Eine bessere Politik lässt Menschen teilhaben. Denn nur wer Teil
dieser Gesellschaft ist, wer Zugang hat zu den öffentlichen Gütern,
wird nicht abgehängt und kann selbstbestimmt leben. Eine bessere
Politik braucht Menschen, die sich einmischen und begreift diese
nicht als Störfaktor. Eine bessere Politik schaut voraus und schafft
Zukunft – heute schon.
Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen – das ist die Richtung
des grünen Wandels. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen –
das sind zugleich seine Motoren.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Teilhaben: Ihre Stimme für mehr Gerechtigkeit
Schaffen wir einen grünen Wandel für mehr soziale Teilhabe! Teil-
habe ist eine elementare Bedingung für Gerechtigkeit: Teilhabe am
Arbeitsmarkt, Teilhabe an der Bildung, Teilhabe an sozialer Siche-
rung, Teilhabe an einem Gesundheits- und Pflegesystem, das keine
Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Einkünften oder
ihrer Herkunft macht – Teilhabe aber auch an wirtschaftlicher Ent-
wicklung und ökonomischem Erfolg.
Eine Politik der Teilhabe braucht neben einer menschenwürdigen
Grundsicherung die Erneuerung und Stärkung unserer öffentlichen
Institutionen. Wir wollen sie an die Öffentlichkeit zurückgeben:
die öffentlichen Orte, Räume und Netze. Ob Kitas oder Schulen,
Hochschulen oder Berufsschulen, Krankenhäuser oder Pflegeein-
richtungen, Jobcenter oder Arbeitsagenturen, öffentliche Plätze
oder Stadtteilzentren, Jugend- oder Kultureinrichtungen: Überall
dort entscheidet sich, ob Teilhabe möglich ist. Die Erneuerung all
dieser öffentlichen Institutionen braucht höhere Qualität, Öffnung
für alle und bessere Beteiligungsmöglichkeiten. Wir beschreiben in
den Kapiteln unseres Programms genau, wie die Erneuerung dieser
Orte, Räume und Netze aussehen kann. Hier investieren wir Geld –
und vor allem unsere Ideen.
Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der es normal ist, ver-
schieden zu sein, in der alle Zugang haben. Unabhängig von Ge-
schlecht, sexueller Identität oder Herkunft, Alter oder Elternhaus,
körperlicher oder psychischer Verfassung: Wir bauen die Barrieren
ab. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Frei-
heitsrechte, Teilhabechancen und Möglichkeiten eines selbstbe-
stimmten Lebens haben und erwünscht sind. Gleich ob Schule oder
Arbeitsmarkt, Stadtviertel oder Kultureinrichtung, Gesundheit oder
Pflege: Unser Ziel ist eine durchlässige Gesellschaft, die Blockaden
abbaut, in der Anstrengung belohnt wird und niemand durch ver-
schlossene Türen und gläserne Decken ausgebremst und ausge-
schlossen wird.
Teilhaben – das braucht eine solide und solidarische Finan-
zierungsbasis, in der die stärkeren Schultern mehr tragen als die
schwächeren. Deshalb sollen die kleinen Einkommen entlastet und
die höheren stärker einbezogen werden. Wir wollen Gering- und
NormalverdienerInnen entlasten durch ein höheres steuerfreiesZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
16
Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Existenzminimum und stabilisierte Beiträge für Krankheit und
Pflege durch eine Bürgerversicherung. Erben sollen einen höheren
Beitrag zur Finanzierung von Bildung und Kultur in den Ländern
leisten. Verdienst aus Geldanlagen soll wieder genauso hoch be-
steuert werden wie Verdienst aus Arbeit. Und wir wollen eine Ver-
mögensabgabe für das reichste Prozent der Bevölkerung, die dazu
dient, den durch die Finanzkrise enorm gewachsenen Schuldenberg
abzutragen – damit unsere Steuergelder nicht für die Zinstilgung,
nicht für das Zahlen von Zinsen, sondern für mehr Teilhabe und
bessere öffentliche Güter für alle genutzt werden können. Grund-
lage unserer finanz- und steuerpolitischen Reformen, die wir in
diesem Programm vorschlagen, ist eine transparente Finanz- und
Haushaltspolitik, die die Gesamtbelastung der Bürgerinnen und
Bürger sowie der Unternehmen beachtet. Maßstab für die Entwick-
lung und Umsetzung dieser Reformen waren und sind Gerechtig-
keit und Leistungsfähigkeit sowie die Bewahrung der betrieblichen
Investitionsfähigkeit. Entlang dieser Maßstäbe haben wir unsere
finanz- und steuerpolitischen Reformen entwickelt und überprüft
und werden es auch in Zukunft tun.
Teilhaben – das gilt nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern
auch europa- und weltweit. Wir wollen europaweit zu einer Finan-
zierungsbasis für Teilhabe beitragen durch einen europäischen
Steuerpakt zum Schließen von Steueroasen und zum Beenden von
Steuerdumping.
Teilhaben – das geht nur mit gerechten Löhnen und guter Arbeit
für alle. Deshalb wollen wir prekäre Arbeitsverhältnisse eindäm-
men, Minijobs ersetzen, den Missbrauch von Leiharbeit und Werk-
verträgen verhindern und das Tarifvertragssystem stärken.
Teilhaben – das braucht eine gerechte Verteilung von Einkom-
men und Vermögen. Denn eine Gesellschaft mit großer Ungleich-
heit kann ihre Potentiale nicht nutzen – sie verliert den Rückhalt
ihrer Mitglieder und damit den Kitt, der sie zusammenhält. Unsere
Gesellschaft muss wieder von der wirtschaftlichen Entwicklung pro-
fitieren, nicht nur die obersten 10 %. Neben Steuern und Sozialab-
gaben braucht es dafür auch eine andere Wirtschaftspolitik, die die
Dominanz einzelner Akteure zurückdrängt.
Teilhaben – das bedeutet im 21. Jahrhundert auch, Zugang zu
schnellem Internet zu haben. Soziale wie ökonomische Teilhabe hängtTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.nicht zuletzt vom Breitbandinternetanschluss ab. Wir wollen gesetz-
lich sicherstellen, dass jede/r am schnellen Internet teilhaben kann.
Teilhaben – das braucht ein diskriminierungsfreies gesellschaftli-
ches Klima, in dem alle Menschen ihre Chance bekommen und sich
einbringen können. Wir wollen unsere Einwanderungsgesellschaft
so gestalten, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft gleichbe-
rechtigt zusammenleben können. Wir wollen eine moderne Inte-
grationspolitik, die anerkennt, dass jede Einbürgerung ein Erfolg ist.
Teilhaben – das zielt auch auf Gerechtigkeit zwischen den
Geschlechtern. Sexismus und die Benachteiligung von Frauen sind
in vielen Fällen noch immer trauriger Alltag. Wir machen mit dem
Skandal Schluss, dass viele Frauen immer noch keine eigenständige
Existenzsicherung haben, dass sie die schlechteren Karrierechancen
und niedrigere Löhne in Kauf nehmen müssen. Dafür brauchen wir
ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft, ein Entgeltgleich-
heitsgesetz, eine Quote in Aufsichtsräten und einen Rechtsan-
spruch auf eine ganztägige Kinderbetreuung. Außerdem wollen wir
das Ehegattensplitting in eine Individualbesteuerung umwandeln.
Machen wir aus der gesellschaftlichen eine politische Mehrheit:
für gute öffentliche Institutionen, für eine gerechtere Verteilung
und ein soziales Sicherungssystem, das seinen Namen wirklich ver-
dient. Für eine gerechte Gesellschaft, an der alle teilhaben.
Einmischen: Ihre Stimme für mehr Beteiligung
Schaffen wir einen grünen Wandel für mehr demokratische Betei-
ligung! Misch dich ein! Das war unser Credo bei unserer Parteig-
ründung in Ost wie West. Und Einmischung braucht unsere Demo-
kratie auch heute. Wir wissen, was Bürgerbewegungen auch über
festgefahrene Strukturen und Parteigrenzen hinweg erreichen kön-
nen.Wir wollen mit unserer Politik das Einmischen leichter machen.
Demokratie zählt zum Wertvollsten, was wir haben. Und gerade
deshalb wollen wir sie neu beleben, ihr neue Kraft geben. Das geht
nur, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger einbringen können und
ihre demokratischen Rechte geltend machen. Wir beschreiben in
unserem Programm, wie eine neue demokratische Kultur aussehen
kann. Wir setzen auf eine Politik des Zuhörens, Hörbarmachens und
Mitentscheidens, in der Einmischung gewünscht ist und die Politik
die Gründe ihres Handelns offenlegt und zur Diskussion stellt.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Einmischen erfordert zunächst neue Mitbestimmungsmög-
lichkeiten. Wir schaffen mehr Bürgerbeteiligung in den Planungs-
verfahren und bessere Möglichkeiten für Bürgerbegehren und
Volksentscheide. Die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative
beispielsweise ist ein großer Erfolg. Das fordern wir auch, wenn es
um unser Herzensanliegen geht, die neue klimafreundliche Energie-
versorgung. Einmischung ist erwünscht, auch wenn uns GRÜNEN
dann ab und zu der Wind ins Gesicht bläst.
Wer möchte, dass die Menschen sich einmischen und den Wandel
aktiv mitgestalten können, der muss nicht nur an den Verfahren
feilen, sondern auch die Voraussetzungen fürs Einmischen schaf-
fen. Einmischen – das braucht zum Beispiel starke Kommunen und
Beteiligung vor Ort. Menschen sind engagiert und kompetent –
gerade da, wo sie zu Hause sind, in ihrer Kommune: Elterninitia-
tiven, die mit selbstverwalteten Kitas vorangehen und zeigen, wie
dringend notwendig die Betreuung von unter Dreijährigen ist; Bür-
gerinnen und Bürger, die den „Atomausstieg selber machen“ und
den Energieversorger wechseln, weil es ihnen zu langsam voran-
geht; Sportvereine, die der Politik zeigen, dass ein neues Miteinan-
der manchmal so einfach umzusetzen ist.
Einmischen – das heißt aber auch die Barrieren für Beteiligung zu
beseitigen. Wir wollen, dass all diejenigen mitbestimmen können,
die schon lange hier leben, und dafür das Wahlrecht ändern. Unse-
re Demokratie darf niemanden aufgrund von Herkunft, Hautfarbe,
sexueller Identität, Geschlecht, Behinderung, Religion und Weltan-
schauung oder Alter ausgrenzen. Deswegen heißt Einmischen auch,
Jugendlichen die Möglichkeiten zur demokratischen Entscheidung
zu öffnen. Wir wollen das Wahlalter auf mindestens 16 Jahre
senken. Einmischen heißt auch, dass Menschen nicht aufgrund ei-
ner Behinderung einfach von ihrem Wahlrecht ausgeschlossen wer-
den dürfen.
Einmischen – das geht aber auch nicht ohne gerechte Reprä-
sentation. Wir kämpfen für eine inklusive Demokratie, in der alle
mitreden und mitmachen können. Gerade deshalb streiten wir für
eine gerechte demokratische Repräsentation. In den Parlamenten,
in der Verwaltung, aber auch in den Parteien. Dafür brauchen wir
Parteien, die sich zu den Bürgerinnen und Bürgern hin öffnen. Wir
brauchen starke Parlamente und transparentes Regierungshandeln.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Es ist beispielsweise nicht hinnehmbar, dass deutsche Waffen an
alle Welt verkauft werden – ohne ausreichende parlamentarische
und zivilgesellschaftliche Kontrolle.
Einmischen – das heißt die Freiheit dazu zu haben. Der Abbau
unserer Bürgerrechte muss ein Ende haben. Sicherheit gehört ge-
währleistet, Freiheit gehört nach über zehn Jahren der Einschrän-
kung, die unter den Eindrücken der Terroranschläge in den USA
vorgenommen wurden, wieder gestärkt. Wir wollen eine offene
Gesellschaft, in der Menschen nicht das Gefühl haben müssen,
überwacht zu werden – sei es durch den Staat oder immer häufi-
ger durch Unternehmen. Der Schutz unserer Privatsphäre und die
Stärkung der informationellen Selbstbestimmung sind daher im
21. Jahrhundert umso elementarer.
Einmischen – das lebt von mündigen VerbraucherInnen. Wir
brauchen endlich wieder eine Verbraucherpolitik, die unsere Rechte
schützt. Denn wir können nur Einfluss nehmen, wenn wir wissen,
was drin ist, ob im Essen oder im Versicherungspaket.
Einmischen – das muss auch für die Arbeitswelt gelten. Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer sind keine Arbeitsmaschinen und
kein Kostenfaktor, sondern die wichtigste Produktivkraft, die wir
haben. Deswegen wollen wir ihre Rechte stärken, ihre Ideen und
Engagement fördern.
Einmischen – das heißt für uns, jeder Form von Rechtsextremis-
mus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entschieden
entgegenzutreten. Die NSU-Morde und vor allem der skandalöse
Umgang von Verfassungsschutzbehörden, Polizei und Justiz bei der
Aufklärung zeigen, wie viel hier noch zu tun ist. Diesen immensen
Schaden müssen wir beheben und wieder Vertrauen schaffen. Wir
stärken den Widerstand gegen Nazis mit allen rechtsstaatlichen
Mitteln und erheben unsere Stimme auch dann, wenn Rassismus
oder Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft kommen.
Einmischen – das heißt für uns, eine offene Gesellschaft zu
schaffen, in der jede und jeder ohne Diskriminierung, ohne Angst
vor Unterdrückung – sei es durch den Staat, durch menschenrechts-
und demokratiefeindliche Bewegungen, durch private Einrichtun-
gen, durch die eigene Familie – leben, arbeiten und handeln kann.
Einmischen – das heißt, die Beteiligungsmöglichkeiten des Inter-
nets zu nutzen und für alle zugänglich zu machen. Wir setzen aufZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.die neuen digitalen Möglichkeiten, um mehr Mitwirkung und mehr
Transparenz herzustellen.
Einmischen – das heißt die Entscheidungsstrukturen auch auf
internationaler Ebene fairer zu gestalten. Wir wollen deshalb die
Vereinten Nationen als internationale Organisation mit der meis-
ten Legitimation weiter demokratisieren sowie den Internationalen
Strafgerichtshof und das Völkerstrafrecht stärken.
Machen wir aus gesellschaftlichem Wunsch Wirklichkeit: für
mehr Beteiligungsmöglichkeiten, für eine gerechte Repräsentation
und für eine neue Politik des Zuhörens. Für eine demokratische
Gesellschaft, in der sich Einmischung lohnt.
Zukunft schaffen: Ihre Stimme für ein besseres Morgen
Schaffen wir einen grünen Wandel für ein besseres Morgen! Nach-
haltig wirtschaften bedeutet nicht mehr verbrauchen, als auch
nachwachsen kann – nicht von der Substanz leben, sondern von
den Erträgen. Inzwischen wissen wir längst, dass sich dieses Motto
nicht nur auf die Ökologie beschränken darf.
Zukunft schaffen – das heißt zuallererst die Energiewende schaf-
fen. Wir erreichen 100 % sichere Energie – ohne Atom, Kohle und
andere fossile Energieträger. Dazu wollen wir das Gesetz für Er-
neuerbare Energien (EEG) reformieren, von teuren Industriesub-
ventionen befreien und so die Strompreise sozialer gestalten. Wir
müssen den Strommarkt so organisieren, dass er den Übergang zu
den Erneuerbaren Energien unterstützt, damit er auch dann noch
funktioniert, wenn Kohle und Atom endlich verschwunden sind.
Wir wollen Deutschland vom Bremser zum Vorreiter beim Klima-
schutz machen – hier, in Europa und der Welt. Wir wollen ein Kli-
maschutzgesetz, damit es Energiesicherheit und Planungssicherheit
gibt. Wir sorgen außerdem dafür, dass die Energiewende auch in
der Verkehrspolitik ankommt. Mit Vorfahrt für FußgängerInnen,
Fahrrad, Elektroantrieb und Schienenverkehr ermöglichen wir eine
neue, nachhaltige Mobilität für alle – unabhängig von fossilen Ener-
gieträgern und frei von Lärm, der uns krank macht.
Zukunft schaffen – das heißt der Wirtschaft eine grüne Richtung
geben. Wir stehen vor einem gigantischen Umbau unserer Indus-
triegesellschaft hin zu einer ökologischen, also ressourcenleichten
und emissionsarmen Wirtschaftsweise. Dafür braucht es einenTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.neuen Rahmen, der ökologische Leitplanken und politischen Ziele
für soziale Gerechtigkeit, eine zukunftsfähige Wirtschaft und aus-
geglichene Staatsfinanzen setzt. Wir können unsere Abhängigkeit
vom Weltmarkt reduzieren, indem wir knappe Rohstoffe weniger
verwenden, wieder verwenden und durch günstigere und umwelt-
schonendere Rohstoffe ersetzen. So leisten wir einen Beitrag für
eine umweltverträgliche und gerechte globale Entwicklung.
Zukunft schaffen – das heißt Generationengerechtigkeit: Wir
wollen Jugend aktiv beteiligen und brauchen Chancengleichheit
von Anfang an bis ins Alter. Mit vielfältigen Förderangeboten,
einem besseren und sozial gerechteren Bildungssystem und einer
Politik, die Chancengleichheit immer im Blick behält, schaffen wir
eine Zukunft, in der jede/r die gleichen Chancen hat, von den ge-
sellschaftlichen Möglichkeiten zu profitieren.
Zukunft schaffen – das heißt für uns auf Bildung und Wissen-
schaft zu setzen. Von einer zukunftsfähigen Bildungsrepublik sind
wir noch weit entfernt. Ein gutes Bildungs- und Wissenschaftssys-
tem ist Voraussetzung für die Bewältigung der großen sozialen, öko-
logischen und ökonomischen Herausforderungen. Eine zukunftsfä-
hige Gesellschaft und grüne Ökonomie braucht das Wissen und die
Kreativität ihrer Menschen, benötigt gut ausgebildete Fachkräfte
und HochschulabsolventInnen, lebenslanges Lernen sowie die In-
novationen und das Know-how aus Wissenschaft und Forschung
sowie den Mut von UnternehmerInnen und Unternehmen, nach-
haltige Innovationen in die wirtschaftliche Praxis umzusetzen
Zukunft schaffen – das heißt Familien unterstützen. Familien
übernehmen zentrale gesellschaftliche Aufgaben – in der Verant-
wortung für Kinder, aber auch in der Verantwortung für pflege-
bedürftige Angehörige. Das gilt für alle Familien; egal ob homo-
oder heterosexuell, ob verheiratet oder nicht, ob Patchwork oder
alleinerziehend. Deshalb müssen endlich alle Familien gleichgestellt
werden. Wir finden, dass alle gelebten Familienmodelle unter den
Schutz von Artikel 6 Grundgesetz gehören. Außerdem wollen wir
dafür sorgen, dass alle Familien die Unterstützung bekommen, die
sie brauchen, damit Kinder als Bereicherung für Familie und Ge-
sellschaft wahrgenommen werden und Kindererziehung nicht zur
Belastung wird. Dafür ist die Sicherstellung der KinderbetreuungZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.genauso wichtig wie die Erkenntnis, dass Familie auch Zeit braucht,
die geschützt werden muss.
Zukunft schaffen – das heißt die Arbeit der Zukunft fördern und
gerecht zwischen den Geschlechtern verteilen. Mit einer dritten,
einer grünen industriellen Revolution und mit mehr Arbeit von
Menschen für Menschen – ob in Bildung, Gesundheit, Pflege oder
Kultur – schaffen wir die Arbeitsplätze von morgen und sichern so
Wohlstand und soziale Teilhabe für alle. Die Arbeit der Zukunft ist
eine gerechter verteilte Arbeit. Wir wollen eine inklusive Gesell-
schaft, in der nicht einerseits Menschen ohne existenzsichernde
Arbeit im sozialen Abseits stehen und andererseits unter Beschäf-
tigten „Burnout“ ein Massenphänomen ist und vielen kaum noch
Zeit für familiäre oder soziale Aufgaben bleibt. Wir werden neue
Modelle entwickeln, wie wir in Zukunft Zeit zum Leben und Zeit
zum Arbeiten besser miteinander vereinbaren können.
Zukunft schaffen – das heißt bezahlbares Wohnen für alle.
Wenn spekulative Mieten eingedämmt werden, kann die Vertrei-
bung vieler Haushalte aus ihrer Nachbarschaft verhindert werden.
Energetische Gebäudesanierung muss angemessen und kontinuier-
lich gefördert werden.
Zukunft schaffen – das heißt vorsorgen. Das gilt in der Haus-
haltspolitik, in der wir insbesondere mit der Vermögensabgabe
den gigantischen Schuldenberg abtragen wollen. Das gilt für die
Arbeitsmarktpolitik, in der wir Rahmenbedingungen für alters- und
alternsgerechte Arbeitsbedingungen durchsetzen wollen, damit die
Beschäftigten gesund bis zur Rente arbeiten können. Das gilt in der
Rentenpolitik, in der wir mit der Garantierente auch zukünftigen
Generationen das Vertrauen in die Alterssicherung zurückgeben
wollen. Das gilt aber auch für die Gesundheitspolitik, die auf Vor-
sorge setzen muss und sich nicht erst kümmert, wenn wir schon
krank sind.
Zukunft schaffen – das heißt die Umwelt erhalten. Wir brauchen
mehr Schutzgebiete für die Artenvielfalt und ein neues Tierschutz-
gesetz. Wir brauchen eine Landwirtschaft ohne Gentechnik und
ohne industrielle Tierproduktion. Tiergerecht statt massenhaft – so
schaffen wir Zukunft für Mensch, Tier und auch für das Klima.
Zukunft schaffen – das gelingt nur mit Europa. Unserem gemein-
samen Europa. Wir stärken deshalb die Demokratie, Solidarität,TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.Solidität, Nachhaltigkeit und die Menschenrechte in der EU. Dabei
streiten wir für einen ökologisch-sozialen Umbau Europas, statt nur
auf einseitige Sparpolitik in den Krisenländern zu setzen. Wir wol-
len eine Bankenunion und eine unabhängige Bankenaufsicht. Wir
ergänzen die Wirtschafts- und Währungsunion um eine politische
Union, damit nicht nur die Finanzmärkte diktieren, was geht und
was nicht geht. Und wir wollen ein starkes Europaparlament, das
die Hinterzimmerpolitik von Frau Merkel beendet und Transparenz
vor Lobbyinteressen stellt.
Zukunft schaffen – das können wir nur, wenn wir die gesam-
te Welt im Blick haben. Unsere Eine Welt. Deshalb wollen wir
die große Transformation hin zu einer friedlichen, gerechten und
nachhaltigen Globalisierung vorantreiben. Das heißt auch, das Ver-
sprechen, 0,7 % des Bruttonationaleinkommens für die Entwick-
lungszusammenarbeit einzusetzen, ebenso ernst zu nehmen wie
die zivile Krisenprävention, bei der das Konzept der Schutzverant-
wortung umgesetzt wird. Das heißt aber auch ein neues Kontroll-
gesetz einzuführen, um sich gegen Rüstungsexporte einzusetzen
und mit einem neuen Kontrollgesetz den Export von Waffen aus
Deutschland zu begrenzen.
Jetzt handeln für ein besseres Morgen! Das ist unsere Antwort
auf die Merkel-Koalition, die die Energiewende komplett gegen die
Wand fährt, die Rettung des Euro immer nur vertagt, die wachsen-
de Armut und Ungleichheit einfach ignoriert. Anstatt Herausforde-
rungen anzugehen und der Wirtschaft endlich ein neues, zukunfts-
fähiges Fundament zu geben, werden falsche Entscheidungen
getroffen oder Probleme auf die lange Bank geschoben.
5. Am 22. September GRÜN wählen
Liebe Wählerin, lieber Wähler,
es ist an der Zeit, dass sich was ändert. Statt sozialer Spaltung brau-
chen wir ein neues Miteinander. Statt eines entfesselten Kapita-
lismus eine Regulierung der Finanzmärkte. Statt alten Wachstums
echte Lebensqualität. Statt einer marktkonformen Demokratie eine
demokratische Erneuerung, in der die Menschen etwas zu sagen
haben und die Politik gestalten kann. Statt einer Rolle rückwärtsZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.eine sichere Energiewende und den Erhalt unserer Lebensgrundla-
gen. Statt einer Globalisierung auf Kosten der Armen eine soziale
und nachhaltige Weltwirtschaft.
Wer GRÜN wählt, stimmt für einen Weg aus den Krisen. Mit
Kompass und Werten und realistischen Lösungen. Unser grüner
Ministerpräsident Winfried Kretschmann und viele andere GRÜ-
NE in Verantwortung in den Ländern und Kommunen zeigen, was
GRÜN kann, wenn GRÜN regiert. Und auch unsere Spitzenkandi-
datInnen Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin stehen dafür ein:
Realismus und Weitsicht, verankert in klaren Werten.
Schwarz-Gelb betreibt pünktlich zum Wahlkampf reine Ankün-
digungspolitik, steht in Wahrheit aber mit seiner Politik gegen einen
echten Mindestlohn, gegen eine verbindliche Frauenquote, gegen
eine entschiedene Energiewende sowie gegen die tatsächliche
Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Damit steht
die schwarz-gelbe Regierung gegen die gesellschaftliche Mehrheit
in diesem Land. Deswegen gehört sie auch abgelöst.
Wir kämpfen eigenständig für unsere Ideen und Inhalte. Wir
kämpfen in diesem Bundestagswahlkampf für starke GRÜNE in einer
Regierungskoalition mit der SPD, weil wir in diesem Regierungsbünd-
nis die besten Chancen sehen, den grünen Wandel umzusetzen.
Bei dieser Bundestagswahl geht es nicht um eine Direktwahl der
Kanzlerin oder des Kanzlers. Es geht nicht um die absolute Mehr-
heit einer Partei. Es geht darum, welche Koalition die nächsten
vier Jahre Deutschland regiert. Wir wollen den grünen Wandel mit
einer rot-grünen Koalition erreichen. Rot-Grün ist die Alternative
zur Merkel-Koalition.
Koalitionen sind keine Frage von Farben oder Ideologien. Koali-
tionen sind Bündnisse auf Zeit zur Umsetzung gemeinsamer Ziele.
Nur wer mit uns GRÜNEN in die gleiche Richtung gehen will, nur
wer den grünen Wandel ermöglichen will, mit dem können wir re-
gieren, mit dem wollen wir koalieren. Wer in eine andere Richtung
gehen will, mit dem können wir nicht regieren und mit dem wollen
wir nicht koalieren.
Und da ist unübersehbar: CDU und CSU hintertreiben die
Energiewende. Die Union ist gegen einen gesetzlichen Mindest-
lohn, gegen eine stärkere Beteiligung der Reichen an der Finan-
zierung unseres Gemeinwesens. Sie steht gegen die GleichstellungTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.der Frauen und die vollständige Gleichberechtigung von Lesben
und Schwulen. Immer wieder betreibt die Union Wahlkampf mit
dem Ressentiment gegen Minderheiten und gegen eine moderne
Einwanderungspolitik. Die CSU ist offen europafeindlich. CDU und
CSU blockieren den grünen Wandel.
Die Linkspartei macht unseriöse sozial- und finanzpolitische Ver-
sprechungen, so dass der Wortbruch vorprogrammiert ist. Sie lehnt
die Einhaltung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse ab.
Die Linkspartei verweigert jede internationale Verantwortung und
selbst die Debatten über UN-mandatierte, friedenserhaltende Aus-
landseinsätze. In der tiefsten Krise der Europäischen Union steht sie
abseits, schürt Stimmungen und verweigert Solidarität. Die Linke
steht abseits des grünen Wandels.
Die FDP vertritt auf absurde Weise die Klientelinteressen eini-
ger weniger. Sie will das EEG abschaffen, sie verweigert sich einer
solidarischen Steuerpolitik, lehnt Mindestlöhne ab und ist gegen
die Frauenquote. Die FDP ist eine Kampfansage an den grünen
Wandel.
Für uns ist klar: Bei den zentralen Themen – bei der Energie-
wende, bei einer gerechten Steuerpolitik, bei einer modernen
Gesellschaftspolitik – gibt es mit der SPD neben Gemeinsamkeiten
auch Differenzen. Manchmal ist die SPD kein Antreiber, sondern
ein Bremser. Nur mit starken GRÜNEN wird sie ein Partner für den
grünen Wandel sein. Deshalb braucht es 2013 starke GRÜNE.
Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen – das bildet zusammen
die Grundlage für einen grünen Wandel in Politik und Gesellschaft –
für mehr soziale Gerechtigkeit, für mehr demokratische Beteiligung,
für ein besseres Morgen.
Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen – das beschreibt einen
neuen Weg aus den Krisen und den Aufbruch hin zu einer offenen,
modernen Gesellschaft und einer Wirtschaft, die besser und spar-
samer mit unseren natürlichen Ressourcen umgeht.
Wählen Sie GRÜN. Für mehr Gerechtigkeit. Für mehr Beteili-
gung. Für ein besseres Morgen.
Für den grünen Wandel.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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100 % sichere EnergieB. 100 % sichere Energie
Wie wir die Energiewende zum Erfolg führen
Als wir 1980 das erste Mal zur Bundestagswahl angetreten sind,
haben wir gegen alle anderen Parteien den Ausstieg aus der Atom-
energie und eine Wende in der Energiepolitik hin zu Sonne, Wind,
Wasser und mehr Energieeffizienz gefordert. Damals wurden diese
Ideen als „Spinnertum“ abgetan.
Heute, eine Generation und zwei Atomkatastrophen in Tscher-
nobyl und Fukushima später, ist der Atomausstieg zu großen Teilen
Realität und der Einstieg in die Energiewende gelungen: Von den
26 Atomkraftwerken, die Anfang 1990 in Ost- und Westdeutsch-
land in Betrieb waren, laufen nur noch neun. Der Bundestag hat im
Juni 2011 mit breiter Mehrheit den endgültigen Atomausstieg bis
2022 beschlossen. Dem gegenüber steht die unter Rot-Grün ein-
geleitete Erfolgsgeschichte der Erneuerbaren Energien: Sie wuchsen
von 5 % im Jahr 1998 auf heute 25 % und sind damit der zweit-
wichtigste Stromerzeuger geworden. Das ist ein zentraler Erfolg
grüner Politik.
Jedes noch laufende AKW bleibt eine Gefahr. Daher wollen wir
die Sicherheitsanforderungen national und international erhöhen,
entsprechende Nachrüstungen an den AKW durchsetzen und so
die Rahmenbedingungen ändern, damit die Betreiber das letzte
AKW schon deutlich vor 2022 abschalten. Zudem wollen wir die
bilaterale Zusammenarbeit bei der Atomsicherheit verbessern und
die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland an AKW-Planungen in
Nachbarstaaten beteiligen.
Wir wollen, dass die Energiewende vom Testfall zum Erfolgsmo-
dell wird. Aber die Vollendung der Energiewende geschieht nicht
von allein: CDU/CSU und FDP stellen täglich unter Beweis, dass
sie den Ausbau der Erneuerbaren Energien nur widerwillig betrei-
ben. Mit überbordenden Industrieprivilegien konterkarieren sie den
ökologischen Wandel der Wirtschaft und belasten die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher mit unfairen Strompreisen. Schwarz-Gelb
würde den Atomausstieg offenkundig am liebsten wieder rückgän-Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
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100 % sichere Energiegig machen. Assistiert werden sie dabei von einschlägigen Lobby-
organisationen mit millionenschweren Werbeetats, die den Ausbau
Erneuerbarer Energien zum Erliegen bringen wollen. Doch in der
Gesellschaft gibt es einen breiten Konsens, der diesem Interesse
zuwiderläuft. Die meisten Menschen wollen, dass auch die letzten
neun Atomkraftwerke bald abgeschaltet werden und auch der Aus-
stieg aus der Kohleverstromung erfolgt. Wir haben das Zeitalter der
Erneuerbaren Energien eingeläutet und jetzt muss die Energiewen-
de mit Leidenschaft, Begeisterung und Kreativität vorangetrieben
werden – auch global. Es geht darum, bezahlbare Energie für alle
bereitzustellen, ohne dass dafür – wie bisher – unsere Kinder Atom-
müll, eine Klimakatastrophe und ökologische Schulden aufgebürdet
bekommen. Dafür stehen nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Und wir wollen den Erfolg der Energiewende weltweit. Denn
die Antwort auf Energiearmut und eine global wachsende Energie-
nachfrage heißt Erneuerbare Energien für alle in Verbindung mit
Energieeffizienz und Energieeinsparung. Der Weg weg von fossi-
len Energien und Atom ist auch vorausschauende Friedenspolitik.
Deutschland muss seiner Verantwortung als Vorbild für einen kli-
magerechten weltweiten Umstieg auf Erneuerbare gerecht werden
und verlässlicher Partner sein für die Bekämpfung von Energie-
armut. Deshalb müssen wir Lösungen für den Energiehunger der
Metropolen mitentwickeln und zugleich dezentrale Ansätze für den
ländlichen Raum vorantreiben. Die deutsche Energiewende steht
im globalen Scheinwerferlicht. Wenn sie erfolgreich ist, werden
sich andere wichtige Staaten unserem Beispiel anschließen und eine
neue globale klimapolitische Dynamik entstehen lassen.
Gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern wollen wir die
Energiewende zum Erfolg führen. Das bringt auch einen Durch-
bruch beim Kampf gegen den globalen Klimawandel mit sich – denn
Deutschland wird international als Testfall dafür betrachtet, ob Kli-
maschutz und Erneuerbare Energien mit wirtschaftlicher Vernunft
und mit Gewinn verbunden werden können.
Wir wollen den Erfolg der Energiewende, weil wir damit Zukunft
schaffen. Wir wollen unseren Kindern ein gutes Erbe hinterlassen –
eine Energieversorgung frei von Atomgefahren und klimaschädli-
chen CO2-Emissionen, eine Zukunft ohne Klimakatastrophe, die zu
Millionen von Klimaflüchtlingen führt.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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100 % sichere EnergieWir wollen den Erfolg der Energiewende, weil so die Energie aus
den Händen der Konzerne in die Hände der BürgerInnen wandert.
So können sich endlich alle einmischen und mitmachen bei der Ver-
sorgung unserer Gesellschaft mit Energie.
Wir wollen den Erfolg der Energiewende, weil nur sie soziale
Teilhabe in der Energieversorgung dauerhaft absichert. Während
die Preise für Kohle, Öl und Gas kontinuierlich steigen, schickt die
Sonne keine Rechnung. Um die Energiewende besser koordinieren
zu können, machen wir uns für eine Kompetenzerweiterung des
Bundesumweltministeriums zu einem Umwelt- und Energieminis-
terium stark. Erneuerbare Energien, Atomausstieg, Netzausbau und
Strommarktreform gehören endlich zusammen gedacht.
1. Die Zukunft verdient unsere Leidenschaft
Vor allem in den Industrienationen basiert das tägliche Leben seit
mehr als zwei Jahrhunderten auf der Nutzung von Kohle, Öl und
Gas. Derzeit liegt der Anteil der Erneuerbaren Energien am Strom-
verbrauch bei knapp 25 %. Bereits 2030 wollen wir unseren Strom
zu 100 % erneuerbar produzieren. Im Gebäude- und Wärmebereich
streben wir eine Umstellung möglichst bis 2040 an. Dazu wollen
wir bis zum Jahr 2022, wenn spätestens die letzten Atomkraftwerke
vom Netz gehen, mindestens die Hälfte der Stromversorgung aus
Erneuerbaren Energien decken.
Dass 100 % Energieversorgung aus Erneuerbaren Energien eine
technologische Herausforderung darstellt, ist uns klar. Doch wir
setzen auf die Leidenschaft und Kreativität, die technologische
Innovationen hervorbringt – und wie sie in vielen Unternehmen,
an Hochschulen und in weiten Teilen der Gesellschaft bereits jetzt
mit Händen zu greifen ist. Die Erfahrung anderer industrieller Ent-
wicklungen macht Hoffnung: Technologische Sprünge sind möglich
und machbar. So wurde etwa 1885 in Berlin das erste Kraftwerk in
Deutschland errichtet, bereits im Jahr 1900 hatten praktisch alle
Städte Elektrizität. Während 1970 Computer noch auf Lochkarten-
basis funktionierten und Hallen füllten, hatten 25 Jahre später schon
viele Haushalte einen eigenen PC zu Hause. Die Elektrifizierung der
Städte bis 1900 oder die Verbreitung des Internets brauchten nurTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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100 % sichere Energiewenige Jahre. Wenn wir es wollen und vorantreiben, können wir
auch den Sprung in eine Welt sauberer Energie schaffen.
Nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen dafür, dass die hierfür
notwendige Politik umgesetzt wird und die Kosten gerecht verteilt
werden. Wir wollen daher das von uns im Jahr 2000 eingeführte
Erneuerbare-Energien-Gesetz, das den Technologie-Boom ausge-
löst hat und von vielen Ländern in aller Welt nachgemacht wurde,
intelligent fortentwickeln. Das EEG hat einen intensiven globalen
Wettbewerb bei den Anlagenherstellern ausgelöst, die Erzeugungs-
kosten für Solarstrom um 80 % gesenkt und den Stromertrag von
Windkraftanlagen enorm erhöht. Wir wollen die Investitionssicher-
heit durch den Einspeise- und Anschlussvorrang sowie das Prinzip
der Einspeisevergütung erhalten, das EEG aber von kostentreiben-
den Sonderregelungen befreien und die Lasten fair zwischen allen
Stromverbrauchern aufteilen.
Darüber hinaus wollen wir die Stellschrauben im EEG neu jus-
tieren, um den Ökostrom-Ausbau kosteneffizient weiter voranzu-
bringen und Anreize zur bedarfsgerechten Erzeugung, etwa bei der
Biomasse, zu setzen. Da die EEG-Umlage viel höhere Kosten aus-
weist als die tatsächlichen Mehrkosten des EEG, wollen wir, dass sie
zukünftig ehrlich ist, und werden sie sachgerecht umgestalten. Wir
wollen eine Effizienzrevolution fördern, bei der drohende Rebound-
Effekte, also der Verlust an Effizienzgewinnen durch erhöhten Ver-
brauch, vermieden werden. Doch Maßnahmen zur Steigerung der
Effizienz dürfen nicht auf den Strombereich begrenzt bleiben. Im
Wärme- und Verkehrssektor müssen die großen Einsparpotentiale
ebenfalls besser ausgeschöpft werden. Hierbei achten wir darauf,
dass Unternehmen sich nicht durch sog. Greenwashing vor Ihrer
Verantwortung drücken.
Wir wollen den Strommarkt neu ausrichten. In Zukunft bilden
Wind und Sonne die Basis unserer Stromerzeugung. In sonnen- und
windarmen Zeiten können bestehende Speicher und hocheffiziente
Gaskraftwerke die Lücken ausfüllen. Schon heute müssen aber
andere innovative Techniken ausgebaut werden wie beispielsweise
Biomassekraftwerke, Lastmanagement, neue Speicher und Batterien,
Verknüpfung mit dem Wärmesektor und Elektromobilität sowie län-
gerfristig aus Wind- und Solarstrom erzeugtes Gas („Power-to-Gas“).ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
30
100 % sichere EnergieDamit es sich lohnt, Kraftwerksleistung bereitzustellen, die nicht
immer abgerufen wird, muss der Strommarkt darauf umgestellt
werden. Notwendig ist deswegen ein verändertes Strommarktde-
sign, das nicht auf den Verkauf von Kohle- und Atomstrom ausge-
richtet ist. Wir wollen Kapazitätsmechanismen, die im Strommarkt
Versorgungssicherheit, Klimafreundlichkeit, Kosteneffizienz und
Flexibilität sicherstellen. Wir wollen Deutschland zur Modellregion
für intelligente Netze (Smart Grids) machen.
2. Die Energiewende von unten weiterführen
Der bisherige Boom der Erneuerbaren Energien in Deutschland
wurde zu über 90 % von Privatleuten und Stadtwerken, nicht von
den vier großen Energieversorgern gestemmt. Wir wollen, dass die
Energieversorgung der Zukunft dezentraler und bürgernäher wird.
Dies hat das EEG mit seinem Einspeisevorrang und einer garantier-
ten Vergütung eingeleitet. Wer diese erfolgreiche Grundlage heute
torpediert, will sie ausschließlich in die Hände großer Konzerne ge-
ben. Das werden wir verhindern, indem wir das EEG schrittweise
weiterentwickeln und den Fokus auf kostengünstige Technologien
richten. Gleichzeitig werden wir das Gesellschaftsrecht so formulie-
ren und uns weiterhin dahingehend einsetzen, dass die Energiewen-
de auch in Zukunft durch eine breite Beteiligung von Kleinanleger-
Innen vorangetrieben werden kann.
Wir wollen die Städte und Gemeinden aktiv darin unterstützen,
kommunale Klima- und Energiekonzepte aufzustellen, Erneuerbare
und hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplung auszubauen, die örtli-
che Energieversorgung und lokale Verteilnetze wieder in kommuna-
le Hand zu nehmen und die Energieerzeugung in Bürgerhand sowie
die Beteiligung der Öffentlichkeit zu fördern. Das stärkt Handwerk
und Arbeitsplätze vor Ort und sorgt dafür, dass die Energieausga-
ben der Menschen in der Region bleiben.
Strom zu transportieren ist heute noch deutlich günstiger, als ihn
zu speichern. Gerade der dezentrale Ausbau Erneuerbarer Energien
braucht den Stromnetzumbau. Dabei müssen Optimierungs- und
Verstärkungsmaßnahmen ausgeschöpft werden und einem Ausbau
vorausgehen. Wir stehen daher zu einem sinnvollen Netzausbau –TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
31
100 % sichere Energieauch wenn wir wissen, dass wir damit den Betroffenen vor Ort
teilweise erhebliche Belastungen zumuten. Deshalb müssen alle
Optimierungs- und Verstärkungsmaßnahmen in Verteil- und Über-
tragungsnetzen ausgeschöpft werden. Beim Netzausbau sind der
Vorrang des EE-Stroms und eine Netzanschlussverpflichtung essen-
tiell. Bei neuen Trassen ist es zentral, dass die Planungen transpa-
rent und gemeinsam mit Umweltverbänden sowie den betroffenen
Gemeinden und BürgerInnen erstellt werden. Wir wollen Erdkabel
als weithin akzeptierte Alternative zu Freileitungen einsetzen. Neue
110-kV-Leitungen sind grundsätzlich als Erdkabel auszuführen, neue
380-kV-Leitungen zumindest in sensiblen Gebieten mit Blick auf Be-
völkerung und Natur. Wir wollen dabei auch ambitionierte immissi-
onsschutzrechtliche Vorsorgewerte berücksichtigen. Wir wollen den
Einstieg des Bundes in eine zu gründende deutsche Netzgesellschaft,
mehrheitlich in öffentlicher Hand, um die derzeitigen Schwierigkei-
ten der Netzbetreiber bei der Umsetzung von Projekten zu reduzie-
ren. Dazu sollen die vier Netzregelzonen zusammengeführt werden.
Wir werden aber auch Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürgerin-
nen und Bürger in betroffenen Gebieten erarbeiten, damit sie von
den garantierten Renditen der Stromnetze unmittelbar profitieren
können. Ebenso setzen wir beim Ausbau von Erneuerbaren auf eine
intensive Beteiligung und Einbeziehung der Betroffenen sowie auf
Berücksichtigung naturschutzfachlicher Vorgaben.
Um eine Vollversorgung aus Erneuerbaren Energien zu ermögli-
chen, brauchen wir auch intelligente Verteilnetze (Smart Grids) und
neue Stromspeicher; wir müssen die Verbrauchskategorien Strom,
Wärme und Mobilität verknüpfen. Gaskraftwerke sollen als Über-
gangslösung zum Ausgleich von Schwankungen eingesetzt werden.
Die verschiedenen Speichertechnologien können alle etwas dazu
beitragen, die Schwankungen in der Erzeugung von Wind und Sonne
an unterschiedlichen Stellen im Netz auszugleichen. Deshalb
wollen wir sie fördern, parallel anwenden und in ein offenes Tech-
nologie-Wettrennen treten lassen. Die Speicherung von Gas muss
auf stabile Lagerstätten begrenzt werden. Den Bundesländern fällt
eine verantwortungsvolle Aufgabe insbesondere bei der räumlichen
und zeitlichen Steuerung des weiteren Ausbaus der Erneuerbaren
Energien sowie der erforderlichen Netz- und Speicherinfrastrukturen
zu. Dazu müssen die raumordnerischen Instrumente und VerfahrenZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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32
100 % sichere Energiebei frühzeitiger Beteiligung der BürgerInnen gestärkt werden. Dabei
werden alle Teilnehmer am Energiemarkt – ob kleines Stadtwerk oder
großer Konzern – ihren Beitrag leisten müssen.
Die Energiewende darf nicht zu Lasten der weltweiten Ernäh-
rung oder des Naturschutzes gehen. Deshalb setzen wir uns dafür
ein, die Erzeugung und den Import von Biomasse an die Einhal-
tung strenger Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards zu
binden. Auch in Deutschland ist die weitere Biomassenutzung auf-
grund der Flächenkonkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion, stoff-
lichen Nutzung und zu Naturschutz- und Erholungszwecken sehr
begrenzt. Die beschränkte Menge Biomasse, die zur Stromerzeu-
gung zur Verfügung steht, muss primär dazu dienen, die schwan-
kende Stromproduktion aus Wind und Sonne auszugleichen. Dem
übertriebenen Maisanbau, den Fehlsteuerungen in der Agrar- und
Energiepolitik der letzten Jahre zu verantworten haben, wollen wir
entgegenwirken. Daher werden wir die Rahmenbedingungen im
EEG so ändern, dass die Förderung von Biogasanlagen sich künftig
auf die Verwertung biogener Reststoffe konzentriert und Anreize
geschaffen werden, von Monokulturen auf Anbau in Fruchtfolgen
und auf ökologisch und landschaftlich attraktive Energiepflanzen
(z. B. Blühpflanzenmischungen, Kleegras) umzustellen.
3. 100 % sichere Energie ohne Kohle und Öl
Kohle hat keine Zukunft. Braun- und Steinkohle verursachen sehr
hohe klimaschädliche CO2-Emissionen, der Braunkohletagebau ru-
iniert großflächig unsere Landschaften. Das weltweite Klimaprob-
lem kriegen wir nur dann gelöst, wenn die Kohle da bleibt, wo sie
ist: unter der Erde. Wir wollen das Bergrecht novellieren, um endlich
umfassende demokratische Beteiligungs- und Klagemöglichkeiten
herzustellen, Anwohner und Umwelt besser zu schützen und neuen
Braunkohletagebau zu verhindern. Und wir werden uns internatio-
nal für die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards beim Stein-
kohleabbau einsetzen. Gas hat von den fossilen Energieträgern die
geringsten CO2-Emissionen und die größte Flexibilität und kann in-
sofern die Funktion einer Brückentechnologie in das Zeitalter der Er-
neuerbaren Energien übernehmen. Trotzdem ist uns bewusst, dassTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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33
100 % sichere Energieauch Gas endlich und klimaschädlich ist. Wo immer möglich wollen
wir Gas in Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) – also der gleichzeitigen
Nutzung von Strom und Wärme – einsetzen und so den Anteil der
KW an der Stromerzeugung bis 2020 auf mindestens 25 % steigern.
Dazu wollen wir das KWK-Gesetz novellieren und insbesondere die
Anreize für Mini- und Mikro-KWK („stromerzeugende Heizung“)
verbessern. Die CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) an fos-
silen Kraftwerken sowie die Förderung von unkonventionellem Erd-
gas insbesondere mittels giftiger Chemiekalien („Fracking“) lehnen
wir wegen der unabsehbaren Gefahren für Gesundheit und Umwelt
ab. Sie behindern zudem Klimaschutz und Energiewende. Giftige
Lagerstättenwasser dürfen nicht wieder verpresst werden.
Wir wollen ein Klimaschutzgesetz, das den Weg in das Zeitalter
der Erneuerbaren Energien weist. Das Gesetz wird den Ausstieg aus
der Kohleverstromung organisieren und als verbindliches Ziel for-
mulieren, die klimaschädlichen Treibhausgasemissionen in Deutsch-
land bis 2020 um 40 %, bis 2030 um 60 %, bis 2040 um 80 % und
bis 2050 um 95 % unter das Niveau von 1990 zu reduzieren. Das
Gesetz wird verbindliche Ziele für den Verkehrs-, Wärme- und
Strombereich sowie die Land- und Forstwirtschaft beinhalten. Die
Fortschritte werden jährlich überprüft. Bei Zielverfehlungen muss
das zu viel ausgestoßene CO2 ausgeglichen und der Klimaschutz
verstärkt werden. Dazu sind im Klimaschutzgesetz konkrete Maß-
nahmen und wirksame Sanktionen vorzusehen. Investoren haben
so Sicherheit für ihre langfristigen Strategien hinsichtlich Erneuer-
barer Energien und Energieeffizienz.
Wir wollen – finanziert aus der Kürzung umweltschädlicher Sub-
ventionen – das Klimaschutz- und Energiewendegesetz durch ein
3,5 Mrd. Euro umfassendes Investitionsprogramm für einen Ener-
giesparfonds, ein Marktanreizprogramm, erneuerbare Wärme und
„Smart Grid“-Technologien (intelligente Stromnetze) und für For-
schung unterlegen sowie das Programm für energetische Gebäudesa-
nierung auf 2 Mrd. Euro aufstocken. Für die Entwicklung von Effizienz
und höchsten Sicherheitsstandards bei der Smart-Grid-Technologie
werden wir einen angemessenen finanziellen Rahmen schaffen.
Die Förderung von Erdöl kann mit traditioneller Produktions-
weise seit Jahren weltweit nicht mehr erhöht werden. Die Nach-
frage wächst jedoch zugleich ungebremst weiter. Auch das sog.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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100 % sichere EnergieFracking wird den Preistrend nach oben auf Dauer nicht bremsen.
Wir GRÜNE wissen: Wir müssen „weg vom Öl“, ehe es uns verlässt.
Denn die zunehmende Verknappung und Verteuerung von fossilen
Ressourcen kann zu drastischen Energie- und Mobilitätskosten-
steigerungen, zu Nahrungsmittel- bzw. Ernährungskrisen bis hin
zu geopolitischen Spannungen und dem Zusammenbruch ganzer
Wirtschaftszweige führen. Den Aspekt künftig drastisch steigender
Rohstoffpreise wollen wir in allen Planungs- und Infrastrukturvor-
haben der öffentlichen Hand als wichtige Leit- und Entscheidungsli-
nie beachten. Die Diskussion über neue Wirtschaftsweisen und Le-
bensstile beim Übergang „weg vom Öl“ wollen wir interdisziplinär
und offensiv führen.
4. Atomausstieg sicher und schnell besiegeln
Die Energiewende gelingt nur mit dem Atomausstieg – der Atom-
ausstieg gelingt nur mit der Energiewende. Bei den noch laufen-
den Atomkraftwerken muss die Sicherheit höchste Priorität haben.
Besonders die beiden noch laufenden Siedewasserreaktoren in
Gundremmingen stellen weiterhin ein großes Risiko dar. Mit uns
gibt es keine Sicherheitsrabatte. Wir wollen die Rahmenbedin-
gungen so setzen, dass die Nutzung der Atomkraft sicher, schnell
und endgültig beendet wird. Wir werden die Sicherheitsanforde-
rungen – anders als Schwarz-Gelb – erhöhen und wieder auf den
Stand von Wissenschaft und Technik bringen. Falls diese Standards
nicht eingehalten werden können, müssen die betreffenden AKW
vom Netz genommen werden, das beschleunigt den Atomausstieg.
Wir werden dafür sorgen, dass bei allen AKW noch mindestens
eine periodische Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wird, und
Vorsorge gegen Flugzeugabsturz verlangen. Die Atomwirtschaft
hat bisher die Profite eingesteckt und die Risiken sozialisiert. Wir
wollen dagegen die Versicherungspflicht deutlich ausweiten. Au-
ßerdem sollen die Rückstellungen für Stilllegung und Rückbau in
einen öffentlich-rechtlichen Fonds überführt werden. Aus unserer
Sicht ist der Atomausstieg erst vollendet, wenn alle Anlagen des
Kernbrennstoffkreislaufs wie die Urananreicherungsanlage Gronau
und die Brennelementeproduktion Lingen geschlossen sind; das ist
unser Ziel.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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100 % sichere EnergieAuch AKW jenseits unserer Grenzen bergen hohe Sicherheits-
risiken. In einer künftigen Bundesregierung werden wir daher Ver-
handlungen mit den betreffenden Nachbarländern über die Sicher-
heitsstandards führen und Unterstützung bei der Energiewende
anbieten. Wir werden die Aahus-Konvention so in deutsches Recht
umsetzen, dass BürgerInnen Zugang zu Informationen und Ein-
spruchsmöglichkeiten haben. Der Atomausstieg ist unglaubwürdig,
wenn Deutschland zugleich AKW-Projekte im Ausland unterstützt.
Hermes-Bürgschaften für AKW wollen wir deshalb sofort und end-
gültig stoppen.
Die Energiewende muss auch in der Forschung stattfinden. For-
schung zur weiteren Nutzung der Atomenergie und zur Kernfusion
ist nicht zukunftsfähig. Anstatt Geld für die kerntechnische Trans-
mutation und das Kernfusionsprojekt ITER zu verschleudern, wer-
den wir öffentliche Forschungsmittel für Transformationsforschung
einsetzen, die technologische Innovationen und die gesellschaftli-
che Verankerung der Energiewende unterstützt. Deshalb setzen wir
uns auch für ein Ende des EURATOM-Vertrags und die Fusionsfor-
schung durch das Projekt ITER ein. Wenn dabei keine konsensu-
ale Einigung mit den anderen Vertragspartnern möglich ist, sollte
Deutschland einseitig aussteigen.
Der noch eine Million Jahre strahlende Atommüll ist unser aller
Müll – ob wir seine Produktion wollten oder nicht. Dafür muss die-
se Generation die Verantwortung übernehmen und endlich unter
breiter BürgerInnenbeteiligung bundesweit, ergebnisoffen, nach
wissenschaftlichen Kriterien und transparent den bestgeeigneten
Endlagerstandort suchen. Atomindustrie und politische Kräfte, die
weiterhin versuchen, den ungeeigneten Standort Gorleben durch-
zusetzen, werden auf unseren entschiedenen Widerstand treffen.
Die Endlagersuche muss komplett von den Verursachern des Atom-
mülls finanziert werden. Atommüllexport wollen wir verbieten.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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100 % sichere Energie5. Bezahlbare Wärme und Strom für alle
Energie ist Lebenselixier – eine warme Wohnung und eine sichere
Stromversorgung sind heute für jede/n elementar. Energiepolitik ist
deswegen auch eine Frage der sozialen Teilhabe. Eine auf Kohle, Öl
und Gas basierende Energieversorgung ist aber ein Armutsrisiko für
weite Teile der Bevölkerung. So waren 2011 und 2012 mit einem
Preis von jeweils 107 Dollar pro Barrel die mit Abstand teuersten
Öljahre der Geschichte, auch die Kohle- und Gasimportpreise sind
zuletzt deutlich gestiegen.
Mit der Energiewende im Wärmemarkt schaffen wir energeti-
sche Teilhabe für alle. Schließlich sind die Wärmekosten ein größe-
rer Faktor als die Stromkosten. Es ist unser Ziel, dass nach und nach
alle Häuser in Deutschland auf Niedrigenergiehaus-Niveau saniert
werden und der verbleibende Wärmebedarf durch Erneuerbare
Energien gedeckt wird. Denn die Sonne schickt keine Rechnung.
Wir wollen im Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz verankern, dass
neben dem Neubau auch nach Modernisierungen der Heizungsan-
lagen im Gebäudebestand erneuerbare Wärme anteilig genutzt
werden muss. Wir wollen, dass ab 2015 keine neuen Ölheizungen
mehr installiert werden. Neubauten, die als Plusenergiehäuser ge-
baut werden, sollen gefördert werden. Strom- und Wärmeversor-
gung – z. B. durch BHKW – sollen gekoppelt werden. Wir setzen
den Rahmen so, dass die Sanierungsquote von heute 0,7 % auf 3 %
im Jahr steigt. Gleichzeitig dürfen aber die mit der energetischen
Sanierung verbundenen Investitionskosten nicht dazu führen, dass
die Mieten für die MieterInnen nicht mehr bezahlbar sind. Vielmehr
ist es unser Ziel, mit unseren Maßnahmen Ökologie und bezahlba-
res Wohnen in Einklang zu bringen.
Wir wollen deshalb einen Energiesparfonds auflegen, mit dem
wir die energetische Sanierung von Wohnquartieren gezielt voran-
treiben, und dabei einkommensschwache Haushalte unterstützen.
Auch von besseren Energieberatungsangeboten und der Marktein-
führung besonders energieeffizienter Geräte sollen finanzschwa-
che Haushalte profitieren. Weitere Fondsmittel stellen wir für die
Einführung eines Klimawohngeldes zur Verfügung, um soziale
Härten zu verhindern. Zudem wollen wir das Erneuerbare-Energi-
en-Wärmegesetz, die Modernisierungsumlage und die Energieein-Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
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100 % sichere Energiesparverordnung so umgestalten, dass sie wirksame Anreize für die
Gebäudesanierung bieten. Weiteres zur energetischen Gebäude-
sanierung findet sich im Kapitel „Unsere Politik vor Ort“.
Auch der Strompreis muss für alle bezahlbar bleiben. Von besse-
ren Energieberatungsangeboten und der Markteinführung beson-
ders energieeffizienter Geräte sollen insbesondere finanzschwache
Haushalte profitieren. Faire Strompreise erfordern eine gerechtere
Finanzierung der Energiewende. Die Energiewende wird zurzeit nur
von den VerbraucherInnen und nicht privilegierten Unternehmen
finanziert, die richtigen Stromfresser bleiben außen vor. Geschen-
ke an die Industrie wollen wir abschaffen. Wir begrenzen die Sub-
ventionen auf die Unternehmen, die tatsächlich im internationalen
Wettbewerb stehen und Maßnahmen zur Steigerung der Energie-
effizienz nachweisen können. Wir werden uns international dafür
einsetzen, Strompreissubventionen abzubauen. Bei den Vorteilen
ist es umgekehrt: Wind- und Sonnenstrom senken den Strompreis
an der Börse, doch bei den normalen Stromverbraucherinnen und
-verbrauchern kommt diese Entlastung nicht an. Das wollen wir
ändern. Wir wollen die Energiewende solidarisch finanzieren, über-
bordende Privilegien für die Industrie und andere Großverbraucher
abbauen und Stromversorger zur Weitergabe gesunkener Börsen-
preise an ihre Kunden bringen. Das entlastet die Verbraucherinnen
und Verbraucher um mehr als 4 Mrd. Euro. Das entspricht bei dem
durchschnittlichen Stromverbrauch einer vierköpfigen Familie ei-
ner Entlastung von 35 Euro pro Jahr. Die Befreiung großer Strom-
verbraucher von den Kosten der Stromnetze haben Gerichte und
EU-Kommission verworfen. Die Bundesregierung will diese unge-
rechtfertigte Vergünstigung trotzdem weiterführen. Wir wollen sie
abbauen, denn gerade große Unternehmen sind auf ein funktionie-
rendes Stromnetz angewiesen und können dieses nicht von Privat-
haushalten finanzieren lassen.
Die Regelsätze von Arbeitslosengeld II, Grundrente, Sozialhilfe,
BAföG und anderen Transferleistungen müssen rascher an gestie-
gene Strompreise angepasst werden, damit es nicht zu sozialen
Schieflagen kommt. Wir wollen ein energetisches Existenzminimum
gewährleisten. Gas- und Stromsperren für Privathaushalte müssen
gesetzlich eingeschränkt und die Versorger verpflichtet werden,
eine Ratenzahlungsvereinbarung oder den Einsatz von Vorkassen-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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100 % sichere Energiezählern anzubieten, statt Strom oder Gas zu sperren. Zur Wahrheit
gehört aber auch: Auch ohne Energiewende würden die Strompreise
steigen, denn aufgrund des veralteten Kraftwerksparks und der
alten Netze existiert ein großer Investitionsbedarf in das deutsche
Stromsystem. Und nicht zuletzt werden die Kosten fossiler Brenn-
stoffe weiter steigen.
Die Stromkosten können wir alle selbst am einfachsten senken,
indem wir unseren Stromverbrauch senken. Wir wollen wie von
der EU vorgegeben und in einigen europäischen Ländern wie z. B.
Dänemark bereits erfolgreich angewandt, eine gesetzliche Grund-
lage für einen Markt für Energieeffizienzmaßnahmen in Industrie,
Gewerbe und Haushalten schaffen. Das Ziel lautet, bis 2020 15 %
des Stromverbrauchs einzusparen. So machen wir Kilowattstunden
statt Menschen arbeitslos und senken die Belastungen der Bürge-
rinnen und Bürger.
In den letzten Jahren ist die Effizienzpolitik nahezu zum Erliegen
gekommen. Viele richtige europäische Initiativen sind an Schwarz-
Gelb gescheitert. Wir wollen, dass Deutschland wieder Vorreiter
bei der Energieeffizienz und dem Energiesparen wird. Wir GRÜNE
werden das Thema Energieeinsparungen deshalb deutlich mehr in
den Fokus rücken. Dazu ist es notwendig, konstruktiv europäische
Initiativen wie den Top-Runner-Ansatz voranzubringen. Vor allem
auch in der Wirtschaft sind noch enorme Effizienzpotentiale vor-
handen. Anstatt immer neue Subventionen im Energiebereich zu
erfinden, müssen endlich strengere Standards greifen. Alleine die
in den USA gültigen Normen bei Elektromotoren in der Wirtschaft
könnten zu Stromkosteneinsparungen bis zu 50 % führen. Damit
könnten die Belastungen von Unternehmen für ihre Energiekosten
enorm gesenkt werden, ohne die Verbraucher zu belasten. Ener-
gieeffizienz und Energiesparen voranzubringen erfordert aber auch
eine kritische gesellschaftliche Debatte über unseren Umgang mit
Energie. Wir GRÜNE stellen uns dieser Herausforderung.
6. Klimaschutz vorantreiben – europäisch und global
Für uns war die drohende Klimakatastrophe nie ein rein ökologi-
sches Thema. Vielmehr stellen wir den globalen ZusammenhangTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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100 % sichere Energieher. Insbesondere die Länder, die am wenigsten zu den Klima-
veränderungen beigetragen haben, leiden zuerst und am stärksten
unter den Folgen. Doch mehr und mehr zeigt sich, dass auch für die
industrialisierten Länder und ihre Ökonomien selbst eine massive
Gefahr und Bedrohung besteht. Auch die Verursacher der Klima-
veränderungen werden zukünftig stärker von Extremwetterereig-
nissen wie Stürmen, Dürren und Starkregen betroffen sein. Falls
alle Bemühungen fruchtlos sein sollten und eine Erhitzung von weit
über 2 Grad erfolgt, wäre eine andere Welt die Folge, für die es
in der menschlichen Geschichte kein Beispiel gibt. Dies würde die
Grundlagen unserer Ernährung und der menschlichen Zivilisation
bedrohen.
Wir wollen alle Hebel in Bewegung setzen, damit bis 2015 ein
ambitioniertes Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll be-
schlossen wird. Wir müssen die Folgen der Klimaveränderungen
begrenzen und versuchen, die Erderwärmung nicht über 2 Grad
ansteigen zu lassen. Doch auch wenn dies gelingt, werden er-
hebliche Maßnahmen zur Anpassung an die Klimaveränderungen
nötig sein, erst recht, wenn wir die 2 Grad überschreiten. Damit
die Bremser den globalen Klimaschutz nicht weiter blockieren
können, treten wir ein für eine „Klimapolitik der unterschiedlichen
Geschwindigkeiten“ mit Deutschland in einer Allianz ambitionier-
ter Vorreiter inner- und außerhalb der Vereinten Nationen. Wir
werden Klimapolitik und Energiewende zu einem Schwerpunkt
unserer Außenpolitik machen. Bestehende Klimaschutzallianzen
wie die Transatlantische Klimabrücke werden wir ausbauen und
verstetigen. Klimapolitische Pioniere können durch die Gründung
von Klima-Clubs neue Dynamik in den internationalen Verhand-
lungsprozess bringen.
Wir stehen für eine Politik, die auf Klimagerechtigkeit abzielt.
Zur Klimagerechtigkeit gehört, dass die Länder und Bevölkerungs-
gruppen, die am meisten zu den Klimaveränderungen beitragen
und beigetragen haben, vorrangig verpflichtet sind, den davon
Betroffenen Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Ob
CO 2 in Deutschland, in China oder in den USA emittiert wird, ist
der Atmosphäre egal. Es braucht deshalb einen globalen Rahmen,
der den Ausstoß von klimawirksamen Gasen regelt. Wenn aber
der Natur ein Preis gegeben wird, um diese Fragen mit Markt-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
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100 % sichere Energiemechanismen zu regeln, brauchen wir dafür starke soziale, öko-
logische und menschenrechtliche Leitplanken. Wir werden uns
national und international für den Abbau von klima- und umwelt-
schädlichen Subventionen einsetzen und auch die großen Volks-
wirtschaften der Erde dazu drängen. Rein technologische Ansätze
wie z. B. das Geo-Engineering sind keine Lösung des Klimaprob-
lems, sie greifen nicht die Ursachen auf, sondern versuchen nur –
unter Inkaufnahme hoher, ungeklärter Risiken – Symptome zu
bekämpfen.
Europa muss zur Union für Erneuerbare Energien und Energie-
effizienz werden. Unser Ziel ist es, dass die Europäische Union ihr
Klimaschutzziel auf 30 % Emissionsreduktion (ohne Anrechnung
von Auslandsprojekten) bis 2020 erhöht. Der Beitrag des Emissi-
onshandels zum Klimaschutz ist bis jetzt hinter seinen Erwartun-
gen zurückgeblieben. Den europäischen Emissionshandel wollen
wir stärken durch eine Verknappung der Verschmutzungsrechte,
höhere Standards und einen Mindestpreis für CO2 . Bis zur Eini-
gung auf europäischer Ebene geht Deutschland durch Einführung
eines nationalen Mindestpreises voran, der Anreize schafft, alte
Kohlekraftwerke stillzulegen und in Klimaschutz zu investieren.
Statt einer Ausweitung des Emissionshandels wollen wir in ande-
ren Emissionssektoren eine stärkere Orientierung der Energiesteu-
ern am CO 2 -Ausstoß. Zudem setzen wir uns für eine verbindliche
Fortentwicklung der Klima-, Erneuerbaren- und Energieeffizienz-
ziele der Europäischen Union für das Zieljahr 2030 ein: Bis dahin
sollen die EU-Treibhausgasemissionen um 45 % sinken und der
EU-Anteil der Erneuerbaren Energien auf 45 % steigen. Um die
Erneuerbaren Energien in Europa zu stärken, treten wir für einen
EU-Vertrag für Erneuerbare Energien ein. Um unseren Kindern
eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, müssen wir weit mehr als
bisher für den Klimaschutz tun. Bisher waren alle Maßnahmen
nicht ausreichend. Entwässerte, intensiv genutzte Moore setzen
riesige Mengen CO 2 frei. Wir wollen mit einem großflächigen
Programm zur Moorrenaturierung Moore wieder zu CO 2 -Senken
machen.
Wir wollen, dass Deutschland seine internationalen Zusagen
endlich einhält, und deshalb zusätzlich jährlich 500 Mio. Euro
aufwenden, damit die ärmsten Länder Klimaschutz- und Anpas-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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100 % sichere Energiesungsmaßnahmen vornehmen können. Denn von den Folgen der
Klimaveränderungen und einer falschen Energiepolitik sind immer
die Schwachen zuerst und am härtesten betroffen. In Form eines
Klimaschutzhaushaltes werden wir ein Steuer- und Haushaltskon-
zept vorlegen, mit dem wir die nötigen Zukunftsinvestitionen in
Klimaschutz und Erneuerbare Energien durch den konsequenten
Abbau klima- und umweltschädlicher Subventionen solide und
verlässlich finanzieren.
Wer GRÜN wählt …
• stimmt für eine erfolgreiche Energiewende mit
bezahlbaren Preisen und 100 % Erneuerbaren
Energien im Stromsektor bis 2030.
• gibt die Energiewende in die Hände der Bürgerinnen und
Bürger.
• will mehr Arbeitsplätze durch Erneuerbare
Energien und Effizienz.
• sorgt für einen schnellen und endgültigen Atomausstieg
ohne Sicherheitsrabatte und dafür, dass die Entsorgung des
Atommülls zügig und verantwortungsvoll angegangen wird.
• stimmt gegen Kohlekraftwerke und für den
Kohleausstieg bis 2030.
• will konsequenten Klimaschutz, u. a. durch ein
Klimaschutzgesetz mit verbindlichen Zielen.
• will die Energiewende zum internationalen
Erfolgsmodell machen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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100 % sichere EnergieSchlüsselprojekte
100 % Erneuerbare Energien –
für eine faire Energiewende in BürgerInnenhand
Der Ausbau Erneuerbarer Energien von 5 auf 25 % der Strompro-
duktion in kurzer Zeit war ein bedeutender Beitrag zu nachhaltiger
Energieversorgung, zum Klimaschutz und zur Ressourcenscho-
nung. Bis zum Jahr 2020 wollen wir den Anteil der Erneuerbaren
Energien mindestens verdoppeln und bis 2030 die Stromversor-
gung Deutschlands auf 100 % Erneuerbare Energien umstellen.
Damit setzen wir das erfolgreichste wirtschaftliche Demokrati-
sierungsprojekt in Deutschland fort. Die Bürgerinnen und Bürger,
die Genossenschaften und kleinen Unternehmen vor Ort zusam-
men mit den Kommunen und Stadtwerken sind das Rückgrat der
Energiewende – das ist das Ergebnis grüner Energiepolitik. An-
ders als die schwarz-gelbe Lobbypolitik für die Energiekonzerne
werden wir dafür sorgen, dass die Energiewende in BürgerInnen-
hand bleibt. Damit diese „Energiewende von unten“ weitergeht,
verteidigen wir den Einspeisevorrang für Erneuerbare, schaffen
Planungssicherheit für Investoren, Beteiligungsmöglichkeiten für
Bürgerinnen und Bürger und leiten damit auch den Kohleausstieg
ein. Wir wollen die Regelungen des EEG zum Ausbau der Erneuer-
baren Energien so überarbeiten, dass es weiterhin zu einem dyna-
mischen Ausbau der Erneuerbaren kommt und die Kosten gerecht
verteilt werden. Denn die Energiewende braucht Investitionen.
Die Lasten müssen gerecht verteilt werden und der Strompreis
muss auch während des Umstiegs für alle bezahlbar bleiben. Da-
für werden wir zuerst die Industrieprivilegien zurückführen sowie
Mittelstand und Privathaushalte um 4 Mrd. Euro Energiekosten
entlasten.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
43
100 % sichere EnergieKlimaschutz verlässlich machen –
ein Klimaschutzgesetz verabschieden
Die Unverbindlichkeit in der Klima- und Energiepolitik behindert
die Energiewende und konsequenten Klimaschutz. Bislang wurde
Klima- und Energiepolitik durch einzelne Maßnahmen gesteuert,
die schnell wieder in Vergessenheit gerieten. Alle Beteiligten be-
nötigen jedoch einen verlässlichen Investitionsrahmen. Deshalb
werden wir dafür sorgen, dass ein Klimaschutzgesetz verabschie-
det wird. Darin formulieren wir verbindliche Ziele für Klimaschutz
wie die Treibhausgasminderung um 40 % bis 2020 und 95 % bis
2050 unter das Niveau von 1990 mit konkreten Zielen und Maß-
nahmen für die Bereiche Strom und Wärme, Industrie, Verkehr,
Land- und Forstwirtschaft. Die Bundesregierung wird verpflichtet,
alle zwei Jahre ein Maßnahmenpaket für die einzelnen Sektoren
vorzulegen, unabhängige Experten überprüfen dieses jährlich
mit Blick auf Wirksamkeit und Kosteneffizienz. Damit wird über
die oft kurzatmigen Legislaturperioden hinweg eine dauerhafte
Struktur für die Lösung des Generationenprojekts Klimaschutz
und Energiewende geschaffen.
Energiewende vorantreiben –
den Kohleausstieg bis 2030 umsetzen
Die größten Klimakiller unter den Energieträgern sind Braun- und
Steinkohle. Wenn wir die globale Erwärmung aufhalten wollen
und die Energiewende dezentral organisiert werden soll, dann
muss die Kohle da bleiben, wo sie ist: unter der Erde. Das heißt:
keine neuen Kohlekraftwerke und keine Ausweitung von Tagebau-
en. Der Raubbau an der Natur ist besonders sichtbar in Branden-
burg, Sachsen und in Nordrhein-Westfalen, wo riesige Tagebaue
Landschaften und Dörfer verschlingen und Menschen vertreiben.
Für diese Regionen wollen wir nachhaltige Alternativen finden.
In Vorzeigeregionen für Erneuerbare kann die Transformati-
on ohne Verlust von Wertschöpfung vor Ort geschehen. Da-
mit die deutsche Wirtschaft mit dem Kohleausstieg planen
kann, werden wir ihn mit einem Klimaschutzgesetz flankieren.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
44
100 % sichere EnergieSteigende Anforderungen an Emissionen, Effizienz und Flexibilität
von Kraftwerken müssen den Ausbau der Erneuerbaren flankie-
ren, um die Energiewende zum Erfolg zu führen. Dauerhaft einge-
speister Kohlestrom verhindert zudem wirtschaftliche Laufzeiten
für dringend benötigte flexible Kraftwerke.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Anders wirtschaftenC. Anders wirtschaften
Wie wir unsere Marktwirtschaft ökologisch und sozial neu
begründen und die Finanz- und Eurokrise überwinden
Wir brauchen einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Klima-
und Finanzkrise sind auch Ausdruck eklatanten Marktversagens.
Wirtschaftspolitik muss ökologischen, sozialen und ökonomischen
Zielen verpflichtet sein. Wir treten ein für eine grüne Transforma-
tion unserer Wirtschaft. Auf Dauer kann nichts wirtschaftlich ver-
nünftig sein, was ökologisch und sozial unvernünftig ist. Wir müs-
sen unsere Marktwirtschaft sozial und ökologisch neu begründen.
Ein großer Teil der wissenschaftlichen ökonomischen Modelle hat
versagt. Die Grundannahmen der Modelle müssen kritisch über-
prüft werden. Wir brauchen wieder pluralistische Ansätze in der
wirtschaftspolitischen Beratung. Das Projekt Europa ist durch die
tief greifende wirtschaftliche und soziale Spaltung stark gefährdet.
Die massive Verarmung und Jugendarbeitslosigkeit von bis zu über
50 % in Europa ist für uns GRÜNE nicht hinnehmbar. Die deutsche
Wirtschaft ist bisher leidlich gut durch die Finanzkrise gekommen
und profitiert von ihrer Exportstärke. Doch diese Stärke ist nicht
nachhaltig. Die Rezession 2009 konnte wesentlich gemildert wer-
den durch das Konjunkturprogramm II und das Kurzarbeitergeld.
Mit der Abwrackprämie für die Automobilindustrie wurde die
Chance vertan, die ökologische Modernisierung zu fördern. Viele
Millionen Menschen sind im Niedriglohnbereich beschäftigt und
können an der Stärke der Unternehmen nicht teilhaben, zu viel der
Produktion basiert auf Produkten, die die Umwelt belasten oder
mit einer miesen Klimabilanz einhergehen. Hinzu kommt, dass An-
gela Merkel während ihrer Regierungszeit 500 Mrd. Euro Schulden
angehäuft hat, die nachfolgende Generationen abtragen müssen.
Auch eine weitere Zunahme der Ungleichheit von Einkommen und
Vermögen gefährdet die Nachhaltigkeit unserer Marktwirtschaft.
Dies wollen wir nicht länger hinnehmen.
Wir werden die Weichen für eine Transformation hin zu einer
nachhaltigen Ökonomie stellen. Die Bundesrepublik soll VorreiterZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
46
Anders wirtschaftendieser Zukunftsökonomie sein und sich für eine europäische Indust-
riepolitik einsetzen, die Rahmenbedingungen dafür setzt, dass auch
die südeuropäischen Länder daran teilhaben und davon profitieren.
Deutschland und Europa brauchen eine grüne industrielle Revolu-
tion, die in hohem Maße von den kleinen und mittelständischen
Unternehmen getragen wird. Und wir brauchen eine Offensive
der sozialen Dienstleistungen, von der Bildung bis zur Pflege. Das
schafft hunderttausende neuer Jobs.
Wir setzen den Märkten mit einer werteorientierten Ordnungs-
politik klare soziale und ökologische Leitplanken. Preise müssen die
ökologische und soziale Wahrheit sprechen. Unter diesen Voraus-
setzungen können Märkte einen Innovationsschub für den sparsa-
men Einsatz von Energie und Ressourcen und für neue Technologi-
en, die weltweit gefragt sind, bewirken.
Es ist das Verdienst eines hochinnovativen Mittelstandes und
seiner Beschäftigten, dass deren Produkte in der ganzen Welt ge-
fragt sind. Diese Innovationskraft muss erhalten und ausgebaut
werden. Deswegen muss Deutschland seinen Vorsprung bei Effizi-
enz- und Umwelttechnologien jetzt nutzen.
Anders wirtschaften heißt Schluss mit dem schwarz-gelben Kli-
entelismus. Gute Wirtschaftspolitik bedeutet nicht die Interessen
eines einzelnen Unternehmens voranzubringen, sondern nachhal-
tige Lösungen im Interesse der gesamten Gesellschaft zu suchen.
Anders wirtschaften heißt die ökonomische Teilhabe stärken. Eine
Neubegründung unserer Marktwirtschaft heißt, den Mensch wie-
der in den Mittelpunkt der Wirtschaft zu stellen. Unsere ökonomi-
sche Produktivität soll dem Wohlstand aller dienen. Die Wirtschaft
mag wachsen – aber zu welchem Preis? Wachstum der Wirtschaft,
gemessen an der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts, ist deshalb
weder Ziel unseres politischen Handelns noch ein adäquates Mittel
zur Erreichung unserer politischen Ziele. Deswegen geht es auch um
ein Fundament für gute Arbeit – mit Mindestlöhnen und einem hö-
heren steuerfreien Existenzminimum. Menschen müssen von ihrem
Einkommen gut leben können und die Möglichkeit zu einer armuts-
festen Altersvorsorge haben. Anders wirtschaften bedeutet auch,
die Verteilung von Arbeit neu zu gestalten, damit mehr Menschen
teilhaben können, sowie für humane Arbeitsbedingungen und Ar-
beitszeiten einzutreten.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
47
Anders wirtschaftenAnders wirtschaften heißt sich einmischen, um dem Vorrang der
Politik Geltung zu verschaffen. Damit meinen wir, dass demokratisch
legitimierte Institutionen den Rahmen für wirtschaftliches Handeln
setzen sollten. Dazu müssen auch die Wechselbeziehungen zwi-
schen Politik und Ökonomie analysiert und berücksichtigt werden.
Ein einfacher Gegensatz zwischen „guter“ Politik und „schlechter“
Ökonomie greift zu kurz. Die Finanzmärkte in Europa müssen wir
endlich an die Leine nehmen, indem wir die verfehlte Wirtschafts-
und Finanzpolitik korrigieren, die jahrelang Deregulierung und kurz-
fristige Profitmaximierung über nachhaltige Entwicklung stellte.
Dabei müssen ökonomische Gesetzmäßigkeiten beachtet werden.
Nur so haben wir eine Chance, dass die Krise nicht zur Dauerkrise
wird. Im Gegensatz zur Bundesregierung, die bei Verhandlungen in
Brüssel immer wieder auf die Bremse tritt, wollen wir Europa stärken
und uns mehr für gemeinsame Regelungen einsetzen und diese mit
voranbringen. Ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine gemeinsame
Währung ohne eine abgestimmte Finanz-, Haushalts-, Wirtschafts-
und Steuerpolitik und ohne verbindlich vereinbarte Sozialstandards
können auf Dauer nicht funktionieren. Wir GRÜNE wollen diesen
Konstruktionsfehler beheben: Die Eurostaaten müssen ihre Wirt-
schafts- und Fiskalpolitiken stärker aufeinander abstimmen.
Anders wirtschaften heißt Zukunft schaffen. Der Aufbruch in die
Zukunftsökonomie ist lang und bedarf vieler, oft auch kleiner Schrit-
te. Bei den Erneuerbaren Energien haben wir GRÜNE gezeigt, wie
grüne Technologien und neue Märkte zu Jobmotoren werden. Neue
grüne Jobs entstehen auch in Bereichen wie Tourismus, Gesund-
heitswesen und Lebensmittelherstellung sowie in Berufen, die zur
Ökologisierung von Lebensweisen beitragen können, durch Wissens-
transfer, Verbraucheraufklärung, Beratung oder Ökozertifizierung.
Ob Maschinen- und Anlagenbau oder die chemische Industrie – auch
die klassischen Branchen profitieren von der ökologischen Wende.
1. Grüne Transformation der Industrie –
in Deutschland, Europa und weltweit
Unser bisheriges Wirtschaftsmodell mit seinem enormen Energie-
und Rohstoffhunger hat ausgedient. Regenerative Energien,ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Anders wirtschaftenregenerative Materialien, Recycling, eine bessere Reparaturfähig-
keit von Produkten und nachhaltige Ressourcennutzung sind die
Grundlagen der ökologischen Transformation. Fossile Energien als
Rohstoffe müssen nachhaltig verwendet und als Reserve erhalten
werden. Mit grünen Ideen lassen sich schwarze Zahlen schreiben –
in Deutschland und in Europa, das hier eine globale Vorreiterrolle
einnehmen kann. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Wertschöp-
fung und ökologischer und sozialer Verantwortung. Das ist Kern
grüner Wirtschaftspolitik.
Wir brauchen nicht weniger als eine grüne industrielle Revolu-
tion, die den Menschen, die Umwelt und das Klima in den Mittel-
punkt stellt.
Eine leistungs- und wettbewerbsfähige Industrie, zukunfts-
fähige Arbeitsplätze und eine ressourcenverträgliche Produktion
gehen Hand in Hand. Allerdings wird dieser Wechsel nicht von
selbst kommen. Dazu braucht es eine aktive Politik, die sowohl ord-
nungsrechtliche Maßnahmen als auch Marktmechanismen nutzt,
um die Kreativität und Innovationskraft der Unternehmen in den
ökologischen Umbau zu lenken. Dafür entwickeln wir eine über-
greifende Strategie, die dem Strukturwandel eine Richtung gibt und
die Unternehmen in ein neues Gründerzeitalter mitnimmt. Unter-
nehmen sind Akteure des Wandels. Ohne die unternehmerische
Vielfalt ist die ökologische Modernisierung der Wirtschaft nicht zu
bewältigen. Wir brauchen ihre Kreativität und Flexibilität und ihre
Investitionskraft.
Diese Transformationsstrategie bedarf verschiedener Instru-
mente. Während ein ökologischer und sozialer Ordnungsrahmen
Anreize für eine nachhaltige Entwicklung setzt und öffentliche In-
vestitionen die Infrastrukturen schaffen, wird grüne Industriepolitik
den Wandel in den einzelnen Branchen moderieren.
Mit gezielten Förder- und Forschungsprogrammen, mit zielge-
nauen ökologischen Leitplanken oder Nachfrageimpulsen schaffen
wir neue Investitionschancen für Unternehmen und können so die
notwendige Umbaudynamik anstoßen.
Grüne Industriepolitik nimmt alle Branchen in den Blick. Alle
Unternehmen müssen diesen Strukturwandel vollziehen, um auch
in Zukunft am Markt erfolgreich zu sein. Wir wollen der Industrie-
produktion Impulse geben, sich insgesamt unter Energie- undTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
49
Anders wirtschaftenMaterialeffizienzgesichtspunkten zu erneuern, und zukunftswei-
sende Technologien vorantreiben – sei es in der Erneuerbare-Ener-
gien-, der Automobil- oder der Chemieindustrie.
Der Ausbau der Erneuerbaren Energien hat bereits hundert-
tausende neuer Arbeitsplätze geschaffen. Und es gibt Potential
für noch deutlich mehr, wenn wir diesen Innovationsprozess vor-
antreiben: Windkraftwerke, Solar- und Photovoltaikanlagen, Ener-
giespeicher müssen entworfen, produziert, installiert und gewar-
tet werden. Neue intelligente Stromnetze müssen entwickelt und
flächendeckend aufgebaut werden. Dabei müssen sehr schnell
höchste Sicherheitsstandards entwickelt und implementiert wer-
den. Häuser müssen wärmegedämmt, Haustechnik modernisiert,
Produktionsprozesse energiesparend umgebaut werden. Neue Jobs
entstehen also nicht nur in den Erneuerbare-Energien-Industrien,
sondern auch im Maschinenbau, im Handwerk, im Baugewerbe, in
Ingenieurbüros.
Der Umstieg auf ressourcenleichtes Wirtschaften und auf ge-
schlossene Stoffkreisläufe kommt nicht nur der Umwelt zugute,
sondern stärkt die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und
sichert Arbeitsplätze. Deshalb führen wir den Top-Runner-Ansatz
ein, damit umweltfreundliche Technologien schnell eingesetzt wer-
den. Das funktioniert, indem beispielsweise die Waschmaschine
mit dem geringsten Stromverbrauch nach einer bestimmten Frist
den Standard vorgibt, den alle anderen auch erfüllen müssen. Bis-
her ist für Unternehmen nur die Berichterstattung über finanzielle
Kennzahlen verpflichtend. Wir wollen, dass für Unternehmen ab
einer bestimmten Größe auch die Berichterstattung über soziale
und ökologische Kennzahlen verpflichtend wird. Als Orientierungs-
rahmen dienen die bisher mit den freiwilligen Standards der Global
Reporting Initiative gemachten Erfahrungen.
Deutschland als innovativer Industriestandort muss bei der
europäischen Ressourceneffizienzstrategie die Blockiererrolle auf-
geben und stattdessen gemeinsame europäische Ziele, Wegmar-
ken und Bewertungsmaßstäbe für die Ressourceneffizienz unter-
stützen. Das Impulsprogramm Materialeffizienz wollen wir weiter
ausbauen, um Energieeffizienz erweitern und so effiziente Pro-
duktion attraktiver machen. Die Effizienzgewinne stehen dann für
Investitionen in ökologische Ressourceneffizienz zur Verfügung.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
50
Anders wirtschaftenVerbindliche und ambitionierte Recyclingquoten, längere Haltbar-
keit der Produkte sowie Rücknahmepflichten für Hersteller sollen zur
besseren Schließung und Schonung der Stoffkreisläufe beitragen.
Die ökologische Modernisierung löst enormen Finanzierungsbedarf
aus. Wir wollen neue Wege eröffnen, um private Finanzströme in
den ökologischen Umbau zu lenken. So übernimmt bei Projekt-
bonds die öffentliche Hand gegen Beteiligung einen Teil der Hoch-
risiken, die von den Privaten nicht getragen werden können, und
ermöglicht so wichtige Investitionen.
An der Mobilitätswirtschaft insgesamt und im Speziellen an der
Automobilindustrie hängen in der Bundesrepublik hunderttausende
Jobs. Nur wer mit umweltverträglichen Konzepten und Fahrzeugen
auf dem internationalen Markt präsent ist, hat wirtschaftlich eine
Zukunft und bleibt wettbewerbsfähig. Deswegen kommt es darauf
an, dass zukünftig die innovativsten und effizientesten Fahrzeu-
ge vom Band rollen. Durch ambitionierte Verbrauchsobergrenzen
schaffen wir verbindliche Rahmenbedingungen und Planungssi-
cherheit. Aber wir GRÜNE wissen auch, dass es damit nicht getan
ist. Angesichts des Klimawandels geht es nicht um immer mehr Au-
tos, sondern um eine Verkehrswende hin zu weniger motorisiertem
Individualverkehr. Und es geht auch um neue Mobilitätskonzep-
te auf Basis sozialer und ökologischer Innovationen. So wird bei
Carsharing-Modellen „Besitzen“ durch „Nutzen“ ersetzt.
Nirgendwo anders bündeln sich die Herausforderungen, vor de-
nen wir stehen, so sehr wie in der Chemieindustrie. Die chemische
Industrie hat aber auch ein gewaltiges Potential zur Lösung drän-
gender Probleme. Dazu muss sie stärker auf den Einsatz zertifizier-
ter nachwachsender Rohstoffe setzen. Grüne Rohstoffpolitik setzt
neben Effizienz auf Recycling und verlässt sich nicht auf Importe
von Rohstoffen mit häufig zweifelhafter Herkunft. Recycling ist
ohne chemische Prozesse in den seltensten Fällen möglich. Chemie
kann helfen Gebäude zu dämmen, Solarstrom zu erzeugen oder den
Verkehr sauberer zu machen. Ein Elektroauto wird nur mit einem
leistungsstarken und effizienten Akku erfolgreich auf dem Markt
bestehen können. Dafür soll die chemische Industrie noch mehr Teil
der Problemlösung werden und sich auch den ökologischen Heraus-
forderungen bei der Produktentwicklung stellen. Die Befreiung der
chemischen Industrie von der Mineralölsteuer lässt sich aus unsererTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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51
Anders wirtschaftenSicht nicht länger halten; als umweltschädliche Subvention wollen
wir sie im Rahmen unserer ökologischen Finanzreform abschaffen
und so Anreize zur Innovation weg vom Öl geben. Dafür ist eine ak-
tive Industriepolitik notwendig, die versucht, mit weltweiten Han-
delspartnern faire Wettbewerbsbedingungen auszuhandeln sowie
ein Kredit- und Wirtschaftsprogramm der KfW und ein Forschungs-
programm für die deutsche Solarindustrie aufzulegen.
Die Erzeugung von Strom aus Erneuerbaren Energien hat sich
von einer energiepolitischen Nische zu einem Boommarkt entwi-
ckelt. Andere Länder wie China haben die Bedeutung dieses Indus-
triezweiges erkannt. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat ver-
säumt, einen entsprechenden Schwerpunkt zu setzen. BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sehen in der Erzeugung Erneuerbarer Energien
einen Schlüssel für eine nachhaltige Wirtschaftsweise und wollen
eine wettbewerbsfähige Solarindustrie als industriellen Schwer-
punkt in der EU. Wir wollen eine europäische Industriepolitik für
Erneuerbare Energien. Eine solche Förderung muss auch durch ent-
sprechende Finanzierungsinstrumente zum Aufbau einer schlag-
kräftigen Erneuerbare-Energien-Industrie begleitet werden. Gegen
unfaire Dumpingpraktiken muss eine europäische Antwort gefun-
den werden.
Die maritime Wirtschaft ist von strategischer Bedeutung für die
gesamte Bundesrepublik. Nach Jahren des Booms steckt sie in einer
Krise. Steuersparmodelle haben die Schiffsfinanzierung zu einem
Spekulationsgeschäft gemacht, bei dem viele Anleger ihr Geld ver-
loren haben. Wir wollen das maritime Bündnis und die Schiffsfinan-
zierung auf neue Beine stellen.
Bund, Länder und Kommunen geben pro Jahr rund 360 Mrd.
Euro für öffentliche Aufträge aus. Das sind über 14 % des Bruttoin-
landsprodukts (BIP). Wir wollen die Transformation der Wirtschaft
auch über diesen Hebel stärker vorantreiben, indem die öffentliche
Hand bei der Beschaffung konsequenter auf innovative Produkte
setzt. Diese Produkte und Dienstleistungen, die von öffentlichen
Stellen gekauft werden, sollen ökologisch nachhaltig und unter
menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, entsprechend den Kern-
arbeitsnormen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO), pro-
duziert sein und den Kriterien des fairen Handels genügen. Wir wer-
den uns für eine entsprechende Änderung der gesetzlichen RegelnZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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52
Anders wirtschaftenzur Beschaffung einsetzen. Ferner fordern wir einen Aktionsplan
für ökologische und soziale Beschaffung mit klaren Zielvorgaben
nach dem Prinzip des Gender-Budgetings, einheitliche Arbeitshil-
fen, Fortbildungs- und Vernetzungsmöglichkeiten und eine zentrale
Service- und Beratungsstelle. Die Aktivitäten und Initiativen in Sa-
chen Diversity-Management (Vielfaltsmanagement) sind zu unter-
stützen und zu fördern.
Der Breitbandausbau ist Grundlage einer modernen Ökonomie.
Mit fairen Rahmenbedingungen und gezielten Fördermaßnahmen
treiben wir den Aufbau eines Universaldienstes und den Ausbau
eines flächendeckenden Hochleistungsnetzes voran. Netzneutrali-
tät garantiert auch kleinen Anbietern einen gleichrangigen Zugang.
Die industrielle Produktion in Deutschland zeichnet sich nicht
mehr allein durch Fräsen, Löten und Bohren aus, sondern ist eng
verknüpft mit Forschung, Entwicklung und Softwareanwendung.
Heute werden dazu Forschung und Entwicklung, Design und vor
allem Software immer bedeutender. Industrie und Dienstleistungen
sind kein Antagonismus, sondern bedingen und ergänzen einan-
der. Grüne Wirtschaftsförderung stellt sich darauf ein. Ein neues
Innovationsverständnis, passende Studiengänge und die Durchläs-
sigkeit von Ausbildungen sind wichtig für die neuen Anforderun-
gen. Der demografische Wandel ist auch eine große wirtschaftliche
Herausforderung. Notwendig sind eine familienfreundliche Unter-
nehmenskultur, Qualifizierungsangebote sowie gute Rahmenbe-
dingungen für alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze, um dem
drohenden Fachkräftemangel zu begegnen. Dazu gehören auch be-
sondere Anstrengungen, um Frauen und Männern gleichermaßen
den Zugang zu zukunftsfähigen Arbeitsplätzen zu ermöglichen. Wir
erkennen ausländische Abschlüsse leichter an, fördern lebenslan-
ges Lernen und die Weiterbildungsaktivitäten kleiner und mittle-
rer Unternehmen. Mit guten Hochschulen werden wir attraktiv für
ausländische Studierende, die nach ihrer Ausbildung ihre Zukunft in
Deutschland sehen und zum wirtschaftlichen Erfolg beitragen oder
Brückenbauer in ihren Herkunftsländern sind.
Wir setzen uns für eine nachhaltige und gerechte internati-
onale Handels- und Investitionspolitik ein. Folgende Grundsätze
müssen in allen EU-Investitions- und -Handelsabkommen gelten:
umfassende Transparenz, verpflichtende menschenrechtliche,TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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53
Anders wirtschaftensoziale und ökologische Folgeabschätzungen vor und nach dem
Abschluss von Abkommen, verbindliche auch auf die Auswir-
kungen des Abkommens selbst bezogene Menschenrechts- und
Umweltklauseln, die Anerkennung von Schutzinteressen schwä-
cherer Länder, die Förderung lokalen und regionalen Handels und
der Ausbau der Wertschöpfung in den Entwicklungsländern. Wir
wollen die internationalen Finanz- und Rohstoffmärkte stärker
kontrollieren und fordern verbindliche Regeln für Unternehmen
zur Einhaltung von Sozial-, Umwelt-, Transparenz- und Men-
schenrechtsstandards für Unternehmen. Dazu gehört auch die
Einführung länder- und projektbezogener Berichtspflichten für
transnationale Konzerne. Menschen, die Opfer von Menschen-
rechtsverletzungen durch transnational agierende Unternehmen
geworden sind, sollen einen besseren Zugang zu Gerichten und
rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren bekommen. Im deutschen
Handelsrecht und auf EU-Ebene muss eine Haftung der Mutter-
für ihre Tochterkonzerne bei Menschenrechtsverletzungen fest-
gelegt werden.
Eine Ursache für die Finanzkrise waren unverhältnismäßig hohe
und nur auf den kurzfristigen Erfolg ausgerichtete Manager- und
Aufsichtsratsvergütungen. Überhöhte Gehälter, Boni und Phanta-
sieabfindungen wollen wir wirksam begrenzen. Die Vergütung
von Vorständen börsennotierter Unternehmen soll künftig der
verbindlichen Zustimmung der Hauptversammlung unterliegen.
Die steuerliche Abzugsfähigkeit soll auf 500.000 Euro begrenzt
werden, damit die Allgemeinheit exorbitante Gehälter nicht länger
mitfinanzieren muss. Bonuszahlungen sollen am Gewinn orien-
tiert sein und dürfen künftig zusammen mit anderen variablen Ge-
haltsbestandteilen wie Tantiemen und Aktienoptionen maximal
ein Viertel des Gesamtgehalts ausmachen. Erfolgsbeteiligungen
sollen künftig grundsätzlich langfristig orientiert sein und ihnen
soll auch die Beteiligung an den Verlusten des Unternehmens
gegenüberstehen. Um mehr Transparenz bei den Vergütungen
zu erreichen, ist die Vergütung aller Organmitglieder jährlich
offenzulegen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Anders wirtschaften2. Die Krise überwinden –
durch ein solidarisches und ökologisches Europa
Die Europäische Union steckt in einer fundamentalen Krise. Kern
der Krise ist aber nicht der Euro, sondern ein wirtschaftliches Ent-
wicklungsmodell, das nicht nachhaltig ist und seine eigene Wett-
bewerbsfähigkeit untergräbt. Der Zusammenbruch weitgehend un-
regulierter Finanzmärkte hat die Fehler und Schwachstellen dieses
Wirtschaftsmodells schonungslos offengelegt.
Schwarz-Gelb behauptet, die Länder in Südeuropa hätten jahre-
lang über ihre Verhältnisse gelebt und müssten sich nun über mas-
sive Lohnsenkungen und Ausgabenkürzungen gesundschrumpfen.
Merkel verschweigt jedoch, dass die Schuldenaufnahme ganz we-
sentlich zur Rettung von Banken eingesetzt wurde. Davon haben
insbesondere auch deutsche Banken, Lebensversicherer und andere
Gläubiger profitiert. Einige europäische Länder haben zudem über
Jahre hinweg mehr importiert als exportiert. Aber den Außenhan-
delsdefiziten in Teilen Europas stehen auch jahrelange, massive
Exportüberschüsse in anderen Ländern gegenüber. Beide Entwick-
lungen sind in einem gemeinsamen Währungsraum existenzgefähr-
dend. Verstärkt wurden diese Probleme durch die europaweit ge-
stiegene Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen sowie
einen übermäßig großen Finanzsektor. Dies hat in den vergangenen
Jahrzehnten zu einem untragbaren Kreditwachstum geführt. Durch
politische und wirtschaftliche Fehlentwicklungen in einzelnen Mit-
gliedsstaaten wurden die Probleme noch vergrößert.
Das zögerliche, widersprüchliche, sozial unausgewogene euro-
päische Krisenmanagement hat die mangelhafte und parlamenta-
risch zu wenig kontrollierte Koordinierung innerhalb der Eurozone
schonungslos offengelegt. Banken wurden mit Milliardensummen
stabilisiert, bescheidene Ansätze stärkerer europäischer Finanz-
marktregulierung angepackt, überschuldete öffentliche Haushalte
mit neuen Krediten gestützt, Ländern drastische Ausgabenkür-
zungen verordnet, Schuldenbegrenzung als neue goldene Regel
durchgesetzt, Sozialabbau und Lohndumping erzwungen, neues
Wachstum irgendwie vage in Aussicht gestellt. Doch wie schon in
der Vergangenheit zeigen sich immer mehr die desaströsen Auswir-Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
55
Anders wirtschaftenkungen der einseitigen Sparpolitik – diese führt Europa immer tiefer
in die Krise und gefährdet den sozialen Zusammenhalt.
Diese Krise ist eben nicht einfach eine Staatsschuldenkrise. Um
sie dauerhaft zu lösen, braucht Europa eine neue Perspektive. Wir
brauchen eine Erneuerung der europäischen Wirtschaft im Sinne
eines europäischen Green New Deal. Nachhaltigkeit muss zur Basis
europäischer Wettbewerbsfähigkeit werden. Zentral ist die Finan-
zierung ökologischer Erneuerungsinvestitionen und europäischer
Netze. Wir brauchen mehr gemeinsame europäische Wirtschafts-
politik. Dazu gehört eine starke europäische Bankenunion. Wir for-
dern ebenso einen europäischen Steuerpakt gegen Steuerdumping,
Steuervermeidung und Steuerflucht. Erforderlich ist zur Bekämp-
fung der Jugendarbeitslosigkeit ein Sofortprogramm für die Aus-
und Weiterbildung von Jugendlichen in den Krisenländern. Wir ver-
teidigen faire Löhne, Gewerkschaftsrechte und existenzsichernde
soziale Garantien. Europa kann stärker aus der Krise herauskom-
men, wenn es gelingt, eine Alternative zur Merkel´schen Strate-
gie durchzusetzen, die die Krisenländer vor allem mit Sparpolitik,
Sozialabbau und Lohndumping traktiert. Weil man sich aus einer
solchen Krise nicht einfach heraussparen kann, muss das entschei-
dende Augenmerk darauf gelenkt werden, wie neue wirtschaftliche
Dynamik entstehen kann.
Die ökonomischen Ungleichgewichte in der Europäischen Union
haben ihre Ursache sowohl in den Defizit- als auch in den Über-
schussländern wie Deutschland. Eine europäische Wirtschaftspolitik
muss mehr dafür tun, dass sich die Wirtschaftskraft der Mitglieds-
staaten gleichmäßiger entwickelt. Dazu muss die Binnenkonjunktur
in den Überschussländern gestärkt werden. In den letzten Jahren
stagnierten aber die Reallöhne oder sanken sogar. Dadurch sind
sowohl die Ungleichgewichte innerhalb Europas als auch die Un-
gleichverteilung der Markteinkommen in Deutschland deutlich
angestiegen. Wir wollen diesen Trend umkehren und auskömm-
liche Löhne wieder zum Regelfall machen. Dazu brauchen wir in
Deutschland auch endlich einen gesetzlichen Mindestlohn, um der
Lohnspirale nach unten einen Riegel vorzuschieben, flankiert von
weiteren Maßnahmen zur Stärkung des Tarifsystems. Damit wollen
wir auch erreichen, dass sich in Zukunft die Reallohnentwicklung
wieder am Produktivitätsfortschritt orientiert.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Anders wirtschaftenGleichzeitig muss dafür gesorgt werden, dass in Krisenländern
verstärkt in zukunftsfähige Branchen investiert wird und so die
Wettbewerbsfähigkeit steigt. Außerdem wollen wir die Absatz-
chancen der Unternehmen aus den Krisenländern verbessern.
Wir fordern einen Europäischen Schuldentilgungspakt, der auf
dem vom Sachverständigenrat der Bundesregierung vorgeschlagenen
Schuldentilgungsfonds basiert. Erstens zeigen wir den Akteuren auf
den Märkten damit, dass die Eurozone sich an ihre Verpflichtungen
hält. Zweitens erreichen wir Zinssenkungen durch gemeinsame Kre-
ditaufnahmen und einen transparenten Schuldenabbau durch klare
Regeln. Dem Schuldentilgungspakt legen wir eine sichere Finanzie-
rung zu Grunde. Diese wollen wir durch Vermögensabgaben in den
europäischen Ländern unterstützen und so die Schuldenproblematik
sozial gerecht lösen. Drittens ersetzen wir die jetzt schon de facto
bestehende Haftungsunion durch eine europäische Solidarunion mit
verbindlichen Regeln. Wir wollen den ESM in einen Europäischen
Währungsfonds (EWF) umbauen und so zu einem wirklichen Krisen-
reaktionsinstrument machen. Klare Bedingungen für die Teilnahme,
insbesondere in Hinblick auf die Haushaltskonsolidierung, sind nötig,
müssen aber sozial ausgewogen sein. Der ESM/EWF soll der demo-
kratischen Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegen.
Unser Ziel bleiben Eurobonds, auch wenn sie nicht von heute auf
morgen realisierbar sind. Mit Europäischen Anleihen samt strengen
Auflagen gelingt es mit einer gemeinschaftlichen Haftungszusage
aller Mitgliedsstaaten (Eurobonds) am besten, der Vertrauens- und
Finanzierungskrise in der Eurozone ein Ende zu setzen. Die Einfüh-
rung von Eurobonds setzt allerdings eine Vertragsänderung voraus.
Künftig muss bei der Bewältigung von staatlichen Schuldenkrisen
der Privatsektor sehr viel umfassender als bisher an den Krisenkos-
ten beteiligt werden. Wir treten deshalb weltweit für ein faires und
unabhängiges, geordnetes und stabilisierendes Staateninsolvenz-
verfahren ein. In der Eurozone soll dieses erst nach der Einführung
von Eurobonds für dann weiterhin mögliche national garantierte
Schuldentitel Anwendung finden.
Mit dem neu zu schaffenden Amt eines/einer EU-KommissarIn
für Wirtschaft und Währung wollen wir den notwendigen Zuwachs
an Entscheidungskompetenz auf europäischer Ebene auch personell
verankern. Er/Sie soll den Vorsitz der Eurogruppe und des ECOFINTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Anders wirtschaftenausüben, aber keine Gesetze ohne Zustimmung des Europäischen
Parlaments erlassen dürfen. Zudem soll er/sie durch das Europäi-
sche Parlament individuell wähl- und abwählbar sein.
Wir kritisieren den europapolitischen Kurs von Merkel scharf.
Es ist fahrlässig, wie die Währungsunion von der Bundesregierung
aufs Spiel gesetzt wird. Gerade die deutsche Wirtschaft hat davon
profitiert und deutsche Banken haben jahrelang hervorragend in
der Wirtschafts- und Währungsunion verdient. Die schwarz-gelbe
Bundesregierung hat die Krise in der EU verschärft, die Mitglieds-
staaten auseinandergetrieben und die Rettung auf Kosten der Steu-
erzahlerInnen erheblich verteuert. Merkel handelt immer wieder zu
langsam und zu kurzsichtig – mit ihrem Zögern und Zaudern hat sie
nicht nur bei der Griechenland-Krise eine teure Spirale in Gang ge-
setzt: Der Verunsicherung an den Finanzmärkten folgte die Flucht
aus Staatsanleihen der Krisenländer, die infolgedessen entweder
exorbitante Zinsen auf dem Kapitalmarkt zahlen müssen oder ganz
davon abgeschnitten wurden.
Noch schlimmer – mit dramatischen Auswirkungen auf die Eu-
ropäische Union und die Weltwirtschaft – wäre es allerdings gewe-
sen, die Krisenländer unkontrolliert bankrottgehen zu lassen und
den spekulativen Angriffen der Finanzmärkte auf den Euro nichts
entgegenzusetzen. Wir haben deshalb im Bundestag den Rettungs-
schirmen und dem Fiskalvertrag zugestimmt. In der Gesamtabwä-
gung war das für uns die bestmögliche Entscheidung. Ohne eine
Rettung wären die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen in
den Krisenstaaten noch viel verheerender – auch deshalb haben wir
Angela Merkel immer wieder zu einem schnelleren und entschlos-
senen Handeln aufgefordert. Es ist uns gelungen, der Bundesregie-
rung ein Bekenntnis zur Finanztransaktionssteuer abzuringen. Da-
gegen sind die Versprechungen in Richtung eines Investitions- und
Wachstumspaketes, seit sie 2012 gemacht wurden, weitestgehend
heiße Luft geblieben. Damit geben wir uns nicht zufrieden.
3. Finanzmärkte an die Leine nehmen
Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa, die Krise in Europa und explo-
dierende Staatsverschuldung auch in Deutschland – der Zusammen-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
58
Anders wirtschaftenbruch einiger Banken in den USA, Großbritannien und Deutschland
hat sich zur größten Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren ent-
wickelt. Die Finanzmärkte haben ihre zentrale Aufgabe als Dienst-
leister für die Realwirtschaft. Werden sie zum Selbstzweck, dienen
sie als (Spiel-)Casino und können ganze Volkswirtschaften in den
Abgrund stürzen. Mit einer strikten Regulierung wollen wir eine
nachhaltige und sozial gerechte Wirtschaftsordnung verankern.
Bisher galt viel zu oft: Verluste übernehmen die SteuerzahlerInnen,
die Gewinne streichen weiterhin AktionärInnen und GläubigerIn-
nen ein. Das ist weder gerecht noch entspricht es marktwirtschaft-
lichen Prinzipien.
Wir wollen eine gemeinsame Bankenaufsicht mit einem einheit-
lichen Regelwerk. International aktive Banken sollten von der neu-
en europäischen Bankenaufsicht direkt beaufsichtigt werden, klei-
ne Institute mit ausschließlich regionalem Geschäft müssen nicht
laufend von einer europäischen Institution beaufsichtigt werden.
Wir brauchen aber eine Vereinheitlichung der Aufsichtsstandards
und auch für kleine Institute ein Durchgriffs- und Letztentschei-
dungsrecht bei Versagen der nationalen Aufseher. Ergänzt wird die
europäische Bankenunion nach unseren Vorstellungen um gemein-
same Mechanismen zur Abwicklung von Krisenbanken sowie einen
gemeinsamen Rahmen für europäische Einlagensicherungssysteme.
Die Bankenunion ist die grüne Antwort auf das Zögern und Zau-
dern der Merkel-Regierung, das die Haftung der SteuerzahlerInnen
weiterhin zulässt, und zeigt, dass mehr Europa einen echten Mehr-
wert bietet. Wir GRÜNE halten das gegenwärtige, überkomplexe
Regulierungsregime mittelfristig für ungeeignet, ein erneutes Aus-
brechen von finanzmarktinduzierten Krisen zu verhindern.
Der Fokus der Finanzmarktregulierung muss sich ändern. Die
enorme Komplexität der aktuellen Anforderungen birgt die Gefahr,
dass das eigentliche Ziel der Maßnahmen, nämlich die Stabilisierung
des Finanzsystems, aus den Augen verloren wird. Der wichtigste
Schritt in Richtung transparenterer und einfacherer Regeln ist eine
Schuldenbremse für Banken. Nur wenn die Eigenkapitalausstattung
des Finanzsystems insgesamt ansteigt, sinkt dessen Anfälligkeit
gegen unerwartete Schocks. Dazu verschafft eine höhere Eigenka-
pitalausstattung dem für eine Marktwirtschaft fundamentalen Haf-
tungsprinzip wieder Geltung, indem zuerst diejenigen für VerlusteTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
59
Anders wirtschaftenhaften, die in guten Zeiten auch die Gewinne erhalten haben. Die
Schweiz und Großbritannien haben hier bereits Zeichen gesetzt,
während sich die schwarz-gelbe Bundesregierung vor den Karren
der deutschen Banken hat spannen lassen. Banken dürfen sich nicht
mehr über unrealistische Risikogewichtungen ihren Eigenkapitalbe-
darf kleinrechnen. Als ersten Schritt wollen wir bis spätestens 2017
3 % Eigenkapital im Verhältnis zur risikoungewichteten Bilanzsum-
me als Schuldenobergrenze festsetzen. Langfristig ist eine deutlich
höhere Quote notwendig. Der wissenschaftliche Beirat des Wirt-
schaftsministeriums etwa spricht sich für eine Quote von 10 % aus.
In der akademischen Diskussion sind auch noch höhere Quoten im
Gespräch. Wir werden genau prüfen, was hier notwendig und mög-
lich und in welchem Zeitraum machbar ist. Diese Schuldenbremse
wird das Finanzsystem deutlich stabilisieren. Die von uns geforder-
te Schuldenbremse für Banken setzt hier an und stellt den Finanz-
sektor wieder auf die Füße.
Die Größenbremse für Banken geht in eine ähnliche Richtung: Je
größer ein Institut, desto höher sind die Eigenkapitalanforderungen
und die Aufsichtsintensität. So erhalten Banken ab einer bestimm-
ten Größe einen starken wirtschaftlichen Anreiz, zu schrumpfen
und Geschäftsteile abzustoßen. Auch darüber hinaus werden wir in
Deutschland wie in Europa Mechanismen entwickeln, um Großban-
ken hin zu kleineren Geldinstituten zu führen. Wir wollen, dass sich
Banken stärker langfristig finanzieren, damit sich eine Bankenpanik
wie 2008 nicht wiederholen kann. Wir werden deshalb prüfen, ob
eine Bankenabgabe für einen europäischen Bankenrestrukturie-
rungsfonds so gestaltet werden kann, dass Banken den Anreiz ha-
ben, sich langfristiger zu finanzieren. Mit dieser Abgabe schaffen
wir Mittel für einen europäischen Bankenrestrukturierungsfonds,
damit im Fall einer erneuten Bankenkrise nicht mehr die Steuer-
zahlerInnen zur Kasse gebeten werden. Damit Risiken nicht länger
aus dem regulierten Bereich ausgelagert werden können, muss der
Schattenbankensektor analog zum regulären Bankensektor regu-
liert werden. Alle Gesellschaften, die im weiteren Sinne Bankge-
schäfte betreiben, insbesondere also langfristige Kredite vergeben
und sich selbst dafür kurzfristig verschulden, müssen den gleichen
Regularien unterliegen wie Kreditinstitute.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
60
Anders wirtschaftenGläubigerInnen müssen stärker in die Haftung genommen wer-
den. Deswegen sollen Bankanleihen teilweise in haftendes Kapital
umgewandelt werden können, wenn ein Kreditinstitut in Schieflage
gerät. Dies sollte in der Regel automatisch geschehen. Eine zuständi-
ge Behörde soll dabei über die Höhe der notwendigen Umwandlung
entscheiden. Einlagen innerhalb der gesetzlichen Einlagensicherung
dürfen in keinem Fall beteiligt werden. Sichtguthaben oberhalb der
gesetzlich gesicherten Grenze dürfen nur nach Aufrechnung mög-
licher Verbindlichkeiten einbezogen werden. Ein gesetzliches Einla-
gensicherungsversprechen ist gerecht, schützt die SparerInnen und
stabilisiert Banken, indem es Bank Runs verhindert.
Die Macht der Ratingagenturen hat in den letzten Jahren über-
handgenommen. Wir sehen, wie die Agenturen über das Schicksal
von ganzen Staaten mitentscheiden. Ratingagenturen haften nicht
für Fehleinstufungen und sind nicht an politische und wirtschaft-
liche Maßstäbe gebunden. Daher müssen die Haftungsgrundla-
gen ausgeweitet und der Einfluss der Ratingagenturen bei der Fi-
nanzmarktregulierung eingedämmt werden. Die Transparenz der
Agenturen werden wir erhöhen und Interessenkonflikte beenden.
Insbesondere dürfen SchuldnerInnen nicht länger für ihre eigenen
Ratings zahlen. Deshalb werden wir uns auf europäischer Ebene
dafür einsetzen, eine von den Banken unabhängige Ratingagentur
zu gründen.
Wir fordern ein Trennbankensystem, weil es Märkte stabiler
macht. Geschäftsbereiche, in denen die Kreditinstitute Handelsge-
schäfte auf eigene Rechnung tätigen, gehören daher strikt getrennt
vom realwirtschaftlichen Finanzierungs- und Einlagengeschäft.
Eine wirksame Haftung ist konstitutiv für die Marktwirtschaft.
Für das Management von Fonds, Banken und Versicherungen heißt
das: Der Kapitän geht mit dem Schiff unter. Er ist haftbar für eige-
ne Fehler und die seiner Untergebenen, Haftpflichtversicherungen
für ManagerInnen dürfen das Risiko deswegen nicht vollständig
übernehmen. Gleiches gilt für KapitalgeberInnen, also die Eigen-
tümerInnen und GläubigerInnen von Banken. Sie müssen um ihren
Einsatz fürchten, denn nur dann werden sie das Management ef-
fektiv kontrollieren. Wenn ihr Einsatz staatlich garantiert ist, wird
das Management immer riskanter wirtschaften, da Profite an die
KapitalgeberInnen fließen, während Verluste sozialisiert werden.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
61
Anders wirtschaftenErst wenn sie um ihren Einsatz fürchten müssen, entsteht ein Anreiz
für EigentümerInnen, das Management effektiv zu kontrollieren.
Die Vergütung von ManagerInnen und HändlerInnen im Finanz-
sektor wollen wir so ausgestalten, dass sie sich am langfristigen
Unternehmenserfolg statt an kurzfristigen Profiten ausrichtet. Wir
brauchen aber auch eine schlagkräftige Fusions- und Wettbewerbs-
kontrolle auf dem Finanzmarkt, die sich dem Leitbild der vollstän-
digen Konkurrenz in allen Teilfinanzmärkten verpflichtet fühlt und
gegen Marktmacht und Marktkonzentration vorgeht. Wir wollen
das Kräfteverhältnis zwischen Regulierern und Regulierten zuguns-
ten der Finanzaufsicht deutlich verbessern: materiell, rechtlich,
personell, organisatorisch und informationell.
Viele Finanzgeschäfte finden nicht an regulierten Handelsplät-
zen statt, sondern direkt zwischen den Akteuren. Der Nachteil: Die
Aufsicht hat keine Chance einzugreifen. Deswegen müssen diese
Schattenmärkte ans Licht. Europäische und langfristig internatio-
nale Regeln sollen dafür sorgen. Auch der Hochfrequenzhandel mit
superschnellen Computern braucht ein Tempolimit, so dass jede
Order mindestens 1 Sekunde aufrechterhalten werden muss. Das
trägt dazu bei, die Finanzmärkte stabiler und damit sicherer zu ma-
chen. Gleichzeitig wirkt hier die Finanztransaktionssteuer regulie-
rend. Das Platzen kreditfinanzierter Vermögensblasen hat enorme
ökonomische, soziale und auch ökologische Folgewirkungen. Um
das Entstehen solcher Blasen zu verhindern, muss das Instrumen-
tarium der Europäischen Zentralbank und Finanzmarktaufsicht wei-
terentwickelt werden. Dazu und angesichts ihres massiven Bedeu-
tungszuwachses braucht es – unter Wahrung der Unabhängigkeit
der Zentralbank – auch eine offene Debatte über ihre Rolle und ihr
Instrumentarium.
Wir wollen mehr privates Kapital in nachhaltige und klima-
freundliche Anlagen lenken. Dabei kommt den öffentlich-rechtli-
chen Kreditinstituten eine besondere Bedeutung zu. Geldanlage ist
auch eine ethische Frage – Investitionen etwa in Streumunitions-
hersteller wollen wir deshalb verbieten. Außerdem gilt: Mit Essen
spielt man nicht! Fonds, Großbanken und anderen institutionellen
Investoren gehört die Spekulation an diesen Märkten deshalb un-
tersagt. Ebenso müssen alle Händler strengen Berichtspflichten un-
terworfen sowie unverwässerte Positions-, Preis- und TempolimitsZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
62
Anders wirtschafteneingeführt werden. Auch das sogenannte Land-Grabbing (Land-
nahme) gehört geächtet. Wir setzen uns vehement dafür ein, dass
Deutschland durch nationale Gesetze und internationale Vereinba-
rungen dazu beiträgt, dass Investoren und staatliche Institutionen
die freiwilligen Leitlinien der Ernährungs- und Landwirtschaftsorga-
nisation der Vereinten Nationen zu Landrechten, Fischgründen und
Wäldern einhalten. Zudem muss die Vergabe von Entwicklungskre-
diten an die Einhaltung der Leitlinien geknüpft werden.
Die Überwachung der Solidität der Finanzinstitute steht oft in ei-
nem Interessenkonflikt zum Verbraucherschutz. Wir fordern daher
einen Ausbau des Verbraucherschutzes für Finanzprodukte. Finanz-
beratung durch provisionsbasierte Finanzprodukte erfolgt heute
oftmals nicht im Interesse der KundInnen, sondern im Interesse
von FinanzvermittlerInnen nach hohen Provisionen. Provisions-
getriebene Falschberatung wollen wir verhindern. Wir fordern eine
verbraucherschutzorientierte Regulierung der Provisionen, so dass
Beratung grundsätzlich unabhängig von der Provisionshöhe er-
folgt. Dazu ist auch ein völliges Provisionsverbot in der Diskussi-
on, welches in anderen europäischen Ländern bereits besteht. Als
echte Alternative wollen wir die Honorarberatung, z. B. durch die
Schaffung eines einheitlichen Berufsbildes, stärken. Des Weiteren
müssen private EndverbraucherInnen besser über die Risiken von
Finanzprodukten informiert werden.
Gleichzeitig wollen wir uns für mehr Finanzkompetenz aller ein-
setzen. Nur wenn wir die Strukturen und Instrumente der Finanz-
märkte verstehen, können wir die Nachfrage nach nachhaltigen
Anlageformen weiter verstärken und die Transparenz der Märkte
erhöhen.
Die Stabilisierung der Finanzmärkte hat gewaltige Kosten ver-
ursacht, an denen sich der Sektor bisher kaum beteiligt hat. Eine
Finanztransaktionssteuer, die alle Finanzmarktgeschäfte mit ein-
bezieht, kann einen Teil der Kosten begleichen. Dabei stehen wir
GRÜNE weiterhin zu unserer Forderung, einen großen Teil der Ein-
nahmen in die Bekämpfung der weltweiten Armut und den globa-
len Klimaschutz fließen zu lassen sowie die Finanztransaktionssteu-
er ins Gemeinschaftsrecht und in den EU-Haushalt zu überführen.
Der Beschluss in zunächst elf europäischen Ländern, eine Finanz-
transaktionssteuer einführen zu wollen, ist ein Erfolg der globali-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
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63
Anders wirtschaftensierungskritischen Bewegung und grüner Politik. Bei der weiteren
Ausgestaltung dieser Steuer wollen wir darauf hinwirken, dass alle
Finanztransaktionen, auch die außerbörslichen, möglichst euro-
paweit besteuert werden. Die Höhe der Finanztransaktionssteuer
wollen wir nach Produktart und Risiko differenzieren. Dazu gehört
auch, dass die Regierung endlich für Transparenz bei den Banken-
rettungen sorgt und veröffentlicht, wie viel die Rettung der Banken
die SteuerzahlerInnen bisher gekostet hat.
Nur ein stabiler Finanzsektor kann die Unternehmen und Ver-
braucherInnen mit Krediten versorgen. Das deutsche Drei-Säulen-
System aus Sparkassen, Genossenschafts- und Privatbanken hat
sich hier bewährt. Kleinstbanken sollen deshalb von bürokratischen
Anforderungen entlastet werden. So kann auch endlich genügend
Personal für die Bankenaufsicht eingesetzt werden.
Seit der Finanzkrise wächst der Sektor der nachhaltigen Banken
rasant. Sie zeigen, dass ein anderer Finanzsektor möglich ist. Diese
Banken setzen sich selbst strenge Regeln für ein nachhaltiges Ver-
halten und lassen in der Regel ihre KundInnen über ihre Aktivitäten
entscheiden. Die meisten sind genossenschaftlich organisiert und
handeln nicht primär gewinnorientiert. Grüne Politik unterstützt
nachhaltige Banken regulatorisch.
4. Kleine und mittlere Unternehmen stärken
Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Die
vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen erforschen
und entwickeln innovative und kreative Lösungen. Wir rücken sie
deshalb in den Fokus unserer Wirtschaftspolitik und unterstützen
eine Gesellschaft, in der Selbständigkeit eine realistische Option
ist. Wir werden daran arbeiten, dass Mittelstand und familienge-
führte Unternehmen in Deutschland auch weiterhin gute Stand-
ortbedingungen vorfinden. Dazu haben wir die Bedürfnisse dieser
Unternehmen nicht nur bei der Wirtschafts-, sondern auch bei der
Infrastruktur-, Bildungs- und Steuerpolitik im Blick. Hierzu gehört
auch, die unfairen Wettbewerbsvorteile internationaler Konzerne
durch Steuergestaltungsmodelle zu beenden. Handwerk hat golde-
nen Boden – Handwerk hat grünen Boden! Das Handwerk hat fürZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
64
Anders wirtschaftenden Klimaschutz und bei der Ressourceneinsparung eine zentrale
Rolle. Damit Häuser eine bessere Wärmedämmung bekommen, da-
mit mehr repariert als weggeworfen wird, damit mehr Solarmodule
auf die Dächer kommen – für all das werden hunderttausende gut
qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker gebraucht. Dazu
braucht das Handwerk gute Ausbildungsbedingungen und Fortbil-
dungsmöglichkeiten.
Faire und vergleichbare Bedingungen sind die Voraussetzung,
damit kleine und mittlere Unternehmen im Wettbewerb beste-
hen können. Wir wollen deshalb die Möglichkeit schaffen, einzel-
ne Anbieter bei übergroßer Marktmacht zur Aufgabe von Unter-
nehmens- und Marktanteilen zu zwingen. Das Wettbewerbsrecht
braucht neue Instrumente, die verhindern, dass Unternehmen sich
Wettbewerbsvorteile verschaffen, indem sie ökologische und so-
ziale Kosten auf Umwelt und Gesellschaft verlagern. Durch Wett-
bewerbsverstöße werden VerbraucherInnen geschädigt, deshalb
müssen deren Rechte im Kartellrecht gestärkt werden.
Wir wollen durch Novellierung des GWB das Bundeskartellamt
bei der Regulierung von oligopolistischen und monopolistischen
Märkten stärken und prüfen, wie durch Änderungen im Gesetz
gegen den unlauteren Wettbewerb einem Abwälzen privater Kos-
ten auf die Gemeinschaft und der Nichtbilanzierung der von einem
Wirtschaftssubjekt verursachten Umweltschäden (Externalisie-
rung) entgegengewirkt werden kann.
Wir fördern das gesellschaftliche Innovationsklima auch durch
Entbürokratisierung und Beratung durch Lotsendienste. Klar ist für
uns auch, dass die Kammern als Interessenvertretung der ganzen
Wirtschaft durchsichtiger, interkultureller und demokratischer wer-
den müssen. Zudem erwarten wir, dass sie sich künftig verstärkt
darum bemühen, mehr kleinere und mittlere Unternehmen, Unter-
nehmer mit Migrationshintergrund und Frauen für ihre Gremien ge-
winnen. Sonst ist die Pflichtmitgliedschaft nicht länger vertretbar. Die
Doppelmitgliedschaft in Kammern wollen wir ersatzlos streichen.
Die Bedingungen für Existenzgründungen verbessern wir, in-
dem wir Gründungshemmnisse abbauen. Neue Unternehmungen
sind für uns kein bürokratischer Akt, sondern kreativer Aufbruch,
der Innovationen und Arbeitsplätze ermöglicht und persönliche
Freiheit verwirklicht. Dafür fordern wir bei Gründungen aber auchTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
65
Anders wirtschafteneine bedarfsgerechtere finanzielle Ausstattung und zielgerichtete
Angebote für die Unternehmensgründungen von Frauen, auch und
besonders für Wiedereinsteigerinnen. Die Förderung in die Selb-
ständigkeit muss auch für alle gründungswilligen Arbeitssuchenden
gewährleistet sein. Und wir brauchen bessere Beratungsangebote.
Gerade die jeweiligen Potentiale von Menschen mit Migrationsge-
schichte sowie die Potentiale von Menschen mit Behinderungen
müssen individuell gefördert werden.
Unser Konzept der Vermögensabgabe haben wir so gestaltet,
dass Selbständigen und Unternehmern, die nicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung sind, ein armutsfestes und auskömmliches Al-
terseinkommen aus eigenem Vermögen ermöglicht wird. Außer-
dem wollen wir Selbständige, die keine ausreichende anderweitige
Vorsorge haben, in die gesetzliche Rentenversicherung so einbezie-
hen, dass es sie finanziell nicht überfordert und sich ihnen so auch
ein Weg in die Garantierente eröffnet.
Kleine und mittlere Unternehmen wollen wir steuerlich för-
dern. Wir schaffen die Möglichkeit zur Poolabschreibung bei den
geringwertigen Wirtschaftsgütern ab und erhöhen die Grenze zur
Sofortabsetzbarkeit, um so die Liquidität zu verbessern. Die steu-
erliche Förderung einbehaltener Gewinne (Thesaurierung) soll so
ausgestaltet werden, dass auch kleinen Unternehmen diese Form
der Stärkung ihres Eigenkapitals und ihrer Investitionsfähigkeit
offensteht. Eine 15%ige Steuergutschrift für Forschungsausgaben
für Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten soll die innovativen
Kräfte kleiner und mittelgroßer Unternehmen unbürokratisch stär-
ken, wofür wir allein im Bundeshaushalt 200 Mio. Euro einplanen.
Die Projektförderung ist für kleine Unternehmen administrativ zu
aufwendig und wird deshalb entsprechend kaum genutzt. Durch
eine Steuergutschrift für diese Unternehmen kann eine Benachteili-
gung gegenüber großen Konzernen abgebaut werden.
Im Osten Deutschlands hat sich seit dem Fall der Mauer eine an-
dere, deutlich kleinteiligere Unternehmensstruktur herausgebildet
als im Westen Deutschlands. Das hat auch erhebliche Konsequen-
zen für die Forschungslandschaft im Osten Deutschlands, die viel
stärker eine staatlich geförderte sein muss, weil die durchschnittli-
chen Betriebsgrößen im Osten eine eigene Forschung nicht zulas-
sen. Da ist auch der Bund gefordert, denn der Osten braucht eineZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
66
Anders wirtschaftenInnovations- und Forschungsoffensive sowie Unterstützung beim
Technologietransfer und der Clusterbildung.
Wir verbessern den Zugang zu Wagniskapital und die breitere
Versorgung mit Mikrokrediten. Für eine kreative Geschäftsidee, die
vielleicht erst auf den zweiten Blick überzeugt, soll das ebenso mög-
lich sein wie für jemanden, der schon mal mit einem Unternehmen
gescheitert ist und jetzt eine zweite Chance sucht. Wir wollen eine
Überarbeitung der Sanierungsklausel prüfen, die EU-rechtskonform
ist und neben dem Erhalt von Arbeitsplätzen auch das Weiterführen
von innovativen Unternehmen ermöglicht. Die Sanierungsklausel
muss dabei so gestaltet werden, dass Missbrauch verhindert und
gleichermaßen eine Fortführung von Unternehmen mit positiver
Fortführungsprognose ermöglicht wird. GründerInnenzentren kön-
nen mittels ihrer Marketing- und Finanzkompetenz jungen Unter-
nehmen und ExistenzgründerInnen zum Erfolg am Markt verhelfen
bzw. notfalls auch rechtzeitig die Reißleine vor Überschuldung zie-
hen, wenn keine Aussicht auf einen Markterfolg besteht.
Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist ein bedeutender Wirt-
schaftsfaktor, der Arbeitsplätze schafft und zur Wertschöpfung
beiträgt. Doch die Rahmenbedingungen für die in der Regel sehr
kleinen Unternehmen müssen durch die soziale Absicherung und
einen leichteren Zugang zu Darlehen oder Mikrokrediten verbessert
werden.
Das Patentrecht entwickeln wir weiter, denn es soll die Kultur
der Selbständigkeit befördern und nicht hemmen. Der Patentschutz
soll sich auf neue Produkte und Ideen beschränken und nicht als
Mittel gegen NeugründerInnen eingesetzt werden können. Das
müssen wir innerhalb der EU regeln: Wir setzen uns für eine Reform
des europäischen Patentwesens und die Kontrolle durch das Euro-
päische Parlament ein. Patente auf Lebewesen sind zu verbieten.
5. Es gibt viel zu tun – von Menschen für Menschen
Hochwertige soziale Dienstleistungen in Gesundheit, Pflege und
Bildung sind entscheidend für die Qualität unseres gesellschaftli-
chen Zusammenlebens. Sie sind darüber hinaus selbst ein bedeu-
tender und sich dynamisch entwickelnder Wirtschaftszweig. BisTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Anders wirtschaften2020 werden allein im Gesundheitssystem über sechs Millionen
Menschen beschäftigt sein.
Doch weder die Ausrichtung der bisherigen Wirtschaftspolitik
noch die bescheidenen Gehälter und belastenden Arbeitsbedin-
gungen werden dieser Bedeutung gerecht. Während in anderen
Branchen hohe Boni ausgeschüttet werden, bleiben Gehälter und
Arbeitsumfeld in den sozialen Dienstleistungen hinter ihrem gesell-
schaftlichen Wert zurück. Eine Kultur der Anerkennung fehlt in die-
sem Bereich völlig. PflegerInnen, Hebammen, Krankenschwestern
oder KindergärtnerInnen schaffen die Grundvoraussetzungen für
erfolgreiches Wirtschaften.
Grüne Politik für die sozialen Dienstleistungen sichert nachhaltig
deren Finanzierung, fördert Forschung und Innovationen, steigert
die Attraktivität von Gesundheits-, Pflege- und Bildungsberufen
und bekämpft Lohndumping. Wir schaffen neue, gute Arbeit durch
ein verbindliches und qualitätsvolles Angebot der frühkindlichen
Betreuung an alle Eltern, den Ausbau der Ganztagsschulen und
mehr Personal an Hochschulen sowie den Ausbau der Prävention
zur dritten Säule des Gesundheitswesens. Wir erweitern den Inno-
vationsbegriff um soziale Innovationen und werden Dienstleistun-
gen als Forschungsfeld stärker gewichten.
Soziale Dienstleistungen werden oft von gemeinnützigen Trä-
gern, von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden erbracht. Zentral da-
bei ist, dass bei der Auftragsvergabe nicht nur die Kosten, sondern
auch die Qualität der Dienstleistung sichergestellt ist. Die Vergabe
von sozialen Dienstleistungen kann nicht nach denselben Kriteri-
en erfolgen wie die Beschaffung von Computern, Briefumschlägen
oder Bleistiften. Wie wir das Arbeitsrecht in solchen Dienstleistun-
gen ändern wollen, haben wir im Kapitel „Teilhabe an guter Arbeit“
beschrieben.
6. Solidarische Ökonomie fördern
Solidarische Ökonomie bedeutet für uns, unser Handeln an den
Leitlinien sozialer, ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit
auszurichten. Wir fördern die verschiedenen Ansätze solidarischer
Ökonomie, weil darin die Freiheit selbstbestimmten Handelns undZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Anders wirtschaftenDemokratie mit sozialer Gerechtigkeit verbunden wird. Hierbei
knüpfen wir an erfolgreiche Beispiele wie BürgerInnenenergie-
Genossenschaften oder lokale KonsumentInnen- und ErzeugerIn-
nen-Gemeinschaften an. Die Direktvermarktung von Ökostrom
aus Genossenschaften und BürgerInnengemeinschaftsanlagen
soll gestärkt werden, um Anreize zur dezentralen Stromerzeu-
gung zu schaffen.
Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Genossenschaftsbewegung.
Wir wollen Gründungen in diesem Bereich erleichtern, genossen-
schaftliche Dienstleistungen einem breiteren Kreis zugänglich ma-
chen und ihre Weiterentwicklung fördern. Dazu entbürokratisieren
wir die genossenschaftliche Rechtsform, z. B. durch eine Entlastung
bei den Prüfungspflichten. Gleichzeitig beenden wir die Benachtei-
ligung von Gemeinschaftsunternehmen besonders bei Gründungs-
und Förderprogrammen und erleichtern den Zugang zu Finan-
zierungsdienstleistungen.
Darüber hinaus wollen wir ressourcenschonende Geschäfts- und
Dienstleistungsmodelle mit gemeinschaftlicher Nutzung fördern,
bei denen der Gebrauch statt des Besitzes im Vordergrund steht.
Dazu gehören Carsharing-Modelle ebenso wie generationen-
übergreifende Wohngemeinschaften, die eine Lösung für knapper
werdenden Wohnraum in Großstädten bieten. Für Anbieter und
VerbraucherInnen von Tausch-, Teil- und Verleihdienstleistungen
sowie für die Open-Source- und Freie-Software-Bewegung wollen
wir deshalb Rechtssicherheit schaffen. Ebenso unterstützen wir so-
lidarische Handelsnetze sowie Regionalgeldinitiativen, um regiona-
le Wertschöpfung zu fördern.
Die Übernahme eines vor oder in der Insolvenz stehenden Un-
ternehmens durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kann ein
geeignetes Instrument sein, um Arbeitsplätze auf der Basis nachhal-
tigen Wirtschaftens zu sichern. Dies wollen wir unterstützen, etwa
durch ein Vorkaufsrecht bei Betriebsübergang. Um den Mitarbei-
terInnen die Ausübung des Vorkaufsrechts zu ermöglichen, bedarf
es geeigneter Finanzierungsinstrumente. Mit der Förderung der
solidarischen Ökonomie erschließen wir neue Möglichkeiten der
ökonomischen Teilhabe und Mitbestimmung.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
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Anders wirtschaften7. Nachhaltiges Wirtschaften statt blinden Wachstums
Die einseitige Fixierung auf das Wachstum des Bruttoinlandspro-
duktes als Kriterium für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Erfolg ist nicht länger hinnehmbar. In dieser Kennzahl bilden sich
Wohlstand und Lebensqualität nur sehr schlecht ab, soziale Si-
cherheit, Gleichstellung von Frauen und Männern, gute Bildung
oder eine intakte Umwelt gar nicht. Hohe Unfallzahlen, Immobi-
lienblasen oder ein verschwenderischer Ressourcenverbrauch mit
einhergehender Umweltzerstörung erhöhen das Wachstum, sind
aber höchst schädlich für Wohlstand und Lebensqualität.
Wachstum der Wirtschaft, gemessen an der Steigerung des
Bruttoinlandsprodukts, ist deshalb weder Ziel unseres politischen
Handelns noch ein ausreichendes Mittel zur Erreichung unserer
politischen Ziele. In der Frage der Entkopplung von Wirtschafts-
wachstum und Umweltverbrauch liegt die Herausforderung in der
absoluten Reduktion des gegenwärtigen globalen Ressourcenver-
brauchs. Wir setzen uns für weitreichende Effizienzverbesserun-
gen ein und für politische, wirtschaftliche, soziale und kulturel-
le Rahmenbedingungen, innerhalb deren diese wirksam werden
können.
Die Wertschätzung eines Menschen durch die Gesellschaft
darf nicht vorrangig von seinem materiellen Besitz oder Eigen-
tum abhängen. Und wir setzen uns für eine Beschleunigung der
ökologisch-transformatorischen Prozesse von Wirtschaft und Ge-
sellschaft ein mit der Zielsetzung, Klima- und Ressourcenschutz
umfassend im gelebten Alltag zu verankern. Dazu braucht es
verbindliche soziale und ökologische Leitplanken für das Handeln
von Unternehmen und KonsumentInnen.
Wir brauchen neue Indikatoren, die neben den ökonomi-
schen Aspekten auch den ökologischen und sozialen Zustand
unseres Landes abbilden. Im Rahmen der von uns angestoßenen
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“ haben wir darum einen neuen Wohl-
standsindikator erarbeitet, den „grünen Wohlstandskompass“.
Er bemisst Wohlstand an der Lebensqualität aller Menschen und
dem Zustand unserer Umwelt, indem er u. a. den ökologischen
Fußabdruck als Maß für den Ressourcenverbrauch mit einbezieht.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
70
Anders wirtschaftenAuch Wirtschaftspolitik muss sich an den Zielen der Nachhal-
tigkeit ausrichten. Dazu wollen wir ein neues Wohlstands- und
Nachhaltigkeitsgesetz ausarbeiten, das an die Stelle des überhol-
ten „Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes“ tritt.
Die Frage nach der Bedeutung des Wirtschaftswachstums
stellt sich jedoch auch langfristig. Wenn das Wachstum ausbleibt,
drohen gesellschaftliche Verteilungskonflikte. Rezessionen lassen
die Arbeitslosigkeit ansteigen, üben Druck auf die Sozialsysteme
aus und führen zu einer höheren Staatsverschuldung. Wir müssen
uns vor diesem Hintergrund die Frage stellen, wie wir mit stetig
sinkenden Wachstumsraten umgehen, wie sie in der industriali-
sierten Welt seit Jahrzehnten erzielt werden. Wir streben daher
an, die Wachstumsabhängigkeit unserer Wirtschaft langfristig zu
reduzieren. Die Diskussion um die richtigen Mittel dazu wurde
von uns bereits in der Enquete angestoßen und sollte im parla-
mentarischen Raum, mit der Wissenschaft und den Kräften der
Zivilgesellschaft weitergeführt werden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich von jeher für eine Be-
schleunigung der ökologisch-transformatorischen Prozesse von
Wirtschaft und Gesellschaft ein mit der Zielsetzung, Klima- und
Ressourcenschutz umfassend im gelebten Alltag zu verankern.
Durch ein innovatives Ordnungsrecht, die Abschaffung klima-
und umweltschädlicher Subventionen, öffentliche Investitionen
sowie Marktanreiz- und Forschungsprogramme schafft grüne
Politik die Rahmenbedingungen für ein regeneratives Wirtschaf-
ten. Um Wirtschaftskreisläufe langfristig regenerativ und nach-
haltig auszurichten, ist darüber hinaus eine noch stärkere zentrale
Verankerung des Nachhaltigkeitsprinzips über Anpassungen im
Wettbewerbs- und Vermögensrecht notwendig und sollte auch
auf kulturelle und soziale Gemeingüter ausgedehnt werden, um
deren volle Vielfalt vor Ausbeutung und damit langfristiger Zer-
störung durch Wirtschaftsprozesse zu schützen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Anders wirtschaftenWer GRÜN wählt …
• bringt grünes Wirtschaften voran, in Industrie und Dienst-
leistungen, in der Bundesrepublik und in Europa – und
schafft so viele neue Arbeitsplätze.
• reguliert wirksam die Finanzmärkte, so dass sie wieder im
Dienst von Mensch und Unternehmen stehen.
• schafft faire Wettbewerbsbedingungen, fördert Innovation
und hat keine Scheu vor der Auseinandersetzung mit großen
Playern.
• arbeitet mit an einem demokratischen und solidarischen
Europa, in dem die Reformlasten nicht bei den Ärmsten
abgeladen werden.
• unterstützt eine Politik, die die Lebensqualität der Menschen
heute und morgen im Blick hat und auf solidarische Ökono-
mie setzt statt auf einen veralteten Wachstumsgedanken.
Schlüsselprojekte
Für eine Ressourceneffizienz-Allianz –
Top-Runner-Prinzip einführen
Ressourceneffizienz heißt: Wir wollen nicht weiter die Substanz unse-
rer Erde verbrauchen, statt von ihrem Ertrag zu leben. Ressourcenef-
fizienz ist eine ökologische Innovationsstrategie, die den Bedarf an
Rohstoffimporten senkt und durch Kostensenkung bei Material statt
bei Löhnen Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Deshalb wollen wir eine
Ressourceneffizienz-Allianz zustande bringen, an der sich Wirtschaft,
Forschung, NGOs, Politik und Verwaltung beteiligen. Sie soll dazu bei-
tragen, dass Unternehmen noch stärker auf Ressourcen- und Materi-
aleffizienz achten. Beim Top-Runner-Prinzip gibt das umweltverträg-Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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Anders wirtschaftenlichste und effizienteste Produkt den Standard vor, den alle anderen in
vorgegebener Zeit erreichen müssen. Das bisher zahnlose Programm
für Ressourceneffizienz (ProgRess) wollen wir weiterentwickeln und
um verbindliche und ambitionierte Recyclingquoten sowie Rücknah-
mepflichten für Hersteller ergänzen. Dies unterstützen wir unter ande-
rem durch eine faire und nachhaltige öffentliche Beschaffungspolitik.
Die Finanzmärkte neu ordnen –
eine Schuldenbremse für Banken
Die mangelhafte Regulierung der Finanzmärkte hat die Welt in eine
historische Finanz- und Wirtschaftskrise gestürzt. Seitdem ist kaum et-
was passiert. SteuerzahlerInnen sollen nicht wieder für das Fehlverhal-
ten der Finanzindustrie zahlen müssen. Dazu brauchen wir neben einer
Europäischen Bankenunion mit schlagkräftiger Aufsicht und bankenfi-
nanziertem Rettungsfonds vor allem eine verbindliche Schuldenbremse
für Banken. Banken müssen bis 2017 mindestens 3 % Eigenkapital
im Verhältnis zu ihrer Bilanzsumme vorhalten. Diese Schuldenbremse
wird die hochspekulativen Geschäfte der Vergangenheit faktisch un-
möglich machen und das Finanzsystem deutlich stabilisieren.
Wirtschaftswachstum ist nicht das Maß der Dinge –
neue Indikatoren für Wohlstand und Lebensqualität
Die Fixierung von Politik und Medien auf das Bruttoinlandsprodukt
(BIP) hat uns in die Irre geführt. Der Raubbau an Mensch und Natur
wurde uns als Wachstumserfolg verkauft. Aber über die wichtigsten
Dinge, die ein Land erfolgreich und das Leben lebenswert machen,
sagt das BIP nichts aus. Ist Wachstum mit Umweltzerstörung und
Ungerechtigkeit erkauft, macht uns das unter dem Strich sogar är-
mer. Deshalb brauchen wir einen neuen Gradmesser für Wohlstand
und Lebensqualität. Dafür etablieren wir einen neuen Wohlstands-
indikator. Der „grüne Wohlstandskompass“ umfasst auch die so-
zialen und ökologischen Aspekte. Entsprechend fordern wir für
Unternehmen ab einer bestimmten Größe neben der vorgeschrie-
benen finanziellen auch eine verpflichtende Nachhaltigkeitsbericht-
erstattung über soziale und ökologische Kennzahlen. So können wir
der wirtschaftlichen Entwicklung eine grüne Richtung geben.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Besser haushaltenD. Besser haushalten
Warum wir einen handlungsfähigen Staat
nicht auf Pump finanzieren dürfen
Es gibt viel zu tun. Aber der ökologische Umbau, der Bildungsauf-
bruch und der soziale Ausgleich können nur mit einem handlungsfä-
higen Staat gelingen. Dazu braucht der Staat eine solide und solida-
rische Finanzierung, denn eine Politik auf Pump können wir uns nicht
mehr leisten. Die Schuldenbremsen von Bund und Ländern sagen
nichts anderes, als dass Ausgaben und Einnahmen in einem stabilen
Gleichgewicht stehen müssen.
Die enorme Verschuldung aller öffentlichen Haushalte ist auch das
Ergebnis der unehrlichen Finanzpolitik der vergangenen Jahrzehn-
te, die die neoliberale Regierung unter Merkel auf die Spitze treibt:
Trotz steigender Steuereinnahmen sind die Schulden der Bundesre-
publik während Merkels Kanzlerschaft um 500 Mrd. Euro gestiegen.
Anstatt wichtige Reformen zu finanzieren, verplempert sie das Geld
der SteuerzahlerInnen und steckt es in ein unsinniges Betreuungs-
geld oder – schlimmer noch – versorgt damit durch eine Senkung des
Mehrwertsteuersatzes für die Hotelbranche („Mövenpick-Steuer“)
eine einzelne Interessengruppe. Die Verschuldung ist jedoch so hoch,
dass für die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen an Ausga-
benkürzungen, Subventionsabbau und Steuererhöhungen kein Weg
vorbeiführt. Wer etwas anderes versucht, handelt fahrlässig. Umge-
kehrt gilt aber auch: Nicht alles, was wünschenswert ist, ist ab sofort
finanzierbar. Deswegen setzen wir für eine Regierungsübernahme
klare Prioritäten bei den finanzwirksamen Projekten.
Wer wichtige Zukunftsprojekte finanzieren und öffentliche Haus-
halte solide aufstellen will, muss Prioritäten setzen. Grüne Haus-
haltspolitik steht deshalb für eine gründliche Aufgabenprüfung, die
unnötige Ausgaben vermeidet. Durch Reduzierung der Schwarzar-
beit, die Einführung eines Mindestlohns, die Abschaffung umwelt-
schädlicher Subventionen wie des Dienstwagenprivilegs oder der
Steuerbefreiung von Kerosin, den Verzicht auf Prestigebauprojekte,
den Verzicht auf teure und unsinnige Rüstungsprojekte sowieZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
74
Besser haushalteneine weitere Verkleinerung der Bundeswehr und eine Straffung im
Beschaffungswesen können wir Milliarden einsparen.
Grüne Haushaltspolitik schützt das Klima. Mit einem grünen
Klimaschutzhaushalt wollen wir klimaschädliche Subventionen ab-
bauen und so die ökologische Verschuldung verringern. Mit den
Mehreinnahmen wollen wir wichtige Energiewende- und Klima-
schutzprogramme solide finanzieren und zudem noch einen Beitrag
zur Haushaltskonsolidierung leisten.
Grüne Haushaltspolitik ist geschlechtergerecht. Wir wollen in
den Bundesministerien Gender-Budgeting einführen, damit öffent-
liche Gelder zielgenauer, gerechter und sparsamer eingesetzt wer-
den. Dazu wollen wir analysieren, von welchen Geldern Männer
und Frauen profitieren, um auf dieser Basis dann Steuerungsinstru-
mente für die Haushaltspolitik zu entwickeln.
Eine funktionierende öffentliche Infrastruktur, eine gut ausge-
bildete Bevölkerung und ein funktionierendes Gemeinwesen sind
Voraussetzungen für unternehmerischen Erfolg und den Aufbau
privaten Vermögens. Der private Reichtum in Deutschland ist in den
letzten 20 Jahren extrem stark angewachsen. Die Steuern auf hohe
Einkommen sowie Vermögen und Erbschaften sind in den letzten
zwei Jahrzehnten gesunken. Gleichzeitig ist die öffentliche Hand
auf allen Ebenen verschuldet und strukturell unterfinanziert. Es ist
an der Zeit, dass wir dieses Missverhältnis beenden. Wir können
bei der Finanzierung öffentlicher Güter nicht mehr auf grenzenlo-
ses Wachstum oder neue Schulden setzen. Wir müssen daher die
Einnahmen des Staates maßvoll erhöhen. Der Spielraum dafür ist
angesichts der privaten Reichtums- und Einkommensentwicklung
da, privater Wohlstand muss wieder stärker zur Finanzierung des
Gemeinwesens und damit zur Finanzierung seiner eigenen Voraus-
setzungen beitragen. Wer mit uns regieren will, muss deshalb mit
uns die Unterfinanzierung des Staates in Bund, Ländern und Kom-
munen durch höhere Steuern auf große Einkommen und Vermögen
beenden. Dabei wissen wir, dass ein pures Mehr von staatlichen
Ausgaben keine nachhaltige Lösung ist. Auch staatliche Ausga-
ben müssen effizient sein und entsprechend hinterfragt werden.
Wir werden alle staatlichen Ausgabenprogramme einer Effizienz-
prüfung unterziehen. Ziel ist es dabei, auf allen staatlichen Ebe-
nen Bürokratie abzubauen und Entscheidungswege zu straffen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
75
Besser haushaltenProgramme mit einem hohen Verwaltungsaufwand werden wir
grundsätzlich überprüfen.
Wir von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bieten als einzige Partei
ein Programm, in dem zusätzliche Ausgaben durch Kürzungen,
Einsparungen und Steuererhöhungen gegenfinanziert sind. Wir sa-
gen konkret: Manche zahlen zu wenig Steuern, ob auf Einkommen,
Vermögen oder Umweltverbrauch. Andere kassieren Subventionen,
die den Staat Milliarden kosten, wie die Pharma- und die Agrarin-
dustrie. Wir scheuen uns nicht, ungerechte und schädliche Subven-
tionen abzuschaffen und einzelnen Interessengruppen Reformen
und Einsparungen zuzumuten. Wer GRÜN wählt, bekommt keine
finanzpolitische Katze im Sack, sondern klare und ehrliche Politik.
Die Bürgerinnen und Bürger sind sich einig: Wir brauchen einen
handlungsfähigen Staat – und dafür brauchen wir solide Finanzen.
Aktive Politik vor Ort gelingt nur mit Kommunen, die nicht durch
Überschuldung und zu geringe Finanzkraft ihrer Handlungsfähig-
keit beraubt sind, der Bildungsaufbruch gelingt nur mit starken
Länderfinanzen und der soziale Ausgleich gelingt nur mit einem
handlungsfähigen Bundeshaushalt. Schaffen wir dafür endlich eine
politische Mehrheit. Wir halten deshalb Einnahmen und Ausgaben
im Gleichgewicht und sorgen für eine faire Finanzierung unseres
Gemeinwesens, an dem alle teilhaben und starke Schultern mehr
tragen als schwache.
Eine solide Finanzpolitik eröffnet demokratische Gestaltungs-
spielräume und macht so Einmischung erst möglich. Hohe Schulden
setzen die öffentliche Hand den Kreditgebern auf den Finanzmärk-
ten aus. Schuldenabbau ist deswegen ein wesentlicher Baustein, um
das Primat der Politik wieder gelten zu lassen.
Wir wollen solide Finanzen, um eine gute Zukunft zu schaffen:
Wer jetzt nicht in Bildung investiert, begeht ein schweres Versäum-
nis. Wer jetzt nicht die ökologische Transformation vorantreibt,
muss später mit viel Geld Umweltschäden beseitigen. Wer zulässt,
dass Menschen in Armut leben, der sorgt für Perspektivlosigkeit.
Wer heute nicht für solide öffentliche Finanzen sorgt, der verbaut
uns eine gute Zukunft.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
76
Besser haushalten1. Ökologisch, gerecht und wirtschaftlich vernünftig:
die grüne Steuerpolitik
Grüne Steuerpolitik ist ökologisch, weil sie dazu beiträgt, dass
Preise die ökologische Wahrheit sagen. Dafür wollen wir die öko-
logische Finanzreform vorantreiben. Der Anteil der Einnahmen aus
Umweltsteuern am Gesamtsteueraufkommen ist in den vergange-
nen Jahren jedoch inflationsbedingt gefallen und damit der Anreiz
zu ökologischem Verhalten. Diesen Trend wollen wir durch einen
schrittweisen Abbau umweltschädlicher Subventionen umkehren.
Dazu gehört eine Reform der Luftverkehrsteuer, der Kfz-Steuer
und der Besteuerung von Diesel und Heizstoffen ebenso wie eine
ökologische Besteuerung von Dienstwagen und das Streichen von
Ausnahmen bei der Ökosteuer. Wir wollen die ökologische Finanz-
reform auch auf nicht energetische Rohstoffe ausweiten, um die
umweltschädliche Verschwendung von Düngemitteln, Baustoffen
und Verpackungen zu reduzieren. Wir setzen uns für eine Anglei-
chung der Energie- und Umweltsteuern in Europa ein.
Grüne Steuerpolitik ist gerecht, weil stärkere Schultern mehr
tragen als schwache. Damit trägt sie zum sozialen Ausgleich bei.
Gerecht ist oft auch einfach: Wenn wir das Steuerrecht entrümpeln
und seine Qualität verbessern, reduziert das Gestaltungsmöglich-
keiten findiger Steuertrickser. Gleichzeitig ermöglichen wir so den
Finanzämtern geltendes Steuerrecht durchzusetzen – ein Beitrag
zur Steuergerechtigkeit. Ein besserer Steuervollzug und die Be-
kämpfung von Steuerhinterziehung ist ein zentraler Baustein grüner
Steuerpolitik. Deutschland gehen laut Schätzungen jedes Jahr Steu-
ereinnahmen in Höhe von 150 Mrd. Euro verloren, weil das kom-
plizierte Steuerrecht Schlupflöcher besonders für hohe Einkommen
eröffnet, weil große Unternehmen ihre Steuerlast international ver-
lagern können und weil die Steuerprüfung und Steuerfahndung der
Länder personell oft unzureichend ausgestattet ist oder Ausstände
nicht konsequent eingetrieben werden, wie beispielsweise die Ver-
tragsstrafe und der Schadensersatz von Toll Collect in Höhe von fast
5 Mrd. Euro. Es sind die ehrlichen BürgerInnen, die deshalb mehr
Steuern zahlen müssen oder weniger öffentliche Leistungen erhal-
ten. Und es sind die kleineren und national tätigen Unternehmen,
die so mehr belastet werden als ihre größeren Konkurrenten. UmTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
77
Besser haushaltendie Steuertricksereien multinationaler Unternehmen wirksam ver-
hindern zu können, brauchen wir mehr Transparenz. Wir fordern
daher länderbezogene Offenlegungspflichten. Parallel zum politi-
schen Einsatz für eine verbindliche EU-Regelung wollen wir diese
Offenlegungspflichten in einem ersten Schritt auch national umset-
zen. Wir setzen uns dafür ein, dass international agierende Unter-
nehmen ihre Gewinne in den Ländern versteuern müssen, in denen
sie erwirtschaftet werden. Steueroasen wollen wir effektiv be-
kämpfen: Hierzu werden wir uns u. a. für eine europäische schwarze
Liste und für Sanktionen gegen kooperationsunwillige Banken und
Länder einsetzen.
Eine wirkungsvolle Steuerprüfung und Steuerfahndung sind im
Sinne der Steuergerechtigkeit und ein Beitrag zu soliden öffentlichen
Finanzen, die die Interessen aller drei Ebenen berücksichtigt. Wir
setzen uns für personelle und organisatorische Verbesserungen der
Steuerverwaltung ein und wollen eine Bundessteuerverwaltung, die
das Nebeneinander der Ländersteuerverwaltungen ersetzt. Die im
Finanzverwaltungsgesetz enthaltenen Bundeskompetenzen sind zu
nutzen, um einheitliche Mindeststandards bei der Steuererhebung
und -prüfung festzulegen und durchzusetzen. Steuergestaltungs-
modelle sollen zum Schutz vor missbräuchlicher Steuergestaltung
meldepflichtig und offengelegt werden, um sie zu verhindern. Das
steuerliche Bankgeheimnis muss abgeschafft und durch eine grund-
sätzliche Kontrollmitteilungspflicht der Banken ersetzt werden, wie
sie heute bereits in den meisten OECD-Ländern besteht. Finanz-
transaktionen in und aus Niedrigsteuerländern werden in Frankreich
mit einer Strafsteuer belegt. Das wollen wir für alle EU-Staaten zur
allgemeinen Regel machen. Doppelbesteuerungsabkommen müs-
sen einen automatischen Informationsaustausch enthalten und so
ausgestaltet sein, dass sie aggressive Steuergestaltung und schädli-
chen Steuerwettbewerb zwischen Staaten verhindern. Daher wol-
len wir in den deutschen Doppelbesteuerungsabkommen von der
Freistellungs- zur Anrechnungsmethode übergehen.
Wir wollen eine gleichmäßige steuerliche Belastung von Unter-
nehmen erreichen, unabhängig von Größe, Branche oder interna-
tionaler Ausrichtung. Instrumente gegen Missbrauch und für den
Erhalt von nationalen Steueraufkommen wollen wir überprüfen,
weiterentwickeln und gegebenenfalls nachschärfen. Nach den letz-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
78
Besser haushaltenten Änderungen der schwarz-gelben Koalition bei der Funktions-
verlagerungsbesteuerung und der Zinsschranke muss sichergestellt
sein, dass die ursprüngliche Zielsetzung und Aufkommenswirkung
dieser Regelungen auch erreicht wird.
Grüne Steuerpolitik ist wirtschaftlich vernünftig. Wir erhöhen Steu-
ern, die wirtschaftliche Aktivitäten nur gering beeinflussen, und erzeu-
gen mit den damit finanzierten öffentlichen Investitionen neue wirt-
schaftliche Dynamik: Der Mittelständler vor Ort profitiert direkt von
einer leistungsfähigen öffentlichen Infrastruktur, etwa einem guten
Verkehrsnetz, einem Zugang zu Breitbandinternet und guten Schulen.
Eine höhere Erbschaftsteuer ist anreizneutral, weil erben nichts
mit Leistung zu tun hat. Vom Aufkommen profitieren allein die Län-
der, Mehreinnahmen können für dringend notwendige Investitionen
in bessere Bildungs- und Betreuungsangebote verwendet werden. So
unterstützen wir auch die Länder mit höheren Einnahmen bei ihren
Konsolidierungsanstrengungen. Wir streben an, das Aufkommen
aus der Erbschaftsteuer auf 8,6 Mrd. Euro zu verdoppeln. Dazu be-
enden wir das verfassungswidrige und unsoziale Wirrwarr der bis-
herigen Regelungen. Wir wollen die Bevorzugung von Erbschaften
und Schenkungen gegenüber anderen Einkünften einschränken, in-
dem wir die Freibeträge wieder auf ein vernünftiges Maß festsetzen
und so die Bemessungsgrundlage verbreitern. Kleine Erbschaften
wollen wir weiterhin nicht besteuern. Die von der großen Koaliti-
on eingeführte Befreiung von Betriebsvermögen ist ungerecht und
verfassungswidrig. Wir setzen stattdessen auf gesonderte Freibe-
träge und Stundungsregelungen, um Liquiditätsengpässe bei der
Betriebsübertragung zu vermeiden. Fälle, in denen Erbschaftsteuer
und Vermögensabgabe parallel anfangen würden, werden wir so be-
rücksichtigen, dass keine doppelten Belastungen und keine Substanz-
besteuerung auftreten können, z. B. durch eine zeitliche Streckung.
Statt kommunalen Investitionsstaus brauchen wir Geld für eine
gute Politik vor Ort. Neben ihren Anteilen an Einkommen- oder
Mehrwertsteuer sollen die Kommunen auf ihre eigenen Quellen
zählen können: Die Reform der Grundsteuer wollen wir zügig vo-
rantreiben. Dazu haben wir ein Modell diskutiert, nach dem die
Grundsteuer nach den aktuellen, pauschalierten Verkehrswerten
berechnet werden soll. Leitplanken sind für uns GRÜNE: eine ver-
fassungsfeste, gerechte Besteuerung ohne ökologische Fehlanreize.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Besser haushaltenDas Hebesatzrecht liegt bei den Kommunen. Die Gewerbesteuer
soll zu einer kommunalen Wirtschaftsteuer mit breiter Bemessungs-
grundlage ausgeweitet werden. Diese gilt auch für FreiberuflerInnen
und zieht Zinsen, Mieten und Lizenzgebühren stärker als bisher bei
der Berechnung heran. Da diese die Gewerbesteuer auf die Einkom-
mensteuer anrechnen können, würden sie im Regelfall nicht mehr
belastet, aber künftig als selbständige UnternehmerInnen ihren
Beitrag zur Finanzierung der kommunalen Infrastruktur leisten. An
der Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer hal-
ten wir fest. So wird das Steueraufkommen stabiler und zwischen
den Kommunen gleichmäßiger verteilt. In einer notwendigen Dis-
kussion um die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs müssen
die Fragen eigener Einnahmequellen für die Länder, die Neuord-
nung des Finanzausgleichs, Probleme der Konnexität und der Wei-
terleitung von Finanzmitteln zwischen den Ebenen, Altschuldenhilfe
auch für überschuldete Kommunen und einer kommunalen Min-
destausstattung gerade vor dem Hintergrund der Schuldenbremse
baldmöglichst in einer weiteren Föderalismuskommission zwischen
Bund, Ländern und Kommunen geklärt werden.
Die Verschuldung von Ländern und Kommunen hat eine Höhe er-
reicht, welche die Erfüllung der Daseinsvorsorge in Frage stellt und
notwendige Investitionen in Bildung und Klimaschutz verhindert.
Vielen Kommunen und Ländern fehlt das Geld, um die Zinslasten
zu schultern und mit der Tilgung zu beginnen und die harten Bedin-
gungen der Schuldenbremse einzuhalten. Und deswegen hat grüne
Finanzpolitik immer die Kassenlage aller staatlichen Ebenen im Blick.
Durch unsere Vorschläge zum Subventionsabbau und zur Steuerer-
höhung erhalten Länder und Gemeinden substantielle Mehreinnah-
men, die sie für ihre laufenden Ausgaben sowie den Schuldendienst
und -abbau dringend brauchen. Mit dem Auslaufen des Solidaritäts-
zuschlages wollen wir im Rahmen einer Föderalismuskommission III
eine neue gesetzliche Grundlage für die Erhebung eines Zuschlages
auf die Einkommensteuer erarbeiten. Ziel ist es, einen Altschuldentil-
gungsfonds aufzubauen, der Länder und Kommunen entlastet, da-
mit diese ihre strukturellen Defizite abbauen und die Schuldenbremse
einhalten können. Bis dahin ist es aber nicht einzusehen, dass Bund
und Länder unterschiedlich hohe Zinsen zahlen müssen – obwohl sie
in einer faktischen Haftungsgemeinschaft sind. Verfassungskonfor-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
80
Besser haushaltenme Deutschlandbonds können ein Instrument sein, um eine gemein-
same Schuldenaufnahme zu organisieren.
Die EU-Kommission stellt fest, dass den Mitgliedsstaaten jähr-
lich rund 1 Billion Euro an Steuereinnahmen verloren gehen. Das
macht klar: Europas Finanzprobleme liegen nicht einseitig auf der
Ausgabenseite. Gleichzeitig hat sich die Verteilung der Steuerlast
verschlechtert. Immer weniger Einnahmen kommen aus vermö-
gensbezogenen Steuern und Unternehmenssteuern. Der europäi-
sche Binnenmarkt ermöglicht grenzenloses Wirtschaften, während
die Steuerpolitik meist an den Grenzen Halt macht. Steuervermei-
dung und Steuerbetrug sind die Folge.
Dem stellen wir einen europäischen Steuerpakt entgegen,
damit auch diejenigen für die Einhaltung des europäischen Fis-
kalpakts sorgen, die sich bisher vor einer fairen Lastenverteilung
gedrückt haben: Eine europaweit koordinierte Vermögensabgabe
dient dem Schuldenabbau. Eine gemeinsame Körperschaftsteuer-
Bemessungsgrundlage verringert Steuertricksereien und schafft
Chancen für kleinere Unternehmen, für die dann nur ein Steuer-
recht gilt. Wir wollen auch, dass international tätige Konzerne ihre
Steuerzahlungen sowie ihre Gewinne, Umsätze und Beschäftigten
nach Ländern getrennt offenlegen müssen. Dann wird es für jeden
erkennbar, wenn ein Unternehmen in Europa wirtschaftet, seine
Gewinne aber in ein Niedrigsteuerland verschiebt und darauf keine
Steuern gezahlt werden. Eine Gewinnbesteuerung von mindestens
25 % vermeidet ruinösen Steuerwettbewerb. Die Steuerrichtlinien
der EU müssen so überarbeitet werden, dass Steuergestaltung mit
dem Ziel der Niedrig- oder Nichtbesteuerung verhindert wird. Wir
wollen auch erreichen, dass sich die EU auf Mindeststandards für
die Besteuerung im Verhältnis zu Drittstaaten einigt. Der Kampf ge-
gen Steueroasen in der EU ist eine Gerechtigkeitsfrage mit massiven
fiskalpolitischen Auswirkungen. Gleiches gilt für den automatischen
Informationsaustausch bei Kapitaleinkommen zur Bekämpfung von
Steuerhinterziehung. Wenn Banken wiederholt und schwerwiegend
gegen Steuergesetze verstoßen, soll ihnen EU-weit der Lizenzent-
zug drohen. Die Steuerpflicht wollen wir wie die USA an die Natio-
nalität koppeln und so Steuervermeidung per Wegzug verhindern.
Letztlich braucht auch die Ökosteuer ein europäisches Fundament,
um beispielsweise Tanktourismus einzudämmen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Besser haushaltenGerade die Steuerpolitik macht den Mehrwert der Europäischen
Union deutlich. Nationale Souveränität ist an dieser Stelle häufig
nur noch eine leere Hülle. Gemeinsam können wir mehr erreichen
als mit einem steuerpolitischen Nebeneinander.
2. Starke Schultern schaffen mehr als schwache:
die grüne Einkommensteuer
Die Höhe der Einkommensteuersätze kannte in den vergangenen
Jahren fast nur eine Richtung: nach unten. Am oberen Ende des Ta-
rifs war das weder finanzpolitisch vernünftig noch sozial gerecht: Die
Staatsverschuldung hat in der Folge ebenso wie die Einkommens-
und Vermögenskonzentration zugenommen. Um dem entgegen-
zuwirken, soll der Spitzensteuersatz auf 45 % bei 60.000 Euro zu
versteuerndem Einkommen linear verlängert werden, um dann bei
80.000 Euro bei 49 % zu liegen. Gleichzeitig wollen wir das steuer-
freie Existenzminimum für alle auf mindestens 8.700 Euro anheben.
Dadurch bleiben netto ca. 3 Mrd. Euro Mehreinnahmen für Bund,
Länder und Gemeinden. So zahlen alle mit einem Einkommen unter
60.000 Euro pro Jahr weniger, der Rest mehr. Die Steuererhöhung
für weniger als drei Millionen Vielverdienende finanziert so die
Steuersenkungen für viele Geringverdienende.
Es geht uns aber auch um eine Vereinfachung der Einkommen-
steuer. Die zahlreichen Ausnahmen und Subventionen sind nicht
immer gerechtfertigt. Dazu werden wir die Einführung einer nega-
tiven Einkommensteuer prüfen. Denn einfach ist oft auch gerecht,
weil sich nur die Reichen und die großen Unternehmen findige
Steuerberater leisten können.
3. Schulden abbauen: die grüne Vermögensabgabe
Eine hohe Vermögenskonzentration ist Sprengstoff für den sozialen
Zusammenhalt und fiskalpolitisch eine Zumutung. Während der Staat
auf atemberaubend hohen Schuldenbergen sitzt, wächst das priva-
te Vermögen scheinbar unaufhaltsam. Es ist gerecht, wenn sich das
Gemeinwesen einen Beitrag bei den sehr hohen Vermögen holt, umZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Besser haushaltendamit den Schuldenberg abzubauen. Nur so kommen wir von der gi-
gantischen Pyramide aus Schulden und Vermögen, die die Weltwirt-
schaft in den letzten Jahren ins Chaos gestürzt hat, herunter.
Die einmalige und zeitlich befristete Vermögensabgabe nach
Artikel 106 Grundgesetz soll über mehrere Jahre insgesamt rund
100 Mrd. Euro einbringen. Geld, das ausschließlich in den Abbau der
Bundesschulden fließt. Die sind durch Konjunkturpakete und Banken-
rettung massiv gestiegen, allein während der Kanzlerschaft Angela
Merkels um rund 500 Mrd. Euro. Die Bankenrettung hat nicht zuletzt
das Eigentum der Vermögenden gesichert. Es ist deswegen fair und
gerecht, von ihnen einen Beitrag zu verlangen. Die grüne Vermö-
gensabgabe wird weniger als 1 % der BürgerInnen mit jeweils einem
Nettovermögen von mehr als 1 Mio. Euro treffen. Für Betriebsvermö-
gen begrenzen wir die Abgabe auf maximal 35 % des Gewinns und
verhindern, dass Unternehmen in ihrer Substanz getroffen werden.
Unser Ziel bleibt mittelfristig die Wiederbelebung einer verfas-
sungskonformen Vermögensteuer, deren Aufkommen allein den
Ländern zusteht. Die Vermögensteuer soll nach Auslaufen der Ab-
gabe erhoben werden. Sie sollte an die Bemessungsgrundlage der
Vermögensabgabe anknüpfen, ebenso wie diese eine Substanzbe-
steuerung von Betriebsvermögen vermeiden und möglichst wenig
Verwaltungsaufwand verursachen. Dies werden wir auf allen Ebenen
vorantreiben und im Bundesrat und im Bundestag Mehrheiten für
eine verfassungskonforme Wiedereinführung der Vermögensteuer
suchen und nutzen.
4. Unfaire Steuerschlupflöcher stopfen:
grüner Subventionsabbau
Mehrwertsteuerermäßigungen wie beispielsweise für Hotels, Fast
Food, Schnittblumen oder Skilifte schaffen wir ab. Das ist ein Büro-
kratie-Abbauprogramm, das mehr als 3 Mrd. Euro zusätzliche Ein-
nahmen für alle staatlichen Ebenen bringt. Gleichzeitig treten wir
für eine europäische Reform der Mehrwertsteuer ein. Durch eine
stärkere Harmonisierung und eine Umkehr der Steuerschuldner-
schaft (Reverse Charge) bekämpfen wir Betrug und bauen Bürokra-
tie ab. Dies bringt Mehreinnahmen für die Haushalte aller EU-Mit-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Besser haushaltengliedsstaaten, denen laut EU-Kommission jährlich ein dreistelliger
Milliardenbetrag durch Mehrwertsteuerbetrug entgeht. Das Ab-
schmelzen ökologisch schädlicher Subventionen – beispielsweise
der Dienstwagenbesteuerung, der Flugverkehrsprivilegien oder der
Ausnahmen bei der Ökosteuer – bringt 7,5 Mrd. Euro.
Die Abgeltungsteuer bevorzugt Kapital- gegenüber Arbeitsein-
kommen und ist damit eine Privilegierung der Rentiers auf Kosten
der Allgemeinheit. Diese Subvention von Finanzinvestitionen ge-
genüber realen Investitionen und von Fremdkapital gegenüber Ei-
genkapital gehört abgeschafft und Kapitaleinkommen wieder pro-
gressiv besteuert. Die Abzugsfähigkeit von Gehältern und Boni als
Betriebsausgaben wollen wir auf 500.000 Euro beschränken, damit
hohe Einkommen nicht weiter subventioniert werden.
Mit der Vereinheitlichung der Abzugs- und Begünstigungsrege-
lungen in der Einkommensteuer und den Sozialversicherungen leisten
wir einen Beitrag zum Bürokratieabbau. Wir wollen prüfen, inwieweit
bestehende Steuerabzüge durch Steuergutschriften ersetzt werden
können, damit die Steuerersparnis sich an den tatsächlichen Kosten
und nicht an der Steuerprogression bemisst. Wir GRÜNE wollen auf
Bund-Länder-Ebene einen Prozess initiieren, der die vom Grundge-
setz geforderten Grundsätze der Ablösung der altrechtlichen Staats-
leistungen aufstellt. Darüber werden wir mit den betroffenen Religi-
onsgemeinschaften verhandeln.
Es gibt eine Schieflage bei den familienpolitischen Leistungen.
Fehlende Investitionen in Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur hat
die Durchlässigkeit der Gesellschaft gemindert und die Benachteili-
gung von Frauen verschärft. Wir wollen diese Schieflage beseitigen
– statt der Ehe wollen wir Kinder fördern. Das Ehegattensplitting wol-
len wir deshalb durch eine Individualbesteuerung mit übertragbarem
Existenzminimum ersetzen. Das steigert Erwerbsanreize für Frauen
und ist damit ein wichtiger Beitrag zur eigenständigen Existenzsiche-
rung und senkt damit das Armutsrisiko von Frauen und Familien. Wir
wollen bestehende und neue Ehen dabei gleichbehandeln. Dies kann
vor allem durch eine Deckelung des Splittingvorteils erreicht werden,
der die Belastung aus der Reform des Ehegattensplittings am Anfang
auf Haushalte mit einem Einkommen von zusammen mindestens
60.000 Euro begrenzen würde. Wir halten es derzeit für realistisch,
diesen Splittingdeckel schrittweise innerhalb von zehn Jahren abzu-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Besser haushaltenbauen. Wir werden dabei prüfen, wie sich durch unsere Reformen die
Lebensqualität von Familien und insbesondere die Erwerbssituation
von Frauen verändert. Einnahmen, die dem Staat durch das Ehegat-
tensplitting bisher entgehen, wollen wir zur Finanzierung von guten
Kitas, Ganztagsschulen und für eine Kindergrundsicherung nutzen.
Die Kindergrundsicherung kann dazu beitragen, eine übermäßige Be-
lastung kinderreicher Familien durch das Abschmelzen des Splittings
zu vermeiden. Frauen, die aufgrund der bestehenden Regelungen aus
dem Beruf ausgestiegen sind, wollen wir mit einem umfassenden Ak-
tionsprogramm den Wiedereinstieg ins Berufsleben erleichtern.
5. Eine andere Politik ist möglich:
die grünen Ausgabenprioritäten ab 2014
Grüne Haushaltspolitik hält Maß. Es ist klar: Die Schuldenbremse
gilt ebenso wie die europäischen Stabilitätskriterien. Wir GRÜNE
sind verlässlich. Das haben wir in Kommunen und Ländern oft ge-
zeigt. Wir versprechen finanzpolitisch nichts, was nicht zu halten
ist. Daher sagen wir, was wir sofort finanzieren können, was wir
zeitlich schieben müssen und wo Subventionen und andere Ausga-
ben reduziert werden können. Gute Politik besteht aus dem Mut,
Prioritäten zu setzen. Diesen Mut haben wir.
Wir wollen den grünen Wandel voranbringen – für einen ökolo-
gischen Aufbruch der Wirtschaft und für gute Arbeit. Wir streiten
für einen gesellschaftlichen und demokratischen Aufbruch. Wir be-
schreiben nicht nur das Ziel, sondern auch den Weg dorthin. Leit-
motive sind dabei: Teilhabe, sozialer Ausgleich, ökologischer Um-
bau, Chancengleichheit und globale Gerechtigkeit.
Unterm Strich stehen 2014 als Folge grüner Einnahmeverbes-
serungen, von Subventionsabbau und Einsparungen 12 Mrd. Euro
für haushaltswirksame grüne Projekte zur Verfügung. Der geltende
Finanzplan des Bundes bildet für diese Berechnung die Basis. Dem
Vorsichtsprinzip folgend schaffen wir einen Puffer für Zins- und
Konjunkturrisiken. Die konkreten Projekte vom Klimaschutz über
Arbeitsmarktpolitik bis zur Eingliederungshilfe in den Kommunen
finden sich in den entsprechenden Kapiteln des Wahlprogramms.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Besser haushaltenWer GRÜN wählt …
• bekommt eine ehrliche und solidarische Finanzpolitik,
damit öffentliche Leistungen endlich wieder ohne Schulden
finanziert werden.
• tut was für den Schuldenabbau. Die grüne Vermögens-
abgabe fließt zu 100 % in die Schuldentilgung.
• kann sich sicher sein, dass Bund, Länder und Gemeinden
von grüner Finanzpolitik profitieren. Nur so ist eine aktive
Politik vor Ort möglich.
• weiß, dass nicht alles gleichzeitig finanzierbar ist.
Unsere Prioritäten sind ausgewogen, durchgerechnet und
damit ein verlässliches Angebot an die Wählerinnen und
Wähler.
• kann sich sicher sein, dass wir niemanden finanziell
überfordern.
Schlüsselprojekte
Staatsverschuldung abbauen –
Vermögensabgabe einführen
Deutschland hat einen riesigen Schuldenberg angehäuft. Allein
zwischen 2007 und 2012 sind die Staatsschulden um 500 Mrd. auf
über 2 Billionen Euro gewachsen. Unsere Steuergelder werden zum
Schuldendienst gebraucht. Sie fehlen für den sozialen und ökolo-
gischen Umbau, der unsere Gesellschaft auf die Zukunft vorberei-
ten soll. Wir sind die einzige Partei, die einen konkreten und sozial
ausgewogenen Vorschlag zum Schuldenabbau macht. Wir führen
eine zeitlich befristete Vermögensabgabe ein, die das reichsteZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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Besser haushaltenProzent der deutschen Bevölkerung betrifft. Die Betriebsvermö-
gen schützen wir und eine Substanzbesteuerung wird vermieden.
Die Einnahmen dienen ausschließlich der Senkung des Altschul-
denstandes. So senken wir die Staatsverschuldung.
Niedrige Steuern für Geringverdiener und Mittelschicht –
gerechte Reform der Einkommensteuer
Das derzeitige Einkommensteuersystem ist ungerecht. Wir er-
höhen deshalb den Grundfreibetrag auf 8.700 Euro. Das kommt
vor allem den Geringverdienern zugute. Gutverdiener sollen et-
was mehr zur Finanzierung öffentlicher Leistungen beitragen.
Wir wollen deshalb den Spitzensteuersatz für Einkommen ab
80.000 Euro auf 49 % erhöhen. Daneben wollen wir Kapital-
erträge wie alle anderen Einkommen besteuern. Bisher werden
Kapitalerträge, egal ob 10.000 oder 1 Mio. Euro, fest mit 25 %
besteuert und damit ohne Grund gegenüber Einkommen aus
Arbeit privilegiert. Alle, die weniger als 60.000 Euro Jahresein-
kommen haben, werden entlastet. Wer mehr verdient, trägt
in Zukunft mehr zur Finanzierung unseres Gemeinwesens bei.
Das ist gerechter.
Ökologische Finanzreform weiterführen –
umweltschädliche Subventionen abbauen
Im Steuerrecht wimmelt es noch immer vor ökologisch schäd-
lichen Steuersubventionen. Das Umweltbundesamt bezif-
fert das Volumen dieser ökologisch schädlichen Subventionen
auf bis zu 48 Mrd. Euro. Das werden wir ändern. Wir können
zwar nicht alles auf einen Schlag abschaffen, doch das Ab-
schmelzen ökologisch schädlicher Subventionen – beispiels-
weise der Dienstwagenbesteuerung, der Flugverkehrsprivilegi-
en oder der Ausnahmen bei der Ökosteuer – bringt uns in der
nächsten Legislaturperiode 7,5 Mrd. Euro. Das mindert den
Umweltverbrauch und verbessert die Finanzierung unseres
Gemeinwesens.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben an guter ArbeitE. Teilhaben an guter Arbeit
Wie wir Arbeit unter guten Bedingungen für alle schaffen
Erwerbsarbeit hat in unserer Gesellschaft einen zentralen Stellen-
wert. Auch ehrenamtliche und Familienarbeit ist ein wichtiger
Bereich. Gute Erwerbsarbeit ist Grundlage für ein auskömmliches
Einkommen und für Sicherheit, sie ist auch Voraussetzung für Ent-
faltung und Anerkennung. Gesunde Arbeitsbedingungen, starke
ArbeitnehmerInnenrechte, Beschäftigtendatenschutz und Mitbe-
stimmung sind für uns Merkmale guter Arbeit. Beruf kommt von
Berufung – ein guter Job kann Erfüllung bedeuten. Genauso ist aber
ein mieser Job eine große Belastung. Und leider haben die miesen
Jobs massiv zugenommen.
Arbeitsplätze, die auskömmlich sind und Sicherheit bieten, sind
für mehr und mehr Menschen unerreichbar, denn neue Jobs ent-
stehen überwiegend befristet, in der Leiharbeit, als Niedriglohnjobs
oder als Minijobs. Angela Merkel hat diese verheerende Entwick-
lung nicht nur zugelassen, sondern mit ihrer Politik massiv verstärkt.
Die Zahl der Arbeitslosen hat sich auf den ersten Blick zwar
deutlich verringert. Doch beim genauen Hinschauen wird deutlich:
Der Arbeitsmarkt ist zutiefst gespalten. Er ist gespalten zwischen
Beschäftigten und den knapp drei Millionen Arbeitslosen. Er ist ge-
spalten zwischen Menschen, die einen relativ sicheren Arbeitsplatz
haben, und prekär Beschäftigten. Er ist gespalten zwischen Frauen
und Männern, da Frauen für gleiche und gleichwertige Arbeit un-
gleichen Lohn bekommen. Er ist gespalten, weil es viele ältere und
behinderte Menschen gibt, die ihre Berufs- und Lebenserfahrung
einbringen wollen, nur fragt niemand danach. Er ist gespalten zwi-
schen Menschen, die eine Beschäftigung aufnehmen dürfen, und
denen, die aufgrund ihrer Herkunft vom Arbeitsmarkt ausgeschlos-
sen sind. Er ist gespalten zwischen Menschen, die unter Überlas-
tung leiden, und jenen, die gern mehr arbeiten würden. Und er ist
immer noch gespalten zwischen Ost- und Westdeutschland, ins-
besondere mit Blick auf die Zahl der arbeitslosen Menschen sowie
das Lohnniveau.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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Teilhaben an guter ArbeitWährend die Einkommen einiger weniger immer weiter anstei-
gen, sinken die Reallöhne vieler Beschäftigter seit mehr als einem
Jahrzehnt. Die Schere zwischen kleinen und großen Einkommen
geht auseinander, und in vielen Berufsgruppen erleben wir eine
Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung.
Und immer noch hängen in kaum einem Land soziale Herkunft,
Bildungschancen und beruflicher Erfolg so eng zusammen wie bei
uns. Es ist etwas ins Rutschen gekommen. Teilhabe und Aufstiegs-
möglichkeiten für alle sind nicht mehr selbstverständlich.
In der Gesellschaft gibt es längst einen breiten Konsens, dass
jede und jeder von der eigenen Arbeit gut und auskömmlich leben
können muss. Packen wir das endlich an.
Mit unserer grünen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik wollen
wir die Spaltungen auf dem Arbeitsmarkt überwinden, gute und
sichere Arbeit für alle ermöglichen und Aufstiegsblockaden lösen.
Wir machen uns stark für Mitbestimmung und dass sich die
Menschen einmischen können – auch am Arbeitsplatz und im Job-
center. Dafür wollen wir bessere ArbeitnehmerInnenrechte, starke
Gewerkschaften und für Erwerbslose eine Arbeitsvermittlung auf
Augenhöhe.
Wir stoßen die Türen auf für die Arbeitsplätze der Zukunft –
durch eine grüne Industriepolitik und den Aufbau einer grünen
Infrastruktur, durch den Ausbau von Bildung und sozialen Dienst-
leistungen.
1. Gute Arbeit braucht faire Löhne und Sicherheit
Wir müssen endlich zu fairen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt
kommen. Armut trotz Arbeit ist inakzeptabel. 20 % der Beschäf-
tigten arbeiten in Deutschland für einen Niedriglohn, davon
6,8 Millionen für weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Viele brau-
chen einen zweiten Job. Und über 330.000 Vollzeitbeschäftigte
sind neben ihrem Lohn auf ALG-II-Leistungen angewiesen. Es gibt
immer noch Tariflöhne, von denen kein Mensch leben kann, wie
die Frisörin in Thüringen mit 3,18 Euro pro Stunde. Viele Men-
schen arbeiten als Beschäftigte in der Leiharbeit und sind ohne
Perspektive auf eine Festanstellung. Tarifflucht nimmt zu, auchTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben an guter Arbeitvermehrt durch Werkverträge. Die Hälfte der Neuverträge ist be-
fristet.
Wir brauchen wieder soziale Leitplanken auf dem Arbeitsmarkt.
Darum streiten wir für einen flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohn von mindestens 8,50 Euro. Die genaue Höhe soll von einer
Mindestlohnkommission festgelegt werden, zusammengesetzt aus
Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und ExpertInnen aus der
Wissenschaft. Der Mindestlohn wird unter Berücksichtigung der
Beschäftigungseffekte, der Inflation und der gesamtwirtschaftli-
chen Auswirkungen von der Kommission angepasst. Gleichzeitig
muss es leichter werden, branchenspezifische Mindestlöhne und
Branchentarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Damit
stärken wir das Tarifvertragssystem und bekämpfen Tarifflucht.
Davon profitieren die Beschäftigten und auch die tariftreuen Be-
triebe gleichermaßen.
Noch immer verdienen Frauen in Deutschland im Durchschnitt
22 % weniger als ihre männlichen Kollegen – unter anderem auch
weil Berufe, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, oft nicht ihren
Anforderungen entsprechend entlohnt werden. Um die Benachtei-
ligung von Frauen am Arbeitsmarkt zu beenden, fordern wir ein
Entgeltgleichheitsgesetz mit verbindlichen Regelungen, wirksamen
Sanktionen und einem Verbandsklagerecht. Damit wollen wir den
Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“
mit Leben füllen und gleichzeitig die frauentypischen Berufe ge-
sellschaftlich aufwerten. Mit einem Gleichstellungsgesetz für die
Privatwirtschaft sollen Betriebe und Tarifpartner zu aktiven Maß-
nahmen zur Gleichstellung verpflichtet werden.
25 % der Beschäftigten sind in Deutschland inzwischen atypisch
beschäftigt, fast dreimal so viele Frauen wie Männer. Das sind
7,8 Millionen Menschen, die entweder mit kleinen Teilzeitjobs, mit
Leiharbeit, mit befristeter Beschäftigung oder mit Minijobs über die
Runden zu kommen versuchen. Dazu kommen Scheinselbständige
und Abrufkräfte. Natürlich sind nicht alle diese Jobs problematisch.
Allerdings zeigt sich, dass diese Beschäftigungsverhältnisse oft un-
sicher sind, schlecht entlohnt werden, zu Altersarmut führen und
viel zu selten Brücken in auskömmliche, sichere Beschäftigung dar-
stellen. Der Anstieg der prekären Beschäftigung hat aber nicht nur
für die Beschäftigten negative Auswirkungen, sondern auch FolgenZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben an guter Arbeitfür die Arbeitswelt insgesamt. In Betrieben, in denen immer mehr
Festangestellte durch externe Leiharbeitskräfte oder Werkvertrags-
beschäftigte verdrängt werden, da zersplittern die Belegschaften.
Vor allem werden mit diesen Beschäftigungsformen die Mitbestim-
mung, der Kündigungsschutz, tarifliche Standards und damit der
soziale Schutz der Beschäftigten umgangen. Damit stehen kollekti-
ve Errungenschaften, die über lange Zeit hart erkämpft wurden, nur
noch auf dem Papier. Der jahrzehntealte gesellschaftliche Konsens
der Sozialpartnerschaft und die Prinzipien der sozialen Marktwirt-
schaft werden damit aufgekündigt.
Viele neue Arbeitsplätze entstehen nur noch als Leiharbeits-
plätze oder als Billigjobs per Werkvertrag. Klar ist, Unternehmen
brauchen eine gewisse Flexibilität für Auftragsspitzen. Aber die
Leiharbeit muss fair ausgestaltet werden. Wir GRÜNE fordern, dass
Leiharbeitskräfte mindestens die gleiche Entlohnung erhalten wie
Stammbeschäftigte, und zwar ab dem ersten Tag, und zusätzlich
einen Flexibilitätsbonus. Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter sollen
die gleichen Rechte haben wie Festangestellte und die Betriebsräte
in den Entleihbetrieben eine verbesserte Mitbestimmung. Not-
wendig ist auch eine eindeutige Abgrenzung zwischen Leiharbeit
und Werkverträgen sowie effektive Kontrollen, denn zweifelhafte
Werkvertragskonstruktionen dürfen nicht weiter Leiharbeit und ta-
riflich bezahlte Arbeit ersetzen.
Bei den befristeten Jobs zeigt sich eine weitere Fehlentwicklung
am Arbeitsmarkt. Viele Menschen hangeln sich von einem Kurz-
zeitjob zum nächsten. Sie sind praktisch permanent in der Probezeit
und können kaum die nötige Sicherheit für ihre Lebensplanung ge-
winnen. Das belastet insbesondere junge Menschen. Wir wollen die
Befristungsgründe reduzieren und die Befristung ohne Sachgrund
abschaffen. Wir wollen insbesondere im Bildungsbereich vermei-
den, dass Daueraufgaben durch befristete und Honorarverträge
abgedeckt werden. Der öffentliche Sektor übt eine Vorbildfunktion
für faire, moderne und zukunftsfähige Beschäftigung aus. Darüber
hinaus stehen wir zum bestehenden Kündigungsschutz, allerdings
gilt es, bestehende Lücken zu schließen, beispielsweise bei den Ba-
gatellkündigungen.
Neue Antworten erfordert der Wandel auch bei den Sozialver-
sicherungen. Wir von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen die der-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben an guter Arbeitzeitige Arbeitslosenversicherung mittelfristig zu einer umfassenden
Arbeitsversicherung umbauen. Alle Erwerbstätigen, also auch flexi-
bel Beschäftigte und Solo-Selbständige, sollen einbezogen werden.
Ansprüche auf Arbeitslosengeld können auch unstetig Beschäftigte
anmelden, wenn sie mindestens vier von 24 Monaten Beiträge ge-
zahlt haben. Neben der Absicherung bei Arbeitslosigkeit liegt der
Fokus der grünen Arbeitsversicherung auf berufsbegleitender Qua-
lifizierung, gerade für von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen.
2. Gute Arbeit braucht einen effektiven Arbeitsschutz
und starke Mitbestimmung
Gut ist Arbeit nur dann, wenn sie nicht krank macht. Der Wandel
der Arbeitswelt führt zu neuen Belastungen. Psychische Erkrankun-
gen sind inzwischen der Hauptgrund für Frühverrentungen. Frauen
sind überproportional davon betroffen. Mehr Eigenverantwortung,
reine Zielorientierung bei freier Arbeitsorganisation – das kommt
zwar vielen entgegen, aber andere belastet der ständige Termin-
druck und die vielen Überstunden, die nicht ausgeglichen werden.
Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leiden aber auch unter
starren Vorgaben, wenig Flexibilität, zu wenig Abwechslung und zu-
nehmender Intensität. Eine zunehmend belastende Entwicklung für
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die ständige Erreich-
barkeit per Handy oder E-Mail auch außerhalb der Arbeitszeiten oder
die Zunahme von Schicht- und Nachtarbeit. Für uns GRÜNE heißt
das einerseits, dass der Arbeitsschutz auf die neuen Gefährdungen
hin überarbeitet werden muss. Deshalb fordern wir eine Anti-Stress-
Verordnung zum Schutz vor Stress am Arbeitsplatz. Andererseits sind
Aufsichtsbehörden und Sozialpartner stärker zu sensibilisieren und
in die Lage zu versetzen, neue Gesundheitsrisiken zu erkennen und
sie zu beheben. Wir wollen Maßnahmen der betrieblichen Gesund-
heitsförderung vorantreiben, auch dort, wo prekäre Beschäftigung,
Teilzeit und Leiharbeit dominieren.
Gute Arbeit für alle ist nur mit einer starken Mitbestimmung zu
schaffen. Das bewährte Recht, sich an betrieblichen und unterneh-
merischen Entscheidungen zu beteiligen, wollen wir bewahren und
ausbauen. Wir GRÜNE werden uns in der kommenden Wahlperio-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben an guter Arbeitde dafür einsetzen, dass die Mitbestimmungsrechte in geschützten
Ausbildungs- und Beschäftigungseinrichtungen, wie in den Werk-
stätten für behinderte Menschen, weiterentwickelt und verbessert
werden. Die Mitbestimmungsrechte müssen der sich verändernden
Arbeitswelt gerecht werden. Das gilt für den Einsatz von Leiharbeit
und Werkverträgen im Betrieb und wir wollen die paritätische Mit-
bestimmung in Aufsichtsräten von Unternehmen ab 1.000 Beschäf-
tigten auch in ausländischen Rechtsformen und die Ausweitung der
Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei Umstrukturierungen.
Die europäischen Betriebsräte wollen wir stärken und die grenzüber-
schreitende Mitbestimmung zum Kernstück des europäischen Sozial-
modells machen. Ebenso wollen wir die gleichen Mitbestimmungs-
rechte unabhängig vom jeweiligen Sektor, also auch im öffentlichen
Bereich und in Tendenzbetrieben. Zudem werden wir einen Beschäf-
tigtendatenschutz einführen, der den veränderten Arbeitsabläufen in
einer Informationsgesellschaft gerecht wird und dabei das Abhängig-
keitsverhältnis der Beschäftigten umfassend berücksichtigt.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtun-
gen unterliegen den Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts.
Damit stehen ihnen wesentliche ArbeitnehmerInnenrechte nicht zu.
Diese Praxis stößt auch innerhalb der Kirchen immer mehr auf Kritik.
Denn Loyalitätsanforderungen der ArbeitgeberInnen auch außerhalb
von Verkündigungsbereichen, die sich auf die private Lebensführung
seiner MitarbeiterInnen beziehen, passen nicht in eine demokrati-
sche Gesellschaft.
Wir werden mit den Kirchen, den Gewerkschaften und anderen
gesellschaftlich Beteiligten in einen Dialog treten, damit sich die Si-
tuation der Beschäftigten verbessert. Wir wollen, dass die kirchlichen
MitarbeiterInnen außerhalb der Verkündigungsbereiche die gleichen
Rechte bekommen wie andere ArbeitnehmerInnen auch. Daher wol-
len wir für sämtliche Beschäftigungsverhältnisse jenseits des Bereichs
der Verkündigung das kirchliche Arbeitsrecht abschaffen. Dazu ge-
hört das Recht zur Bildung von Betriebsräten und das Grundrecht
auf Koalitionsfreiheit einschließlich der Streikfreiheit. Das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz (AGG) werden wir mit dem Ziel ändern,
dass seine Bestimmungen wie in anderen Tendenzbetrieben auch auf
Beschäftigungsverhältnisse in kirchlichen Einrichtungen Anwendung
finden.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben an guter Arbeit3. Gute Arbeit braucht Zugänge
Immer mehr Menschen sind am Arbeitsmarkt abgehängt oder aus-
geschlossen. Wir kehren diesen Trend um, indem wir die Blockaden
abbauen. Mit Minijobs waren Erwartungen verbunden, dass sie als
Brücke in den Arbeitsmarkt wirken. Das ist nicht der Fall. Fast sieben
Millionen Menschen haben derzeit einen Minijob. Zwei Drittel davon
sind Frauen. Zwar sind nicht alle davon in prekären Lebenslagen. Es
gibt Studierende, RentnerInnen und SchülerInnen, die dazuverdie-
nen. Für viele ist der Minijob jedoch eine Armutsfalle, spätestens im
Alter. Denn mit einem Minijob ist eine eigenständige Existenzsiche-
rung und die Ansammlung eigener Rentenansprüche nicht möglich.
Viele wollen gerne mehr arbeiten, bekommen aber keinen anderen
Job. Für andere, die umsteigen und etwas mehr Stunden arbeiten,
führen die Sozialabgaben dazu, dass sie kaum mehr verdienen. Auch
ALG-II-Beziehende wollen oft mehr arbeiten, von staatlichen Hilfen
unabhängig werden und durch ihre Arbeit auf eigenen Beinen ste-
hen. Die sogenannten AufstockerInnen, die trotz Arbeit auf ALG II
angewiesen sind, verdienen in ihrem Job – oftmals sogar in Vollzeit
– nicht genug, um davon leben zu können. Ziel unserer Politik ist es,
allen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, ihren Lebensunterhalt
eigenverantwortlich zu erwirtschaften und nicht von staatlicher Un-
terstützung abhängig zu sein. Von seiner eigenen Arbeit leben zu
können, das bedeutet ein großes Stück Würde und Gerechtigkeit.
In einem ersten Schritt wollen wir dafür die Minijobs eindämmen
und die Situation der jetzigen Minijob-Beschäftigten sofort spürbar
verbessern. Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wer-
den wir Niedrigstlöhne von zum Teil weniger als 5 Euro in der Stunde
unmöglich machen und automatisch eine wirksame maximale Stun-
denbegrenzung für Minijobs einziehen. Außerdem streichen wir die
Ausstiegsklausel aus der Rentenversicherung, so dass zukünftig mit
einem Minijob immer auch Rentenansprüche erworben werden. Um
zu verhindern, dass MinijobberInnen um ihre ArbeitnehmerInnen-
rechte und -ansprüche gebracht werden können, müssen geringfügig
Beschäftigte künftig bei Vertragsabschluss schriftlich über die ihnen
zustehenden Rechte informiert werden. Außerdem werden die Kon-
trollen in den Betrieben verstärkt.Zeit für den grünen Wandel
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Teilhaben an guter ArbeitIn einem zweiten Schritt werden wir den gesamten Niedriglohn-
sektor umfassend reformieren, prekäre Beschäftigung zurückdrängen
und Minijobs durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-
verhältnisse ersetzen. Unsere Reformvorschläge zielen nicht auf die
Abschaffung von Nebenverdiensten für SchülerInnen, Studierende
und RentnerInnen. Unsere Ziele sind es, sozialversicherungspflichti-
ge und existenzsichernde Beschäftigung zu fördern sowie Erwerbs-
und Aufstiegsblockaden insbesondere für Frauen zu beseitigen.
Dafür wollen wir gezielt kleine Einkommen entlasten, so dass es
sich endlich lohnt, mehr zu arbeiten, ohne dass es zu unzumutbaren
Mehrbelastungen der ArbeitnehmerInnen kommt. Durch gleichzei-
tig gestärkte vorgelagerte soziale Sicherungssysteme wird nicht nur
der Ausstieg aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug erleichtert, sondern
auch die Kommunen finanziell deutlich entlastet. Um zu verhindern,
dass gerade haushaltsnahe Dienstleistungen wieder in die Schwarz-
arbeit abrutschen, soll das vereinfachte Anmeldungsverfahren für
haushaltsnahe Dienstleistungen im Privathaushalt beibehalten wer-
den. Durch unsere Reform werden Erwerbstätige leichter als bisher
ihren Lebensunterhalt eigenständig und unabhängig vom Grundsi-
cherungssystem bestreiten können. Damit erhalten mehr Menschen
die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der ALG-II-
Bürokratie.
Herkunft, Hautfarbe, Behinderung, Alter, Religion, sexuelle Iden-
tität und Geschlecht dürfen keine Rolle spielen. Die Realität ist heute
eine andere. Bestehende Strukturen sind verfestigt. Die Ausgangs-
chancen von zu vielen jungen Menschen mit und ohne Migrationshin-
tergrund sind von Geburt an schlechter als die ihrer Altersgenossen.
Das beginnt in Kita und Schule und setzt sich bei der Ausbildungs-
und Arbeitsplatzsuche fort. Doch auch ausländerrechtliche Diskrimi-
nierungen verbauen den Zugang zum qualifizierten Arbeitsmarkt.
Gerade jungen Flüchtlingen muss der Zugang zu einer Ausbildung
und einem qualifizierten Berufseinstieg erleichtert werden. Neben
sprachlichen Herausforderungen und sozialer Herkunft sind oft auch
verdeckter Rassismus und Vorurteile ein Hinderungsgrund, erfolg-
reich Fuß zu fassen. Wir GRÜNE wenden uns mit aller Kraft gegen
jegliche Diskriminierung. Darum sollen anonymisierte Bewerbungs-
verfahren im öffentlichen Dienst eine größere Verbreitung finden.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben an guter ArbeitMenschen stoßen in diesem Land aus vielerlei Gründen an Blo-
ckaden und Hindernisse. Gute öffentliche Institutionen, die von al-
len genutzt werden können, sind der Schlüssel zur Überwindung.
Gute Berufsschulen und Ausbildungsstätten sind unverzichtbar für
die Menschen und den Wirtschaftsstandort Deutschland. In etlichen
Berufsgruppen ist die Unzufriedenheit über die Ausbildungsqualität
sehr hoch. Wir wollen die Qualitätskontrolle der Ausbildung durch
die Kammern verbessern. Zudem sollen Betriebsräte selbst die Mög-
lichkeit erhalten, ein Verfahren bei zweifelhafter Ausbildungsqualität
eines Betriebes einleiten zu können. Außerdem werden wir die Not-
wendigkeit gesetzlich geregelter Mindestvergütungen für die Ausbil-
dung prüfen, denn Auszubildende werden in manchen Branchen als
billige Arbeitskräfte missbraucht. Das System der dualen Ausbildung
hat sich bewährt, aber es stößt an seine Grenzen. Wir setzen auf
DualPlus. Damit erweitern wir das herkömmliche System der dualen
Ausbildung um überbetriebliche Lernorte, insbesondere für benach-
teiligte Jugendliche. Trotz aller Sorge vor dem drohenden Fachkräf-
temangel haben weder Schwarz-Gelb noch die Arbeitgeber bisher
Maßnahmen ergriffen, die Qualität und Fairness von Praktika zu er-
höhen. Auch für Praktika müssen klare Mindestbedingungen gelten –
schriftlicher Vertrag, Zeugnis, eine Mindestaufwandsentschädigung
und eine festgelegte zeitliche Begrenzung.
Obwohl schon jetzt an allen Ecken und Enden die Fachkräfte feh-
len, ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für viele Menschen immer noch
verschlossen. Wir wollen an die unterschiedlichen Fähigkeiten, Stär-
ken und Qualifikationen dieser Menschen anknüpfen. Vor allem Ge-
ringqualifizierten, Alleinerziehenden, Migrantinnen und Migranten,
Menschen mit Behinderungen, Jüngeren und Älteren wollen wir neue
Chancen eröffnen. Eine Arbeitsmarktpolitik, die diese Menschen
wirksam und fair integriert, setzt auf passgenaue und individuelle
Förderstrategien, bei denen auch erreichte Zwischenziele als Erfolge
zählen. Unser Ziel sind nachhaltige Arbeitsmarktintegrationen und
nicht kurzfristige statistische Effekte. Viele Arbeitslose haben kaum
Aussichten auf einen neuen Job, weil sie nicht oder nicht mehr ausrei-
chend qualifiziert sind. Ihnen wollen wir mit mehr Umschulungs- und
Ausbildungsangeboten den Weg in Zukunftsberufe und Arbeitsfel-
der mit Personalmangel eröffnen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben an guter ArbeitZu viele Menschen sind trotz guter Konjunktur dauerhaft ohne
Chance auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb wollen wir mit einem ver-
lässlichen sozialen Arbeitsmarkt Teilhabe schaffen und Arbeit statt
Arbeitslosigkeit finanzieren. Dafür sollen die passiven in aktive Leis-
tungen umgewandelt werden. Aus dem Arbeitslosengeld II und den
Kosten der Unterkunft wird so ein Arbeitsentgelt für ein sozialversi-
cherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Arbeitsplätze im sozia-
len Arbeitsmarkt können von allen Arbeitgebern angeboten werden.
Damit verabschieden wir uns von den Kriterien der „Zusätzlichkeit“,
des „öffentlichen Interesses“ und der „Wettbewerbsneutralität“. An
deren Stelle tritt der lokale Konsens. Mit unserem sozialen Arbeits-
markt machen wir Langzeitarbeitslosen ein neues, zuverlässiges und
freiwilliges Angebot mit Perspektive. Es ist die Chance für diejenigen,
die von der Merkel-Koalition über Jahre im Stich gelassen wurden.
Gute Arbeit braucht berufliche Teilhabe von Menschen mit Be-
hinderungen. Menschen mit Behinderungen sind immer noch über-
proportional stark von Arbeitslosigkeit und fehlenden Ausbildungs-
möglichkeiten betroffen. Die UN-Behindertenrechtskonvention
begründet das Recht für Menschen mit Behinderungen, ihren Le-
bensunterhalt mit Arbeit zu verdienen in einem für sie zugänglichen
und offenen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld. Stattdessen gibt es
für viele Menschen mit Behinderungen in Deutschland einen star-
ken Automatismus, der sie früher oder später in die Sonderwelt der
Werkstatt für behinderte Menschen führt. Wir wollen die Alternati-
ven zu den Werkstätten stärken und setzen auf betriebsintegrierte
Beschäftigungen in allen Formen wie Integrationsbetriebe und -ab-
teilungen, unterstützte Beschäftigung, Arbeitsassistenz, persönliches
Budget für Arbeit, Leistungsausgleiche, aber auch Außenarbeitsplät-
ze für Werkstattbeschäftigte. Wir setzen uns für eine Erhöhung der
Beschäftigtenquote auf 6 % ein.
Frauen mit Behinderungen erfahren eine zusätzliche Benachteili-
gung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Daher müssen frau-
engerechte Rahmenbedingungen in Ausbildungs-, Arbeits- sowie
Rehabilitierungsstätten geschaffen werden, die auch die Bedarfe von
Müttern mit Behinderungen berücksichtigen. Wir werden darauf hin-
wirken, dass die berufliche Teilhabe von Frauen mit Behinderung in
Beruf und Ausbildung deutlich verbessert, die Angebote zur berufli-
chen Teilhabe und Rehabilitation weiter auf die Bedarfe von FrauenTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben an guter Arbeitmit Behinderung ausgerichtet und auch geeignete Ausbildungsange-
bote in attraktiven und zukunftsträchtigen Berufen befördert wer-
den.
4. Gute Arbeit braucht gute Arbeitsvermittlung
Ein gutes Jobcenter ist ein Schlüssel, um Menschen in gute Arbeit
zu bringen. Jobcenter bieten häufig nicht die Hälfte von dem, was
wir uns von ihnen erwarten. Menschen werden oft nicht gefördert,
sondern nach „Schema F“ behandelt. Das müssen wir ändern. Die
Jobcenter müssen flexibel örtliche Arbeitsmarktprogramme auflegen
und diese mit kommunalen Beschäftigungsinitiativen verbinden kön-
nen. Das Jobcenter, das wir uns vorstellen, hört den Menschen zu,
unterstützt sie auf ihrem Weg, erkennt die Potentiale der Menschen
und hilft ihnen den nächsten Schritt zu tun.
ArbeitsvermittlerInnen und Arbeitsuchende legen gemeinsam
fest, welche Fortbildung oder welcher Job der richtige ist. Dabei gilt
es, die Eigeninitiative der Arbeitsuchenden zu fördern, indem ihre
Vorschläge ernst genommen werden und ihnen das Recht einge-
räumt wird, zwischen geeigneten Maßnahmen zu wählen. Wir schla-
gen außerdem vor, unabhängige Ombudsstellen in allen Jobcentern
einzurichten, die bei Konflikten vermitteln.
Tatsächlich fördern statt nur zu fordern, muss das Motto sein.
Dafür sind die Förderinstrumente des SGB II individueller und pra-
xisnäher auszurichten. Die BeraterInnen im Jobcenter haben nur
so viele Fälle, dass sie wissen, wer vor ihnen sitzt, und passgenaue
Lösungen entwickeln können. Zugang zu Schulungen und Qualifi-
zierungen unterstützen sie in ihrer Beratungsarbeit. Schematische
Empfehlungen, etwa anhand überkommener Geschlechterrollen,
gehören der Vergangenheit an. Das ist keine unrealistische Vision,
das ist ein gerechtfertigter Anspruch. Die Agenturen und Jobcenter
müssen allen Erwerbslosen Zugänge zu passenden Qualifizierun-
gen, Förderangeboten, Umschulungs- und Ausbildungsangeboten
eröffnen. Wir wollen wieder eine verlässliche Gründungsförderung
für Arbeitslose ermöglichen, denn in der Vergangenheit war dies ein
Erfolgsrezept. Nach dem finanziellen Kahlschlag von Schwarz-Gelb
bei der Arbeitsförderung wollen wir für Gründung und QualifizierungZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben an guter Arbeitwieder ausreichend Mittel zur Verfügung stellen. Neue Kriterien für
die Vergabe von Fördermaßnahmen müssen gewährleisten, dass die
Qualität der Integrations- und Bildungsarbeit im Vordergrund steht
und nicht die Preise. Das Jobcenter ist ein entscheidendes Puzzleteil
in unserer Institutionenstrategie für mehr Gerechtigkeit. Denn nur
ein gutes Jobcenter schafft echte Chancen auf Teilhabe.
5. Gute Arbeit in neuen Jobs
Grüne Politik schafft gute Rahmenbedingungen für mehr Jobs. Wir
wollen aber gute Arbeit, also gerechte Löhne, menschenwürdige
Arbeitsbedingungen und gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit
von Männern und Frauen. Der grüne Wandel in der Wirtschaft ist
eine Jobmaschine. Das zeigen hunderttausende neue Arbeitsplät-
ze bei den Erneuerbaren Energien, durch Gebäudesanierung beim
Handwerk oder in den Ingenieurbüros. Die Energiewende zu 100 %
Erneuerbaren wird für neue Jobs sorgen. Bereits heute arbeiten über
1,4 Millionen Menschen im Bereich der Umwelttechnologien. Durch
einen grünen Wandel in der Wirtschaft, in Energie, Energieeffizienz,
Verkehr, Wärme und in der Industrie können es bis 2025 bis zu 2,4
Millionen Jobs werden. Auch hier gelten unsere Ansprüche an gute
Arbeit.
Die Qualität unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ent-
scheidet sich gerade im Bildungs- und Gesundheitsbereich. In beiden
Branchen steckt das Potential zu mehr Jobs: In einer alternden Ge-
sellschaft ist eine steigende Zahl von Menschen auf Dienstleistungen
vom Einkaufsservice bis zur qualifizierten Pflegeleistung angewiesen.
Auch der Bildungsaufbruch von der Kita über die Universität bis zum
lebenslangen Lernen ist nur mit mehr Personal zu stemmen. Für ein
qualitätsvolles Angebot der frühkindlichen Betreuung, den Ausbau
der Ganztagsschulen und bessere Hochschulen braucht es viele neue
ErzieherInnen, Fach- und Lehrkräfte.
Viele dieser Jobs sind öffentlich finanzierte Dienstleistungen.
Wir sorgen durch unsere Finanzpolitik für eine solide Finanzierung
der öffentlichen Kassen. So können wir ein umfangreicheres Kita-
Angebot realisieren und die Ganztagsschulen ausbauen. MangelndeTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben an guter ArbeitKinderbetreuung ist heute viel zu oft ein Hinderungsgrund für eine
(Vollzeit-)Erwerbstätigkeit.
Die Bürgerversicherung senkt die Beiträge zur Krankenversiche-
rung und damit die Lohnnebenkosten. So wird Arbeit billiger – und
dadurch attraktiver für ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen.
Gleichzeitig schafft sie aber auch mehr Raum für Beschäftigung in
der Gesundheitsbranche. Durch die Senkung von Abgaben entste-
hen neue Jobs vor allem im Dienstleistungssektor oder in personalin-
tensiven Bereichen, die bisher aufgrund der Kosten nicht ent stehen
konnten.
6. Gute Arbeit für gute Fachkräfte
Während immer noch etwa drei Millionen Menschen arbeitslos sind,
herrscht in Teilen der Wirtschaft akuter Fachkräftemangel. Dieser
Mangel ist ein Hemmnis für die Entwicklung der deutschen Wirt-
schaft. Sowohl in Regionen mit Vollbeschäftigung als auch in struk-
turschwachen ländlichen Regionen haben Unternehmen erhebliche
Schwierigkeiten, IngenieurInnen, ÄrztInnen, aber auch Pflegekräfte
und ErzieherInnen zu finden. Zur Bewältigung des Fachkräfteman-
gels genügt es nicht, auf ein einzelnes Instrument zu setzen. Einhei-
mische und EinwanderInnen, Junge und Alte sowie Beschäftigte und
Arbeitslose dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Darüber
hinaus muss Qualifizierung verstärkt in den Bereichen stattfinden,
in denen Fachkräfte nachgefragt werden. Wir wollen mit einem klu-
gen Mix aus Bildung, Qualifizierung und Unterstützung nicht ge-
nutzte Fachkräftepotentiale mobilisieren. Deshalb müssen wir allen
Erwerbsfähigen ermöglichen, sich ihren Kompetenzen und Potenti-
alen entsprechend zu qualifizieren. Dafür setzen wir auf gute Aus-
bildung, kunden- und kompetenzorientierte Arbeitsvermittlung, auf
verstärkte berufliche Weiterbildung, Zugang zu Nachqualifizierung
und auf lebenslanges Lernen, unterstützt durch ein Weiterbildungs-
BAföG. Auch eine einheitliche und unbürokratische Anerkennung
von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen und der Ausbau
des Nachqualifizierungsangebots sind notwendig. Dafür notwendige
Qualifizierungsmaßnahmen müssen an die Bedürfnisse der Migran-
tinnen und Migranten angepasst und in unterschiedlichen Lebensla-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
100
Teilhaben an guter Arbeitgen zugänglich und finanzierbar sein. Damit ermöglichen wir allen
Menschen eine berufliche Perspektive ihrer Qualifikation entspre-
chend und reduzieren den Fachkräftemangel.
Ein wichtiger Hebel ist die bessere Integration von Frauen in
den Arbeitsmarkt. Wir wollen Erwerbshindernisse und Fehlanreize
für Frauen, wie das Ehegattensplitting und – im Rahmen der Bür-
gerversicherung – die kostenlose Mitversicherung, abbauen und
so diskriminierende Strukturen, die einer stärkeren Frauenerwerbs-
arbeit und einer eigenständigen Existenzsicherung im Weg stehen,
überwinden. Zudem fordern wir unter anderem eine feste Quote
von 50 % für Frauen in Aufsichtsräten. Auch der flächendeckende
Ausbau von Kitas, Ganztagsschulen sowie ambulanten als auch teil-
stationären Pflegeangeboten und Pflegeeinrichtungen ist von gro-
ßer Bedeutung, um insbesondere Frauen in ihrem Wunsch, einer
Erwerbsarbeit nachzugehen, zu unterstützen. Dabei soll die Integ-
ration von Frauen in den Arbeitsmarkt keine einseitige Anpassung
an einen Arbeitsbegriff sein, der viel Zeit für Arbeit und kaum Zeit
für Familie, Engagement und Muße beinhaltet. Gerade bei der In-
klusion von Frauen in den Arbeitsmarkt und der gerechteren Ver-
teilung von Fürsorgearbeit zwischen Männern und Frauen brauchen
wir neue Zeitmodelle. Wir folgen dem Leitbild einer vollzeitnahen
Teilzeittätigkeit für Frauen und Männer, die auch Raum für gerecht
verteilte Sorge- und Pflegearbeit und für Unterbrechungen der
Erwerbstätigkeit lässt.
Unsere Gesellschaft braucht die älteren Beschäftigten, denn
sie haben durch ihren Erfahrungs- und Wissensschatz eine wichti-
ge Funktion im Betrieb. Die Wirtschaft muss umdenken und wie-
der stärker auf die erfahrenen Beschäftigten setzen. Notwendig
sind alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen, denn der de-
mografische Wandel wird vor allem dann zum Problem, wenn die
Beschäftigten nicht bis zur Rente durchhalten. Deshalb müssen die
Fähigkeiten, Stärken und Möglichkeiten der Beschäftigten bei den
Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt stehen. Die Politik muss dafür
den gesetzlichen Rahmen vorgeben.
Doch allein die bessere Förderung von inländischen Arbeitskräften
wird nicht ausreichen, um den zunehmenden Bedarf an qualifizier-
ten Fachkräften zu decken. Vor diesem Hintergrund wollen wir den
Zuzug ausländischer Fachkräfte vereinfachen und transparenter ge-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
101
Teilhaben an guter Arbeitstalten. Dazu gehören vor allem die Einführung eines liberalen und
transparenten Punktesystems und das Etablieren einer wirklichen
Willkommenskultur.
Wer GRÜN wählt …
• stimmt für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohn von mindestens 8,50 Euro pro Stunde.
• bekommt faire Regeln für Leiharbeit, dämmt Befristungen
ein und begrenzt Minijobs.
• entlastet kleine Einkommen und eröffnet mehr Menschen
die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben ohne ALG II.
• verbessert die Rechte von Arbeitsuchenden in Jobcentern.
• stärkt die Rechte von MitarbeiterInnen in kirchlichen
Einrichtungen.
• schafft Perspektiven für langzeitarbeitslose Menschen
durch den Aufbau eines sozialen Arbeitsmarktes.
Schlüsselprojekte
Niedriglöhne abschaffen –
einen allgemeinen Mindestlohn einführen
Viele arbeiten und können trotzdem nicht davon leben. Wir neh-
men die unerträglichen Dumpinglöhne, die staatlich aufgestockt
werden müssen, nicht länger hin. Darum fordern wir einen allge-
meinen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro. Die genaue Höhe
des Mindestlohns wird von einer Mindestlohnkommission festge-
legt, zusammengesetzt aus Gewerkschaften, Arbeitgeberverbän-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
102
Teilhaben an guter Arbeitden und ExpertInnen aus der Wissenschaft. Gleichzeitig müssen die
Möglichkeiten geschaffen werden für mehr branchenspezifische
Mindestlöhne und allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge, die
dann für alle Beschäftigten einer Branche gelten. Damit stärken wir
das Tarifvertragssystem und bekämpfen Tarifflucht. Nur so schaf-
fen wir es, dass alle von ihrer Arbeit leben können.
Lohndumping beenden – gleicher Lohn für Leiharbeit
Viele neue Arbeitsplätze entstehen nur noch als Leiharbeitsplätze.
Zwar brauchen Unternehmen Flexibilität für Auftragsspitzen, aber
die Leiharbeit muss gerecht ausgestaltet sein und die Fehlentwick-
lungen in der Leiharbeit lehnen wir ab. Wir fordern „gleichen Lohn
für gleiche Arbeit“ ab dem ersten Tag. Leiharbeit darf nicht dem
Lohndumping dienen. LeiharbeiterInnen sind auch keine Arbeite-
rInnen zweiter Klasse. Sie sollen vom ersten Tag an die gleichen
Rechte haben wie die Stammbelegschaft.
Arbeit darf nicht krank machen –
Arbeitsschutz weiterentwickeln
Viele ArbeitnehmerInnen erleben im Beruf starre Vorgaben, wenig
Flexibilität und zu wenig Abwechslung. Andererseits sind manche
Arbeitsverhältnisse heute zunehmend geprägt von hohen Flexi-
bilitätsanforderungen, nicht planbaren Arbeitszeiten und von der
Notwendigkeit ständiger Erreichbarkeit. Wir werden zusammen mit
den Sozialpartnern die Anforderungen des gesetzlichen Arbeits-
schutzes an die neuen psychischen Belastungen anpassen. Zum
Schutz der Beschäftigten und mit Blick auf den demografischen
Wandel sind alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen das
Gebot der Stunde, denn die Beschäftigten sollen gesund bis zum
Renteneintritt arbeiten können. So schaffen wir Arbeit, die nicht
krank macht.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
103
Teilhaben an guter BildungF. Teilhaben an guter Bildung
Wie wir Kitas und Schulen, Hochschulen
und Ausbildung besser machen
Bildung eröffnet Zukunft. Die Welt kennen lernen, verstehen, was
um einen herum passiert, das eigene Leben selbst gestalten, Ver-
antwortung für sich und andere übernehmen, Wünsche und Ziele
verwirklichen – dies sollte allen Menschen offenstehen. Deshalb ist
der freie Zugang zu Bildung eine zentrale Gerechtigkeitsfrage. Er darf
nicht an der Herkunft, nicht an den Lebensumständen und nicht am
Geldbeutel der Eltern scheitern.
Wir verlangen einem Teil der Bevölkerung mit unseren Vorhaben
in der Steuerpolitik einiges ab. Aber im Gegenzug verpflichten wir
uns, gemeinsam mit Ländern und Kommunen unsere Kitas und Schu-
len zu begeisternden Lern- und Lebensorten zu machen, an denen
jedes Kind mit seinen Talenten und seinem Potential angenommen
wird und sich bestmöglich bilden kann. Und wir sorgen dafür, die Zu-
gänge zu Ausbildung, Studium und Weiterbildung stärker zu öffnen
und die Übergänge zu erleichtern.
Bildung ist Voraussetzung für ein Leben in Freiheit. Sie ist der
Schlüssel für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und Vorausset-
zung für Selbstbestimmung und Teilhabe. Zugleich ist Bildung eine
Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft und darf nicht vor-
rangig nach wirtschaftlichen Aspekten gestaltet werden. Wir sorgen
dafür, dass sie kein Privileg bleibt, sondern wirklich allen offensteht.
Bildung soll sich nach dem Wohl des Kindes richten.
Bildung schafft Gerechtigkeit. Wir streiten für ein inklusives und
ein sozial gerechtes Bildungssystem, an dem alle teilhaben. Für eine
durchlässige Gesellschaft, die soziale Barrieren abbaut und die Viel-
falt der Menschen bejaht.
Bildung schafft Demokratie. Wir treten ein für offene Bildungsin-
stitutionen, in denen die Einmischung von Lernenden, Lehrenden, El-
tern und gesellschaftlichem Umfeld erwünscht ist. Dazu gehören fürZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
104
Teilhaben an guter Bildunguns auch institutionelle Elemente wie verfasste Studierendenschaften
und paritätisch besetzte Gremien an Schulen und Hochschulen.
Bildung beginnt in der Familie. Deshalb ist es uns wichtig, Eltern
zu stärken – durch den Ausbau der frühen Hilfen und der Familienbe-
ratung, durch Eltern-Kind-Zentren als Unterstützungsstruktur für alle
Eltern und frühzeitige Sprachkurse. Gute Bildungsinstitutionen arbei-
ten eng mit den Eltern zusammen und sind vernetzt. Bildung schafft
Zukunft, für unsere Kinder, für uns selbst. Doch zunächst müssen wir
eine Zukunft für unsere Bildungsinstitutionen schaffen.
1. Erneuerung der Bildungsinstitutionen
Die Qualität von Kitas und Schulen ist zentral, wenn es darum geht,
Teilhabechancen von Kindern zu verbessern. Wie wichtig es ist, die
Bildungseinrichtungen direkt und ohne Umwege zu stärken, zeigt
das gescheiterte Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung –
ein Großteil des Geldes kommt gar nicht dort an, wo es gebraucht
wird. Statt Kitas und Schulen zu stärken, finanziert das Bildungs- und
Teilhabepaket neue bürokratische Strukturen und private Nachhilfe.
Die hohe Zahl an BildungsverliererInnen ist erschreckend: Es kann
keine Bildungsgerechtigkeit und keine Entwarnung geben, solange
jede/r fünfte 15-Jährige als funktionale/r AnalphabetIn gilt, jede/r
zwanzigste Jugendliche die Schule und fast jede/r Vierte die Ausbil-
dung oder das Studium abbricht, solange knapp 300.000 Jugendli-
che in Warteschleifen des Übergangssektors geparkt sind und über
zwei Millionen junge Erwachsene keinen Berufsabschluss haben.
Das sind Zahlen, die eine neue Bildungsoffensive erfordern für ein
Bildungssystem, das nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern eine
Vielzahl von Kompetenzen vermittelt und fördert. Das deutsche Bil-
dungssystem leidet an einem Leistungs- und Gerechtigkeitsproblem.
Gute Bildungseinrichtungen sind inklusiv, sie zeigen Respekt und
Wertschätzung gegenüber der ganzen Vielfalt der Kinder und jungen
Menschen. An unseren Bildungseinrichtungen darf niemand diskri-
miniert werden. Sie nutzen das Potential dieser Vielfalt für eine inklu-
sive Pädagogik, die individuelle Förderung und kooperatives Lernen
bietet. Nicht die Kinder müssen der Schule angepasst werden, son-
dern die Schule den Lern- und Entwicklungsbedürfnissen der Kinder.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
105
Teilhaben an guter BildungKitas sind schon heute Vorreiter der Inklusion. Vielerorts ist es nor-
mal, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam in die Kita
gehen. Wir wollen, dass diese Möglichkeit künftig allen Kindern of-
fensteht. Wir wollen Kitas und Schulen dazu befähigen, gemischte
pädagogische und sozialpädagogische Teams aufzubauen, sich zu
öffnen für Menschen mit Behinderungen und mit der Verschieden-
heit aller Schülerinnen und Schüler konstruktiv umzugehen, damit
bisherige Sonder- und Förderschulen perspektivisch entbehrlich wer-
den oder sich für alle Kinder öffnen. Nicht zuletzt die von Deutsch-
land unterzeichnete UN-Konvention über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen verpflichtet uns dazu. Von diesem Anspruch
ist das deutsche Schulwesen noch weit entfernt. Dies gilt auch für
Hochschulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Wir wollen
dies ändern.
Gute Bildungseinrichtungen sind partizipativ. Dort werden Kinder,
Schülerinnen und Schüler sowie Studierende nicht verplant, sondern
sie können sich einmischen und mitgestalten und das ist erwünscht.
Solche Einrichtungen begreifen Eltern als Partner in der Begleitung
der jungen Menschen und bieten Unterstützung und Beratung. Eine
Kooperationskultur auf Augenhöhe mit anderen pädagogischen oder
außerschulischen Einrichtungen muss eine Selbstverständlichkeit
werden. Schulen und Hochschulen müssen demokratisch verfasst,
ihre Gremien paritätisch besetzt sein. SchülerInnen oder Studieren-
de sollen durch selbstverwaltete Strukturen wie Schülervertretungen
oder verfasste Studierendenschaften vertreten werden. Dazu gehört
auch die Auseinandersetzung mit menschenrechts- und demokra-
tiefeindlichen Strömungen und Ideologien. Gute Bildungseinrichtun-
gen bringen gute Ergebnisse.
Die Arbeit in Kitas und Schulen ist ausgesprochen verantwor-
tungsvoll. Viele Fachkräfte kommen dieser Verantwortung mit ho-
hem Engagement nach. Um dieser Verantwortung gerecht werden
zu können, brauchen sie Rahmenbedingungen, die sie in ihrem ho-
hen Engagement unterstützen. ErzieherInnen haben eine sehr an-
spruchsvolle Aufgabe. Doch die gesellschaftliche Anerkennung hinkt
hinterher. Auch die zu geringe Entlohnung spiegelt den Anspruch und
die Leistung nicht wider. Wir wollen die Länder unterstützen bei der
Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern, die in großer Zahl
dringend gebraucht werden. Wir brauchen Mindeststandards für dieZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
106
Teilhaben an guter BildungFachkraft-Kind-Relation, um die Qualität in den Kitas zu verbessern.
Duale Ausbildung kann auch bei ErzieherInnen ein guter Weg sein,
den Beruf attraktiver zu gestalten. Perspektivisch soll in jeder Gruppe
eine Fachkraft arbeiten, die auf Hochschulniveau ausgebildet wur-
de. Wir brauchen eine Fortbildungskultur, die „lebenslanges Lernen“
auch für ErzieherInnen und LehrerInnen ernst meint. Dabei müssen
Genderkompetenz, interkulturelle Kompetenz, Sensibilität bezüglich
der Vielfalt sexueller Identitäten, Formen selbstbestimmten Lernens
und heil- und sonderpädagogisches Wissen Teil der Aus- und Wei-
terbildung sein. Dazu gehören für uns auch mehr Fachkräfte mit Mi-
grationshintergrund, mit eigener Behinderung sowie mehr Männer
besonders für den Kita- und Grundschulbereich. Generell ist eine
umfassendere Lehrerausbildung mit gleicher Studiendauer für alle
Schularten unser Ziel.
Die Verantwortung für gute Kitas, mehr noch aber für Schulen
und Hochschulen liegt zuallererst bei den Ländern und den Kom-
munen. Der Bund kann unterstützen und mitfinanzieren, wenn man
ihn lässt. Deshalb muss das Kooperationsverbot zwischen Bund und
Bundesländern aufgehoben werden.
Wir wollen die Digitalisierung im Bildungsbereich unterstützen,
um den Zugang zu Wissen zu fördern. Lehr- und Lernmaterial soll
unter freien Lizenzen bereitgestellt werden, um Wissensmonopole
aufzubrechen und die vielfältige Nutzbarkeit entsprechender Inhalte
zu unterstützen. Maßgabe sollten die Standards zu Open Education
Resources sein. Die berufsbildenden Schulen sollen zu Kompetenz-
zentren für Nachhaltigkeit weiterentwickelt werden.
Gemäß der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
brauchen wir Kitas, Schulen, Berufsschulen und Universitäten, die die
Kompetenz zur Analyse, Bewertung und Mitgestaltung der großen
ökologischen und sozialen Herausforderungen dieses Jahrhunderts
vermitteln.
2. Erfolg ermöglichen: für gute Kitas und Schulen
Aufgabe der Bildungseinrichtungen ist es, Begeisterung und Wis-
sensdurst zu erhalten und Kinder in all ihrer Unterschiedlichkeit zu
fördern. Genau hier scheitert unser Bildungssystem aber viel zu oft.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
107
Teilhaben an guter BildungDie Chancen für Kinder und Jugendliche, sich zu bilden und ihr
Leben später selbst in die Hand nehmen zu können, sind nicht für
alle gleich. Schlimmer: Obwohl diese Ungerechtigkeit bekannt ist,
ändert sich zu langsam etwas daran. Bildungsarmut wird vererbt,
weil das deutsche Bildungssystem daran scheitert, Bildungserfolg
vom sozioökonomischen Hintergrund abzukoppeln. Viel zu oft steht
schon bei der Geburt fest, wohin der Weg des Kindes führt. Kinder
und Jugendliche aus einkommensschwachen oder bildungsfernen
Familien kämpfen oft mit Vorverurteilungen und unzureichender
Förderung, besonders wenn sie einen Migrationshintergrund haben.
Wir aber wollen kein Kind zurücklassen. Wir wollen die Blockaden
wegräumen und Wege aufzeigen, die die Potentiale aller Kinder und
Jugendlichen zur Entfaltung bringen.
Dafür brauchen wir zuerst mehr und auch bessere Kita-Plätze,
um Kinder schon früh fördern zu können, und besser qualifizierte
Tagesmütter und -väter. Wir wollen den ab August 2013 geltenden
Rechtsanspruch angemessen finanzieren, einen Rechtsanspruch auf
einen Ganztagsplatz einführen, bundesweit Mindeststandards für
die Qualität der Betreuungsangebote in einem Gesetz festlegen und
die Ausbildung von mehr Erzieherinnen und Erziehern unterstützen.
1 Mrd. Euro an Bundesmitteln pro Jahr werden wir Ländern und
Kommunen zusätzlich zur Verfügung stellen, damit es schnell vor-
angeht. Das von Schwarz-Gelb beschlossene Betreuungsgeld setzt
die falschen Anreize, denn es belohnt Familien, die ihre Kinder vom
Bildungsort Kita fernhalten – wir wollen es daher zugunsten einer
besseren Ausstattung der Kitas wieder abschaffen! Eltern sollen sich
entscheiden können zwischen einem Platz in der Kita und der Tages-
pflege.
In unseren Schulen gelingt es zu selten, ungleiche Startchancen
auszugleichen. Zu früh wird sortiert, anstatt Kinder individuell zu för-
dern und ihnen Zeit zu geben, sich zu entwickeln. Wir sind überzeugt
davon, dass es gut ist, wenn Kinder länger gemeinsam an einer Schule
lernen. Wir wollen dies aber nicht von oben verordnen, sondern laden
Lehrkräfte, Eltern und Schülerinnen und Schüler ein, sich gemeinsam
auf den Weg zu machen hin zu besseren Schulen. Davon profitieren
alle, die stärkeren SchülerInnen wie die schwächeren. SchülerInnen
und LehrerInnen brauchen auch mehr Zeit, denn erfolgreiches Ler-
nen und individuelle Förderung laufen nicht im 45-Minuten-Takt undZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
108
Teilhaben an guter Bildungsind auch nicht mittags zu Ende. Unser Ziel ist es, flächendeckend
Ganztagsschulen aufzubauen, die barrierefrei sind und in denen alle
Kinder auch am Nachmittag miteinander und voneinander lernen,
Wissen vertiefen, ihre Kreativität entfalten und überhaupt Neues ent-
decken können. Eine Ganztagsschule kann außerschulische Sport-,
Kultur- und Jugendangebote besser einbeziehen. Wir werden deshalb
mit den Ländern über ein zweites Ganztagsschulprogramm verhan-
deln, damit die guten, durch das erste Programm aus dem Jahr 2004
angeschobenen Veränderungen fortgesetzt werden können. Sozial-
arbeiterinnen und Sozialarbeiter leisten einen wichtigen Beitrag zur
Gestaltung einer Schule, die Kinder und Jugendliche gerade auch in
schwierigen Lebensphasen individuell fördert. Schulsozialarbeit leis-
tet Prävention und sollte im Rahmen des Ganztagsschulausbaus ge-
stärkt werden. Darüber hinaus wollen wir die Sprachbildung in Kitas
und Schulen stärken. Sprachbildung muss frühzeitig ansetzen, in den
Alltag der Kinder und Jugendlichen integriert sein und ihre Familien-
sprachen mit einbeziehen. Für Kinder mit diagnostizierten Lernstö-
rungen wollen wir frühzeitig Wege der therapeutischen Hilfe öffnen.
3. Zugänge eröffnen in Ausbildung,
Studium und Weiterbildung
Für viele junge Menschen ist der Weg von der Schule in Ausbildung,
Studium und Beruf sehr weit – oft zu weit. Jedes Jahr werden rund
300.000 junge Menschen vermeintlich berufsvorbereitend von Maß-
nahme zu Maßnahme geschleppt. Das deutsche Modell der betriebli-
chen Ausbildung ist zu Recht international anerkannt. Aber: Zu weni-
ge Jugendliche schaffen den Sprung in eine betriebliche Ausbildung,
zu wenige Unternehmen beteiligen sich und die Durchlässigkeit lässt
zu wünschen übrig. Mit DualPlus wollen wir das Berufsausbildungs-
system so weiterentwickeln, dass alle Ausbildungsinteressierten ei-
nen anerkannten Berufsabschluss erwerben können. Das erfolgreiche
duale Ausbildungsprinzip behalten wir bei, Berufsschule und Betriebe
sollen darüber hinaus um überbetriebliche Lernorte ergänzt werden.
Für Jugendliche, die die Schule ohne Abschluss verlassen haben, kön-
nen Produktionsschulen den Übergang in die berufliche Ausbildung
erleichtern. Damit der Wechsel in eine herkömmliche betrieblicheTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
109
Teilhaben an guter BildungAusbildung stets möglich ist, wollen wir die Ausbildung schrittweise
in berufs- und länderübergreifend anerkannte, aufeinander aufbau-
ende Ausbildungsbausteine einteilen. Auch kleinere und spezialisierte
Betriebe können sich so an DualPlus beteiligen.
Der Vorteil ist: Mehr Betriebe können sich an der Ausbildung
beteiligen, mehr Jugendliche finden einen Ausbildungsplatz, un-
terstützende Maßnahmen werden integriert, kein Bildungsschritt
bleibt ohne Anschluss. Und so könnte man sich auch den mindestens
4 Mrd. Euro teuren Maßnahmendschungel sparen und vielen Jugend-
lichen eine echte Chance geben. Auch die Ausbildungsförderung von
Nicht-EU-BürgerInnen soll verbessert werden. Gleichzeitig wird eine
Ausbildung zu guten Fachkräften gefördert.
Die Angst vor den Kosten hält zu viele von einem Studium ab. Eine
bessere Studienfinanzierung muss daher mehr Studierende und vor al-
lem BildungsaufsteigerInnen erreichen. Das gilt gerade auch für junge
Menschen aus nicht akademischen Elternhäusern ohne entsprechen-
de Vorbilder. Wir wollen in einem ersten Schritt die Lage von Studie-
renden aus einkommensschwachen Familien durch Veränderung des
BAföG und eine Erhöhung um 300 Mio. Euro jährlich verbessern. Au-
ßerdem wollen wir das Auslands-BAföG auch für eigenständige Stu-
diengänge im gesamten europäischen Hochschulraum ermöglichen.
Im nächsten Schritt werden wir eine Studienfinanzierung aufbauen,
die aus zwei Säulen besteht: einem Studierendenzuschuss, den alle
erhalten, und einem Bedarfszuschuss, um die für ein Studium zu ge-
winnen, die bislang nicht studieren. Beide Zuschüsse müssen – anders
als das jetzige BAföG – nicht zurückgezahlt werden. Studiengebühren
sind inzwischen bundesweit fast flächendeckend wieder abgeschafft.
Wir lehnen sie weiter ab. Das Deutschlandstipendium und das Bil-
dungssparkonto kritisieren wir. Beide sind ungeeignet, für Bildungs-
gerechtigkeit zu sorgen.
Deutschlands Fachkräftemangel kann nur behoben werden, wenn
mehr Menschen besser qualifiziert werden und studieren. Aber die
Hochschulen sind nicht gut vorbereitet auf die zum Glück zahlreicher
an die Hochschulen drängenden StudienanfängerInnen. Es fehlen
ausfinanzierte Studienplätze. Wir wollen Studienwilligen die Türen
weit öffnen und jährlich 1 Mrd. Euro mehr in den Hochschulpakt
stecken – für mehr Studienplätze und bessere Studienbedingungen.
Wir wollen den Hochschulpakt verstetigen und zu einem dauerhaf-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
110
Teilhaben an guter Bildungten, bedarfsgerechten System der Hochschulfinanzierung weiterent-
wickeln.
Wir befürworten die Vision eines europäischen Hochschulraums,
setzen uns aber für eine Reform der Studienreform ein. Denn sie löst
ihre Versprechungen bisher nicht ein. Die Prüfungsdichte muss redu-
ziert, die Curricula entfrachtet, die Anerkennung von im Ausland er-
worbenen Studienleistungen verbessert, Betreuungs- und Beratungs-
angebote sowie die soziale Infrastruktur auf dem Campus gestärkt
werden. Den Bachelor wollen wir als berufsbefähigenden Abschluss
etablieren und ausreichende Studienplätze für diejenigen schaffen,
die einen Master anstreben.
Damit man sich Lernen in späteren Lebensphasen auch leisten
kann, werden wir für jährlich 200 Mio. Euro ein Weiterbildungs-
BAföG einführen. Es kennt keine Altersgrenze, die Finanzierung des
Lebensunterhalts und der Maßnahmenkosten erfolgt durch einen
Mix von Zuschüssen und Darlehen – je nach Situation der Berech-
tigten. Damit können Schulabschlüsse und Qualifizierung nachgeholt
werden. Wir wollen so diejenigen für Weiterbildung gewinnen, die
bislang von den Angeboten zu wenig erreicht werden: Ältere, Frau-
en, Menschen mit Migrationshintergrund und Geringqualifizierte.
Darüber hinaus werden wir dafür sorgen, dass das Thema Analpha-
betismus nicht länger gesellschaftlich ignoriert wird, und dement-
sprechend in Zusammenarbeit mit Ländern, Kommunen sowie der
Bundesagentur für Arbeit und den ArbeitgeberInnen die Anstren-
gungen zur Verbesserung von Alphabetisierung und Grundbildung
verstärken. Menschen mit Behinderungen lassen wir alle für weiter
gehende Qualifizierung und Bildung notwendigen Unterstützungen
und Assistenzleistungen zukommen.
4. Grüne Wissenschaftspolitik: Freiheit und Verantwortung
Forschung heißt, die Welt von morgen bereits heute zu denken, Zu-
sammenhänge verstehen zu wollen und besser zu begreifen, was
wir nicht wissen. Wissenschaft ist eine Grundvoraussetzung zur Be-
wältigung der sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen
Zukunftsfragen. Dafür brauchen wir eine gemeinsame Verantwor-
tung aller Disziplinen. Das in der Verfassung verbriefte Recht aufTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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111
Teilhaben an guter BildungForschungsfreiheit ist ein hohes Gut. Zugleich muss Wissenschaft
sich ihrer Verantwortung in Forschung und Lehre bewusst sein. Wir
wollen mit der staatlichen Forschungsförderung Anreize dafür set-
zen, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen ihren Beitrag
zur Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen leisten.
Hierzu brauchen wir auch eine starke Grundlagenforschung.
Denn ohne den Aufbruch ins Ungewisse, Unbekannte und Unsiche-
re können echte Erkenntnisdurchbrüche nicht gelingen. Auch dafür
braucht es Geld und Zeit. Deshalb sehen wir mit Sorge die Folgen
der sinkenden Grundfinanzierung der Hochschulen. Dadurch wird
gerade die nicht programmgebundene Neugierforschung gefährdet.
Nachhaltige und soziale Innovationen setzen weitreichende Fol-
geabschätzungen, begleitende Risikoforschung und ein Verständnis
der komplexen technischen und gesellschaftlichen Wechselbezie-
hungen voraus, wenn neue Technologien zum Wohle aller imple-
mentiert werden sollen.
Wir müssen von einer Wissenschaft für zu einer Wissenschaft mit
der Gesellschaft kommen. Wir wollen inter- und transdisziplinäre
Forschung unterstützen, um Wissen zu verbreitern und gesellschaft-
liche und ökologische Wechselwirkungen früh erkennen zu können.
Dazu braucht es eine Stärkung der Forschung für eine nachhaltige
Entwicklung. Der Schutz von Umwelt und Tieren macht aber auch
Grenzziehungen nötig. Tierversuche wollen wir konsequent redu-
zieren. Wir fordern ein nationales Kompetenzzentrum für tierver-
suchsfreie Methoden. Die Ethikkommission zur Bewertung von Tier-
versuchen wollen wir mindestens zur Hälfte mit VertreterInnen des
Tierschutzes besetzen. Versuche an Menschenaffen wollen wir strikt
verbieten. Wir streben ein weitgehendes Verbot von Versuchen an
nicht menschlichen Primaten an. Wir wollen die Friedens- und Kon-
fliktforschung stärken und begrüßen es, wenn öffentliche Wissen-
schaftseinrichtungen vor Ort Friedensklauseln als Leitbild erarbeiten.
Gute Wissenschaft braucht gute Arbeitsbedingungen auf al-
len Ebenen der wissenschaftlichen Karriere. Jenseits der Professur
haben WissenschaftlerInnen heute extrem unsichere Berufs- und
Lebensperspektiven. Wir wollen familienfreundliche Hochschulen
und Wissenschaftseinrichtungen. Befristete Verträge haben über-
handgenommen, oft mit Laufzeiten unter einem Jahr. Das Wissen-
schaftszeitvertragsgesetz hat die Tendenz zu prekärer BeschäftigungZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
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112
Teilhaben an guter Bildungnoch verstärkt. In Deutschland zählen selbst gestandene Wissen-
schaftlerInnen bis ins fünfte Lebensjahrzehnt zum abhängigen
Nachwuchs. Selbständige Forschung ist hier nicht vorgesehen. Lehre
wird immer häufiger mit gering bezahlten Lehraufträgen abgedeckt.
Wir fordern einen langfristig angelegten „Pakt für zukunftsfähige
Personalstrukturen und den wissenschaftlichen Nachwuchs“. Dazu
gehören die Veränderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes,
Mindeststandards für vernünftige Beschäftigungsverhältnisse und
neue Personalkategorien jenseits der Professur. Die Hochschulen
und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sollen verbindliche
Verpflichtungen für eine nachhaltige Personalentwicklung eingehen.
Kontrollmechanismen sollen eingeführt werden, um zu vermeiden,
dass die Hochschulen Lehraufträge als Mittel benutzten, um über
extrem kostengünstige und recht- und schutzlose Lehrkräfte zu
verfügen. Zusätzlich wollen wir mit der Neuauflage des Juniorpro-
fessurenprogramms 1.000 neue Juniorprofessuren mit Tenure Track
initiieren. Das heißt, nach positiver Evaluation soll ein unbefristetes
Beschäftigungsverhältnis eröffnet werden. Zu einem solchen Pakt
gehört für uns auch, dass sich die Qualifizierungs- und Betreuungs-
verhältnisse für Promovierende verbessern. Dafür müssen qualitative
Mindeststandards und ein einheitlicher Doktorandenstatus bundes-
weit umgesetzt werden. Die Vielfalt der Wege zur Promotion wollen
wir erhalten. Wir wollen zudem künftig auch Kollegs für kooperative
Promotionen zwischen Fachhochschulen und Universitäten fördern.
Frauen sind im Wissenschaftssystem nach wie vor deutlich un-
terrepräsentiert – mit jeder Qualifikationsstufe steigend. Das ist
nicht nur ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem, es drohen da-
durch auch bedeutende Innovations- und Qualitätseinbußen in For-
schung und Lehre. Wir wollen Hochschulen und außeruniversitäre
Forschungseinrichtungen verpflichten, Zielquoten mindestens dem
Kaskadenmodell entsprechend zu bestimmen. Wenn diese nicht
erfüllt werden, soll das Folgen für die Mittelvergabe haben. Auch
die institutionelle und die projektgebundene Forschungsförderung
wollen wir an gleichstellungspolitische Verpflichtungen knüpfen, um
so mittelfristig mindestens 50 % Frauen auf allen Ebenen zu haben.
Die unzureichende Grundfinanzierung der Hochschulen be-
droht zunehmend eine besondere Stärke des deutschen Wissen-
schaftssystems, nämlich die Qualität in der Breite. Einer TrennungTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben an guter Bildungin „Forschungshochschulen“ und „Ausbildungshochschulen“ wol-
len wir entgegenwirken und die Lehrqualität verbessern. Die Län-
der müssen ihre Hochschulen besser ausstatten, und der Bund muss
größere Verantwortung – etwa bei der gemeinsamen Finanzierung
der außeruniversitären Forschung – übernehmen. Der Bund kann die
Länder entlasten, indem er künftig 70 % statt wie bisher 50 % der
Kosten der Max-Planck-Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft
übernimmt und die Programmpauschale der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft schrittweise erhöht. Die Länder sollen sich vertraglich
verpflichten, mit den frei werdenden Mitteln die Grundfinanzierung
ihrer Hochschulen zu stärken. Wir streben ein geordnetes Auslau-
fen der Exzellenzinitiative an. Dabei wollen wir die Instrumente
Graduiertenschulen und Exzellenzcluster beibehalten und weiter-
entwickeln. Für uns ist das europaweit vereinbarte Ziel, 3 % des
Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investieren,
nur Mindestmaß. Will die EU insgesamt ihr Ziel erreichen, müssen
wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland deutlich höhere Wer-
te anstreben. Das bewährte System der Forschungsförderung aus
öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen und wettbewerb-
licher Projektförderung wollen wir ergänzen durch eine steuerliche
Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen.
Wir wollen, dass Ergebnisse öffentlich finanzierter Forschung
rasch breit verfügbar sind, und unterstützen deshalb Open Access
und Open Data im Wissenschaftsbereich, damit der Austausch in-
nerhalb der Wissenschaft, aber auch der Wissenstransfer in Wirt-
schaft und Gesellschaft verbessert wird. Durch öffentliche Mittel
finanzierte wissenschaftliche Publikationen müssen auch frei zu-
gänglich sein. Die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Forschung
und Lehre an universitären und außeruniversitären Einrichtungen
muss gewährleistet werden. Größtmögliche Transparenz über die
Forschung an Hochschulen und Universitäten stellt die Grundlage
für den kritischen Diskurs an den Hochschulen und für die öffentli-
che Rechenschaft der Hochschulen gegenüber der Gesellschaft dar.
Klare und verbindliche Transparenzregeln helfen Forschung z. B. zum
militärischen Einsatz oder zu ethisch strittigen Fragen wie z. B. Tier-
versuchen zu identifizieren und sie öffentlich zu thematisieren. Dazu
gehören nachvollziehbare Informationen für die Bürgerinnen und
Bürger, wer im öffentlich finanzierten Wissenschaftsbereich welche
Mittel für welche Forschungstätigkeiten erhält und wer mit wemZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
114
Teilhaben an guter Bildungkooperiert. Wir wollen außerdem Ansätze stärken, forschungspoliti-
sche Entscheidungsprozesse partizipativer zu gestalten.
5. Gemeinsam Verantwortung tragen:
Kooperationsverbot aufheben
Bund und Länder haben sich verpflichtet, mindestens 10 % des
Bruttosozialprodukts jährlich in Bildung und Forschung zu investie-
ren. Obwohl das Ziel bis heute noch nicht ganz erreicht ist, sagen
wir: Dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Ziel müssen mindestens
7 % bei Bildung und 3,5 % bei Forschung und Entwicklung bis 2020
sein. Denn andere sind längst weiter. Bildungs- und Forschungs-
ausgaben haben deshalb für uns einen Vorrang. Und wir werden
den Ländern durch eine Reform der Erbschaftsteuer und unsere
Vorschläge für eine andere Finanz- und Steuerpolitik weitere finan-
zielle Spielräume verschaffen für ihre Aufgaben im Bildungs- und
Wissenschaftsbereich.
Wir wollen eine bessere Bildungsfinanzierung und ein besseres
Bildungs- und Wissenschaftssystem, das auch leistungsfähiger ist.
Dazu müssen auch verfassungsrechtliche Blockaden abgeräumt
werden. Es muss wieder möglich werden, dass der Bund die Län-
der, z. B. beim Ausbau von Ganztagsschulen und Studienplätzen,
finanziell unterstützen darf. Wir wollen das Grundgesetz ändern,
um das Kooperationsverbot in der Bildung aufzuheben und die Zu-
sammenarbeit in der Wissenschaft zu erleichtern. Unser Ziel ist eine
Ermöglichungsverfassung für bessere Bildung und Wissenschaft.
Um beide Zukunftsfelder zu stärken und Chancengerechtigkeit zu
fördern, braucht es einen kooperativen Bildungsföderalismus, eine
echte Verantwortungspartnerschaft zwischen Bund, Ländern und
Kommunen sowie eine neue Kooperations- und Vertrauenskultur.
Bis das Kooperationsverbot aufgehoben wird, werden wir uns dafür
einsetzen, dass der Bund sich an den Bildungskosten beteiligt und
die Länder durch unsere Vorschläge für eine andere Finanz- und
Steuerpolitik finanzielle Spielräume für ihre Aufgaben im Bildungs-
und Wissenschaftsbereich erhalten.
Wir setzen uns für bundesweit einheitliche und verbindliche
abschlussbezogene Bildungsstandards in allen Fächern ein. Damit
soll gesichert werden, dass trotz unterschiedlicher SchulsystemeTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
115
Teilhaben an guter Bildungdie Schülerinnen und Schüler in allen Bundesländern vergleichbares
Fachwissen erlangen und die gleichen Kernkompetenzen beherr-
schen. Ebenso wollen wir verhindern, dass ihnen Nachteile bei ei-
nem Schulwechsel über Bundesländergrenzen hinweg entstehen.
Wer GRÜN wählt …
• investiert in mehr, bessere und inklusive Kitas.
• fördert längeres gemeinsames und inklusives Lernen.
• fördert Ganztagsschulen mit hoher Bildungsqualität für alle.
• sorgt für gute Ausbildung für alle, schafft zusätzliche Studien-
plätze und verbessert die Qualität von Lehre und Studium.
• schafft Spielräume für eine bessere Grundfinanzierung der
Hochschulen und bietet dem wissenschaftlichen Nachwuchs
verlässlichere Perspektiven.
• will das Kooperationsverbot in der Bildung abschaffen.
Schlüsselprojekte
Grüne Bildungsrepublik begründen –
gute Ganztagsschulen flächendeckend aufbauen
Das deutsche Bildungssystem ist ungerecht und muss erneuert wer-
den. Wir wollen bessere Bildung und Chancengleichheit für alle
Kinder. Ganztagsschulen sind das Kernstück eines chancengerech-
ten und inklusiven Bildungssystems, denn sie bilden den Rahmen,
in dem individualisiertes und kreatives Lernen stattfindet. Deshalb
bauen wir flächendeckend Ganztagsschulen auf. Dafür verhandeln
wir mit den Ländern über eine Aufhebung des Kooperationsverbots
in der Bildung und unterstützen sie mit mindestens 500 Mio. Euro
pro Jahr. Damit schaffen wir Schulen, in denen alle Kinder auch amZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
116
Teilhaben an guter BildungNachmittag miteinander und voneinander lernen, Wissen vertiefen
und Neues entdecken können.
Hochschulen stärken – jährlich 1 Mrd. Euro mehr Bundesmittel
Die Länder müssen ihre Hochschulen besser ausstatten und der Bund
muss größere Verantwortung bei der Finanzierung übernehmen. Wir
wollen, dass 3,5 % des BIP bis 2020 in Forschung und Entwicklung
investiert werden. Für mehr Studienplätze, bessere Studienbedingun-
gen, eine höhere Qualität der Lehre und verlässliche Perspektiven für
den wissenschaftlichen Nachwuchs wollen wir zusätzlich mindestens
1 Mrd. Euro jährlich in unsere Hochschulen investieren. Mit verän-
derten Finanzierungsschlüsseln bei der außeruniversitären Forschung
wollen wir den Ländern außerdem Spielräume verschaffen, um die
Grundfinanzierung ihrer Hochschulen zu stärken. Damit sollen prekä-
re Beschäftigung eingedämmt und eine Ausfinanzierung der Studien-
plätze gewährleistet werden.
Studierende und Weiterbildung besser unterstützen –
das BAföG erhöhen
Zu viele Menschen entscheiden sich wegen finanzieller Barrieren ge-
gen ein Studium. Die Lage von Studierenden aus einkommensschwä-
cheren Familien wollen wir durch eine Reform und Erhöhung des
BAföG verbessern. In einem ersten Schritt stellen wir dafür mindes-
tens 300 Mio. Euro zusätzlich bereit. Danach wollen wir das BAföG
schrittweise zum grünen 2-Säulen-Modell erweitern, das eine Basis-
absicherung und einen Bedarfszuschuss kombiniert und so mehr Bil-
dungsaufstieg ermöglicht. Damit man sich Lernen und Weiterbilden
auch in späteren Lebensphasen leisten kann, wollen wir für jährlich
mindestens 200 Mio. Euro ein Weiterbildungs-BAföG einführen. Es
kennt keine Altersgrenzen. Die Finanzierung des Lebensunterhalts
und der Maßnahmenkosten erfolgt durch einen Mix aus Zuschüssen
und Darlehen, je nach Situation der Berechtigten.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
117
Teilhaben an sozialer SicherungG. Teilhaben an sozialer Sicherung
Wie wir ein Netz der Absicherung für alle schaffen
Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Trotzdem ist
materielle Armut kein Randphänomen, sondern betrifft Millionen
Menschen. Jedes vierte Kind unter 15 Jahren lebt in Deutschland
in einem einkommensarmen Haushalt. Arbeitslosigkeit, Erziehung
von Kindern, Krankheit, Behinderung, Alter oder schicksalhafte Er-
eignisse dürfen in unserem reichen Land nicht Ursache von einem
Leben in Armut sein.
Unser Ziel der Teilhabe umfasst alle. Inklusive Politik fragt nicht
nach vermeintlichen Defiziten von Menschen, sondern will die Fä-
higkeiten der Einzelnen und ihre Teilhabe fördern und unterstüt-
zen. Das schaffen wir mit den Instrumenten einer soziokulturellen
Mindestsicherung und guten öffentlichen Institutionen, aber auch
durch eine allgemein verankerte Denkweise, die allen Menschen die
Freiheit eröffnet, in unserer Demokratie so zu leben, wie sie sind. Es
ist normal, verschieden zu sein.
Wer arm geboren wurde, wird häufiger, früher und schwerwie-
gender krank und hat eine deutlich geringere Lebenserwartung.
Dies wird noch verstärkt durch einen schlechten Zugang zu ge-
sundheitlicher Versorgung. Die steigende Zahl der Menschen, die
unter prekären Bedingungen arbeiten oder unterbrochene Erwerbs-
biografien haben, ist auch im Alter unzureichend abgesichert. Viele
Betroffene können sich im Bedarfsfall keine gute Pflege organisie-
ren oder finanzieren.
Leisten wir dem gesellschaftlichen Wunsch nach einem belast-
baren Sicherungsnetz für alle endlich Folge: Auch die gesellschaft-
lich Benachteiligten dürfen nicht durchs Netz fallen. Denn nur wer
weiß, dass er notfalls aufgefangen wird und soziale Rechte hat, ist
BürgerIn und kein/e BittstellerIn.
Soziale Sicherheit ist die Voraussetzung für gesellschaftliches En-
gagement, für alle, die sich einmischen wollen und können. Soziale
Sicherheit und Teilhabe sind zwei Seiten einer Medaille. Deshalb istZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
118
Teilhaben an sozialer Sicherunges wichtig, dass das soziokulturelle Existenzminimum tatsächlich für
alle gewährleistet ist.
Indem wir die sozialen Sicherungssysteme fit machen für die
neuen Herausforderungen, schaffen wir auch der Solidarität eine
Zukunft. Grüne Grundsicherung, grüne Bürgerversicherung, grüne
Garantierente und grünes Pflegekonzept sind hierfür der Schlüssel.
So schaffen wir ein solidarisches Sicherungsnetz, auf das sich jeder
Mensch im Bedarfsfall verlassen kann: schnell, unbürokratisch und
existenzsichernd. Wir wollen auch erreichen, dass die Versicherten
ihre sozialen Leistungen europaweit besser in Anspruch nehmen
können.
Wir machen uns auch dafür stark, dass die Versicherten in den
Sicherungssystemen mehr Gehör finden und eine stärkere Vertre-
tung erhalten. Ob Arbeitslose oder RentnerInnen, ob PatientInnen
oder Pflegebedürftige: Auch hier ist Einmischung erwünscht.
1. Grüne Grundsicherung
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein entscheidendes
Auffangnetz. Diese Grundsicherung muss neben der materiellen
Absicherung auch die Möglichkeit der soziokulturellen Teilhabe an
unserer Gesellschaft sicherstellen. Die Würde des Menschen ist und
bleibt Maßstab unserer Politik.
Trotz jahrelanger Kritik an der Berechnung des Arbeitslosengeld-
II-Regelsatzes hat die Regierung Merkel nicht reagiert und hierfür im
Jahr 2010 die Quittung durch das Bundesverfassungsgericht erhalten.
Wir wollen den Regelsatz für Erwachsene auf 420 Euro erhöhen
und jährlich überprüfen, ob er noch angemessen ist. Diese Neube-
rechnung wollen wir im Dialog mit den Sozialverbänden umsetzen.
Die Berechnung muss verfassungskonform gestaltet werden. Das
heißt zum einen, die sogenannten verdeckt Armen und kleinen Auf-
stocker (Zuverdienst bis 100 Euro) aus der Bezugsgruppe, die Maß-
stab für die Regelsatzberechnung ist, herauszunehmen. Und zum
anderen, die wichtigsten Ausgabenpositionen einzubeziehen, die
für Teilhabe und Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen wichtig
sind und auch durchschnittliche Energiekosten abdecken. Zudem
muss der Regelbedarf 2014 auf Basis der neuen statistischen Da-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
119
Teilhaben an sozialer Sicherungten an Inflation und Lohnentwicklung angepasst werden. Damit die
Anhebung des ALG II finanzierbar ist und um zu verhindern, dass
immer mehr erwerbstätige Menschen durch Armutslöhne ergän-
zend ALG II beziehen müssen, gehört die Einführung eines gesetzli-
chen Mindestlohns unabdingbar zu einer reformierten Grundsiche-
rung dazu. Wir setzen darauf, dass wir durch einen Mindestlohn
Geld einsparen, so dass wir einen Teil der ALG-II-Erhöhung damit
gegenfinanzieren können. Das bürokratische Bildungs- und Teilha-
bepaket hat zur Folge, dass viele Kinder ihren verfassungsrechtlich
garantierten Anspruch auf Bildung und Teilhabe nicht wahrnehmen
können. Wir wollen das unsinnige Bildungs- und Teilhabepaket ab-
schaffen. Stattdessen wollen wir als ersten Schritt zur Kindergrund-
sicherung die Kinderregelsätze erhöhen sowie in die Bildungs- und
Teilhabeinfrastruktur investieren.
Wir wollen beim ALG II die Grundlage der Berechnung umstel-
len von der Bedarfsgemeinschaft hin zur individuellen Existenzsi-
cherung. Das Prinzip der Bedarfsgemeinschaften benachteiligt vor
allem Frauen und zementiert ihre finanzielle Abhängigkeit. Die-
se Umstellung geht zwar nicht von heute auf morgen, doch wir
werden den Wechsel hin zur individuellen Existenzsicherung in
der kommenden Legislaturperiode anpacken und mit konkreten
Schritten einleiten. Das gilt auch für AsylbewerberInnen. Deshalb
schaffen wir das Asylbewerberleistungsgesetz ab, überführen ihre
Ansprüche ins SGB und beenden die unwürdige Gutscheinpraxis.
Die Sanktionen für Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslo-
sengeld II sind meist demütigend, unnötig und kontraproduktiv. Die
verschärften Sanktionen für Menschen unter 25 Jahren, die bis zur
Obdachlosigkeit führen können, wollen wir unverzüglich abschaf-
fen. Die von Schwarz-Gelb durchgesetzte Anrechnung des Eltern-
geldes auf das Arbeitslosengeld II benachteiligt einkommensarme
Familien. Bei der von uns angestrebten Neuordnung der familien-
politischen Leistungen wollen wir diese Ungerechtigkeit beseitigen
und die Anrechnung des Elterngeldes wieder rückgängig machen.
Unser Ziel ist eine Grundsicherung, die auf Motivation, Hilfe und
Anerkennung statt auf Bestrafung setzt. Die Zahlung einer sozi-
alen Grundsicherung soll weiterhin an die Bereitschaft geknüpft
werden, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und sich um eine
eigenständige Existenzsicherung zu bemühen. In der Regel ist dasZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
120
Teilhaben an sozialer Sicherungdie Suche nach einem neuen Arbeitsplatz, Aus- und Weiterbildung
oder Umschulung. Wir brauchen ein Wunsch- und Wahlrecht der
Arbeitsuchenden in den Jobcentern, ein Verbandsklagerecht sowie
Ombudsstellen, um Konflikte frühzeitig, unter Vermeidung von un-
nötigen und teuren Gerichtsverfahren und auf Augenhöhe zu lösen.
Dazu wollen wir beispielsweise sicherstellen, dass Eingliederungs-
vereinbarungen nicht durch einen Verwaltungsakt ersetzt werden.
Ein solches Prinzip der partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist mit
den heutigen Sanktionsregeln und -automatismen nicht vereinbar.
Bis neue faire Regeln etabliert sind, fordern wir ein Sanktionsmo-
ratorium.
Soziale Leistungen sind gutes Recht. Doch wer sie in Anspruch
nehmen will, erlebt oft ein blaues Wunder: wenn Arbeitsuchende
bei Fragen an das Jobcenter eine kostenpflichtige Telefonhotline
anrufen müssen, um dann doch keine Auskunft zu erhalten; wenn
die Pflegekasse ältere Menschen, die einen ambulanten Dienst
brauchen, nicht ausreichend unterstützt; oder wenn die Kranken-
kasse die Anschlussbehandlung eines Patienten oder einer Patientin
nach einem Schlaganfall hinauszögert. Diese Beispiele stehen ex-
emplarisch für einen oft erlebten Umgang von Behörden und So-
zialversicherungen mit ihren „Kundinnen und Kunden“. Die Rechte
auf Beratung, auf angemessene Leistungen, auf Teilhabe am ge-
sellschaftlichen Leben bleiben dabei auf der Strecke. Wir wollen,
dass die Menschen ihr Recht bekommen. Es ist an der Zeit, die Leis-
tungsberechtigten bei der Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche zu
stärken, auch durch ein Verbandsklagerecht und die Schaffung und
Förderung ämterunabhängiger Beratungsstellen.
Wir wollen die Idee einer finanziellen Basissicherung oder die
einer negativen Einkommensteuer weiter diskutieren. Gerade in der
Debatte um Grundsicherung und ein bedingungsloses Grundein-
kommen für alle muss es darum gehen, unsere Leitbilder von Ge-
rechtigkeit und emanzipativer Sozialpolitik, die Bedeutung öffent-
licher Institutionen und Finanzierbarkeit zu verbinden. Wir wollen
diese Debatte in die Gesellschaft hineintragen. Wir halten deshalb
die Einrichtung einer Enquete-Kommission im Deutschen Bundes-
tag für sinnvoll, in der Idee und Modelle eines Grundeinkommens
sowie grundlegende Reformperspektiven für den Sozialstaat und
die sozialen Sicherungssysteme diskutiert werden. In einer solchenTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
121
Teilhaben an sozialer SicherungEnquete wollen wir der Diskussion über ein bedingungsloses
Grundeinkommen sowie damit verbundene Veränderungen in den
sozialen Sicherungssystemen den nötigen Raum verschaffen. Ziel
ist es, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen und das
individuelle Grundrecht auf Teilhabe zu verwirklichen.
2. Grüne Bürgerversicherung:
gerechte Finanzierung des Gesundheitssystems
In der gesetzlichen Krankenversicherung stehen Gesunde und
Kranke, Junge und Alte sowie Gut- und Geringverdienende solida-
risch füreinander ein. Kinder sind kostenlos mitversichert. Doch die
Solidargemeinschaft ist nicht vollständig. Unser Gesundheitssystem
ist in Schieflage geraten. Privatversicherte sind häufig privilegiert
und erhalten Vorzugsbehandlungen. Gut verdienende Angestellte,
BeamtInnen, viele Abgeordnete und die meisten Selbständigen ge-
hören der privaten Krankenversicherung an. Als Privatversicherte
versichern sie nur ihr eigenes, meist unterdurchschnittliches Krank-
heitsrisiko. Zum Solidarausgleich tragen sie so nicht bei.
Diese 2-Klassen-Medizin in unserem Gesundheitswesen wollen
wir beenden. Unsere Alternative ist die grüne Bürgerversicherung:
eine für alle statt jeder für sich. Dagegen will Schwarz-Gelb den So-
lidarausgleich innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung im-
mer weiter abbauen. Die steigenden Gesundheitsausgaben sollen
über pauschale Zusatzbeiträge alleine den Versicherten aufgebür-
det werden. Wir dagegen wollen mehr, nicht weniger Solidarität.
Die grüne Bürgerversicherung bezieht alle Bürgerinnen und Bürger
in die Solidargemeinschaft ein. Gleichzeitig wird die paritätische
Finanzierung zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen
wiederhergestellt.
Die grüne Bürgerversicherung sorgt aber nicht nur für die Stär-
kung der Solidarität. Sie ist ein entscheidender Schritt zu einer so-
liden Finanzierung des Gesundheitswesens, denn wir verbreitern
die finanzielle Basis. Zukünftig wollen wir alle Einkommensarten
gleichbehandeln und zur Finanzierung heranziehen. Also neben Ar-
beitseinkommen und Renten auch Kapitaleinkommen, zum Beispiel
durch Aktiengewinne, Zinsen, Spekulationsgewinne und Mietein-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
122
Teilhaben an sozialer Sicherungnahmen. Zudem heben wir die Beitragsbemessungsgrenze auf das
in der Rentenversicherung geltende Niveau. Das schafft mehr Ge-
rechtigkeit im Gesundheitswesen, indem es Gutverdienende fairer
beteiligt, macht die Finanzierung zukunftsfest und schafft Raum für
Beitragssatzsenkungen.
Die grüne Bürgerversicherung ist keine Einheitsversicherung. So-
wohl die gesetzlichen als auch private Krankenversicherer können
die Bürgerversicherung anbieten. Allerdings gilt eine gemeinsame
Honorarordnung. Denn die Art und das Ausmaß der Behandlung
von Patientinnen und Patienten dürfen nicht länger davon abhängig
sein, ob diese privat oder gesetzlich versichert sind. Dabei werden
wir sicherstellen, dass die höheren Honorare, die heute über die
Privatversicherten an die Ärzteschaft und an die anderen Gesund-
heitsberufe fließen, insgesamt erhalten bleiben und gerechter ver-
teilt werden. Der Wettbewerb unter den Anbietern darf dabei nicht
über den Beitragsatz, sondern soll vor allem über die Qualität und
Patientenorientierung geführt werden. Die Krankenversicherungen
als Interessenvertreter sollen das Wohl jedes einzelnen Mitglieds im
Blick haben. Keinesfalls darf es eine Risikoselektion geben. Versi-
cherte dürfen wegen ihres Alters, ihres Geschlechts oder möglicher
Vorerkrankungen nicht benachteiligt werden. Die Beiträge sind strikt
einkommensbezogen zu erheben. Zuzahlungen werden abgeschafft.
Die grüne Bürgerversicherung unterstützt Familien mit Kindern.
Kinder werden kostenlos mitversichert, zeitlich begrenzt auch Ver-
heiratete bzw. LebenspartnerInnen, die nicht erwerbstätig sind, aber
Kinder erziehen oder Pflegeleistungen erbringen. Für alle anderen
Ehepaare und für eingetragene Lebensgemeinschaften wird ein
Beitragssplitting eingeführt. Damit wird die Bevorzugung von Al-
leinverdienerpaaren mit einem überdurchschnittlichen Haushaltsein-
kommen beendet und die negativen Erwerbsanreize für Ehefrauen
abgeschafft.
3. Grüne Gesundheitspolitik:
ortsnah und bedarfsgerecht, inklusiv und präventiv
Wir wollen die wohnortnahe gesundheitliche Versorgung weiter
verbessern und den Zugang unabhängig von Alter, Einkommen,TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
123
Teilhaben an sozialer SicherungGeschlecht, Herkunft, Behinderung, sozialer Lage und Wohnort
sicherstellen. Kern muss eine Primärversorgung sein, in der Haus-
und KinderärztInnen sowie die Angehörigen weiterer Gesundheits-
berufe auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Dafür sind u. a. die Auf-
wertung der HausärztInnen und des Berufsbildes der Pflege, eine
veränderte Aufgabenverteilung zwischen den Gesundheitsberufen
und ein Vergütungssystem erforderlich, das die besonderen Leis-
tungen der Primärversorgung, wie die Beratung und Begleitung der
PatientInnen, berücksichtigt. Hausarztverträge können dabei ein
Beitrag sein, um eine wohnortnahe Primärversorgung zu gewähr-
leisten und die Qualität der Versorgung zu verbessern.
Um den Versorgungsbedarfen der wachsenden Zahl chronisch
und mehrfach sowie psychisch erkrankter Patientinnen und Pati-
enten gerecht zu werden, ist eine enge Zusammenarbeit der un-
terschiedlichen Gesundheitseinrichtungen und -berufe erforderlich.
Die finanziellen und rechtlichen Barrieren, die einer Gesundheits-
versorgung „Hand in Hand“ entgegenstehen, wollen wir beseiti-
gen. Die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit muss
schon in der Ausbildung gefördert werden. Die Pflegekräfte sind in
ihrer Eigenverantwortung zu stärken.
Bei der Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung soll den Kom-
munen sowie den regionalen und lokalen Zusammenschlüssen von
Patientinnen und Patienten sowie Gesundheitsberufen künftig eine
größere Rolle zukommen. So können Versorgungsstrukturen stär-
ker auf die Bedarfe vor Ort ausgerichtet und medizinische Versor-
gung, Prävention und Gesundheitsförderung mit den kommunalen
sozialen Diensten verknüpft werden. Die Krankenhausversorgung
ist ein wichtiger Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Krankenhäu-
ser sind als Teil des regionalen Versorgungssystems zu begreifen
und müssen bedarfsgerecht finanziert werden. Öffentliche Kran-
kenhäuser müssen sich mit ihren sozialen Zielsetzungen neben frei-
gemeinnützigen und privaten Trägern behaupten können.
Doch mit ihrer Krankenhauspolitik im Zickzackkurs und unter-
lassenen Strukturreformen hat die Bundesregierung vor allem viele
kommunale Krankenhäuser in die roten Zahlen getrieben. Das scha-
det den Patientinnen und Patienten. Denn Diagnosen, Therapien
und Dauer des Krankenhausaufenthalts werden in den Kliniken
zunehmend von betriebswirtschaftlichen Überlegungen bestimmt.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
124
Teilhaben an sozialer SicherungUnd das trifft auch die Beschäftigten, insbesondere in der Pflege,
die immer mehr Patientinnen und Patienten mit immer größerem
Unterstützungsbedarf versorgen müssen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen deshalb eine Kurskorrektur
auch in der Krankenhauspolitik. Fehlerhafte ökonomische Anreize
im derzeitigen Finanzierungssystem, die zu unangebrachten oder
ethisch fragwürdigen Therapieentscheidungen führen können,
wollen wir beheben. Die Vergütungen, die die Krankenhäuser für
die Behandlung der Patientinnen und Patienten erhalten, müssen
die steigenden Personal- und Sachkosten angemessen berücksich-
tigen. Die Qualität der Behandlung sowie der Patientennutzen soll-
ten zunehmend in die Vergütung eingehen. Die Vorhaltekosten der
Notfallversorgung und die Kostenstruktur der unterschiedlichen
Krankenhausgrößen müssen angemessen berücksichtigt werden.
Um die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern zu ver-
bessern, sind neben der Schaffung zusätzlicher Pflegestellen und
einer finanziellen Besserstellung der Pflegeberufe eine familien-
freundliche Arbeitsorganisation, mehr Teamorientierung und eine
gleichberechtigte Zusammenarbeit aller im Krankenhaus tätigen
Gesundheitsberufe nötig. Bestehende Arbeitsschutz- und Arbeits-
zeitbestimmungen sind konsequent umzusetzen sowie Vorkehrun-
gen gegen übermäßige psychische Belastungen zu treffen.
Damit sich regionale Versorgungsnetze bilden können und um
eine bedarfsgerechte Krankenhausversorgung auch in ländlichen
und strukturschwachen Regionen zu gewährleisten, wollen wir
die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit der Krankenhäuser
untereinander sowie mit den ambulanten Strukturen vor Ort ver-
bessern. Dafür streben wir unter anderem ein einheitliches Vergü-
tungssystem für alle fachärztlichen Leistungen an, gleichgültig, ob
sie im Krankenhaus oder in der Facharztpraxis erbracht werden. Die
Anwendung von Informationstechnologien kann einen wichtigen
Beitrag für eine bessere Gesundheitsversorgung leisten. Allerdings
sind dabei die Grundsätze des Datenschutzes und des Rechts auf
informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten
strikt einzuhalten.
Patientinnen und Patienten sollen auch Angebote der beson-
deren Therapierichtungen wahrnehmen können. Dazu muss die
Komplementärmedizin Nachweise zur Wirksamkeit erbringen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
125
Teilhaben an sozialer SicherungEs sind geeignete Methoden zum Wirksamkeitsnachweis für die
Komplementärmedizin als auch andere medizinische Bereiche (z. B.
Physio- oder Psychotherapie) zu entwickeln. Dafür sind öffentliche
Forschungsgelder zur Verfügung zu stellen. PatientInnen sollen
in einem Patientenbrief nach erfolgter Behandlung in verständli-
cher Form über Diagnose, Art und Umfang der Leistung informiert
werden.
Ob bei künstlichen Hüftgelenken, Herzschrittmachern oder
Brustimplantaten – Sicherheit, Wirksamkeit und Nutzen von Me-
dizinprodukten müssen verbessert werden. Dazu gehören ein
europaweit einheitliches staatliches Zulassungsverfahren für
Hochrisikoprodukte, strenge Vorgaben für klinische Studien, ein
Medizinprodukteregister und eine bessere Nutzenbewertung neuer
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Notwendig ist zudem
eine Produkthaftpflicht für Medizinproduktehersteller.
Die kürzlich eingeführte Nutzenbewertung neuer Arzneimittel
ist ein wichtiger Schritt. Sie ermöglicht, den Preis eines Medika-
ments davon abhängig zu machen, welcher Patientennutzen mit
ihm verbunden ist. Blockadeversuchen der Pharmaindustrie werden
wir entschieden entgegentreten. Damit alle Informationen zu ei-
nem Arzneimittel in seine Bewertung einfließen können, werden
wir die Pharmaunternehmen verpflichten, alle Arzneimittelstudien
registrieren zu lassen und deren Resultate zu veröffentlichen. For-
schungsprojekte zur spezifischen Verträglichkeit von Arzneimitteln
bei Kindern sowie zur geschlechterspezifischen Verträglichkeit müs-
sen ausgebaut werden. Medizinische Forschung muss transparent
gestaltet, Abhängigkeiten von Drittmittelgebern in der Forschung
konsequent offengelegt werden. Wir wollen für Menschen in Ent-
wicklungs- und Schwellenländern den Zugang zu Medikamenten
verbessern. Hierzu wollen wir auch die rechtlichen Rahmenbedin-
gungen verbessern und sehen öffentliche Forschungseinrichtun-
gen in der Verantwortung, sozialverträgliche Lizenzierungs- und
Vertriebsmodelle zu entwicklen. Perspektivisch streben wir eine
Angleichung der Preisregulierung und der Regelungen zur Quali-
tätstransparenz für Arzneimittel innerhalb der EU an. Die Bekämp-
fung von Korruption braucht eine klare Gesetzgebung mit konse-
quenter Durchsetzung, um die Manipulation im Gesundheitssystem
durch nicht am Patientenwohl orientierte Einflüsse, u. a. Bestrebun-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
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126
Teilhaben an sozialer Sicherunggen von Pharma- und MedizinprodukteherstellerInnen, endlich zu
beenden. Hierzu gehört die Einführung eines Straftatbestandes für
Korruption durch die LeistungserbringerInnen im Gesundheitswe-
sen, der Ausbau unabhängig finanzierter medizinischer Forschung
und ein Weiterbildungswesen frei von wirtschaftlicher Beeinflus-
sung.
Menschen mit Behinderungen sind im Gesundheitssystem häufi-
ger als andere Bevormundung und Entscheidungen über ihren Kopf
hinweg ausgesetzt. Wir streben ein inklusives Gesundheitssystem
an, das auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen ein-
geht und alle notwendigen präventiven, diagnostischen, therapeu-
tischen sowie rehabilitativen Maßnahmen ermöglicht. Das schließt
die Qualität der Unterstützung mit ein, beispielsweise durch Versor-
gung mit hochspezialisierten Hilfsmitteln zur Kommunikation und
Mobilität. Wir treten dafür ein, dass die UN-Behindertenrechts-
konvention in Deutschland konsequent umgesetzt wird und eine
entsprechende Überarbeitung der gesetzlichen Grundlagen erfolgt.
Wir wollen eine interkulturelle Öffnung der gesundheitlichen
Regeldienste und falls erforderlich ein herkunftssprachliches Bera-
tungsangebot. Für Flüchtlinge und Menschen „ohne Papiere“ muss
der Zugang zur gesundheitlichen Grundversorgung gesichert sein.
Wir wollen den Patientennutzen – gerade auch die Verbesserung
der Lebensqualität – in den Mittelpunkt stellen und deshalb stärker
die Behandlungsergebnisse vergüten und nicht ausschließlich den
Umfang an Behandlungen. Zu einer leistungsfähigen Gesundheits-
versorgung tragen informierte Patientinnen und Patienten bei, die
ihre Bedarfe selbstbewusst vertreten und ihre Behandlung mitge-
stalten können. Dazu brauchen sie zuverlässige Informationen über
die Qualität von Therapien und Versorgungsangeboten. Doch die
mangelhafte Qualitätstransparenz ist eine der großen Schwachstel-
len im deutschen Gesundheitswesen. Benötigt wird eine Art „Stif-
tung Warentest“ im Gesundheitswesen, die zuverlässige Qualitäts-
informationen sammelt und allgemeinverständlich aufbereitet. Wir
treten für den weiteren Ausbau der unabhängigen Patientenbera-
tung ein. Wir setzen uns für eine Beweiserleichterung für geschä-
digte PatientInnen ein. Für PatientInnen, die im Zusammenhang mit
ihrer Behandlung einen schweren gesundheitlichen Schaden erlitten
haben, ohne dass eindeutig ein Behandlungsfehler nachgewiesenTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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127
Teilhaben an sozialer Sicherungwerden kann, wollen wir einen Haftungs- und Entschädigungs-
fonds einrichten. Darüber hinaus erforderlich ist eine Stärkung der
PatientInnenrechte sowie Rechte der PatientInnenvertreterInnen in
den Gremien der Selbstverwaltung. Die Patientinnen und Patienten
müssen bei Behandlungsfehlern mehr Rechte vor Gericht erhalten.
Um dem Ziel einer guten Gesundheit für alle näherzukommen,
braucht es vor allem präventive Anstrengungen in den verschie-
densten Politikfeldern. Von der Ernährung über die Stadtplanung,
die Umwelt- und Verkehrspolitik bis hin zur Schul-, Sport- und
Drogenpolitik. Gesundheitliche Belastungen entstehen in der Le-
bensumgebung und im Alltag der Menschen. Das beginnt schon
rund um die Geburt. Wir wollen einen guten Start ins Leben für
alle Kinder. Deshalb wollen wir Hebammen stärken, ihre Arbeit
besser entlohnen und dem Berufsstand mehr Anerkennung ver-
leihen. In der Kindertagesstätte, der Schule, am Arbeitsplatz oder
im Wohnquartier. Und diese Belastungen sind sozial ungleich ver-
teilt. Studien zeigen immer wieder, dass sich die Gesundheitsrisiken
bereits bei Kindern und Jugendlichen auf die 20 % konzentrieren,
die aus sozial benachteiligten Familien kommen. Dem wollen wir
entgegenwirken. Wir wollen Gesundheit fördern, nicht nur Krankheit
behandeln. Und wir wollen die Ungleichverteilung von Gesundheits-
chancen reduzieren. Wir wollen erreichen, dass sich Maßnahmen
zur Gesundheitsförderung und Prävention besser an Zielgruppen
orientieren und mehr geschlechtsspezifische und kultursensible
Angebote unterbreitet werden. Deshalb schaffen wir mit einem
Präventionsgesetz eine verlässliche Grundlage für eine gute, wohn-
ortnahe, allen zugängliche und bezahlbare Gesundheitsvorsorge.
Wirksame Gesundheitsförderung findet vor Ort in den Kommunen
statt. Wir erachten hierbei auch Sport und Bewegung als wichtige
präventive Maßnahmen, um die körperliche und seelische Gesund-
heit zu erhalten und wo möglich zu verbessern. Das Präventionsge-
setz sorgt auch für eine gerechte Finanzierung und eine sinnvolle
Steuerung der Gesundheitsförderung und Prävention, an der wir
alle Sozialversicherungsträger und auch die private Kranken- und
Pflegeversicherung beteiligen.
Immer mehr Menschen benötigen aufgrund einer psychischen
Krise oder einer schweren psychischen Störung Hilfe und Thera-
pie. Grund dafür sind auch die zunehmenden psychischen Belas-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben an sozialer Sicherungtungen vor allem bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter und
hohe Belastungen am Arbeitsplatz. Wir brauchen mehr umfassende
gemeindenahe ambulante Angebote, wie z. B. Krisenhilfen, bessere
Übergänge zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, ver-
mehrt Angebote zur integrierten Versorgung sowie eine verstärkte
Zusammenarbeit zwischen den Gesundheits- und Sozialberufen.
Wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren sollen auch
in der ambulanten Versorgung zur Verfügung gestellt werden. Wir
treten für Behandlungsformen ein, die auf Freiwilligkeit und nicht
auf Zwang setzen. Um die bestehenden Defizite zu beseitigen, wol-
len wir darauf hinwirken, dass Bund und Länder unter Einbeziehung
aller AkteurInnen einen Aktionsplan zur Weiterentwicklung der
gesundheitlichen Versorgung bei psychischen Erkrankungen entwi-
ckeln. Wir unterstützen die engagierte Arbeit der Selbsthilfe und
setzen uns für einen vorurteilsfreien Trialog zwischen Psychiatrie-
erfahrenen, Angehörigen und professionell in der Psychiatrie Täti-
gen ein.
Wir wollen das durch zahlreiche Skandale schwer beschädigte
Vertrauen in das System der Organtransplantation wieder aufbau-
en. Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass es
bei Organspenden gerecht und mit rechten Dingen zugeht. Das
geht nur durch absolute Transparenz, rechtsstaatliche Strukturen
und durch ständige Qualitätsprüfungen, Deshalb setzen wir uns
für die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung ein, die
die Organspende in Deutschland koordiniert und die Aufsicht über
die am Transplantationswesen beteiligten Akteure wahrnimmt. Zu
einem guten Gesundheitswesen gehört auch, Sterbenden ein Le-
bensende in Würde und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Einen
wichtigen Beitrag dazu leistet die Hospizbewegung. Doch die Zahl
und Ausstattung der stationären Hospize ist sehr unterschiedlich
und nicht ausreichend. Wir wollen die Rahmenbedingungen für die
Hospizarbeit u. a. durch eine Absenkung des gesetzlichen Eigen-
finanzierungsanteils verbessern.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben an sozialer Sicherung4. Prävention, Hilfe und Entkriminalisierung statt Fort-
setzung der gescheiterten Drogen- und Suchtpolitik
Der globale Krieg gegen Drogen ist gescheitert. Weltweit leiden
viele Menschen unter den negativen Folgen dieser Politik, unter
Kriegen und bewaffneten innerstaatlichen Konflikten, unter Re-
pression und erheblichen gesundheitlichen Problemen. Einen Beleg
für den Nutzen der Kriminalisierung von Drogen gibt es hingegen
nicht.
Wir wollen eine Reform der Drogenpolitik und setzen dabei auf
Prävention, Hilfe, Schadensminderung und Entkriminalisierung. Ziel
ist es, das Selbstbestimmungsrecht der Menschen zu achten und
gesundheitliche Risiken zu minimieren. Wir fordern unter Einbezie-
hung von Wissenschaft, Drogenhilfe und Gesundheitspolitik eine
Evaluierung der aktuellen Drogenpolitik. Anstelle der gescheiterten
Verbotspolitik fordern wir langfristig eine an den tatsächlichen ge-
sundheitlichen Risiken orientierte Regulierung aller – auch bislang
illegaler – Drogen. Neue Verbote, wie zum Beispiel eine Stoffgrup-
penregelung bei Legal Highs lehnen wir ab. Die Kriminalisierung
von DrogenkonsumentInnen muss beendet werden.
Wer abhängig ist, braucht Hilfe und keine Strafverfolgung. Nur
durch ein auf die unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen
ausgerichtetes Hilfe- und Beratungssystem können gesundheitliche
Risiken verringert werden. Wir wollen die zielgruppenspezifischen
und niederschwelligen Angebote in der Drogen- und Suchthilfe
stärken. Gefährdungen, die durch die derzeitigen Schwarzmarkt-
bedingungen verursacht werden, wollen wir durch den weiteren
Ausbau von risikominimierenden Maßnahmen, wie Spritzen-
tauschprogrammen und Drogenkonsumräumen, entgegentreten
und diese durch die Ermöglichung von Substanzanalysen (Drug-
checking) ergänzen. Die bestehenden Therapie- und Hilfsangebote
für Opiatabhängige müssen ausgebaut, rechtliche Hürden beseitigt
und niederschwellige Angebote gestärkt werden. Wir wollen be-
stehende Präventionsprogramme für alle psychoaktiven Substan-
zen und nicht stoffgebundene Süchte hinsichtlich ihrer Wirksamkeit
überprüfen und gegebenenfalls korrigieren; öffentliche Werbung
wirksam verbieten. Das Thema „Drogen und Sucht“ muss mit all
seinen Facetten breiten Eingang in den Schulen finden und sozialeZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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Teilhaben an sozialer SicherungTräger wie Gesundheitsämter müssen besser in die Lage versetzt
werden, Eltern und Jugendliche differenziert und fachgerecht zu
beraten. Wir werden auch weiterhin für einen wirksamen Nichtrau-
cherschutz eintreten und den Schutz vor Passivrauchen verbessern.
Das Tabakrahmenübereinkommen der WHO werden wir umsetzen
und damit den Einfluss der Tabakindustrie wirksam begrenzen. Wir
setzen uns dafür ein, dass die E-Zigarette als gesundheitlich weniger
schädliche Alternative zum Tabakkonsum erhalten bleibt.
Näheres zur Abgabe von Cannabis, zum Umgang mit Cannabis
im Straßenverkehr sowie zur medizinischen Forschung an Drogen
beschreiben wir im Kapitel „BürgerInnenrechte stärken“, im Unter-
kapitel „Den Rechtsstaat stärken“.
5. Grünes Pflegekonzept:
menschenwürdig und unterstützend
Die Humanität einer Gesellschaft bemisst sich auch an ihrem Um-
gang mit Menschen, die Unterstützung benötigen. Gute Pflege ist
etwas, was alle angeht: Kinder, deren Großeltern gepflegt werden,
Erwachsene, deren Kinder der Pflege bedürfen, und ältere Men-
schen, die selbst pflegebedürftig werden. Wir GRÜNE wollen eine
menschenwürdige Pflege, die begleitet und unterstützt. Wir wollen
eine Pflege, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Wir wol-
len, dass Menschen auch bei Pflegebedarf würdig und selbstbe-
stimmt leben können, und zwar unabhängig vom Geldbeutel. Um
eine zukunftsfähige Versorgungsstruktur und eine menschliche und
gute Pflege zu sichern, werden wir uns weiterhin für eine durchgrei-
fende Reform der Pflegeversicherung einsetzen. Wir wollen deshalb
den Pflegebedürftigkeitsbegriff verändern und erweitern und bei
der Begutachtung Kinder und Jugendliche besser abbilden. So kann
gerade für die zunehmende Zahl der Demenzkranken endlich eine
bessere Versorgung gewährleistet und ihre Diskriminierung inner-
halb der Pflegeversicherung beseitigt werden. Pflegebedürftigkeit
kann verhindert, aufgehalten oder verlangsamt werden, deshalb
wollen wir endlich wirksame Anreize für eine bessere Prävention
und Rehabilitation bei Pflege setzen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Teilhaben an sozialer SicherungErforderlich ist auch, stärker die UN-Behindertenrechtskonven-
tion in der Pflege zu beachten und konsequent umzusetzen. Pfle-
gebedürftige Menschen mit Behinderung müssen unabhängig vom
Lebensalter und von der Ursache von Behinderung oder Pflegebe-
dürftigkeit Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung und Teil-
habeleistungen erhalten.
Wir wollen Menschen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen,
stärker als bisher mit einem Netz aus professioneller Hilfe und
bürgerschaftlichem Engagement entlasten. Dazu werden wir die
Pflege im Quartier stärken und die ambulanten Versorgungs- und
Entlastungsangebote, die auch unabhängig vom Einsatz Angehöri-
ger – bislang vor allem zu Lasten von Frauen – eine Versorgungs-
sicherheit vor Ort bieten, verbessern und ausbauen. Wir wollen
es Pflegebedürftigen ermöglichen, durch ein persönliches Pflege-
budget die Pflege nach eigenen Wünschen zu organisieren. Zudem
wollen wir einen Anspruch auf eine grüne Pflegezeit schaffen. Wir
benötigen mehr denn je eine trägerunabhängige Pflegeberatung.
Wohn- und Pflegeformen, die in der direkten Nachbarschaft eine
Versorgungssicherheit bieten, werden immer wichtiger und müs-
sen gestärkt und ausgebaut werden. Vielerorts wird immer noch
in große Pflegeheime investiert. Hier wollen wir gegensteuern. Wir
wollen weg von traditionellen Groß- und Sondereinrichtungen und
stattdessen Orte schaffen, an denen Pflege und Betreuung in einer
häuslichen Wohnumgebung stattfinden kann. Um das zu erreichen,
wollen wir Alternativen für ein selbstbestimmtes Wohnen mit An-
geboten für eine intensive Pflege und Unterstützung fördern wie
Hausgemeinschaften, Pflege- und Wohngruppen, Wohngemein-
schaften oder Mehrgenerationenwohnen. Notwendig sind auch
Einrichtungen der Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sowie die
altersgerechte Gestaltung der Strukturen in der Wohnumgebung.
Wir wollen darüber hinaus erreichen, dass sich auch bestehende
Großeinrichtungen zum Quartier hin öffnen, und umgestalten hin
zu überschaubaren gemeinschaftlichen Wohn- und Pflegeformen.
Den Kommunen kommt bei dieser Entwicklung eine große Bedeu-
tung zu. Sie müssen mit Hilfe der Bundes- und Landespolitik bei
der Etablierung von Quartierskonzepten unterstützt werden. Das
Programm „Soziale Stadt“, mit dem Bund und Länder die Lebens-
bedingungen in benachteiligten Stadtteilen verbessern, wollen wirZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben an sozialer Sicherungso ausbauen, dass auch Pflege und Unterstützung im Quartier ge-
fördert werden. Deutschland ist ein Einwanderungsland, das heißt
auch, immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund werden
pflegebedürftig. Insgesamt muss sich die Pflege auf eine größere
Vielfalt einstellen und auch kulturelle, religiöse, sexuelle oder ge-
schlechtsspezifische Identitäten sensibel berücksichtigen.
Für eine steigende Zahl an pflegebedürftigen Menschen brau-
chen wir genügend gut qualifizierte und engagierte Pflegekräfte.
Um den Pflegekräften die Anerkennung entgegenzubringen, die sie
verdienen, und einem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, wol-
len wir den Pflegeberuf besser anerkennen und bezahlen sowie die
Arbeitsbedingungen verbessern. Wir setzen uns für angemessene
Personalschlüssel und den Abbau unnötiger Bürokratie ein. Um al-
len Pflegekräften Aufstiegschancen zu geben, wollen wir ein mo-
dernes, durchlässiges Aus- und Weiterbildungssystem schaffen, das
Pflegeausbildung auch an Hochschulen ermöglicht. Zudem brau-
chen wir mehr Ausbildungsplätze in der Pflege. Wir wollen eine
dauerhafte Regelung zur Finanzierung des dritten Umschulungs-
jahres. Die Pflege muss sich auf die zu versorgenden Personen und
ihre Lebenswelt einlassen. Dazu braucht sie spezielles Wissen, das
bereits in der Ausbildung vermittelt werden muss. In der Pflegeaus-
bildung plädieren wir für eine Ausbildungsumlage in allen Bundes-
ländern. Wir möchten, dass Pflegekräfte und andere Gesundheits-
berufe selbständiger arbeiten können.
Die Pflegeversicherung muss auf eine solide finanzielle Grund-
lage gestellt werden. Hierzu wollen wir alle BürgerInnen und alle
Einkommen einbeziehen und die Pflege-Bürgerversicherung ein-
führen. Mit ihr ist eine bessere Pflege bezahlbar. Trotz deutlicher
Leistungsverbesserungen bleibt damit die Beitragsentwicklung bis
weit in die Zukunft überschaubar und zumutbar. Das ist ein Schritt
hin zu mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Solidarität.
6. Grüne Rentenpolitik:
mit der Garantierente gegen Altersarmut
Rentnerinnen und Rentnern geht es in Deutschland im Durch-
schnitt noch vergleichsweise gut. Altersarmut ist aber schon heuteTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhaben an sozialer Sicherungein Problem. Mehr als zwei Millionen Ältere in Deutschland haben
ein Einkommen unterhalb der EU-Armutsrisikogrenze. Angesichts
unsteter Erwerbsbiografien, weit verbreiteter Niedriglöhne und ei-
nes sinkenden Rentenniveaus wird die Altersarmut noch zunehmen.
Das betrifft vor allem Frauen, die aufgrund tradierter Rollenzuwei-
sungen und nicht vorhandener Betreuungsplätze nicht oder in Teil-
zeit erwerbstätig waren und sind. Dem setzen wir eine Strategie
einer gerechten Arbeitsmarktpolitik sowie Maßnahmen innerhalb
der Rentenversicherung zum Aufbau eigenständiger Ansprüche
und der Garantierente entgegen.
Altersarmut geht in der Regel mit Benachteiligungen in vielen
Lebensbereichen einher. Häufig ist soziale Vereinsamung die Folge.
Deshalb setzen wir auf ein umfassendes Konzept gegen Altersar-
mut. Wir brauchen differenzierte Lösungen für die besonders ge-
fährdeten Gruppen. Wichtig ist neben der Rente eine gute Arbeits-
marktpolitik. Außerdem braucht es Verbesserungen im Bereich der
Grundsicherung, des Wohnens und der Gesundheitsversorgung.
Es ist für uns eine Frage der Gerechtigkeit und der Würde, dass
Menschen, die langjährig rentenversichert waren, als RentnerIn-
nen nicht auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Diesen
Menschen muss im Alter der Gang zum Amt erspart bleiben. Unse-
re Antwort ist die steuerfinanzierte Garantierente von mindestens
850 Euro. Wir wollen allen NeurentnerInnen mit mindestens 30
Versicherungsjahren eine Rente oberhalb der Grundsicherung ga-
rantieren. Als Voraussetzungen für den Bezug gelten alle Versiche-
rungszeiten. Dazu gehören Beitragszeiten, Anrechnungszeiten, z. B.
wegen Arbeitslosigkeit, Zurechnungszeiten wegen Erwerbsminde-
rung, Berücksichtigungszeiten wegen Pflege und (bis zum Rechts-
anspruch auf U3-Betreuung) Kindererziehung bis zum 10. Lebens-
jahr. Wir unterscheiden dabei nicht zwischen Teilzeit und Vollzeit.
Die Voraussetzungen für die Garantierente haben wir bewusst so
gewählt, dass sie nicht nur von Männern, sondern insbesondere
auch von Frauen gut zu erreichen sind. Private und betriebliche
Ansprüche werden nur teilweise auf die Garantierente angerech-
net. Damit sorgen wir für eine zielgruppengenaue Bekämpfung der
Altersarmut, die Steuer- und BeitragszahlerInnen nicht mehr als
notwendig belastet. Wir wollen die Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung verbessern, zum Beispiel durch eine groß-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben an sozialer Sicherungzügigere Anrechnung von gesparten Vermögen. Gleichzeitig sollte
es möglichst schnell ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West
geben. Zentrales Ziel ist dabei die Anhebung des Rentenwertes Ost
auf den Rentenwert West. Das soll allerdings so geschehen, dass
die bisher erworbenen Rentenansprüche konstant bleiben.
Die Sicherung eines Lebensstandards jenseits der Armutsgrenze
im Alter ist eine der Grundaufgaben eines modernen Sozialstaats.
Wir setzen dafür auf eine starke gesetzliche Rentenversicherung
mit einem angemessenen Rentenniveau, damit das Vertrauen in
das Rentensystem über die Generationen hinweg bestehen bleibt.
Wenn junge Menschen lange in die Rentenversicherung einzahlen,
dann müssen sie auch eine angemessene Rente erhalten. Würde
das Rentenniveau deutlich unter das heutige Niveau sinken, wä-
ren zukünftig Menschen, die nicht privat oder betrieblich vorsorgen
können, von Altersarmut bedroht. Aber auch Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer bis in die breite Mittelschicht hinein wären da-
von betroffen. Das wollen wir verhindern. Durch die schrittweise
Weiterentwicklung der gesetzlichen Rente zu einer BürgerInnen-
versicherung, durch eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung sowie
durch Maßnahmen für ein höheres Lohnniveau wollen wir ein an-
gemessenes Rentenniveau bei stabilen Beiträgen erreichen.
Die gesetzliche Rentenversicherung ist aus unserer Sicht die zen-
trale und weiter zu stärkende Säule der Alterssicherung. Dennoch
halten wir eine Risikomischung bei der Altersvorsorge für grund-
sätzlich richtig, weil das die Chance auf eine höhere Rendite er-
möglicht. Private und betriebliche Alterssicherung sind wichtig für
die Lebensstandardsicherung im Alter. Dafür wollen wir die Ries-
terrente grundlegend reformieren. Wir wollen ein einfaches, kos-
tengünstiges und sicheres Basisprodukt für die staatlich geförderte
zusätzliche Altersvorsorge einführen.
Die Rentenversicherung wurde in den letzten Jahren an sich
verändernde Bedingungen angepasst. Die Lebenserwartung steigt
glücklicherweise weiter an, die Dauer des Rentenbezugs hat sich
deutlich verlängert. Die Zahl der erwerbstätigen BeitragszahlerIn-
nen wird dagegen zukünftig zurückgehen. Im Sinne der Genera-
tionengerechtigkeit bleibt der langsame Anstieg des Rentenein-
trittsalters auf 67 Jahre notwendig. Diese Entscheidung ist aber
nur vertretbar, wenn sie mit besseren Arbeitsmarktchancen fürTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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135
Teilhaben an sozialer SicherungÄltere einhergeht. Dafür braucht es mehr altersgerechte Arbeits-
plätze, bessere betriebliche Gesundheitsförderung und individu-
elle Übergangslösungen in den Ruhestand, insbesondere durch
eine Teilrente ab 60 Jahren. Für Menschen, die aus gesundheitli-
chen Gründen nicht bis zur Altersgrenze arbeiten können, wollen
wir die abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente wieder auf das 63.
Lebensjahr zurücksetzen. Wer hingegen allein aufgrund medizini-
scher Diagnose und Prüfung eine Erwerbsminderungsrente erhält,
sollte diese ohne Abschläge erhalten. Zurechnungszeiten wegen
Erwerbsminderung werden beim Zugang zur Garantierente aner-
kannt. Gleichzeitig wollen viele Menschen auch nach dem Eintritt
ins Rentenalter weiterhin aktiv sein, denn Arbeit ist auch Teilhabe.
Wir müssen also flexible Übergänge finden für Menschen, die frü-
her ausscheiden, und solche, die länger aktiv sein wollen.
Die geringeren Rentenansprüche für Kindererziehungszeiten
für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, sind ungerecht. Mit un-
serer Garantierente schaffen wir deswegen insbesondere auch für
Frauen, die wegen Kindererziehung nicht erwerbstätig sein konn-
ten, einen Einstieg in eine gerechte und armutsfeste Rente. Damit
Frauen eine bessere eigenständige Absicherung erhalten, wollen
wir das Rentensplitting bereits in der Ehe obligatorisch machen
und Kindererziehungszeiten stärker anrechnen. Mittelfristig soll
die Rentenversicherung zur Bürgerversicherung weiterentwickelt
werden, in die alle Bürgerinnen und Bürger, das heißt auch Beam-
tInnen, Selbständige und Abgeordnete, auf alle Einkommensarten
unabhängig vom Erwerbsstatus einzahlen. Das ist für uns sowohl
eine Frage der Gerechtigkeit wie der ökonomischen Nachhaltigkeit.
Gleichzeitig werden dadurch Versicherungslücken geschlossen und
eigene Ansprüche aufgebaut, die präventiv vor Altersarmut schüt-
zen. Als erste Schritte wollen wir wieder Mindestrentenbeiträge für
Arbeitslose einführen, die Minijobs vollumfänglich und auch die
bisher nicht pflichtversicherten Selbständigen in die Rentenversi-
cherung einbeziehen. Gerade Selbständige sind heute für das Alter
häufig sehr schlecht abgesichert. Das müssen wir ändern. Jüdische
Kontingentflüchtlinge wollen wir rentenrechtlich mit Spätaussied-
lern gleichstellen.
Wir wollen auch dem einstimmigen Beschluss des Bundestags
aus dem Jahr 2002 endlich gerecht werden und die sogenannteZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhaben an sozialer SicherungGhetto-Rente an die Überlebenden der Schinderei in den Ghettos
der Nationalsozialisten rückwirkend bis 1997 auszahlen, wenn ihre
Anträge über Jahre verschleppt wurden. Mit zynischen bürokrati-
schen Hürden spielten die Rentenversicherer und jetzt das Kabinett
Merkel auf Zeit und bringen so noch etwa 20.000 Überlebende
um die ihnen zustehende Rente. Es ist schlicht zynisch, diese täg-
lich kleiner werdende Gruppe von Menschen noch einmal vier Jahre
lang warten zu lassen. Hier besteht sofortiger Handlungsbedarf.
Wer GRÜN wählt …
• kämpft für einen ALG-II-Regelsatz von 420 Euro, um das
soziokulturelle Existenzminium für alle Menschen zu gewähr-
leisten.
• führt eine solidarische Bürgerversicherung in Gesundheit und
Pflege ein und beendet die 2-Klassen-Medizin.
• schafft Qualität durch Prävention und Vernetzung und eine
gute Gesundheitsversorgung vor Ort.
• verbessert die Pflege Demenzkranker und schafft für Men-
schen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf eine Versor-
gungssicherheit dort, wo sie leben möchten.
• baut Altersarmut vor mit einer Garantierente von mindes-
tens 850 Euro und sichert Frauen durch ein eigenständiges
Rentensplitting ab.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
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Teilhaben an sozialer SicherungSchlüsselprojekte
Menschenwürdige Existenz sichern –
den ALG-II-Regelsatz erhöhen
Der aktuelle Regelsatz ist zu niedrig. Wir wollen ihn erhöhen, da-
mit auch die Menschen, die keine Arbeit haben, am gesellschaftli-
chen Leben teilhaben können. Wir fordern, den ALG-II-Regelsatz
für Erwachsene auf 420 Euro zu erhöhen, da die derzeitige Be-
rechnung aus unserer Sicht nicht das soziokulturelle Existenzmini-
mum gewährleistet. Eine genaue Berechnung der Erhöhung muss
2014 auf Basis der neuen statistischen Daten erfolgen. So sorgen
wir dafür, dass niemand nur aufgrund von Arbeitslosigkeit unter
die Räder kommt. Damit die Anhebung finanzierbar ist und um
zu verhindern, dass immer mehr erwerbstätige Menschen durch
Armutslöhne „aufstocken“ müssen, gehört die Einführung eines
gesetzlichen Mindestlohns unabdingbar zu einer reformierten
Grundsicherung dazu.
2-Klassen-Medizin abschaffen –
EINE Bürgerversicherung für alle
Wir wollen Versorgung bei Gesundheit und Pflege verbessern und
die 2-Klassen-Medizin beenden. Unsere Alternative ist die grüne
Bürgerversicherung: eine für alle statt jede/r für sich. Unsere Bür-
gerversicherung bezieht alle ein: gesetzlich Versicherte, Privatver-
sicherte, Beamte und Selbständige. Zukünftig wollen wir alle Ein-
kommensarten gleichbehandeln und zur Finanzierung heranziehen:
neben Arbeitseinkommen auch Kapitaleinkommen, zum Beispiel
durch Aktiengewinne, Zinsen und Mieteinnahmen. Gleichzeitig
wird die paritätische Finanzierung zwischen ArbeitgeberInnen und
ArbeitnehmerInnen wiederhergestellt. So tragen wir das Gesund-
heits- und Pflegesystem gemeinsam und alle können davon pro-
fitieren.Zeit für den grünen Wandel
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Teilhaben an sozialer SicherungAltersarmut bekämpfen –
Garantierente auf den Weg bringen
Es droht eine massive Zunahme an Altersarmut. In einer gerechten
Gesellschaft ist eine armutsfeste Rente aus unserer Sicht aber un-
entbehrlich. Es ist für uns eine Frage der Gerechtigkeit, dass Men-
schen, die langjährig rentenversichert waren, im Alter nicht auf die
Grundsicherung angewiesen sind. Wir setzen auf eine Strategie
einer gerechten Arbeitsmarktpolitik, Maßnahmen zum Aufbau ei-
genständiger Ansprüche innerhalb der Rentenversicherung sowie
eine steuerfinanzierte Garantierente von mindestens 850 Euro.
Wir wollen allen NeurentnerInnen mit mindestens 30 Versiche-
rungsjahren eine Rente oberhalb der Grundsicherung garantieren.
Als Voraussetzung für den Bezug gelten alle Versicherungszeiten.
Dazu gehören auch Zeiten der Arbeitslosigkeit, Erwerbsminde-
rung, Pflege, Ausbildung und Kindererziehung bis zum zehnten
Lebensjahr. Wir unterscheiden dabei nicht zwischen Teilzeit und
Vollzeit. Mit unserer Garantierente, die nicht nur von Männern,
sondern gerade auch von Frauen realistisch zu erreichen ist, leisten
wir einen zielgenauen und generationengerechten Beitrag gegen
Altersarmut.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
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Teilhabe für Jung und AltH. Teilhabe für Jung und Alt
Wie wir Familien stärken und ein neues Miteinander schaffen
Wir wollen ein gutes Leben für Kinder, Familien, Junge und Alte
möglich machen. Wie das aussieht, das ist bei jedem anders. Aber
die Chancen, das eigene Leben gestalten zu können, sind ungerecht
verteilt.
Bei Kindern entscheidet weiterhin die soziale Herkunft über ihre
Erfolge im Bildungssystem und damit auch über ihre Möglichkeiten,
ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Junge Menschen brauchen
oft lange, um nach Abschluss ihrer Ausbildung oder ihres Studiums
den Weg ins Berufsleben zu finden, und dann müssen sie häufig
über lange Zeit mit der Unsicherheit befristeter Stellen leben. Junge
Frauen – und inzwischen auch immer mehr junge Männer – fragen
sich, ob sie sich mit der Geburt eines Kindes beruflich ins Abseits
schießen und wie sie ihre Wünsche für ihre berufliche Entwicklung
sowie ihr Leben und Sorgen für Kinder miteinander in Einklang
bringen können. Den Menschen im Rentenalter müssen wir die
Möglichkeit bieten, ihr Wissen und ihre Erfahrungen in dieser Ge-
sellschaft auch nach der Zeit im Beruf noch einzubringen, und wir
müssen ihre Absicherung so gestalten, dass sie auf gute Weise alt
werden können.
Wir wollen ein neues Miteinander und dass die Lasten und die
Freuden endlich gerechter verteilt werden. Dafür haben wir alle Ge-
nerationen im Blick und wollen, dass ihre Bedürfnisse zusammen-
gedacht werden, statt sie gegeneinander aufzuwiegen.
Wir wollen Hürden abbauen, damit Menschen in jedem Alter
teilhaben können. Wir wollen eine durchlässige Gesellschaft, die
Menschen nicht an den Rand drängt, sondern ihnen Chancen er-
öffnet – auch mehrmals im Leben.
Wir wollen Menschen Mut machen, ihr Leben in die Hand zu
nehmen und sich in unserer Gesellschaft aktiv einzumischen. Wir
wollen ein gelungenes und selbstbestimmtes Leben für und mit jun-
gen wie alten Menschen. Das passiert nicht von allein. Dafür wollen
wir zusammen kämpfen.Zeit für den grünen Wandel
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Teilhabe für Jung und AltWir schaffen Zukunft für alle Generationen, indem wir an das
Morgen denken, ohne das Jetzt zu vergessen. Weil wir für ein soli-
darisches Miteinander einstehen.
1. Chancen für alle Kinder
Kinder sind laut und froh und einfach da. Und: Kinder sind die Ge-
genwart und Zukunft unserer Gesellschaft. Aber vielen Kindern
werden, aus den unterschiedlichsten Gründen, Hürden in den Weg
gestellt. Zu früh wird bei uns festgelegt, wer dazugehört und wer
draußen ist. Wir arbeiten an einer inklusiven Gesellschaft, in der
nicht soziale Herkunft, sexuelle Identität, ethnische Wurzeln oder
körperliche oder geistige Behinderung über die Zukunft von Kin-
dern entscheiden, sondern deren Wünsche und Potentiale. Jeder
Mensch soll die gleichen Chancen haben, das eigene Leben selbst
gestalten zu können. Kinder müssen dabei endlich in den Mittel-
punkt unserer Gesellschaft rücken.
Wir werden den Kinderschutz intensivieren. Dazu wollen wir das
Bundeskinderschutzgesetz und die notwendige Unterstützung für
Kinder und Jugendliche energisch weiterentwickeln. Ebenso wollen
wir die Empfehlungen des Runden Tisches sexueller Kindesmiss-
brauch umsetzen. Der Missbrauchsskandal muss angemessen auf-
gearbeitet werden und die/der unabhängige Beauftragte muss den
Aufgaben entsprechend längerfristig berufen werden. Wir machen
uns für die Schaffung eines ergänzenden Hilfesystems für die Op-
fer stark und wollen die telefonische Anlaufstelle und das Online-
Hilfeportal fortführen.
Gemeinsam mit den Bundesländern werden wir die Programme
für frühe Hilfen und Familienhebammen ausbauen und solide finan-
zieren. Nicht zuletzt gilt es, zu einem einheitlichen Leistungs- und
Unterstützungssystem für alle Kinder mit und ohne Behinderungen
zu kommen. Eine Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe
ist sinnvoll, aber nur, wenn es nicht zu Leistungsverschlechterun-
gen kommt. So muss unter anderem gewährleistet sein, dass die
individuellen Bedarfe von Kindern mit Behinderung weiterhin teil-
habeorientiert und flexibel gedeckt werden, ohne dass es zu einerTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Teilhabe für Jung und Altstärkeren finanziellen Heranziehung der Eltern kommt. Mobbing
und Diskriminierung an unseren Schulen sagen wir den Kampf an.
Kinder brauchen Zeit. Sie brauchen Zeit zum Spielen, zum Ler-
nen und Zeit mit ihren Eltern, Geschwistern und ihrem sozialen
Umfeld. Dafür wollen wir durch eine familienfreundliche Arbeits-
zeitpolitik sorgen.
Die Struktur des Internets bietet – anders als nichtinteraktive
Medien – nur sehr wenige Möglichkeiten, Inhalte für Kinder und Er-
wachsene zeitlich, räumlich oder durch Zugangsbeschränkungen zu
trennen. Wo bei den klassischen Medien durch Sender oder Verlage
ein speziell auf Kinder ausgerichtetes Programm zusammengestellt
wird oder ein gewisser Schutz von Kindern beim Einlass an der Ki-
nokasse, durch Verkaufskontrolle von Filmen und Computerspielen
oder im Fernsehen durch den Zeitpunkt der Sendung geboten wer-
den konnte, ist dies durch die Struktur und Grenzenlosigkeit des
Internets kaum möglich. Deshalb sind funktionierende Filterpro-
gramme, die freiwillig von Eltern auf dem heimischen Rechner inst-
alliert werden, ein mögliches Instrument, um selbst das Risiko für
ihre Kinder minimieren zu können, dass diese beim Surfen unbeab-
sichtigt auf bedenkliche Inhalte stoßen. Verpflichtende Filter, vom
Softwarehersteller voreingestellte oder providerseitige Filtertechni-
ken lehnen wir hingegen ab. Darüber hinaus ist für den Umgang mit
Inhalten im Netz der Erwerb von Medienkompetenz (nicht nur) für
Kinder von zentraler Bedeutung.
Eine Ausdehnung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztags-
platz in der Kita bzw. der Kindertagespflege halten wir für absolut
nötig. Damit die Qualität nicht auf der Strecke bleibt, wollen wir
Qualitätsstandards, etwa die Zahl der Kinder, die eine Erzieherin
betreut, bundesweit festlegen und die Ausbildung und Weiterbil-
dung von mehr Erzieherinnen und Erziehern unterstützen. Diese
Aufgabe kann nur gemeinsam von Kommunen, Ländern und auch
dem Bund gemeistert werden – zumal bereits der ab August 2013
geltende Rechtsanspruch an manchen Orten kaum erreicht wird.
Zur Verbesserung der Qualität der Kinderbetreuung braucht es vor
allem Erzieherinnen und Erzieher, die die Zeit und die Arbeitsbe-
dingungen haben, sich aktiv um die Förderung der Kinder zu küm-
mern. Niemandem ist geholfen, wenn ErzieherInnen aufgrund zu
großer physischer und psychischer Belastung ihren Beruf aufgeben.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Teilhabe für Jung und AltDeshalb sollen für diese Qualitätsoffensive auf Bundesebene jähr-
lich 1 Mrd. Euro zusätzlich bereitgestellt werden. Wir wollen aus
Kitas Orte für die ganze Familie machen. Hierzu braucht es neue
Formen der Vernetzung im Rahmen von Eltern-Kind-Zentren, in
denen die Kita eng mit anderen Angeboten kooperiert. Auf diesem
Weg lassen sich Möglichkeiten, Familien zu unterstützen, bündeln.
Eltern-Kind-Zentren können damit auch zu Orten der Begegnung
im Stadtteil und zwischen den Generationen werden. Wir wollen
die Länder und Kommunen beim Ausbau der Eltern-Kind-Zentren
unterstützen. Wir werden außerdem mit den Ländern über ein neu-
es Ganztagsschulprogramm verhandeln.
Gute Bildungseinrichtungen eröffnen Kindern die Chance auf
ein gutes Leben. Allerdings leben heute viele von ihnen in Armut
oder in prekären Verhältnissen. Nach einer UNICEF-Studie leben
in Deutschland 2,5 Millionen Kinder in Armut. Zwar bleibt die Er-
werbstätigkeit der Eltern nach wie vor der beste Schutz vor Kin-
derarmut, aber die materielle Unterstützung durch den Staat muss
auch verbessert werden, um allen Kindern bessere Lebenschancen
zu ermöglichen. Deshalb soll der Hartz-IV-Regelsatz für Kinder neu
berechnet und erhöht werden. Dafür reservieren wir 500 Mio. Euro.
Außerdem wollen wir, dass auch im Steuerrecht alle Kinder gleich
viel wert sind, und beginnen mit dem Einstieg in eine Kindergrund-
sicherung als einer eigenständigen Existenzsicherung für Kinder.
2. Raum für Familie
Familie ist überall dort, wo Menschen verbindlich füreinander Ver-
antwortung übernehmen.
Familien brauchen Zeit. Eltern brauchen Zeitsouveränität, die ih-
nen neben der Koordination der Kinderbetreuung verlässliche und
planbare Zeiten für das Familienleben lässt. Das heißt, dass genau
diese Zeiten nicht selbstverständlich für Sitzungen und anderes ver-
plant werden dürfen. Wir wollen ein Rückkehrrecht auf Vollzeit ge-
setzlich verankern. Die gerechte Umverteilung von Arbeit zwischen
den Geschlechtern, zwischen viel Arbeitenden und Arbeitslosen
oder prekär Beschäftigten und die Schaffung von Zeit-Räumen für
Familie, für die Teilhabe an demokratischen Prozessen, für sozialesTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
143
Teilhabe für Jung und AltEngagement und für Erholung begreifen wir als eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe. Wir werden, auch im engen Dialog mit den
Sozialpartnern, neue Modelle entwickeln, wie wir in Zukunft Zeit
zum Leben und Zeit zum Arbeiten besser miteinander vereinbaren
können. Dabei orientieren wir uns am Leitbild einer vollzeitnahen
Teilzeit für beide Elternteile. Damit wird auch die partnerschaftliche
Aufteilung von Familienarbeit befördert. Wir werden das Teilel-
terngeld fair ausgestalten, damit Eltern, die sich Berufstätigkeit und
Familienarbeit frühzeitig teilen, nicht länger benachteiligt werden,
und die Partnermonate mit der Zielperspektive einer partnerschaft-
lichen Aufteilung weiterentwickeln.
Viele Alleinerziehende und ihre Kinder brauchen besondere Un-
terstützung. Noch immer sind sie besonders von Armut bedroht.
Neben dem Ausbau der Betreuungsinfrastruktur und der beson-
deren Berücksichtigung Alleinerziehender bei der Gestaltung fle-
xibler Arbeitszeitmodelle ist die Weiterentwicklung und zeitliche
Ausdehnung des Unterhaltsvorschusses ein wichtiger Hebel, um
die materielle Situation Alleinerziehender und ihrer Kinder nach der
Trennung abzusichern.
Familien brauchen eine sie unterstützende Infrastruktur. Neben
einer ganztägigen Kinderbetreuung gehört dazu ganz zentral der
flächendeckende Aufbau von Ganztagsschulen, sonst brechen vie-
lerorts mit der Einschulung alle Arrangements zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf zusammen. Erst so kann es echte Wahlfrei-
heit zwischen den unterschiedlichsten Familienmodellen geben.
Eine Betreuungsgarantie für Kinder ab dem ersten Lebensjahr als
Zwischenschritt soll Eltern rasch Planungssicherheit bringen. Men-
schen, die Alte und Pflegebedürftige begleiten, wollen wir im
Wohnquartier mit einer ambulanten Pflege- und Unterstützungs-
struktur zur Seite stehen und eine maximal dreimonatige Pflegezeit
mit einer steuerfinanzierten Lohnersatzleistung einführen.
Und natürlich brauchen Familien Geld. Die familienbezogenen
Leistungen müssen so verändert werden, dass Familien tatsächlich
profitieren und Menschen jeden Geschlechts frei wählen können,
in welchen Konstellationen sie leben wollen. Wir werden aufhö-
ren über staatliche Mittel ein traditionelles Familienmodell einsei-
tig zu fördern und stattdessen Frauen und Männer unterstützen,
sich die Sorgeaufgaben gerechter zu teilen, und ihnen damit die
Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Familien-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
144
Teilhabe für Jung und Altleben organisieren. Um Kinder besser zu fördern und Kinderarmut
zu bekämpfen, braucht es eine bessere Infrastruktur – gute Kitas
und gute Schulen – und eine Neuordnung der vielen zu ungenauen
materiellen Transfers. Unser Ziel bleibt eine Gesellschaft, der jedes
Kind gleich viel wert ist. Jedes Kind, unabhängig vom Einkommen
seiner Familie, soll die gleiche finanzielle Unterstützung vom Staat
erhalten. Wir wollen nicht mehr die Ehe, sondern Kinder fördern.
Deshalb wollen wir das Ehegattensplitting wie im Kapitel „Besser
haushalten“ beschrieben schrittweise abbauen und damit auch eine
Kindergrundsicherung aufbauen. Die Kindergrundsicherung wird
somit aus dem Familienleistungsausgleich finanziert. Sie ist keine
zusätzliche Transferleistung, sondern ersetzt vorhandene Transfers
und Vergünstigungen. Die Kindergrundsicherung kann dazu beitra-
gen, eine übermäßige Belastung kinderreicher Familien durch das
Abschmelzen des Splittings zu vermeiden. Wir streben ein Modell
an, das Kinderregelsätze, Kinderzuschläge sowie die steuerlichen
Kinderfreibeträge vollständig obsolet macht. Ziel ist eine Kinder-
grundsicherung, die der Höhe nach so bemessen ist, dass die Kin-
derfreibeträge verfassungskonform abgeschafft werden können.
Oft sind Eltern nicht verheiratet. Ehegattensplitting hat mit deren
Lebenssituation nichts zu tun. Eine Kindergrundsicherung hingegen
gäbe ihnen die Chance, wirkliche Förderung zu erfahren. Das gilt
insbesondere für Alleinerziehende. Wer mit uns regieren will, muss
das Betreuungsgeld abschaffen. Es ist eine bildungs- und gleichstel-
lungspolitische Katastrophe, setzt falsche Anreize und ist rundum
unsinnig. Wir werden das Betreuungsgeld umgehend wieder ab-
schaffen und die dafür eingeplanten Mittel in den Ausbau und die
Qualität von Kinderbetreuungsangeboten investieren.
Familien waren schon immer etwas Buntes. Doch das deutsche
Familienrecht bildet diese Vielfalt nicht ab. Wir wollen, dass alle
Kinder, unabhängig von der Familienform, in der sie aufwachsen,
den gleichen Schutz, die gleiche Förderung und Unterstützung sei-
tens des Staates erfahren. Mit dem neuen Rechtsinstitut der elter-
lichen Mitverantwortung wollen wir die Beziehung von Kindern zu
ihren sozialen Eltern insbesondere in Patchwork- und Regenbogen-
familien stärken. Darüber hinaus werden wir uns dafür einsetzen,
dass alle Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen,
eine Stärkung ihrer Rechte erfahren.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
145
Teilhabe für Jung und Alt3. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken
Im Fokus unserer Politik steht das Wohl jedes einzelnen Kindes und
jedes einzelnen Jugendlichen. Wir räumen Kindern und Jugendli-
chen eigenständige Rechte ein, wir wollen sie gezielt fördern und
schützen sie, wo Familien dies nicht leisten. Dazu wollen wir Rechte
von Kindern und Jugendlichen ausdrücklich ins Grundgesetz auf-
nehmen, die Umsetzung der VN-Kinderrechtskonvention durch ein
unabhängiges Monitoring voranbringen und den Aktionsplan für
ein kindgerechtes Deutschland wieder auflegen.
Das Wahlalter wollen wir absenken, damit Jugendliche spätes-
tens ab dem 16. Lebensjahr wählen gehen können. Wir nehmen
Kinder und Jugendliche mit ihren Anliegen ernst und setzen auf eine
Jugendpolitik, die sie ermutigt und es ihnen ermöglicht, ihre jeweils
eigene Identität zu entwickeln. Eine kinder- und jugendgerechte
Stadtentwicklung bezieht sie aktiv ein und berücksichtigt ihre Be-
dürfnisse. Dies ist bei der Förderung von Projekten zur Stadtent-
wicklung durch staatliche Mittel zu berücksichtigen.
Wir wollen flächendeckend echte Mitwirkungsmöglichkeiten für
Kinder und Jugendliche. Dazu gehört auch, dass wir Betroffene in
der Jugendhilfe stärken, indem wir Ombudschaften unterstützen,
und verstärkt alternative Organisationsformen wie z. B. Jugendpar-
lamente oder Jugendbeiräte fördern, die mit einem Antrags- und
Stimmrecht für politische Entscheidungen ausgestattet sind. Dabei
ist für uns klar: Alle Jugendlichen, egal ob mit oder ohne Behinde-
rung, mit oder ohne Migrationshintergrund, gleich welcher sexuel-
len Identität, gehören dazu.
4. Freiraum für Jugendliche
Wir stehen für eine emanzipatorische Jugendpolitik. Das heißt ein
Mehr an sozialer Gerechtigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Eigen-
ständigkeit für Jugendliche.
Die Generation der heutigen Jugendlichen ist zutiefst gespal-
ten. Viele schauen mit Optimismus in ihre Zukunft, andere sind
allerdings bereits überzeugt, auf der Schattenseite des Lebens zu
stehen. Die Chancenungleichheit, die in frühen Jahren durch einZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
146
Teilhabe für Jung und Altleistungsschwaches Bildungssystem nicht ausgeglichen werden
konnte, verbaut diesen jungen Menschen ihre Zukunft. Hier muss
kontinuierlich gestützt und gefördert werden. Zudem sehen sich Ju-
gendliche immer höherem Druck ausgesetzt: Bildung muss auf den
Arbeitsmarkt vorbereiten, jede Minute Freizeit wird verplant und
freie Zeit, die selbst gestaltet werden kann, wird zur Mangelware.
Dabei brauchen gerade junge Menschen Freiräume, um sich aus-
zuprobieren. Wir wollen jungen Menschen diese benötigten Frei-
räume wieder öffnen und streben dazu die dringend notwendige
gesellschaftliche Auseinandersetzung an.
Jugendliche sind in besonderem Maße auf die Infrastruktur
vor Ort angewiesen. Vielfältige Jugendhilfeangebote, eine starke
Jugendarbeit und die Unterstützung für Formen der Selbstorgani-
sation ermöglichen jungen Menschen mehr Teilhabe. Jugendliche
brauchen diese Räume, um unter sich zu sein, sich zu treffen und
auszutauschen, Räume, um sich zu entwickeln. Alkoholverbote und
Aufenthaltsverbote auf öffentlichen Plätzen lehnen wir ab.
Den individuellen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung wer-
den wir nicht antasten. Wir werden die Hilfen zur Erziehung wei-
terentwickeln und mit Konzepten zur stärkeren Sozialraumorientie-
rung und institutionellen Vernetzung verbinden.
Wir wollen die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingun-
gen von Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, Jugendsozialarbeit
und Beratungsstellen für junge Menschen sichern. Dazu werden
wir den Kinder- und Jugendplan des Bundes weiterentwickeln und
ausbauen. Denn Jugendarbeit ist auch Präventionsarbeit. Jugendli-
che werden in vielen Jugendzentren unserer Kommunen von Freun-
dInnen und aufmerksamen SozialarbeiterInnen aufgefangen und
finden wieder Anschluss an Schule, Ausbildung, Beruf und Gesell-
schaft. Nicht zuletzt deshalb wollen wir die Finanzlage der Kommu-
nen verbessern.
Das Internet ist aus dem Alltag von Kindern und Jugendlichen
nicht mehr wegzudenken. Die Stärkung der Kompetenz im Umgang
mit diesen Medien und der Sensibilität für den Schutz der eigenen
Daten im Internet muss deshalb zur Arbeit aller, die junge Men-
schen begleiten, gehören.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
147
Teilhabe für Jung und Alt5. Teilhabe und Selbstbestimmung im Alter
Es ist eine gute Nachricht, dass die Menschen immer älter werden
und dabei immer länger gesund und agil bleiben. Aber die Frage,
wie wir noch möglichst gut leben, auch wenn wir alt sind, und wie
wir unsere Geschicke auch selbst bestimmen können, wenn wir auf
die Hilfe anderer angewiesen sind, beschäftigt trotzdem viele Men-
schen. Teilhabe und Selbstbestimmung müssen aber bis ins hohe
Alter möglich sein – trotz Einschränkung, die das Alter mit sich brin-
gen kann. Nötig sind deshalb mehr gesundheitliche Prävention und
altersgerechte Arbeitsplätze, ein Ausbau an Weiterbildungsange-
boten, aber auch eine Veränderung der Arbeitskultur, in der Erfah-
rungswissen der Älteren und Engagement der Jungen kombiniert
werden, so dass viele Menschen bis zum Renteneintritt erwerbstä-
tig bleiben können. Angesichts des demografischen Wandels und
des Mangels an Fachleuten ist es auch ein Gebot wirtschaftlicher
Vernunft. Tatsächlich aber drohen sinkende Reallöhne, prekäre
Beschäftigung und negative Erwerbsanreize wie das Ehegatten-
splitting immer mehr Menschen, und vor allem Frauen, im Alter
in die Armut zu schicken. Einer sozialen Spaltung im Alter wollen
wir entgegentreten mit einer Garantierente, die den langjährig Ver-
sicherten eine Rente oberhalb der Grundsicherung garantiert. Die
Teilhabe alter Menschen braucht aber mehr als materielle Absiche-
rung: Mobilitätskonzepte in Stadt und Land, die den Bedürfnissen
unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen entsprechen, der barriere-
freie Zugang zu Kultur und eine erreichbare Gesundheitsinfrastruk-
tur und bezahlbarer Wohnraum sind dafür genauso wichtig.
Die Zahl der älteren und pflegebedürftigen Menschen wird deut-
lich ansteigen und immer mehr werden allein und ohne Angehörige
leben. Neue Konzepte für das Zusammenleben und die Gestaltung
der Infrastruktur an Wohn-, Pflege- und sozialen Angeboten wer-
den deshalb wichtig. Die Angebote für Hilfe im Alter entscheiden
darüber, ob der Wunsch nach Selbstbestimmung alter Menschen
Wirklichkeit werden kann. Für uns ist klar: Pflege muss möglichst
wohnortnah organisiert sein, sie muss sich an den Bedürfnissen der
alten Menschen und ihrer Familien orientieren, einer ambulanten
Unterstützung den Vorrang einräumen und mit kulturellen und re-
ligiösen Prägungen sensibel umgehen. Finanziert werden kann diesZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
148
Teilhabe für Jung und Altdurch eine Pflegebürgerversicherung, in die alle Bürgerinnen und
Bürger einzahlen und in die alle Einkunftsarten einbezogen werden.
Das Altern ist heute vielfältig und bunt geworden. Die domi-
nierenden Altersbilder in den zentralen Bereichen der Gesellschaft
werden der Vielfalt des Alters nicht gerecht. Wir wollen Menschen
unterstützen, die sich neue Wohnformen und andere Formen des
Zusammenlebens fürs Alter und unterschiedlicher Generationen
wünschen, und werden Orte des Zusammentreffens der Genera-
tionen fördern, damit die Generationen nicht weiter voneinander
abrücken: in Nachbarschaftszentren, in Freiwilligenzentren und an
anderen öffentlichen Orten. Längst leben viele Ältere aufgrund der
erhöhten Arbeitsmobilität nicht mehr im Familienverbund. Auch die
Zahl der alleinstehenden und kinderlosen Menschen steigt. Hier gilt
es, die nötige soziale und technische Infrastruktur in den Stadtteilen
zu fördern, kleine soziale Netze aufzubauen, Eigeninitiative zu un-
terstützen und die Menschen in die Gestaltung der Wohnquartiere
einzubeziehen.
6. Ein neuer Generationenvertrag –
ein neues Zusammenleben
Wir werden älter und weniger. Eine Zukunftsherausforderung von
großer Tragweite liegt im demografischen Wandel, der in struktur-
schwachen Regionen durch die fortwährende Abwanderung junger
Menschen zusätzlich dramatisch verschärft wird. Dieser Wandel
betrifft nicht nur ökonomische Fragen, sondern er rührt an tief
greifende Fragen von Lebensentwürfen, Freiheit und Anerkennung.
Unser neuer Generationenvertrag soll die Aufgaben und Lasten
zwischen Alt und Jung neu verteilen. Er darf dabei die Wünsche
und Anliegen der Generationen nicht gegeneinander ausspielen,
sondern muss vielmehr für mehr Miteinander sorgen. Bei der Re-
form unserer sozialen Sicherungssysteme achten wir darauf, dass
sie ein gutes Auskommen und eine gute Versorgung für die Älteren
leisten, ohne die Jungen zu überfordern. Und wir wollen Orte des
Zusammentreffens von Jungen und Alten schaffen – auch jenseits
der klassischen Familienbeziehungen, damit die Generationen nicht
weiter voneinander abrücken.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
149
Teilhabe für Jung und AltWer GRÜN wählt …
• bekommt gute Kitas für jedes Kind.
• bekämpft Kinderarmut und fördert das Leben mit Kindern,
durch die schrittweise Einführung einer Kindergrundsiche-
rung für alle Kinder.
• sorgt für mehr Mitspracherechte für Kinder und Jugendliche.
• verbessert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
• will selbstbestimmt leben bis ins hohe Alter.
Schlüsselprojekte
Das Betreuungsgeld abschaffen –
gute Kita-Plätze besser ausbauen
Vielerorts fehlt es an Kita-Plätzen. Deshalb müssen wir rasch mehr
und auch qualitativ hochwertige Kita-Plätze schaffen. Für uns ist
klar, dass auch der Bund Verantwortung trägt, denn es muss vie-
les gleichzeitig geschehen: Der ab Augst 2013 geltende Rechtsan-
spruch muss angemessener finanziert, der Bedarf realistischer ge-
plant werden. Damit die Qualität nicht auf der Strecke bleibt, legen
wir bundesweite Qualitätsstandards fest. Und natürlich braucht es
dafür mehr Fachkräfte, die zu einem relevanten Teil auf Hochschul-
niveau ausgebildet und angemessen bezahlt werden. Außerdem
fordern wir die Ausweitung des Rechtsanspruchs auf einen Ganz-
tagsplatz in der Kita bzw. in der Kindertagespflege und unterstüt-
zen den bedarfsgerechten Ausbau der Ganztagsbetreuung in allen
Altersgruppen. Wir wollen eine echte Wahlfreiheit für Familien, die
nur dadurch gewährleistet ist, dass für alle Familien, die das wollen,
auch ein Kitaplatz zur Verfügung steht. Das Betreuungsgeld, dasZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
150
Teilhabe für Jung und AltKinder von frühkindlicher Bildung ausschließt, alte Rollenmuster
zementiert und den Ausbau der Kitaplätze blockiert, schaffen wir
ab. So bekommen alle Kinder eine Chance, ihre Potentiale und Inte-
ressen zu entfalten, und so schaffen wir die Voraussetzung für eine
wirkliche Vereinbarkeit von Beruf und Eltern-Sein.
Familien mehr Zeit geben –
familienfreundliche Arbeitszeitmodelle fördern
Zeit ist für Familien ein knappes Gut, besonders wenn die Eltern
berufstätig sind. Wir wollen Müttern und Vätern mehr Flexibilität
geben, ihre Arbeitszeiten mit den Anforderungen ihrer Familie in
Einklang zu bringen – ohne dass dies immer gleich eine Festlegung
für ihre gesamte Berufsbiografie beinhaltet. Wir führen ein Rück-
kehrrecht auf eine Vollzeittätigkeit ein und ergänzen damit das im
Teilzeit- und Befristungsgesetz verankerte Recht auf Teilzeit an
entscheidender Stelle. Auch eine Weiterentwicklung des Teileltern-
geldes und eine Flexibilisierung der Elternzeit führen zu mehr Spiel-
raum. So bleibt mehr Zeit für die Familien.
Für eine gerechte Familienförderung –
in die Kindergrundsicherung einsteigen
In unserem reichen Land leben viele Kinder in Armut. Unser Ziel
ist eine Gesellschaft, in der kein Kind in Armut lebt und in der
jedes Kind gleich viel wert ist. Jedes Kind, unabhängig vom Ein-
kommen seiner Familie, soll die gleiche finanzielle Unterstützung
vom Staat erhalten. Wir wollen in der nächsten Legislaturperiode
den Einstieg in eine Kindergrundsicherung schaffen. In der Kinder-
grundsicherung gehen Kinderregelsätze, Kinderzuschlag sowie die
steuerlichen Kinderfreibeträge vollständig auf. Wir wollen dafür
auch Mittel nutzen, die durch die Veränderung des Ehegattensplit-
tings frei werden. In einem ersten Schritt werden wir unter anderem
die Regelsätze für Kinder anheben, damit sie die tatsächlichen Be-
darfe der Kinder abdecken.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
151
Teilhabe für Jung und AltFür echte Jugendpartizipation – Wahlalter 16 jetzt!
Das Wahlrecht ist eines der wichtigsten demokratischen Rechte,
die BürgerInnen in einer Demokratie haben, um Entscheidungen
zu beeinflussen. Wir setzen uns dafür ein, dass Jugendliche end-
lich an diesen demokratischen Entscheidungsprozessen beteiligt
werden. Deshalb werden wir das Wahlalter auf allen Ebenen auf
16 Jahre absenken. Denn nur so bekommen Jugendliche wirklich
eine Stimme. Zudem werden wir politische Bildungsprogramme auf
allen Ebenen ausbauen, denn mitentscheiden können Jugendliche
nur dann, wenn sie die Möglichkeit haben, sich ausreichend über
die politische Situation zu informieren.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
152
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleI. Intakte Umwelt und gesunde
Ernährung für alle
Wie wir erhalten, was uns erhält
Jahrzehnte des Umweltschutzes haben unsere Flüsse sauberer, die
Luft reiner und die Wälder gesünder gemacht. Das haben GRÜNE
und Umweltbewegung erreicht, oft im Konflikt mit mächtigen Lobbys
und Wirtschaftsinteressen und meistens gegen die Polemik und den
Widerstand von CDU, CSU, FDP und viel zu oft auch von der SPD.
Doch noch immer sind unsere Wälder stark geschädigt, sind
über 80 % der Gewässer in einem schlechten Zustand. Pestizide aus
der Landwirtschaft verunreinigen Lebensmittel und Textilien. All-
ergien und durch eine belastete Umwelt verursachte Erkrankungen
nehmen zu, besonders bei Kindern. Artensterben, Monokulturen
und Flächenverbrauch nehmen stetig zu, unbeeindruckt von Politi-
kerreden. Und in den Meeren schwimmen bald mehr Plastikabfälle
als Fische.
Grüne Politik minimiert die Belastungen für unsere Umwelt,
damit wir alle gesünder leben können. Wir wollen die Vielfalt der
Natur für uns und nachkommende Generationen bewahren. Dazu
müssen wir uns von einem auf quantitatives Wachstum verengten
Wohlstandsbegriff lösen. Wir müssen wegkommen von Agrarfab-
riken und Massentierhaltung hin zu einer naturverträglichen bäu-
erlichen Landwirtschaft. Erdbeeren im Winter, Clementinen im
Sommer, das ganze Jahr über Spargel – der ökologische Preis für
die immerwährende Verfügbarkeit von nicht saisonalem Obst und
Gemüse ist hoch.
Was wir alle wissen, aber zu oft vergessen: Wir haben die Erde
nur von unseren Kindern geborgt. Für ein Leben, das wieder stärker
im Einklang mit der Natur ist, brauchen wir eine Übereinkunft, wie
wir mit unserer Umwelt umgehen und wie wir die Vielfalt der Arten
erhalten und Lebensräume schützen.
Umweltschutz ist auch eine elementare Gerechtigkeitsfrage und
die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Denn es sind im-Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
153
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für allemer die Ärmsten, die im Wettstreit um schwindende Ressourcen
den Kürzeren ziehen – weltweit und auch bei uns in Deutschland.
Lärm und Abgase treffen gerade die, die sich keine teure Wohnge-
gend leisten können. Aber sauberes Wasser, gesunde Lebensmittel
und gute Luft dürfen ebenso wenig wie der Schutz vor gesundheits-
schädlichem Lärm keine Frage des Geldbeutels sein. Menschen, die
durch Arbeit oder Umwelt erkranken, brauchen eine adäquate Be-
handlung.
Wohl in keinem anderen Politikbereich wird so deutlich wie in
der Umweltpolitik, um was es geht: Lebensgrundlagen erhalten,
Vorsorge treffen, Zukunft schaffen. Die Herausforderungen sind
gewaltig, die Widerstände groß. Nicht nur die Politik muss sich än-
dern, sondern auch die Art, wie wir leben und wirtschaften.
Dafür braucht es informierte Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, mutige Umwelt-, Natur- und TierschützerInnen sowie enga-
gierte Landwirtinnen und Landwirte, die regionale und Biopro-
dukte herstellen, den Tierschutz in der Tierhaltung umsetzen und
die Landschaft und Natur pflegen. Jeder kann sich für eine bessere
Umwelt einmischen mit dem Einkaufskorb – im Bioladen und im
Discounter. Dafür braucht es eine klare und verlässliche Kennzeich-
nung für ökologische, regionale und faire Produkte. Zudem ist
es wichtig, dass Kinder Kompetenzen im Umgang mit Natur und
Umwelt entwickeln. Deshalb wollen wir für eine nachhaltige Um-
weltbildung sorgen, die Werte vermittelt und Kinder motiviert, die
Natur zu erleben und erhalten zu wollen.
1. Intakte Umwelt, gesundes Leben
Umweltbelastungen wollen wir durch strenge Grenzwerte auf ein
Minimum zurückfahren. Die EU-Chemikalienverordnung REACH
wollen wir so verbessern, dass nur unbedenkliche Chemikalien auf
den Markt kommen und gefährliche Stoffe durch unbedenkliche
ersetzt werden. Uns GRÜNEN ist klar, dass der Chemie bei dem
ökologischen Umbau der Industriegesellschaft eine Schlüsselrolle
zukommt. Daher wollen wir eine Chemiewende und die Herstellung
und Nutzung umweltfreundlicher, gesundheitlich unbedenklicher
Chemikalien vorantreiben. Wir wollen, dass die Hersteller für dasZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
154
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleInverkehrbringen gefährlicher Stoffe haften.
Intakte Böden, sauberes Wasser und reine Luft sind eine Grund-
voraussetzung für ein gesundes Leben. Wir wollen europaweit
ehrgeizige Vorgaben für den Bodenschutz durchsetzen. Die deut-
sche Blockade der europäischen Bodenrahmenrichtlinie wollen wir
beenden und die Einbeziehung des Bodenschutzes in die verschie-
denen Fachgesetze verstärken, um neue Bodenbelastungen durch
Schadstoffeintrag oder Erosion möglichst zu vermeiden. Wir stre-
ben, in Abstimmung mit den Ländern, eine Sanierung aller Altlas-
ten bis zum Jahr 2050 an, bei denen das fachlich geboten ist. Für
die Gewässer und das Grundwasser gilt es, die Vorgaben der EG-
Wasserrahmenrichtlinie zu erreichen und den sogenannten guten
ökologischen Zustand bzw. den guten mengenmäßigen und che-
mischen Zustand schnellstmöglich herzustellen. Salzeinleitungen in
Flüsse müssen beendet werden.
Die Grenzwerte für Luftschadstoffe wie Quecksilber, Stickoxi-
de und Feinstaub wollen wir weiter senken. Darüber hinaus setzen
wir uns erneut für die Abschaffung von Ausnahmetatbeständen bei
der Abfallmitverbrennung und die Einführung von ambitionierten
Grenzwerten auch für weitere Stoffgruppen ein. Die Förderung von
unkonventionellem Erdgas insbesondere mittels giftiger Chemikali-
en („Fracking“) lehnen wir wegen der unabsehbaren Gefahren für
Gesundheit und Umwelt ab. Sie behindern zudem Klimaschutz und
Energiewende. Für bestehende konventionelle Erdgas- und Erdöl-
förderungen wollen wir die Länder unterstützen, den Förderzins
deutlich zu erhöhen. Auch den Bedrohungen durch das Eisenhyd-
roxid aus dem Braunkohletagebau wollen wir Einhalt gebieten und
bei der konventionellen Förderung von Rohstoffen in Deutschland
legen wir größten Wert auf Umweltschutz und Transparenz.
In Wohnungen, Büros und Klassenzimmern ist die Schadstoff-
belastung der Luft heute teilweise höher als draußen. Deshalb
brauchen wir strengere gesundheitliche Anforderungen etwa für
Baustoffe oder Bürogeräte. Lärm und Lichtverschmutzung sind in-
zwischen massive Probleme für Natur und Gesundheit. Lärm stresst
und macht auf Dauer krank. Insbesondere bei öffentlichen Gebäu-
den und öffentlichen Orten soll besonders auf den Einsatz von
lärmreduzierenden, die Raumakustik verbessernden Materialien
geachtet und auf unnötige Beschallung verzichtet werden. Wie wirTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleLärm im Verkehr vermeiden wollen, haben wir im Kapitel „Nachhal-
tige Mobilität für alle“ beschrieben.
Es gibt Hinweise auf Gesundheitsrisiken durch Elektrosmog.
Wegen der Komplexität von Krankheitsauslösern und Krankheits-
bildern in einer schadstoffreichen Welt lassen sich die Risiken nicht
exakt bewerten. Deshalb muss hier das Vorsorgeprinzip greifen.
Wir setzen uns ein für vorsorgeorientierte und kindgerechte Grenz-
werte. Kommunen und Bevölkerung sollen bei der Standortwahl für
Funkmasten mehr Mitwirkungsrechte erhalten.
2. Die Vielfalt der Natur schützen
Jeden Tag werden Tier- und Pflanzenarten vom Menschen ausge-
rottet. In Deutschland sind 40 % der Wirbeltierarten in ihrem Be-
stand bedroht oder bereits ausgestorben. Ihre Lebensräume wer-
den zerschnitten oder zerstört, Rückzugsgebiete gibt es nur noch
wenige. Damit sägen wir an dem Ast, auf dem wir alle sitzen. Denn
als Teil der Natur kann der Mensch nur leben, wenn er seine natür-
lichen Lebensgrundlagen bewahrt.
Wir GRÜNE wollen die Vielfalt der Natur, den Reichtum ihrer
Arten und die Schönheit naturnaher Landschaften flächendeckend
schützen und für nachfolgende Generationen erhalten. Auch unsere
Kinder sollen noch Störche sehen sowie Moore und alte Buchenwäl-
der erleben können! Mehr „Wildnis“ in Form von intakten Biotopen
wie Mooren, Auwäldern oder „Urwäldern“ sind für uns faszinie-
rende Aussichten, für die es sich lohnt, Politik zu machen. In Städ-
ten werden wir uns dafür einsetzen, die Straßenbäume zu schützen
und Naturerlebnisräume für Kinder und Jugendliche einzurichten.
Sie sollen auch ihre eigenen Lebensgrundlagen gesichert vorfinden!
Wir verstehen Naturschutz als ressortübergreifenden Politikansatz.
Deshalb wollen wir den Naturschutz in allen Politikbereichen veran-
kern – von der Umweltbildung über nachhaltige Entwicklung, Land-
und Waldwirtschaft bis zur Verkehrsplanung. Dafür wollen wir auch
die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder nutzen und die
gesetzlichen Kompetenzspielräume hierfür stärken.
Wir wollen die Schutzgebiete für bedrohte Natur und gefähr-
dete Arten u. a. durch entsprechende Managementpläne wirksamZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleschützen, besser vernetzen und neue schaffen. Wir wollen das
deutsche Naturschutzrecht im Rahmen der bewährten bestehen-
den EU-Naturschutzrichtlinien modernisieren. Das Bundespro-
gramm Biologische Vielfalt wollen wir zu einem ressortübergreifen-
den Regierungsprogramm aufwerten und finanziell aufstocken. Wo
sich Eingriffe in die Natur und Landschaft nicht vermeiden lassen,
muss der Schaden vorrangig real ausgeglichen werden. Immer noch
fallen in Deutschland täglich rund 80 Hektar neuen Bau- und Ver-
kehrsprojekten zum Opfer. Das entspricht pro Jahr in etwa dem
Stadtgebiet von München. Damit gehen langfristig wichtige land-
und forstwirtschaftliche Flächen sowie geschützte Gebiete verlo-
ren. Wir wollen den Nettoflächenverbrauch bis 2020 auf höchstens
30 Hektar am Tag reduzieren und langfristig ganz stoppen. Wir
wollen Abgaben und Steuern mit ökologisch wirksamen Kompo-
nenten versehen (z. B. die Grundsteuer), damit die Nutzung von
Brachflächen, Entsiegelung und Rückbau attraktiver wird als Neu-
versiegelung.
Flüsse sollen frei fließen, Wälder sich naturnah entwickeln kön-
nen. Daher wollen wir 5 % der Waldfläche, darunter 10 % der öf-
fentlichen Wälder, aus der forstwirtschaftlichen Nutzung nehmen
und auf den anderen 95 % eine naturnahe Waldnutzung erreichen.
Dafür wollen wir das Waldgesetz nach ökologischen Standards no-
vellieren. Das Jagdrecht soll sich an der naturnahen Waldwirtschaft,
einer umweltverträglichen Landwirtschaft, den Belangen des Na-
turschutzes und den Erfordernissen des Tierschutzes ausrichten.
Wir wollen die letzten noch frei fließenden Flüsse in Deutschland
erhalten. Einen weiteren Ausbau von Elbe und Donau sowie natur-
naher Abschnitte aller anderen Flüsse lehnen wir daher ab. Fluss-
auen sollen – auch im Sinne des Hochwasserschutzes – im Rahmen
eines nationalen Programms renaturiert werden. Den Umbau der
Bundeswasserstraßenverwaltung wollen wir im Sinne einer Ver-
waltung für ökologisch intakte Flüsse fortsetzen. Die Sicherung des
nationalen Naturerbes muss durch eine Übertragung von weite-
ren 30.000 Hektar Naturschutzflächen fortgeführt und gefördert
werden. Der Bund bietet den Ländern oder anerkannten Stiftun-
gen alle naturschutzwürdigen Flächen aus seinem Eigentum zum
ausschließlichen Zweck der Sicherung des nationalen NaturerbesTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für allekostenfrei zur Übernahme an. Auf zunächst 2 % der Landesfläche
soll sich die Natur ungestört entwickeln können.
Wir wollen die Verschmutzung und Verlärmung der Meere stop-
pen, die globale Überfischung beenden sowie Nord- und Ostsee
konsequenter schützen. Um die weltweite Ernährungssicherheit
nicht zu gefährden, muss die EU vor allem ihre Fischereiaktivitäten
vor den Küsten von Entwicklungsländern stark einschränken und
besser kontrollieren. Die weitgehende Vermeidung von Beifang und
die Umsetzung des EU-Rückwurfverbots wollen wir auf nationaler
Ebene ambitioniert durchsetzen. Deutschland muss sich auf globa-
ler Ebene intensiv für ein weltweites Netzwerk von Meeresschutz-
gebieten engagieren. Wir wollen die umweltschonende Beseitigung
von versenkter Weltkriegsmunition in Nord- und Ostsee intensivie-
ren. Wir setzen uns gegen den hemmungslosen Abbau von Roh-
stoffen in der Tiefsee, der Arktis und an Land ein, um einmalige und
noch weitgehend unberührte Lebensräume zu erhalten. Auch muss
Deutschland seine Zusagen zum Schutz der Regenwälder und der
biologischen Vielfalt einhalten und wieder zu einem verlässlichen
Partner im Bereich des internationalen Artenschutzes werden, der
sich für ein Ende der dramatischen Plünderung der Urwälder und
Wildtierbestände einsetzt.
Wir wollen Entwicklungs- und Schwellenländer beim Schutz
ihrer natürlichen Ressourcen unterstützen. Doch das allein reicht
nicht aus: Internationale Finanzierungsmechanismen zum Schutz
der Biodiversität müssen starke ökologische und soziale Leitplanken
erhalten, um Menschenrechte und die Rechte indigener Völker zu
stärken.
3. Besser leben mit weniger Ressourcen
Um die ökologischen Grenzen unseres Planeten nicht zu verletzen,
müssen wir unseren Ressourcenverbrauch absolut reduzieren – wir
müssen also insgesamt weniger verbrauchen. Dies ist nur mit ei-
ner konsequenten Politik des ressourcenleichten Wirtschaftens und
einem Überdenken unserer Konsumgewohnheiten und Lebensstile
möglich. Wir wollen dies mit einem systematischen Ansatz errei-
chen, der mögliche Rebound-Effekte (erhöhter Verbrauch nachZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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158
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleEffizienzsteigerungen) verhindert. Das kann durch das Setzen fes-
ter Obergrenzen für Ressourcenverbrauch oder Emissionen erreicht
werden, aber auch, indem wir umweltschädliche Subventionen strei-
chen, Einfluss auf die Preisgestaltung von Ressourcen nehmen und
nachhaltige Lebensstile ermöglichen und fördern.
Für ein rohstoffarmes Land ist ressourceneffizientes Wirtschaf-
ten unverzichtbar. Ressourceneffizienz senkt die Abhängigkeit von
Rohstoffen, macht Unternehmen wettbewerbsfähiger und schont
Umwelt und Klima. Wir wollen den absoluten Ressourcenverbrauch
unserer Gesellschaft verringern und mehr Lebensqualität bei gleich-
zeitig weniger Rohstoffverbrauch erreichen. Mit einer flächende-
ckenden und verbraucherfreundlichen Wertstoffsammlung bei
Haushalten und Gewerbe legen wir die Grundlage für eine hochwer-
tige Kreislaufwirtschaft. Hersteller wollen wir in die Verantwortung
nehmen, schon bei der Produktion auf ein ökologisch optimiertes
Design und hochwertiges Recycling zu achten. Dazu könnte zum
Beispiel eine Ressourcenabgabe mit ökologischer Lenkungswirkung
beitragen. Wie wollen Abfallvermeidung als gesetzliches Ziel fest-
schreiben, Mehrwertquoten fördern und bessere Rahmenbedingun-
gen für Wiederverwendung und Reparatur schaffen. Dadurch und
durch längere Gewährleistungsfristen sagen wir der Wegwerfge-
sellschaft den Kampf an. Die Einwegflasche aus Plastik wollen wir
zurückdrängen, u. a. durch eine Abgabe auf Einwegverpackungen.
Auch Plastiktüten wollen wir mit einer Umweltabgabe belegen und
umweltfreundliche Alternativen zu Plastikverpackungen fördern.
Das derzeitige System der Wertstofferfassung muss grundsätzlich
geändert werden, um den Anteil der stofflichen Verwertung deut-
lich zu erhöhen und Recyclingziele für kritische Rohstoffe zu entwi-
ckeln. Die Verpackungsverordnung wollen wir ablösen, die dualen
Systeme durch eine zentrale Stelle auf Bundesebene ersetzen. Unser
Elektroschrott landet oft illegal in fernen Ländern. Wir wollen illega-
le Exporte verhindern und gemeinsam mit Handel und Herstellern
effektive Rücknahmesysteme einführen, als ersten Schritt ein Han-
dypfand.
Viele Menschen versuchen bereits heute, beim Einkauf und in
ihrem persönlichen Verhalten ihren ökologischen Fußabdruck zu
verringern. Wir fördern diesen individuellen und gesellschaftlichen
Wandel der Lebensstile, indem wir uns für umweltfreundliche Mobi-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
159
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für allelität einsetzen, Energiesparen belohnen und die ökologisch-regionale
Erzeugung von Lebensmitteln voranbringen. Damit ermöglichen wir
mehr und mehr Menschen, ein ressourcenleichtes Leben zu führen.
Und mit der solidarischen Ökonomie unterstützen wir diejenigen
Organisationen vor Ort, die schon heute Experimentierräume für
nachhaltige Produktions- und Konsummuster von morgen bieten.
4. Die Zukunft der Landwirtschaft ist grün
Wir GRÜNE stehen für eine regional verankerte, ökologische und
multifunktionelle Landwirtschaft. Grüne Landwirtschaft produziert
nicht nur gesunde und hochwertige Lebensmittel und Rohstoffe,
sondern bewahrt unsere Ökosysteme und natürlichen Ressourcen,
sie pflegt unsere Kulturlandschaften und ist ein nachhaltiges Rück-
grat für die Wirtschaft und die Lebensqualität im ländlichen Raum.
Die industrialisierte Landwirtschaft dagegen verschärft viele Um-
weltprobleme. Pestizide, Mineraldünger und gefährliche Keime ver-
schmutzen Gewässer und Böden. Monokulturen verdrängen biologi-
sche Vielfalt. Wir wollen die Agrarwirtschaft vom Teil des Problems
zu einem Teil der Lösung machen. Dabei setzen wir auf das Leitbild
des Ökolandbaus und eine naturverträgliche bäuerliche Landwirt-
schaft, auf gentechnikfreie Lebens- und Futtermittel, regionale Ver-
arbeitung und Vermarktung und tiergerechte Tierhaltung sowie auf
dezentrale Agrarstrukturen mit all ihren regionalen Unterschieden.
Den Anfang dieser Agrarwende haben wir unter der grünen
Landwirtschaftsministerin Renate Künast gemacht. Doch mit
Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb kam der Rückfall zu einer Agrarpo-
litik, die auf Masse statt Klasse ausgerichtet ist, auf Billigproduktion
und Agrarüberschüsse für den Export. Das wollen wir ändern und
die grüne Agrarwende weiterentwickeln.
Die bisherige Agrarförderung beschleunigt den Strukturwan-
del, begünstigt große Betriebe und verschärft die Nachfrage nach
den ohnehin knappen Flächen. Deshalb wollen wir sie grundlegend
umgestalten. Fehlentwicklungen wie Grünlandumbruch, die Förde-
rung von Stallneubauten ohne zusätzliche Tierschutzanforderun-
gen oder die Ausbreitung von Mais-Monokulturen dürfen nicht län-
ger subventioniert werden. Stattdessen sollten die AgrarzahlungenZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
160
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für allean ökologische und soziale Leistungen geknüpft werden wie den
Klima- und Umweltschutz, Schaffung und Erhalt von Arbeitsplät-
zen, artgemäße Tierhaltung oder regionale Wertschöpfung. Nur
durch eine solche Förderung werden wir die bäuerlichen Struktu-
ren gegen weitere Industrialisierung der Landwirtschaft schützen.
Öffentliches Geld für öffentliche Leistung – das ist fair für alle. Das
ist auch unsere Leitlinie für eine ökologische Agrarreform und ihre
Umsetzung in Deutschland. Die schwarz-gelbe Bundesregierung
hat alles versucht, die von der EU-Kommission beabsichtigte Re-
form der Gemeinsamen Agrarpolitik und das „Greening“ im Inte-
resse der Agrarindustrie und des Bauernverbandes zu blockieren.
Diese Blockade geht zu Lasten der bäuerlichen Betriebe und der
Umwelt. Wir wollen, dass Deutschland künftig nationale Gestal-
tungsmöglichkeiten nutzt, um übermäßige Kürzungen bei der 2.
Säule und die ungerechte Verteilung der Agrarzahlungen abzumil-
dern. Insbesondere brauchen wir die Umwidmung von 15 % der
Gelder aus der Basisprämie zugunsten der 2. Säule in Kombination
mit einer Degression der Direktzahlungen. Die verbleibenden EU-
Exportsubventionen und andere handelsverzerrende Zahlungen,
die zu Agrardumping der EU in Entwicklungsländern führen, wol-
len wir streichen. Stattdessen setzen wir uns auf EU-Ebene dafür
ein, dass die Förderung des Ökolandbaus sowie die Umsetzung der
FFH- und der Wasserrahmenrichtlinie gestärkt werden.
Wir lehnen den Anbau und Import von gentechnisch veränder-
ten Pflanzen ebenso ab wie gentechnisch veränderte oder geklonte
Tiere. Die Agrogentechnik hat keines ihrer Versprechen eingelöst.
Statt Erträge zu steigern, hat sie den Einsatz von Pestiziden und
die Gefahren für Umwelt, Menschen und Tiere erhöht. Agrogen-
technik macht unsere Ernährung und unser Saatgut abhängig von
einer kleinen Zahl von Großkonzernen und beendet die freie Land-
wirtschaft und den Ökolandbau. Agrogentechnik reduziert die Viel-
falt der Pflanzensorten, weil die Gentechnik-Konzerne immer mehr
Züchter aufkaufen. Die Weiterentwicklung konventioneller Sorten
wird vernachlässigt. Es gibt einen hohen Forschungsbedarf für eine
tier- und umweltverträgliche Landwirtschaft, die die Herausforde-
rungen des Klimawandels berücksichtigt. Patente auf Pflanzen, Tie-
re und Menschen lehnen wir strikt ab, weil sie BäuerInnen und Ver-
braucherInnen in eine Abhängigkeit von Agrarkonzernen führen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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161
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleWir wollen im Interesse der großen Mehrheit der Verbraucherinnen
und Verbraucher unsere gentechnikfreie Land- und Lebensmittel-
wirtschaft und die Imkerei vor gentechnischen Verunreinigungen
wirksam schützen. Den Flächenanteil des Ökolandbaus wollen
wir deutlich ausbauen, damit die Erzeugung von Biolebensmitteln
der steigenden Verbrauchernachfrage nicht länger hinterherhinkt.
Mittelfristig wollen wir für ganz Deutschland eine ökologische
Landwirtschaft mit anspruchsvollen Standards, die über das EU-
Bio-Siegel hinausgehen. Die Teilumstellung von Betrieben wollen
wir nicht mehr zulassen, bei Legehennenbetrieben bedarf es kla-
rer Bestandsobergrenzen. Zum Schutz der natürlichen Ressourcen,
insbesondere der Bienen, die einen der wichtigsten Beiträge zum
Erhalt der Biodiversität leisten, muss der Pestizideinsatz drastisch
reduziert werden. Wir werden den unverbindlichen Nationalen Ak-
tionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln
zu einem wirksamen Pestizid-Reduktionsprogramm ausbauen und
eine grundlegende Verschärfung der Risikobewertung und Zulas-
sungsverfahren bei Pestiziden anstreben. Für Wirkstoffe wie die
bienengiftigen Neonicotinoide oder Glyphosat, die Umwelt und
Menschen gefährden, fordern wir ein Anwendungsmoratorium.
Wir werden die Entwicklung alternativer, biologischer Pflanzen-
schutzmittel unterstützen, um Pestizide zu ersetzen. Wir möchten
die Verwendung von Nutzhanf und Mohn für Agrarbetriebe libe-
ralisieren.
Unsere Vision ist der klimaneutrale Bauernhof, der von fossi-
len Energieträgern unabhängig wird, die Emissionen aus Düngung
und Viehwirtschaft senkt und den Kohlenstoffschatz unserer Bö-
den mehrt. Dazu wollen wir zum Beispiel den Erhalt von Grünland
fördern sowie den Einsatz von nachhaltig erzeugtem, heimischem
Pflanzenöl und von Leguminosenpflanzen, die den Stickstoff aus
der Luft binden, voranbringen. Auch um die aus Überdüngung re-
sultierenden Emissionen und Nitratbelastungen von Böden, Gewäs-
sern und Grundwasser zu reduzieren, muss die Tierhaltung eng an
die heimische Produktion von Futter gebunden werden. Der Klima-
wandel wird die Landwirtschaft zu großen Anpassungsleistungen
zwingen. Dabei wollen wir sie frühzeitig unterstützen.
Wer hochwertige Lebensmittel produziert sowie landschafts-
pflegerische, d. h. öffentliche Aufgaben übernimmt, verdient dafürZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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162
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleauch einen auskömmlichen Lohn. Daher unterstützen wir zum Bei-
spiel Milchbäuerinnen und Milchbauern in ihrem Kampf für einen
fairen Milchpreis und den Stopp der Überproduktion. Wir wollen
die ErzeugerInnen gegenüber den Großmolkereien, der Ernäh-
rungsindustrie und dem Handel stärken. Auch international hat
Preisdumping fatale soziale Folgen. Deshalb lehnen wir die export-
orientierte Agrarpolitik der Bundesregierung ab. Aber auch umge-
kehrt gilt: Die riesigen Futtermittelimporte sind ebenso schädlich.
Spekulation mit landwirtschaftlichen Flächen wollen wir wirksam
entgegenwirken. Angesichts von immer mehr Höfen, die keine Hof-
nachfolger mehr haben, wollen wir die antiquierte Hofabgabeklau-
sel in der Alterssicherung der Landwirte aufheben. Die restlichen
Flächen der Bodenverwertungs und -verwaltungs GmbH (BVVG)
sollen zugunsten einer bäuerlichen Landwirtschaft privatisiert und
verpachtet werden. Mit einer Änderung der BVVG-Privatisierungs-
grundsätze wollen wir zu einer breiten Eigentumsstreuung bei den
landwirtschaftlichen Nutzflächen und zu besseren Chancen von
JunglandwirtInnen und Neu- und QuereinsteigerInnen auf dem Bo-
denmarkt beitragen.
Gesellschaftliche Teilhabe muss auf dem Land gewährleistet
sein. Regional und Bio ist erste Wahl! Große Chancen für die ländli-
che Entwicklung bieten dabei die Erneuerbaren Energien, die ökolo-
gische Lebensmittelwirtschaft und der nachhaltige Tourismus. Wir
wollen Anreize für die grünen Berufe schaffen – besonders in den
ländlichen Regionen.
5. Massentierhaltung – nein danke!
In der Massentierhaltung werden billiges Fleisch, Milchprodukte
und Eier durch millionenfaches Tierleid und den massiven Einsatz
von Antibiotika erkauft. Massentierhaltung fördert Artensterben
und Klimawandel, weil für den großflächigen Anbau von Futter-
mitteln Regenwald gerodet und Grünland umgebrochen wird. Fast
ein Drittel der Weltgetreideernte landet im Futtertrog. Zur Erzeu-
gung von einem Kilogramm Rindfleisch werden zudem 15.000 Liter
Süßwasser verbraucht. Damit steht die Massentierhaltung immer
mehr in Konkurrenz zur Ernährung der Weltbevölkerung. Durch dieTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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163
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für allevon Großunternehmen vorangetriebene industrielle Tierprodukti-
on sowie Dumping-Fleischexporte werden zum Beispiel in Afrika
die Absatzmärkte für die lokalen ErzeugerInnen zerstört. Auch in
Deutschland und Europa werden kleine und mittelständische Be-
triebe durch unfairen Dumping-Wettbewerb und Preisverfall als
Folge von Überproduktion in den Ruin getrieben.
Wir GRÜNE halten dieses System der Massentierhaltung für
nicht verantwortbar. Deshalb wollen wir die Errichtung neuer Rie-
senställe und Megamastanlagen stoppen. Die Tierzucht ist auf Ge-
sundheit und Lebensleistung auszurichten und nicht als Qualzucht
auf immer mehr Milchleistung, Fleischansatz, Eier- oder Ferkelzahl
ohne Rücksicht auf die physiologischen Grenzen des Lebewesens.
Die Subventionierung der Massentierhaltung gehört abgeschafft,
genau wie ihre Privilegien im Baurecht. Wir wollen allen Anlagen,
die immissionsschutzrechtlich genehmigt werden müssen, die Pri-
vilegierung entziehen. Wir wollen mit einem neuen Tierschutzge-
setz für tiergerechte Haltungsbedingungen sorgen, eine lückenlose
Transparenz der Tierarzneimittelströme schaffen und den Anti-
biotikamissbrauch durch strengere Haltungs- und Behandlungs-
vorschriften und verbindliche Antibiotikaleitlinien verhindern. Das
Kontrollsystem in der Tierhaltung muss deutlich verbessert werden.
Gülle aus Intensivtierhaltungen und Gärreste aus Biogasanlagen
müssen auf ihre Belastung mit gefährlichen Keimen hin untersucht
werden, um, falls nötig, Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Um Futtermittelimporte zu reduzieren, wollen wir die heimische
Produktion steigern und die Tierhaltung stärker an die Erzeugung
heimischer Futtermittel binden. Zudem muss der Import von Bio-
masse, und somit auch Futtermitteln, an die Einhaltung von stren-
gen Menschenrechts-, Umwelt- und Sozialstandards gebunden
werden. Unsere Konsumentscheidungen prägen die Welt. Das zeigt
sich besonders beim Thema Fleischkonsum. Pro Kopf und Jahr es-
sen wir Deutsche rund 60 Kilo Fleisch. Dieser hohe Fleischverbrauch
birgt nicht nur gesundheitliche Risiken. Er erzwingt auch eine Mas-
sentierhaltung, die auf Mensch, Tiere und Umwelt keine Rücksicht
nimmt. Deshalb fordern wir mehr Verbraucheraufklärung zu den
gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen des Fleischkon-
sums. Öffentliche Kantinen sollen Vorreiterfunktionen überneh-
men. Angebote von vegetarischen und veganen Gerichten und einZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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164
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alle„Veggie Day“ sollen zum Standard werden. Wir wollen ein Label
für vegetarische und vegane Produkte.
6. Schluss mit der Tierquälerei
Wir sind der Überzeugung, dass unsere Tiere ein Anrecht auf ein
artgerechtes Leben ohne unnötiges Leiden haben. Gemeinsam mit
der Tierschutzbewegung haben wir dafür gesorgt, dass der Tier-
schutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Tiere
wollen wir um ihrer selbst willen schützen, deshalb werden wir das
Tierschutzgesetz gründlich überarbeiten.
Damit die Rechte der Tiere besser vertreten werden können,
fordern wir ein Verbandsklagerecht für anerkannte Tierschutz-
organisationen und eine/n Bundesbeauftragte/n für Tierschutz.
Außerdem fordern wir Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften für den
Tierschutz, damit Verstöße gegen das Tierschutzgesetz effektiv
verfolgt werden können.
Tierschutz und artgerechte Tierhaltung sollen in den Ställen Ein-
zug halten. Dazu gehören auch ausreichender Weidegang und Aus-
lauf. Die Käfighaltung von Legehennen, Kaninchen und anderen Tie-
ren muss beendet werden. Sie darf auch nicht mehr durch deutsche
Exportbürgschaften für hier verbotene Käfighaltung in Drittländern
gefördert werden. Wir wollen verbindliche Zucht- und Haltungsvor-
schriften für alle Tierarten einführen. Die Haltung von Schweinen
und Rindern auf nacktem Beton und Vollspaltenböden, das Zusam-
menpferchen von Hühnern und Puten auf engstem Raum, Wasser-
geflügel ohne Zugang zu Wasser – das alles ist ein Skandal.
Die Haltung von Nutztieren muss sich zukünftig an den artei-
genen, natürlichen Bedürfnissen einer Tierart und damit am Tier-
wohl orientieren. Qualzuchten und die Praxis, Tiere etwa durch
das Kupieren ihrer Schnäbel oder Schwänze an nicht artgerechte
Haltungssysteme anzupassen oder durch Brandzeichen zu misshan-
deln, wollen wir verbieten.
Mit Schmerzen verbundene Eingriffe wie die Ferkelkastration
dürfen nur mit Betäubung erfolgen oder müssen gänzlich unter-
bleiben. Tiertransporte innerhalb Deutschlands wollen wir auf eine
Dauer von höchstens vier Stunden begrenzen und wir wollen die
Schlachtmethoden auf Schlachthöfen verbessern. Dazu gehört dieTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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165
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleÜberprüfung der CO2-Betäubung ebenso wie die Beendigung der
Akkordarbeit und des Einsatzes von unqualifiziertem Personal. Ver-
braucherinnen und Verbraucher wollen wir es durch eine verbind-
liche Tierhaltungskennzeichnung erleichtern, sich für Produkte aus
artgerechter Haltung zu entscheiden.
Tierversuche wollen wir konsequent reduzieren und langfristig
komplett ersetzen. Dafür werden wir die Entwicklung von Alternati-
ven zum Tierversuch gesetzlich fördern und ihren Einsatz verpflich-
tend machen. Wir fordern ein nationales Kompetenzzentrum für
tierversuchsfreie Methoden. Die Ethikkommission zur Bewertung
von Tierversuchen wollen wir mindestens zur Hälfte mit Vertre-
tern des Tierschutzes besetzen. Versuche an Menschenaffen sollen
strikt verboten werden.
Zum Schutz von Haustieren wollen wir einen Fachkundenach-
weis einführen. Auch Wildtiere müssen wir besser schützen. Dafür
fordern wir ihre Haltung im Zirkus zu verbieten sowie eine Novelle
der rechtlichen Vorgaben für die Zootierhaltung. Den Import und
die private Haltung regeln wir über die Einführung einer Positiv-
Liste und ein Verbot von Wildtierbörsen. Auf europäischer Ebene
muss der Tierschutz durch Importverbote von unter tierquäleri-
schen Bedingungen erzeugten Produkten, Jagdtrophäen und wild
gefangenen Tieren gestärkt werden. International wollen wir den
Schutz bedrohter Arten im Sinne des Vorsorgeprinzips weiter vo-
ranbringen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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166
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für alleWer GRÜN wählt …
• sorgt vor für eine intakte Umwelt und Natur sowie ein
gesundes Leben.
• unterstützt den Erhalt der Artenvielfalt.
• sagt „Nein danke“ zu Agrarfabriken, Massentierhaltung
und Genfood.
• fördert Ökolandbau, Regionalvermarktung und bäuerliche
Landwirtschaft.
• stimmt für Tierschutz und artgerechte Tierhaltung.
• schützt unsere Lebensgrundlagen und Ressourcen weltweit.
Schlüsselprojekte
Die Heimat von Storch und Laubfrosch schützen –
Naturerbe bewahren
Die Lebensgrundlage vieler heimischer Pflanzen und Tiere ist ge-
fährdet. Immer mehr Arten geht der Lebensraum verloren. Die Um-
setzung der Naturschutzziele hinkt in Deutschland und internatio-
nal weit hinterher. Daher werden wir dafür sorgen, dass Bund und
Länder endlich ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen
und für 10 % der Flächen grenzüberschreitend vernetzte Biotopsys-
teme schaffen. Insbesondere unsere alten, heimischen Buchenwäl-
der sind bedroht. Durch immer intensivere Durchforstung wird ihre
Artenvielfalt dezimiert. Aber auch für Erholung und das Naturer-
lebnis der Menschen sind alte Wälder unschätzbar wertvoll. Mit ei-
nem Bundesprogramm wollen wir in Kooperation mit den Bundes-
ländern 10 % der Wälder, die sich in öffentlichem Besitz befinden,Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
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167
Intakte Umwelt und gesunde Ernährung für allezu Urwäldern von morgen machen, in die auch Körperschaft- und
Privatwald eingebracht werden können.
Die Massentierhaltung beenden –
ein neues Tierschutzgesetz für artgerechte Haltung
Was in unseren Ställen stattfindet, ist nicht mehr hinnehmbar. Die
Massentierhaltung hat zu Zuständen geführt, die das Ende des
bisherigen Systems der Fleischproduktion erforderlich machen.
Wir wollen die Subventionierung der Massentierhaltung beenden,
ihre Privilegierung im Baurecht streichen und den Immissions-
schutz verbessern und ein Label für Tierschutz sowie vegane und
vegetarische Produkte einführen. Durch ein neues Tierschutzge-
setz sorgen wir für tiergerechte Haltungsbedingungen, schaffen
lückenlose Transparenz der Tierarzneimittelströme und stoppen
den Missbrauch von Antibiotika durch strengere Haltungs- und
Behandlungsvorschriften. Durch die deutliche Reduzierung des
Antibiotikaeinsatzes in der Nutztierhaltung sorgen wir gleichzeitig
für einen nachhaltigen Umwelt- und Gesundheitsschutz. Auch auf
europäischer Ebene setzen wir uns für bessere Tierschutzregeln in
der Tierhaltung ein.
Durchatmen – Luftreinhaltung und
Gesundheitsschutz vorantreiben
Bei vielen Industrieprozessen und Verbrennungsprozessen z. B. in
Kohlekraftwerken entsteht Quecksilber, das über die Abluft in die
Umwelt gelangt. Dies führt zu einer weiteren Anreicherung des
Umweltgiftes auch in Lebensmitteln, insbesondere in Fischen. Die
USA haben daher strenge Grenzwerte erlassen, um die Quecksil-
berbelastung deutlich zu reduzieren. Wir wollen die Immissions-
schutzverordnung entsprechend ändern und werden uns EU-weit
für anspruchsvolle Grenzwerte einsetzen, um grenzüberschreitend
die Industrie in die Pflicht für eine gesunde Umwelt zu nehmen. So
schaffen wir saubere Luft für alle.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Nachhaltige Mobilität für alleJ. Nachhaltige Mobilität für alle
Wie wir ein grünes Verkehrsnetz schaffen,
mit dem alle gut leben
Mobilität ist Bewegungsfreiheit. Sie ist ein unverzichtbarer Bestand-
teil unseres Lebens, Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe
und Ausdruck von Freiheit und Selbstverwirklichung. Gleichzeitig
verursacht der Autoverkehr Lärm und Staus, er schädigt die Umwelt
und das Klima und er verschuldet eine inakzeptabel hohe Zahl von
Toten und Verletzten. Unser Ziel ist eine nachhaltige Mobilität, die
umwelt- und klimaverträglich, sozial und wirtschaftlich effizient ist.
Verkehr zieht immer auch Interessenkonflikte nach sich. Immer
mehr Bürgerinnen und Bürger mischen sich deswegen selbst in die
Verkehrspolitik ein und wollen diese mitgestalten: Auseinanderset-
zungen wie etwa um Stuttgart 21, die Fehmarnbeltquerung, neue
Autobahnabschnitte und den geplanten Flughafen in Berlin oder die
dritte Startbahn in München sind Beispiele dafür. Bei Großprojekten
sind eine frühzeitige Beteiligung der betroffenen Bürgerschaft und
Zivilgesellschaft und eine ergebnisoffene Diskussion von Alternati-
ven dringend erforderlich. Die aktuelle Entwicklung von Stuttgart
21 zeigt aber noch eines: Es bedarf von Anbeginn eines ehrlichen
Umgangs mit Kosten, Risiken und Umweltauswirkungen aufgrund-
lage der tatsächlichen Kapazitäten.
Nachhaltige Mobilität setzt Prioritäten zugunsten des öffentli-
chen Verkehrs, des Radfahrens und des Zufußgehens und verknüpft
verschiedene Verkehrsträger. Nachhaltige Mobilität verlagert den
Gütertransport von der Straße auf die Schiene bzw. auf Wasser-
wege und vermeidet Transporte z. B. durch die Stärkung regionaler
Wirtschaftskreisläufe. Umwelt- und klimafreundliche Verkehrs-
mittel werden gestärkt und der motorisierte Verkehr ökologisch
verträglicher gestaltet. Damit sinkt die Belastung durch Lärm und
Schadstoffe gerade in urbanen Gegenden.
In vielen Kommunen wird um den öffentlichen Raum, die
Aufteilung der Flächen und der Mittel für den Verkehr gerungen.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
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bÜnDnis 90/Die GRÜnen
169
Nachhaltige Mobilität für alleModerne Verkehrspolitik richtet sich danach aus, allen Menschen
die größtmögliche Bewegungsfreiheit zu lassen und gleichzeitig die
negativen Folgen des motorisierten Verkehrs so gering wie möglich
zu halten. Zudem erzeugen Stadt und Land unterschiedliche Mobi-
litätsbedürfnisse, was ebenfalls zu berücksichtigen ist.
Unser Ziel ist die Teilhabe aller an Mobilität, gleich ob in der
Stadt oder auf dem Land – und zu bezahlbaren Preisen. Das gilt
auch für die, die kein Auto besitzen – indem wir den öffentlichen
Personenverkehr voranbringen und uns für sozialverträgliche Ta-
rife einsetzen. Wir setzen auf neue Mobilitätsangebote, die eine
Kombinutzung von Fuß, Rad, Bahn, Bus und Carsharing auf einer
Strecke ermöglichen.
Wir binden die Bürgerinnen und Bürger bei der Planung neuer
Verkehrswege aktiv ein, weil sie etwas zu sagen haben und weil
nur Akzeptanz die neue Mobilität ins Rollen bringt. Einmischung
ist etwa gefragt beim nächsten Bundesverkehrswegeplan, den wir
zu einem Bundesmobilitätsplan weiterentwickeln wollen, aber auch
bei vielen Projekten vor Ort.
Wir schaffen Zukunft, indem wir die Energiewende auch im Ver-
kehr umsetzen. Wir wollen weg vom Öl und setzen auf nachhaltige,
regenerative Antriebe und auf Elektromobilität mit Strom aus Er-
neuerbaren Energien. Wir wollen den Verkehr sicherer machen
sowie Verkehrslärm und Schadstoffausstoß deutlich senken.
1. Ein Verkehrsnetz für alle
Immer mehr Menschen nutzen das Fahrrad und die Bahn im Alltag.
Die Angebote an Carsharing und Bikesharing weiten sich aus und
sind durch Smartphones und Internet immer leichter zu nutzen und
ermöglichen so neue Formen der Mobilität. Diese Erfolge gibt es
nicht wegen, sondern trotz der Verkehrspolitik von Schwarz-Gelb.
Diese bevorzugt hauptsächlich das Auto vor Bus, Bahn und Fahrrad
und plant so an den Bedürfnissen vieler Menschen vorbei.
Grüne Verkehrspolitik will dagegen eine neue Mobilität für alle.
Wir wollen ein verlässliches und barrierefreies Angebot des öffent-
lichen Verkehrs auch in ländlichen Regionen, insbesondere mehr
geförderte alternative Bedienformen wie Ruf- und Bürgerbusse.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Nachhaltige Mobilität für alleIn der Verkehrsplanung wollen wir durch Gender-Mainstreaming
auch die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen, die aufgrund
sozialer und familiärer Aufgaben anders mobil sind. Zunehmend
setzt sich das Prinzip „Nutzen statt besitzen“ durch: Kombinierte
Mobilität aus Fuß- und Radverkehr, Bus und Bahn, Taxi und Car-
bzw. Bikesharing mit einer einzigen Mobilitätskarte und Mobili-
täts-Apps machen den Nahverkehr einfach, schnell und flexibel.
Grundlage dazu sind offene Daten und offene Standards bei kon-
sequenter Wahrung des Datenschutzes. Beides muss für öffentlich
geförderte Projekte und Unternehmen verpflichtend sein. Wir wol-
len eine bundesweite Imagekampagne für Fahrgemeinschaften, um
Verkehrsbelastungen zu verringern.
Wir wollen den Kommunen ermöglichen, die Voraussetzun-
gen für Carsharing-Parkflächen im öffentlichen Straßenraum, für
Citymaut-Modelle, autofreie Innenstadtbereiche und Shared-
Space-Zonen zu schaffen. Länder und Kommunen brauchen zu-
dem eine gesicherte Finanzierungsgrundlage für eine ambitionierte
ÖPNV-Offensive, bis hin zu Modellprojekten für einen ticketfrei-
en Nahverkehr. Es muss darüber hinaus eine bedarfsgerechte An-
schlussfinanzierung für das entfallende Bundes-Gemeindeverkehrs-
finanzierungsgesetz über 2019 hinaus geben. Wir machen das Land
fahrrad- und fußgängerfreundlicher und fordern mehr Platz für den
ökologischen und gesunden Fuß- und Radverkehr. Dazu wollen wir
den bundesweiten Radverkehrsanteil bis 2020 auf über 20 % stei-
gern – in einigen Städten ist ein mehr als doppelt so hoher Anteil
schon Realität. Wir wollen den Bau von Radschnellwegen mit einem
bundesweiten Modellversuch fördern. Wir werden den Nationalen
Radverkehrsplan mit Leben füllen, finanziell ausreichend unterle-
gen und das Fahrrad in der Straßenverkehrsordnung stärken. Die
Fahrradmitnahme in allen Zügen, auch dem ICE, wollen wir durch-
setzen.
Bei den Gesetzen zur Nahverkehrsfinanzierung werden wir uns
dafür einsetzen, dass eine angemessene öffentliche Finanzierung
sichergestellt wird. Wir werden uns für die Weiterentwicklung der
Regionalisierungsmittel einsetzen, um Kostensteigerungen und
Angebotsverbesserungen finanzieren zu können. Zweckfremde
Verwendung wollen wir zukünftig ausschließen. Wir wollen in den
nächsten zehn Jahren den öffentlichen Personennahverkehr durch-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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171
Nachhaltige Mobilität für allegehend barrierefrei gestalten. Die Bahn soll ihren Anteil am Verkehr
erheblich steigern. Dazu investieren wir jährlich 1 Mrd. Euro zu-
sätzlich in den Ausbau des Schienennetzes mit Lärmschutz. Dies fi-
nanzieren wir, indem wir mit der bisherigen Praxis brechen, dass in-
nerhalb der DB AG die Milliardengewinne der Infrastruktursparten
an die Konzernmutter abgeführt werden und diese damit interna-
tional auf Einkaufstour geht, statt die Gewinne in die Infrastruktur
zu reinvestieren. Daher treten wir für eine Überführung der Eisen-
bahninfrastruktur in das unmittelbare Eigentum des Bundes ein und
unterstützen das 4. Eisenbahnpaket der EU-Kommission. Die Be-
wirtschaftung regionaler Schienennetze soll den Ländern zur Pacht
angeboten werden. Wir wollen dauerhaft ausschließen, dass private
Investoren Anteile am Schienennetz erwerben.
2. Mit der Energiewende auch die Verkehrswende umsetzen!
Unser Ziel ist es, bis 2020 die Treibhausgasemissionen des Verkehrs
um 20 % zu senken. Die Vision 2040 lautet, den Verkehr nahezu
komplett auf Erneuerbare Energien umzustellen. Das ist ehrgeizig,
aber möglich: Durch die Vermeidung überflüssiger Transporte, die
Verlagerung von Verkehr auf Bahn und Fahrrad sowie die flächende-
ckende Einführung von nachhaltigen, regenerativen Antrieben bei
gleichzeitigem Ausbau der Infrastruktur der Erneuerbare-Energien-
Stromversorgung. Elektromobilität ist nur dann umweltverträglich,
wenn der Strom aus regenerativen Energiequellen gewonnen wird.
Wir wollen einen Paradigmenwechsel bei der Nutzung der Biomas-
se für Mobilität. Sie muss langfristig auf Bereiche beschränkt wer-
den, in denen es keine Alternative gibt.
Der heutige Verkehr ist zu über 90 % von fossilen Energieträgern
abhängig. Die Energiewende im Verkehr verlangt von der Autoin-
dustrie einen Technologiewandel hin zur Elektromobilität mit zu-
sätzlichem Strom aus Erneuerbaren Energien. Der Weg dahin führt
über wesentlich effizientere Antriebe, Hybridtechnik und Leichtbau
der Karosserien. Deren Produktion und Vertrieb werden am ehes-
ten gefördert durch ehrgeizige Verbrauchsvorgaben. Wir wollen
daher innerhalb der Europäischen Union bis 2020 das 3-Liter-Auto
(80 g CO2 /km) und bis 2025 das 2-Liter-Auto (60 g CO2 /km) alsZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Nachhaltige Mobilität für alleAnforderung für Neuwagen durchsetzen. Die Privilegien für große
spritschluckende Dienstlimousinen wollen wir streichen und Anrei-
ze zur Nutzung besonders sparsamer Autos schaffen. Wir werden
dies gegenfinanzieren durch eine CO2-Reform der Kfz-Steuer. Wir
wollen eine Verlängerung der Steuerbegünstigung für Erdgas über
2018 als Kraftstoff prüfen, wenn mindestens 40 % des Kraftstoffs
aus Biomethan oder Power-to-Gas stammen. Das Power-to-Gas-
Verfahren kann eine Integration von erneuerbarem Überschuss-
strom in den Verkehrssektor ermöglichen. Wir wollen die komplette
Umstellung von Eisenbahnen auf Erneuerbare Energien bis spätes-
tens 2030.
Zur Verlagerung von Lkw-Verkehr wollen wir den kombinierten
Verkehr fördern und den Schienenverkehr anwohnerfreundlich mit
modernen Lärmschutzstandards ausbauen. Auch muss die Lkw-
Maut zu einer Logistikabgabe weiterentwickelt werden, d. h. zu-
künftig auch die externen Umweltkosten berücksichtigen und auf
Lkw ab 3,5 Tonnen sowie auf alle Bundesstraßen ausgedehnt wer-
den. Wir wollen Fernbusse ebenfalls in die Mautpflicht aufnehmen.
Den Modellversuch mit den „Monstertrucks“ (Gigalinern) werden
wir beenden. Den Lieferverkehr in den Städten wollen wir durch die
Förderung von Lieferkooperationen, Lastenfahrrädern und Elektro-
transportern umweltfreundlicher machen.
Wir werden Initiativen ergreifen, um die Seeschifffahrt saube-
rer zu machen, und wollen die für Deutschland bedeutenden See-
häfen durch ein Hafenkonzept inkl. Hinterlandanbindung besser
koordinieren.
Die Binnenschifffahrt wollen wir fördern, wenn es ökologische
und ökonomische Vorteile gegenüber anderen Verkehrsträgern gibt
und sich die Schiffe den Flüssen anpassen. Flugverkehr ist mit star-
ken Klima- und Lärmbelastungen verbunden. Das Wachstum des
Flugverkehrs wird wesentlich durch kommunale Beihilfen für Re-
gionalflughäfen sowie die Subvention aus Steuerprivilegien bei der
Energiebesteuerung und der Mehrwertsteuer bei Auslandsflügen
begünstigt. Diese Subventionen wollen wir beenden und die Luft-
verkehrssteuer und den Emissionshandel ökologischer ausgestalten.
Den Kurzstreckenverkehr wollen wir auf die Schiene verlagern.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
173
Nachhaltige Mobilität für alle3. Den neuen Bundesmobilitätsplan
mit den BürgerInnen entwickeln
Straßen, Schienen und Wasserstraßen werden geplant – etwa alle
15 Jahre durch einen Bundesverkehrswegeplan. In der nächsten Le-
gislaturperiode ist es wieder so weit: 2015 wird ein neuer Verkehrs-
wegeplan verabschiedet. Wir GRÜNE wollen, dass dieser Plan der
erste wird, bei dem die Bürgerinnen und Bürger mitplanen, mitge-
stalten und mitreden.
Jährlich gibt der Bund etwa 10 Mrd. Euro für den Bau und Erhalt
von Autobahnen, Bundesstraßen, Schienen und Wasserstraßen aus
und ist an den Flughäfen Berlin, Köln und München beteiligt. Leider
wird dieses Geld allzu oft in teure und zweifelhafte Prestigeprojekte
oder überflüssige Autobahnneubauten gesteckt.
Der neue Bundesverkehrswegeplan 2015 bietet die Gelegen-
heit zum Umsteuern. Wir wollen daraus einen Bundesmobilitäts-
plan entwickeln. Die Auswahl von Infrastrukturprojekten soll sich
künftig stärker an Klima- und Naturschutzbelangen und der demo-
grafischen Entwicklung orientieren. Die Projektkosten müssen ein-
schließlich der Folgekosten z. B. für Brücken und Tunnel vollständig
dargestellt werden.
Wir wollen klare Prioritäten setzen: Beim Straßenetat wollen wir
deutlich mehr Geld für den Erhalt aufwenden und die verbleiben-
den Mittel auf ein Autobahn-Kernnetz mit Lärmschutz konzent-
rieren sowie ein Programm für Grünbrücken fördern. Wir wollen
durch Ausschreibungswettbewerbe und die Schaffung der techni-
schen Voraussetzungen dafür sorgen, dass viele abgehängte Re-
gionen wieder an den Fernverkehr angeschlossen werden. Bei der
Schiene soll ein langfristiges Zielnetz 2050 entwickelt werden, das
auf einen deutschlandweiten Taktfahrplan mit einem verbesserten
Personenverkehr ausgelegt ist und mehr Kapazität für den Güter-
verkehr schafft. Wir wollen ein nationales Flughafenkonzept u. a.
für mehr Lärmschutz entwickeln, das die Möglichkeit von Ausbau-
stopps beinhaltet. Bei den Wasserstraßen geht es um den Erhalt ei-
ner sinnvollen Infrastruktur, anstatt einzigartige Flusslandschaften
wie Elbe und Donau zu ruinieren.
Wir wollen ein umfassendes Informationsrecht in allen Planungs-
schritten – auch über das „Ob“ eines Projektes –, das EinbeziehenZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
174
Nachhaltige Mobilität für alleder Öffentlichkeit und gesetzliche Vorgaben für die Anwendung in-
formeller Beteiligungsmethoden und alternativer Konfliktlösungen
für die Verwaltung. Die Flugroutenplanung wollen wir transparent
und bürgerInnenfreundlich gestalten. Denn eine moderne Infra-
struktur ist nur dann erfolgreich, wenn sie gesellschaftlich ange-
nommen wird.
4. Den Verkehr sicher und leiser machen
Mit dem Programm „Vision Zero“ wollen wir den Straßenverkehr
sicherer machen mit dem Ziel, dass Fehler nicht mehr zu schwe-
ren Unfällen oder Tod führen. Wir wollen ein generelles Tempoli-
mit von 120 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf zweispurigen
Landstraßen. Wir werden die rechtlichen Voraussetzungen dafür
schaffen, dass Kommunen aus Gründen der Verkehrssicherheit und
des Lärmschutzes ermöglicht wird, innerorts überall dort Tempo 30
anzuweisen, wo sie es wollen.
Wir wollen den Schutz vor Verkehrslärm voranbringen und set-
zen uns für ein Nachtflugverbot an Verkehrsflughäfen, verbesser-
ten Lärmschutz an Straßen und Schienenwegen und geräuschär-
mere Fahrzeugtechnik ein. Das Lärmprivileg für die Bahn wollen
wir abschaffen, ebenso die Lärmprivilegien für den Straßen- und
den Flugverkehr.
Menschen, die von Lärm betroffen sind, sollen in ihren Rechten
gestärkt werden und einen umfassenderen Anspruch auf Lärm-
schutz haben. Die Investitionen zur aktiven Beseitigung von Lärm-
quellen und für passiven Lärmschutz wollen wir innerhalb des Ver-
kehrsetats auf 400 Mio. Euro pro Jahr verdoppeln. Ziel ist ein auf
zehn Jahre angelegtes umfangreiches Lärmsanierungsprogramm.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
175
Nachhaltige Mobilität für alleWer GRÜN wählt,
• wählt nachhaltige Mobilität.
• will die Energie- und Klimawende auch im Verkehr durchset-
zen.
• etabliert Bahn, Bus und Rad als Leitverkehrsmittel.
• setzt auf Bürgerbeteiligung und Transparenz bei der Planung
von Verkehrsprojekten.
• schützt Menschen vor Lärm, Luftverschmutzung und
Verkehrsunfällen.
Schlüsselprojekte
Die Bahn attraktiver machen – Nahverkehr ausbauen,
Gewinne in die Schiene investieren
Wir wollen die Bahn als ein ökologisches Hauptverkehrsmittel at-
traktiver machen und ihren Anteil am Verkehr erheblich steigern –
für Menschen wie für Güter. Daher müssen wir sinnvolle Ausbau-
projekte der europäischen Netze vorantreiben und dafür muss der
Finanzrahmen für Schiene und Straße im nächsten Bundesmobili-
tätsplan gleich hoch sein. Es muss aber auch sichergestellt werden,
dass die Gewinne aus dem Schienenbetrieb auch bei der Schiene
bleiben und nicht für internationale Firmenaufkäufe verwendet
werden. Im Bundesverkehrswegeplan wollen wir auch den Vorrang
von Erhalt vor Neubau festschreiben. Wir wollen durch Ausschrei-
bungswettbewerbe und die Schaffung der technischen Vorausset-
zungen dafür sorgen, dass viele abgehängte Regionen wieder an
den Fernverkehr angeschlossen werden.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
176
Nachhaltige Mobilität für alleDie AnwohnerInnen vor Verkehrslärm schützen –
Fluglärm begrenzen, Lärmschutz ausbauen
Viele wehren sich gegen den zunehmenden Verkehrslärm – zu
Recht, denn Lärm macht krank. Wir wollen das Thema Lärmschutz
auf Bundesebene endlich ernst nehmen, nachdem es die Merkel-
Regierung vernachlässigt hat: Wir schaffen einen umfassenderen
Anspruch auf Lärmschutz und verdoppeln die Mittel für die Lärm-
sanierung an Straße und Schiene. Zur Bekämpfung des Fluglärms
wollen wir eine Novellierung des Fluglärmgesetzes mit strenge-
ren Grenzwerten sowie des Luftverkehrsgesetzes um Betriebsbe-
schränkungen für die gesetzliche Nacht (22:00–06:00 Uhr) und
Lärmobergrenzen ermöglichen. Dem Lärmschutz der Bevölkerung
ist bei der Interessenabwägung ein höherer Stellenwert als der
Wirtschaftlichkeit beizumessen. Auch auf EU-Ebene werden wir für
die entsprechenden Rahmenregelungen streiten.
Lebenswerte Kommunen – Umweltverbund ausbauen
Die Verkehrswende verlangt auch einen Wandel in der Nahmobili-
tät hin zu mehr Fuß- und Radverkehr und öffentlichem Nahverkehr.
Wir wollen Mobilität für alle und in den nächsten zehn Jahren flä-
chendeckend barrierefreie Mobilität ermöglichen. Wir wollen eine
ÖPNV-Offensive. Dafür werden wir für eine angemessene öffentli-
che Nahverkehrsfinanzierung sorgen. Die Straßenverkehrsordnung
ist stärker auf die Belange ungeschützter VerkehrsteilnehmerInnen
auszurichten. Dazu wollen wir es Kommunen ermöglichen, inner-
orts überall dort Tempo 30, Begegnungszonen und Shared-Space-
Bereiche auszuweisen, wo sie es wollen. Wir wollen Radfahren
komfortabler und attraktiver machen und dabei auch dem Trend zu
Pedelecs und E-Bikes gerecht werden. Dafür braucht der Radver-
kehr mehr Platz. Wir wollen daher unter anderem den Bau von Rad-
schnellwegen durch einen bundesweiten Modellversuch fördern.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
177
Nachhaltige Mobilität für alleKlimafreundlich mobil – Verbrauchsobergrenzen
einführen und Elektromobilität fördern
Die Energiewende im Verkehr verlangt von der Autoindustrie einen
Technologiewandel hin zum 2-Liter-Auto und zur Elektromobilität
mit zusätzlichem Strom aus Erneuerbaren Energien. Der wichtigste
Treiber hierfür sind ehrgeizige Verbrauchswerte. Wir wollen daher
innerhalb der Europäischen Union ambitionierte Verbrauchsvorga-
ben, die sicherstellen, dass der Elektromobilität zum Durchbruch
verholfen wird. Deshalb verändern wir die Kraftfahrzeugsteuer, so
dass Pkw mit einem Ausstoß von weniger als 50 g CO2 /km (2-Liter-
Auto), wie z. B. Elektroautos und Plug-in-Hybride, einen Zuschuss
erhalten und dafür Spritschlucker entsprechend mehr zahlen. Be-
sonderen Wert legen wir auf die sinnvolle Kombination und den
Ausbau der elektromobilen Verkehrsmittel, die mit Strom aus Er-
neuerbaren Energien betrieben werden. Wir wollen die Umsetzung
von 100 % regenerativer Energie in allen Bereichen – Elektroautos,
E-Bikes, Pedelecs und öffentlicher Nah- und Fernverkehr – sowie
die Entwicklung intelligenter Mobilitätskonzepte.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
178
Verbraucherschutz für alleK. Verbraucherschutz für alle
Wie wir Verbraucherrechte stärken –
und Transparenz schaffen
Dioxin in Eiern. Pferdefleisch in der Lasagne. Unfaire Energiepreise.
Banken, die tricksen. Geräte, die mit Ablauf der Gewährleistung
den Geist aufgeben. Wer schützt eigentlich die Verbraucherinnen
und Verbraucher?
Wir GRÜNE haben Verbraucherschutz und gesunde Ernährung
ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Doch unter der Re-
gierung Merkel ist die Verbraucherpolitik in den Dornröschenschlaf
verfallen – mit einer durchsetzungsschwachen Ministerin, deren
Ankündigungen selten Taten folgten. Das muss sich wieder än-
dern. Zu diesem Zweck wollen wir die Verbraucherrechte stärken,
den Schutz vor Abzocke verbessern und für gesunde und sichere
Lebensmittel sorgen.
Wir schaffen ein festes Fundament für emanzipierte Konsumen-
tInnen, damit sich ProduzentInnen und VerbraucherInnen auf Au-
genhöhe begegnen können.
VerbraucherInnen haben die Verantwortung, durch ihr Kon-
sumverhalten ein Zeichen für mehr Nachhaltigkeit zu setzen, das
setzt entsprechendes Wissen über die Produkte voraus. Grüne Ver-
braucherpolitik setzt neben wirksamen staatlichen Regelungen und
Kontrollen auch darauf, dass VerbraucherInnen Angebote kritisch
prüfen, Missstände anprangern und sich einmischen können. Dafür
brauchen sie bessere Informationen, starke Verbraucherorganisati-
onen und wirkungsvollen Rechtsschutz.
Verbraucherschutz ist für uns eine Frage gerechter Teilhabe. Wer
wenig hat, den schmerzen überhöhte Energiepreise oder wuche-
rische Dispo-Zinsen besonders. Soziale Ausgrenzung droht, wenn
Menschen ein eigenes Girokonto verwehrt oder der Strom abge-
stellt wird. Und auch wer nicht viel zu zahlen vermag, muss sich
darauf verlassen können, dass angebotene Produkte sicher und
Finanzdienstleistungen seriös sind. Dies gilt insbesondere auch
für Dienstleistungen der Daseinsvorsorge. Eine Privatisierung derTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
179
Verbraucherschutz für alleWasserversorgung lehnen wir daher ab, denn Trinkwasser ist unser
wichtigstes Lebensmittel und darf nicht an gewinnmaximierungs-
orientierte Privatunternehmen übertragen werden.
Grüne Verbraucherpolitik erleichtert es, mit dem Einkaufskorb
Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Dafür brauchen
VerbraucherInnen bessere und leicht verständliche Informationen
in Alltags- und leichter Sprache. Gut informierte VerbraucherInnen
können bewusst entscheiden, das Billigschnitzel aus Massentierhal-
tung im Kühlregal zu lassen, Energiespar-Geräte zu wählen oder
sich durch fair gehandelte Produkte für gerechte Arbeitsbedingun-
gen weltweit einzusetzen. Dafür wollen wir bewährte Siegel wie
Fairtrade, Bio und Ohne Gentechnik stärken.
1. VerbraucherInnen mächtig machen
Wissen ist Macht. Deshalb wollen wir Lücken im Verbraucherin-
formationsgesetz schließen und die Informationspflichten über
riskante Finanz- und Versicherungsprodukte ausweiten. Verbrau-
cherInnen wollen zu Recht wissen, was drin ist in Produkten und
Dienstleistungen. Wir setzen uns für eine verlässliche und trans-
parente Kennzeichnung ein, um die Auswahl nachhaltiger Produk-
te zu ermöglichen. Was es bei Lebensmitteln mit dem Bio-Siegel
bereits gibt, brauchen wir auch in anderen Bereichen wie etwa bei
Finanzprodukten. Zu wenig Lohn für LeiharbeiterInnen bei Ama-
zon, unhaltbare Arbeitsbedingungen für Textilarbeiterinnen in Ban-
gladesch, unfairer Druck auf MitarbeiterInnen bei Banken: Es gibt
viele Verhaltensweisen, die verantwortungsbewusste Verbrauche-
rInnen nicht akzeptieren wollen. Damit sie sich ein zutreffendes Bild
vom Umgang der Unternehmen mit sozialen und ökologischen An-
forderungen, mit ihrem Verhalten gegenüber KundInnen machen
können, werden wir gemeinsam mit den Verbraucherverbänden ein
Verbraucherportal Unternehmenscheck auf den Weg bringen. Wir
werden uns dafür einsetzen, dass Unternehmen soziale und ökolo-
gische Mindeststandards bei Produktion und Vertrieb in Deutsch-
land und weltweit einhalten und ihre CSR-Standards für Verbrau-
cherInnen erkennbar sind.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
180
Verbraucherschutz für alleWir setzen auf aktive Verbraucheraufklärung mit einem erwei-
terten Bildungs- und Beratungsangebot der Verbraucherverbände.
Unter anderem für den Finanzmarkt wollen wir unter dem Dach
der Verbraucherzentralen unabhängige Marktwächter etablieren.
Sie sollen den Markt aus Verbrauchersicht beobachten und die
Öffentlichkeit informieren, Beschwerden nachgehen, Verbrau-
cherinteressen bündeln und ein Beschwerde- und Anhörungsrecht
gegenüber der Finanzaufsicht bekommen. Die Finanzierung einer
unabhängigen Verbrauchervertretung muss dauerhaft gesichert
werden. Dafür wollen wir das Kartellrecht ändern, Kartellstrafen zur
finanziellen Stärkung der Verbraucherarbeit einsetzen und ein Ver-
bandsklagerecht für die Verbraucherverbände prüfen. Die Minis-
tererlaubnis wollen wir durch ein suspensives Veto des Deutschen
Bundestags ergänzen.
Um die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher zu bün-
deln, wollen wir Gruppenklagen ermöglichen. So können Geschä-
digte sich vor Gericht zusammenschließen und ihr gutes Recht
schneller und einfacher durchsetzen. Wir werden prüfen, ob die
Einführung einer Ombudsstelle dazu beitragen kann.
Die Grundvoraussetzung für bewussten Konsum ist, dass Un-
ternehmen verpflichtet werden, ihre ökologischen und sozialen
Produktionsbedingungen einschließlich ihrer vorgelagerten Liefer-
ketten zu dokumentieren und offenzulegen. Nur so können Ver-
braucherInnen und NGOs die grünen Aussagen von Unternehmen
bewerten und seriöse Unternehmungen von unseriösem Green-
washing unterscheiden. Um Verbraucherpolitik wissenschaftlich
zu fundieren, wollen wir einen Sachverständigenrat für Verbrau-
cherfragen einrichten, der Politik und Institutionen in Fragen der
Verbraucherpolitik kritisch begleitet und berät.
2. Schluss mit der Abzocke
Täglich werden tausende Verbraucherinnen und Verbraucher Op-
fer illegaler Werbeanrufe mit dem Ziel, ihnen ungewollte Verträge
unterzuschieben. Damit dieser Telefonterror aufhört, dürfen solche
Verträge künftig nur gelten, wenn die Angerufenen sie schriftlich
bestätigen. Telefonwarteschleifen müssen ausnahmslos von derTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
181
Verbraucherschutz für alleersten Minute an kostenlos sein. Wenn Vertragslaufzeiten von z. B.
Telefonanbietern, dem Fitnessstudio oder Abonnements nach der
Mindestlaufzeit von zwei Jahren automatisch gleich noch mal um
ein ganzes Jahr verlängert werden können, ist das Abzocke an der
VerbraucherIn und schadet dem freien Wettbewerb. Wir werden
sicherstellen, dass Verträge nach der Mindestlaufzeit kurzfristig
kündbar sind, und damit solche Abofallen unterbinden.
Dispo-Wucher wollen wir durch einen Zinsdeckel verhindern
und unseriösen Inkasso- und Abmahndiensten durch strengere Re-
geln und Kontrollen das Geschäft verderben.
Produkte, die kurz nach Ende der Garantiezeit kaputtgehen
und sich kaum reparieren lassen, sind ein Ärgernis und verschwen-
den wertvolle Ressourcen. Wir setzen uns für längere und bessere
Gewährleistungsrechte ein. Die Beweislast für einen Mangel soll
auch nach den ersten Monaten beim Verkäufer bleiben.
Wer online kauft, darf nicht schlechter gestellt werden als off-
line. Wir entwickeln deshalb ein eigenständiges Leitbild für den
Verbraucherschutz in der digitalen Gesellschaft und stärken im
Bereich der immateriellen Güter die Verbraucherrechte, indem wir
deren Wiederveräußerbarkeit rechtlich absichern.
Bei Internetgeschäften wollen wir Wildwest-Methoden abstel-
len und die Verbraucherdaten besser schützen. Unter anderem
sollen Verbraucherorganisationen die Möglichkeit erhalten, die Ein-
haltung von Sicherheit und Schutz persönlicher Daten im Internet-
handel gerichtlich durchzusetzen.
3. Energie zu fairen Preisen
Wir kämpfen für faire Energiepreise – gegen Preistreiberei durch
Monopole und Marktmanipulationen. Deshalb wollen wir mehr
Wettbewerb, mehr Preistransparenz und weniger Macht für die
großen Strom- und Mineralölkonzerne. Faire Preise, nicht Dum-
pingpreise, sind unser Ziel.
Faire Strompreise erfordern eine gerechtere Finanzierung der
Energiewende. Wir wollen die Energiewende solidarisch finanzie-
ren, überbordende Industrieprivilegien abbauen und dafür sorgen,
dass die StromkundInnen auch von den gesunkenen Preisen anZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
182
Verbraucherschutz für alleder Strombörse profitieren. Faire Gaspreise werden sich nur durch
mehr Wettbewerb auf dem Gasmarkt und die Überwindung der
Bindung des Gaspreises an den Ölpreis einstellen. Und um Abzocke
an Tankstellen und Raffinerien zu begegnen, ist ein offensives Vor-
gehen der Kartellbehörden notwendig. Bei all dem wissen wir: Die
beste Vorsorge gegen steigende Energiepreise sind Energiesparen
und Energieeffizienz. Weiteres haben wir im Kapitel „100 % sichere
Energie“ beschrieben.
4. Verbraucherrechte stärken
Die Gesundheit und Sicherheit der VerbraucherInnen muss Vor-
rang haben vor wirtschaftlichen Interessen. Deshalb wollen wir ge-
gen Weichmacher und Schwermetalle in Kinderspielzeug und kin-
dernahen Produkten vorgehen. Die gesundheitlichen Folgen dieser
und anderer toxischer Stoffe für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher werden wir weiter untersuchen lassen und die erforder-
lichen Schutzmaßnahmen treffen. Solange ihre Unbedenklichkeit
nicht eindeutig festgestellt ist, dürfen Lebensmittel oder Kosmeti-
ka mit Nano-Partikeln nicht auf den Markt kommen. Giftige Far-
ben und Bleichstoffe in Textilien müssen endlich der Vergangenheit
angehören. Die Kennzeichnung von tierversuchsfreien Produkten
wollen wir stärken.
Fahrgäste sollten schon bei Verspätungen ab 30 Minuten An-
spruch auf Entschädigung haben. Reisende müssen im Konfliktfall
Reiseveranstalter auf Augenhöhe begegnen können. Wir fordern
deshalb eine unabhängige und kostenlose Schlichtungsstelle, die
privat finanziert ist und die mit ihren dezentralen Anlaufstellen alle
Reisenden über ihre Rechte aufklärt und gegebenenfalls hilft, Streit
einvernehmlich beizulegen.
Für Patientinnen und Patienten müssen die Rechte bei Behand-
lungsfehlern und bei Zusatzleistungen gestärkt werden.
Eine wirksamere Regulierung der Finanzmärkte ist auch aus Sicht
des Verbraucherschutzes zentral. Für Geldanlagen und Altersvor-
sorge wollen wir eine unabhängige Beratung sicherstellen, die von
Provisionsinteressen frei ist. Das Recht auf ein eigenes Girokonto
muss selbstverständlich werden. Überschuldung wollen wir durchTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
183
Verbraucherschutz für allefinanzielle Vorsorge-Checks und Stärkung der Finanzkompetenz
junger Menschen vorbeugen und das Entschuldungsverfahren für
alle auf drei Jahre verkürzen. Die soziale Schuldnerberatung muss
gestärkt werden, um überschuldeten VerbraucherInnen einen
wirtschaftlichen Neustart zu ermöglichen.
5. Gesunde Ernährung ohne Gentechnik
Gutes Essen verbindet Gesundheit und Genuss. Wir wollen sichere
Lebensmittel, frei von Pestiziden, Gentechnik und Antibiotika. Das
erfordert eine vorsorgende Politik und wirksame Kontrollen vom
Bauernhof bis zum Supermarktregal. Darum müssen wir die Le-
bensmittelüberwachung ausbauen.
Was in Lebensmitteln drin ist, muss leicht verständlich gekenn-
zeichnet sein. Bilder von glücklichen Kühen auf Produkten aus
Massentierhaltung sind bewusste Irreführungen und dreiste Ver-
brauchertäuschung. Wir wollen, dass Tierhaltungsbedingungen,
Herstellungsbedingungen, Inhaltsstoffe und die Herkunft von Le-
bensmitteln klar und einfach erkennbar sind. Die Kennzeichnung
der Haltebedingungen von Hennen soll auch auf Eier in verarbei-
teten Produkten ausgedehnt werden. Wenn tierische Erzeugnisse
in Produkten enthalten sind oder bei der Herstellung verwendet
wurden, muss das angegeben werden.
Auf verarbeiteten, zusammengesetzten Lebensmitteln soll der
Gehalt an Fett, Zucker und Salz durch eine eingängige Ampelkenn-
zeichnung in Grün-Gelb-Rot sichtbar gemacht werden. Denn schon
jede und jeder Zweite leidet unter Fehlernährung oder Überge-
wicht. Schmuddelküchen und Musterbetriebe wollen wir durch ein
Hygienebarometer oder Smiley unterscheidbar machen.
Kitas und Schulen müssen mehr Wissen über gesunde und
ausgewogene Ernährung vermitteln – auch praktisch durch eine
gemeinsame Mahlzeit am Tag, bei deren Zubereitung die Kinder
möglichst einbezogen werden. Denn in der Kindheit geprägte Er-
nährungsmuster halten oft ein Leben lang. Und wir wollen mit
einem Bundesprogramm den flächendeckenden Ausbau der ge-
sunden Kita- und Schulverpflegung in Deutschland voranbringen.
Dabei sollen regionale und ökologische Versorgungsstrukturen inZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
184
Verbraucherschutz für alleder Gemeinschaftsverpflegung gefördert werden. Wir wollen einen
Bioanteil von mindestens 20 % in der Gemeinschaftsverpflegung.
An Kinder gerichtetes Marketing und den Etikettenschwindel bei
sogenannten Kinderlebensmitteln wollen wir unterbinden.
Gentechnik in Lebensmitteln lehnen wir ab, auf dem Tisch wie
auf dem Acker. Darin wissen wir uns mit der großen Mehrheit
der VerbraucherInnen und LandwirtInnen einig. Agro-Gentech-
nik macht unsere Ernährung abhängig von einer kleinen Zahl an
Großkonzernen und Pflanzensorten. Sie gefährdet die Umwelt, die
gentechnikfreie Landwirtschaft und den Ökolandbau.
Deshalb setzen wir uns dafür ein, die gentechnikfreie Lebens-
mittelproduktion in Deutschland besser zu schützen und die Zu-
lassung zum Anbau genveränderter Pflanzen in Europa strenger zu
regulieren. Wir wollen das Gentechnikgesetz verschärfen und auf
EU-Ebene durchsetzen, dass die Kennzeichnungslücke für Fleisch,
Eier, Milch oder Käse geschlossen wird, für deren Erzeugung Gen-
mais oder Gensoja verfüttert wurde. Wir wehren uns gegen Ver-
suche, die Nulltoleranz gegenüber illegalen Gentech-Bestandteilen
aufzuweichen oder die Kennzeichnungsvorgaben zu unterlaufen.
Regionale Vielfalt und heimische Esskulturen müssen erhalten
bleiben. Wir wollen keine Vereinheitlichung und Reduzierung auf
ein bis zwei Gemüse- oder Obstsorten. Es gibt in Deutschland rund
2.000 verschiedene Apfelsorten, aber im Supermarkt finden sich in
der Regel immer die vier gleichen Sorten. Wir stärken deshalb die
regionale und saisonale Küche. Das schmeckt nicht nur gut, son-
dern ist auch besser für Umwelt und Klima.
Bewusster Konsum und Verschwendung vertragen sich nicht.
Unser Ziel ist es, die Lebensmittelverschwendung bis 2020 zu hal-
bieren. Dafür ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig,
das auch Handel und Industrie in die Pflicht nimmt.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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185
Verbraucherschutz für alleWer GRÜN wählt …
• stärkt die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher.
• sagt dem Abzocken den Kampf an.
• stimmt für faire Energiepreise.
• will beim Einkauf genau wissen, was drin ist, und Bio
und Fairtrade stärken.
• wählt gesunde Lebensmittel ohne Pestizide, Gentechnik
und Antibiotika.
Schlüsselprojekte
Abzocke beenden – Finanzmärkte
verbrauchergerecht regulieren
Bei Finanzgeschäften werden zu viele abgezockt. Deshalb müssen
wir den Verbraucherschutz umfassend stärken – vom unabhängi-
gen Finanzmarktwächter, über den Rechtsanspruch auf ein eigenes
Girokonto bis hin zum Schutz gegen betrügerische Anlagemodelle.
Wir brauchen eine einheitliche und schlagkräftige Finanzaufsicht mit
Verbraucherschutz als Kernaufgabe, die durch einen Finanzmarkt-
wächter unter dem Dach der Verbraucherzentralen ergänzt wird. Die
Abzocke bei Dispo- und Überziehungszinsen wollen wir mit einem
flexiblen, an einem Leitzins orientierten Deckel verhindern. Um pro-
visionsgetriebene Falschberatung zu überwinden, wollen wir die Ho-
norarberatung gleichberechtigt am Markt etablieren und maximale
Transparenz über alle Provisionen herstellen. Wir wollen die Finanz-
märkte grüner machen, deshalb fordern wir verlässliche Gütesiegel
für nachhaltige Geldanlagen sowie ökologische und ethische Stan-
dards bei der staatlich geförderten Altersvorsorge. Da bei der priva-Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
186
Verbraucherschutz für alleten Altersvorsorge viel zu viel Geld in den Taschen der Vermittler und
Anbieter landet, brauchen wir einen verbraucherpolitischen Neustart
der Riesterrente und anderer Produkte der privaten Altersvorsorge.
Wissen, was drin ist –
Verbraucherinformation verbessern
Verbraucherinnen und Verbraucher haben das Recht zu wis-
sen, was drin ist in Produkten und Dienstleistungen. Deshalb
wollen wir einfach verständliche Kennzeichnungen einführen: bei-
spielsweise die Ampelkennzeichnung auf Lebensmitteln, das Hygie-
nebarometer oder einen „Smiley“ für Restaurants und ein Gütesie-
gel für nachhaltige Geldanlagen. Aber auch die Informationsrechte
gegenüber Behörden und Unternehmen müssen verbessert werden.
Denn bei jedem neuen Lebensmittelskandal zeigt sich, dass die bis-
herigen Informationspflichten von Behörden und Unternehmen nicht
ausreichen. Deshalb werden wir Lücken im Verbraucherinformations-
gesetz schließen und die Informationspflichten auf weitere Produkte
und Dienstleistungen ausweiten.
Keine Gentechnik auf unseren Tellern –
Kennzeichnungspflicht verbessern
Die Mehrheit der Deutschen lehnt Gentechnik im Essen ab und
doch landet es Tag für Tag auf unseren Tellern. Das Fleisch, das
wir essen, ist auch deshalb so billig, weil die Tiere mit Genso-
ja oder Genmais gefüttert werden. Doch die Gentech-Fütterung
muss nicht gekennzeichnet werden. Wir setzen uns dafür ein, dass
diese Kennzeichnungslücke in der EU-Gesetzgebung endlich ge-
schlossen wird. Auf nationaler Ebene muss das Qualitätszeichen
„ohne Gentechnik“ umgehend durch eine offensive Informations-
kampagne bekannt gemacht werden. So können die Verbrauche-
rInnen entscheiden, ob sie Gentechnik im Essen wollen. Und sie
können entscheiden, ob sie weiterhin die verheerenden Mono-
kulturen in Südamerika und die zunehmende Abhängigkeit der
Landwirte von wenigen Chemiekonzernen unterstützen wollen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Freies Netz und unabhängige Medien für alleL. Freies Netz und unabhängige
Medien für alle
Wie wir mehr Transparenz und Teilhabe in der digitalen
Gesellschaft schaffen
Der digitale Wandel prägt gesellschaftliche Strukturen und beein-
flusst kulturelle Normen und Werte. Er verändert unseren Alltag,
unsere Schulen und Universitäten, unsere Unternehmen, Kultur und
Medien, die Politik und vieles mehr. Wir wollen diese digitale Trans-
formation unserer Gesellschaft so gestalten, dass sie den Menschen
nutzt und dass gleichberechtigte Teilhabe und Selbstbestimmung
im Mittelpunkt stehen. Wir streben vielfältige legale Angebote an,
die eine angemessene Vergütung für UrheberInnen gewährleisten
und NutzerInnen Teilhabe an und Zugang zu kulturellen Werken
eröffnet. Umso frustrierender ist es, wie wenig sich die Merkel-
Koalition für unsere digitale Zukunft interessiert. Netzpolitik ist
ein zentrales Zukunftsthema und kann verantwortungsvoll nur als
Querschnittsaufgabe bearbeitet werden. Die Vermittlung der Kom-
petenzen zum angemessenen und selbstbestimmten Umgang mit
diesen neuen Chancen, aber auch die Kenntnis über potentielle Risi-
ken, müssen Bestandteile lebenslangen Lernens sein. Um eine Wen-
de einzuleiten, wollen wir eine bessere Koordinierung innerhalb der
Bundesregierung herstellen.
Die Erwartungen und Aufgaben, die vor uns liegen, sind groß!
Es gilt, die Freiheit des Internets zu sichern, die verfassungsrechtlich
garantierten Rechte jeder/s Einzelnen, von NutzerInnen wie Urhe-
berInnen zu wahren, die Meinungsfreiheit zu stärken, die Privat-
sphäre zu schützen und den Zugang zu und die gleichberechtigte
Teilhabe an der digitalen Welt zu ermöglichen.
Der Zugang zum Internet ist für uns Teil der Daseinsvorsorge.
Zu unserem Verständnis von sozialer Teilhabe im 21. Jahrhundert
gehört es, den Breitbandinternetzugang über einen verpflichtenden
Universaldienst – wie bei der Postzustellung – sicherzustellen.Zeit für den grünen Wandel
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BündniS 90/die grünen
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Freies Netz und unabhängige Medien für alleWir GRÜNE setzen – auch im Internet – auf Dezentralität, Of-
fenheit und Vielfalt. Das Aufkommen neuer monopolartiger Ange-
bote, die die Selbstbestimmung einschränken, widerspricht diesen
Werten. Die Schwachen müssen gegenüber den marktbeherr-
schenden Konzernen gestärkt werden.
Kommerzielle Plattformen, die mit den Werken von Kulturschaf-
fenden Geld verdienen, müssen eine angemessene Vergütung be-
zahlen.
Der digitale Wandel hat zentrale Bedeutung bei der Bewältigung
der Herausforderungen unserer Zeit, ob durch intelligente Strom-
netze, vernetzte Mobilität oder Green IT. Um die ökologischen
Chancen der neuen Technologien bestmöglich nutzen zu können,
ist es von enormer Bedeutung, Vertrauen zu schaffen, etwa durch
die Berücksichtigung höchster Datenschutzstandards.
Auch auf die klassische Medienwelt wirkt sich der digitale Wan-
del aus. Presse ist nicht mehr nur bedrucktes Papier, Radio und
Fernsehen sind mehr als Funkwellen und bewegte Bilder. Die Me-
diengattungen sind immer schwerer zu trennen, ihr Konsum verän-
dert sich und stellt damit Medienunternehmen und Medienschaf-
fende, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, aber auch die Politik
vor drängende Fragestellungen.
Teilhabe in der digitalen Gesellschaft setzt selbstbestimmtes
Handeln voraus. Die Notwendigkeit, Medienkompetenz zu erler-
nen, ist für Menschen aller Generationen gleichermaßen aktuell –
für Kinder genauso wie für SeniorInnen.
Hunderttausend Menschen gingen bei klirrender Kälte gegen
das ACTA-Abkommen auf die Straßen. Ein #aufschrei, der dem all-
täglichen Sexismus in unserer Gesellschaft vielfältige Gesichter gibt,
wird Thema in allen Medien. Immer mehr Menschen beteiligen sich
an Online-Petitionen. Das sind Beispiele, wie immer mehr Men-
schen die Möglichkeiten des Internets nutzen, um sich eine eigene
Meinung zu bilden, sich politisch einzumischen und zu organisieren.
Unsere Demokratie wird digital lebendiger. Dies wollen wir nutzen,
um mehr Transparenz und Beteiligungsformen, sei es in der Politik,
der Wirtschaft oder der Verwaltung, zu schaffen.
Unsere Zukunft ist digital. Wir GRÜNE wollen sie mit Ihnen und
Euch gestalten!TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
189
Freies Netz und unabhängige Medien für alle1. Wirtschaften und teilhaben: Die Zukunft ist digital
Der Breitbandausbau stockt in unserem Land. Gerade in ländlichen
Regionen haben beispielsweise Unternehmen wie FreiberuflerInnen
dadurch einen massiven Standortnachteil. Um allen Menschen die
Teilhabe am digitalen Wandel zu ermöglichen, müssen wir endlich
die weißen Flecken schließen. Wie die Postzustellung bis in die ab-
gelegenen Regionen unseres Landes geregelt ist, wollen wir auch
den Zugang zu einem Breitbandanschluss für alle Menschen über
einen Universaldienst sicherstellen. Mit diesem Universaldienst
müssen überall Breitbandanschlüsse mit mindestens 6 Mbit/s ver-
fügbar sein. Diesen Universaldienst wollen wir dynamisch gestal-
ten, um mit der technischen Entwicklung und den Anforderungen
Schritt zu halten. Unser Ziel ist es, bis zum Ende der Legislaturperi-
ode flächendeckend Breitbandanschlüsse im zweistelligen Mbit/s-
Bereich bereitzustellen.
Unsere bestehende Netzinfrastruktur stößt an ihre Grenzen und
ist nicht zukunftsfähig. Daher bleibt der Aufbau eines flächende-
ckenden Glasfasernetzes unser Ziel.
Über die Breitbandversorgung hinaus wollen wir öffentliche
wie private Vorhaben, die den Ausbau von kostenfrei nutzbaren
und öffentlich zugänglichen WLAN-Netzwerken zum Ziel haben,
aktiv unterstützen unter Berücksichtigung des gesundheitlichen
Verbraucherschutzes. Hierzu suchen wir pragmatische Wege, wie
Anschlussinhaber Dritten den Internetzugang ermöglichen können,
ohne für missbräuchliche Nutzung in die Mithaftung (Störerhaf-
tung) genommen zu werden. Aber auch die NutzerInnen solcher
Netzwerke müssen sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst sein,
damit die Akzeptanz solcher Angebote nicht verspielt wird.
Das Internet ist elementar für unser Ziel einer inklusiven Gesell-
schaft. Es eröffnet gerade auch Menschen mit Behinderung neue
Möglichkeiten der Teilhabe. Wir wollen eine möglichst weitge-
hende Barrierefreiheit im Internet erreichen. Diese soll zum selbst-
verständlichen Designkriterium für öffentliche und privatwirt-
schaftliche Angebote werden. Gleichzeitig möchten wir aber auch
diejenigen einbeziehen und berücksichtigen, die nicht mit dem In-
ternet umgehen wollen oder können.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
190
Freies Netz und unabhängige Medien für alleIn der Internetwirtschaft entstehen hunderttausende neuer Ar-
beitsplätze. Wir wollen Start-ups fördern und eine GründerInnen-
kultur unterstützen, die die großen Potentiale der Digitalisierung
nutzt. Die Bereitschaft, für gute Ideen unternehmerische Risiken
einzugehen und im Scheitern die Möglichkeit einer neuen Chance
zu verstehen, wollen wir stärken. Die Förderung der Kreativ- und
Internetwirtschaft wollen wir neu aufstellen und an die Anforde-
rungen eines Wirtschaftszweigs, in dem schnelle Innovationszy-
klen und kurzfristige unternehmerische Entscheidungen an der
Tagesordnung sind, angemessen anpassen. In der IT-Wirtschaft
werden häufig neue Modelle von flexibleren, familienfreundliche-
ren Arbeitszeiten und Mitarbeiterbeteiligung vorgelebt, die weiter
unterstützt gehören. Mehr zeitliche und räumliche Flexibilität ist
aber nicht immer gleichbedeutend mit mehr Freiheit. Wir bestehen
darauf, dass auch unter sich ändernden Arbeitsbedingungen die
Einhaltung von Sozialstandards, faire Entlohnung und die Verein-
barkeit von Familie und Beruf gewahrt bleiben müssen.
Wie offen, frei und nachhaltig unsere Gesellschaft ist, spiegelt
sich auch im Einsatz freier und offener Software wider. Im öffentli-
chen Bereich muss sie Vorrang genießen, sofern dies vergaberecht-
lich möglich ist. Genauso müssen Softwareentwicklungen von und
für Behörden stets mit Quellcode unter einer freien Lizenz veröf-
fentlicht werden, damit alle von ihnen profitieren und sie einfach
weiterentwickelt werden können. Zentral für eine solche Strategie
ist die Verwendung offener Standards und Schnittstellen. Trotz
objektiver Vorteile freier Produkte wird gerade in der öffentlichen
Verwaltung noch zu häufig proprietärer Software der Vorrang ein-
geräumt. Wir wollen den Umstellungsprozess zu freier Software
gemeinsam mit den Beschäftigten der Verwaltung gehen und für
Verständnis und Unterstützung werben.
Informationstechnologien sind schnellen und permanenten Än-
derungen unterworfen und ohne Rohstoffe aus anderen Ländern
undenkbar herzustellen. Wir wollen darauf hinarbeiten, dass Pro-
duktion, Vertrieb, Nutzung und Entsorgung dieser Technik unter
gerechten und nachhaltigen Bedingungen stattfinden. Deshalb set-
zen wir uns für klare rechtliche Vorgaben ein, die Menschenrechts-
standards ebenso wie Energie- und Ressourceneffizienz verbindlichTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
191
Freies Netz und unabhängige Medien für allemachen, und wollen die Wiederverwertung von wertvollen Roh-
stoffen so weit wie möglich steigern.
Für die Energiewende wird es in den nächsten Jahren von beson-
derer Bedeutung sein, dass auch die IT-Branche ihren Teil zu deren
Gelingen beiträgt. Deshalb wollen wir Green IT fördern. Darunter
verstehen wir die Optimierung des Ressourcenverbrauchs während
der Herstellung, des Betriebs und der Entsorgung von IT-Geräten
sowie den Einsatz von neuen Technologien mit dem Ziel einer res-
sourcenschonenderen Wirtschaft. Um diesen Aufgaben zu begeg-
nen, braucht Deutschland eine Strategie zur Förderung und Ent-
wicklung nachhaltiger IKT-Konzepte. Für die Strommenge der rund
52.000 Rechenzentren in Deutschland sind ca. vier mittelgroße
Kohlekraftwerke notwendig. Die Energieeffizienz von Rechenzen-
tren kann jedoch erheblich gesteigert werden. Deshalb setzen wir
uns für eine Initiative „Klimaneutrale Rechenzentren für Deutsch-
land“ ein.
Sichere und verlässliche Computer- und Netzwerktechnologien
gibt es nur durch kreative, freie und stets neugierige Forschungs-
tätigkeit. Die Erkennung und Behebung von Sicherheitslücken in
Netzwerken und in Software muss Vorrang vor der Unversehrtheit
oder dem urheberrechtlichen Schutz von informationstechnischen
Systemen haben. Wir wollen die rechtliche Grauzone, in der viele
deutsche IT-SicherheitsexpertInnen in universitären, öffentlichen,
privatwirtschaftlichen und ehrenamtlichen IT-Sicherheitsfor-
schungsprojekten agieren müssen, beseitigen.
2. Unsere Verantwortung für ein freies Netz
Es ist notwendig, die Internetfreiheit politisch zu sichern. Sie ist
durch Monopole und Oligopole bei zentralen Diensten wie Such-
maschinen oder sozialen Netzwerken bedroht, aber auch durch
staatliche Überwachungsphantasien wie etwa die Vorratsdaten-
speicherung. Die Netzinfrastruktur soll allen gleichermaßen zur
Verfügung stehen. Wir wollen kein 2-Klassen-Internet und daher
den Grundsatz der Netzneutralität gesetzlich verankern. So stellen
wir sicher, dass Daten im Internet ohne Benachteiligung oder Be-
vorzugung gleichberechtigt übertragen werden – ungeachtet ihrerZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Freies Netz und unabhängige Medien für alleHerkunft, ihres Zieles, der Finanzkraft ihrer EmpfängerInnen oder
AbsenderInnen, ihres Inhalts, verwendeter Anwendungen oder ein-
gesetzter Geräte. Verletzt wird die Neutralität des Internets auch,
wenn Anbieter oder staatliche Stellen Inhalte des Internets sper-
ren, filtern oder die Nutzung drosseln, so dass weniger rentable
Inhalte plötzlich schlechter zugänglich sind oder politisch unlieb-
same Inhalte verschwinden. Die zunehmende Verschmelzung von
Infrastrukturanbietern und Inhalteanbietern sehen wir kritisch, da
sie die Netzneutralität gefährdet, den Wettbewerb einschränkt und
Nutzungsfreiheiten senkt. Wir setzen uns dafür ein, dass Bundes-
netzagentur und Bundeskartellamt im Rahmen ihrer Kompetenzen
möglichen Missbräuchen nachgehen. Darüber hinaus wollen wir die
Netzneutralität gesetzlich festschreiben.
Weltweit häufen sich – gerade in autoritären Staaten und Dik-
taturen – staatliche Eingriffe in die Internetfreiheit. Der Export von
Know-how, Technik und Software zur Zensur und Überwachung
des Internets in diese Länder muss ein Ende haben. Hier wollen wir
eine effektive Ausfuhrkontrolle sicherstellen. Freier und offener
Netzzugang ist zum Menschenrecht geworden. Es braucht weltwei-
te transparente Übereinkünfte über Regeln, die das Internet dauer-
haft frei und offen halten. Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft
gehören dabei an einen Tisch, um zu einem globalen Kodex zur
Sicherung der Freiheits- und Bürgerrechte im Internet zu kommen.
Auch online wird gemobbt, abgezockt und betrogen, werden
Straftaten mit Hilfe der neuen Möglichkeiten des Internets began-
gen. Freiheit in einer digitalisierten Welt bedeutet sowohl Schutz
des Individuums als auch Durchsetzung seiner Rechte. Dies muss
effektiv, aber auch strikt bürgerrechtskonform geschehen. Dem
Aufbau von Sperr- oder Zensurinfrastrukturen treten wir seit jeher
klar entgegen. Stattdessen müssen verbotene Inhalte gelöscht und
Straftaten wie die Darstellung sexuellen Missbrauchs von Kindern
oder rassistische Gewaltaufrufe konsequent verfolgt werden.
Zur besseren Rechtsdurchsetzung bedarf es Ermittlungsbehör-
den, die fit für das digitale Zeitalter gemacht werden. Um dabei ef-
fektiv handeln zu können, müssen dafür auch grenzüberschreitende
Kooperationen gestärkt werden. Dies ist Teil unseres Ziels, eine glo-
bale Internet-Governance-Struktur einzuführen, die möglichst alle
Interessen und Akteure berücksichtigt.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Freies Netz und unabhängige Medien für alleIm Bereich des Kinder- und Jugendmedienschutzes haben wir
uns stets für Regelungen ausgesprochen, die auch in technischer
Hinsicht der Netzrealität angemessen sind, die Freiheit des Inter-
nets schützen und Kinder in den Mittelpunkt des Schutzinteresses
stellen. Die im Jahr 2010 gescheiterte Novelle des Jugendmedien-
schutz-Staatsvertrags ist diesen Kriterien nicht gerecht geworden.
Technische Mittel können immer nur Ergänzung, nicht aber Alter-
native zur Förderung von Medienkompetenz sein, verpflichtende
Filter lehnen wir zudem ab. Wir wollen die Forschung über konkrete
Gefährdungen für Kinder und Jugendliche im Internet intensivie-
ren und fördern. Die anstehende Novellierung des Jugendmedien-
schutz-Staatsvertrags werden wir konstruktiv und im Sinne der von
uns definierten Bedingungen begleiten und lehnen die erneut ein-
setzende Tendenz zur Hinterzimmerpolitik ab.
Werbeschaltungen auf Internetseiten mit verbotenem Inhalt
wollen wir bekämpfen, Gewinnerzielung durch Rechtsverletzungen
wollen wir stoppen.
Prävention ist die wichtigste Maßnahme. Wir wollen die Selbst-
bestimmung durch die lebenslang begleitende Vermittlung von
Medienkompetenz fördern. Es geht darum, Kompetenzen zu ver-
mitteln, wie man seine eigenen Daten schützt, Inhalte einordnet,
welche Rechte und Pflichten man besitzt oder auch wie man sich
bspw. gegen Falschbehauptungen wehren kann. Wir werden uns
deshalb dafür einsetzen, dass Medienkompetenzvermittlung in der
ErzieherInnen-, BetreuerInnen- und LehrerInnenausbildung bun-
desweit als eigener Gegenstandsbereich etabliert wird.
3. Bürgerrechte in der digitalen Welt stärken
Seit über einem Jahrzehnt erleben wir den Abbau, die Aufweichung
und Relativierung von Grundrechtsstandards. Uns reicht es deshalb
nicht aus, nur den Erhalt der Bürgerrechte zu fordern. Wir GRÜNE
wollen unsere Bürgerrechte wieder stärken und dem neu geschaf-
fenen Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und In-
tegrität informationstechnischer Systeme gesetzlich Geltung ver-
schaffen. Das Fernmeldegeheimnis des Artikels 10 GG wollen wir
zu einem umfassenden Kommunikations- und Mediennutzungs-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
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194
Freies Netz und unabhängige Medien für allegeheimnis weiterentwickeln, das die digitale Welt umfasst. So darf
unter dem Deckmantel der sogenannten Cybersicherheit nicht der
Abbau eines freien und offenen Internets vorangetrieben werden.
Bürgerrechtsfeindliche Gruselstücke wie die Vorratsdatenspeiche-
rung oder die heimliche Online-Durchsuchung von Computern
haben in einer freien, rechtsstaatlichen Gesellschaft keinen Platz.
Die massive Ausweitung der Bestandsdatenauskunft, die von CDU/
CSU, FDP und SPD vorangetrieben wurde, lehnen wir ab.
Die informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf öf-
fentliche Informationen – die Informationsfreiheit – stehen für uns
im Mittelpunkt unserer Arbeit für eine lebenswerte digitale Gesell-
schaft. Ohne Datenschutz gibt es kein freies Internet. Privatsphäre
ist auch im digitalen Zeitalter kein Relikt alter Tage. Im Gegenteil:
Der effektive Schutz und die gesetzliche Absicherung pseudony-
mer und anonymer Kommunikation erfüllt eine Schlüsselrolle für
die Privatheit im Internetzeitalter. Werbung ist im Internet zu einer
bedeutenden Finanzierungssäule von unentgeltlichen Angeboten
geworden. Die Werbewirtschaft ist bereit, für präzise Zielgruppen
hohe Beiträge zu zahlen, und träumt von „gläsernen Kunden“, de-
ren Spuren komplett auswertbar sind. Gegen die exzessive Samm-
lung von Daten zur Erstellung von Kundenprofilen setzen wir uns
für transparente und faire Regeln ein. Wir wollen die Macht von
selbstbestimmten und informierten Bürgern sichern. Indem wir die
ausdrückliche Einwilligung zur Speicherung und Verarbeitung von
Daten zum Grundprinzip machen. Wir fordern ein Verbot von com-
puterbezogenem Tracking durch Cookies, das von Bürgerinnen und
Bürgern nicht bemerkt wird.
Ebenso grundlegend ist der präventiv wirkende, gesetzlich ver-
pflichtende Datenschutz durch Technik (Privacy by Design und
Privacy by Default) sowie der Schutz vor ungewollter Profilbildung
und automatisierter Bewertung (Scoring) von Daten. Das gilt ge-
genüber dem Staat wie gegenüber Unternehmen und anderen
privaten Stellen. Deshalb unterstützen wir eine Reform des euro-
päischen Datenschutzrechts, die unter anderem den Datenschutz
gegenüber Unternehmen aus Drittstaaten stärkt und die Durchset-
zungsbefugnisse für die Datenschutzbehörden erhöht. Damit wird
auch der Grundrechts- und Verbraucherschutz gegenüber Anbie-
tern sozialer Netzwerke verbessert.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
195
Freies Netz und unabhängige Medien für alleMobbing im Internet ist kein Kavaliersdelikt. Bezüglich des
Schutzes von Persönlichkeitsrechten wollen wir die Anbieter noch
stärker an ihre Verantwortung erinnern. Deshalb muss ein besse-
rer Schutz für die Opfer erreicht werden. Gerade in sozialen Netz-
werken müssen sie der gesetzlichen Verpflichtung, entsprechende
Inhalte unverzüglich nach Kenntnisnahme zu löschen (Notice and
Take down), effektiv nachkommen.
Jede und jeder braucht verbriefte und durchsetzbare Rechte, um
den Weg der eigenen Daten nachverfolgen, Auskunft über gespei-
cherte Daten erlangen, die Weitergabe unterbinden und ihre per-
manente und umgehende Löschung veranlassen wie auch andere
Schutzrechte durchsetzen zu können. Unser Leitbild zur Demokra-
tie im digitalen Zeitalter und wie wir damit die digitale Demokratie
fördern wollen, beschreiben wir im Kapitel „Demokratie erneuern“.
4. Öffentlichkeit herstellen: eine neue Medienpolitik
Die Medien leisten einen entscheidenden Beitrag zum Zugang
zu Informationen und Wissen. Nach wie vor sind die klassischen
Medien – Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen – die meistgenutz-
ten Informationsquellen für viele Menschen. Zunehmend wichtiger
werden jedoch auch neue, digitale Angebote. Wir GRÜNE setzen
uns für eine vielfältige Medienlandschaft ein, an der alle teilhaben
können. Wir machen uns stark für unabhängige Medien und eine
hohe Qualität der Inhalte.
Die Unabhängigkeit der Medien ist elementar, damit sie den
Staat kontrollieren können. Wir fordern deshalb eine staatsferne
Besetzung der Aufsicht bei ARD, ZDF und Deutschlandradio und
wollen die Zusammensetzung der Rundfunkräte, des Fernsehrats
und des Hörfunkrats an die veränderten gesellschaftlichen Reali-
täten anpassen. Auch bei privaten Medien sollen die Eigentums-
verhältnisse für die Bürgerinnen und Bürger transparenter sein. Die
Zulassung und Kontrolle bundesweiter Rundfunkprogramme und
-veranstalter durch die Kommission für Zulassung und Aufsicht
(ZAK) hat sich in unseren Augen nicht bewährt, da die föderalen
Interessen weiterhin im Vordergrund gestanden haben. Um dies
zu ändern, werden wir uns für die Errichtung einer gemeinsamenZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
196
Freies Netz und unabhängige Medien für alleMedienanstalt der Länder einsetzen. Ein qualitativ hochwertiger
öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss auch in der digitalen Welt
eine wichtige Rolle spielen. Weil die Nutzerinnen und Nutzer zu-
nehmend über das Internet Rundfunkangebote nutzen, müssen
die Angebote der öffentlich-rechtlichen Anstalten dort auch dau-
erhaft präsent sein. Wir wollen deshalb die Depublikationspflicht
von ARD und ZDF beenden. Wir möchten die Inhalte stattdessen
künftig frei zugänglich und durch freie Lizenzen nutzbar machen,
bei angemessener Vergütung der UrheberInnen. Wir sind der Über-
zeugung, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk alle Generatio-
nen auf geeignete Art und Weise erreichen muss, und das gerade
auch in seinen Hauptprogrammen. Darüber hinaus begrüßen wir
den Aufbau eines eigenständigen Jugendsenders von ARD und ZDF
ausdrücklich.
Wir sehen mit Sorge, dass die vielfältige Zeitungslandschaft in
Deutschland unter starkem ökonomischem Druck steht. Auch wenn
die digitalen Medien zunehmen, sind viele Online-Angebote nach
wie vor über die Printausgaben finanziert, die mit sinkenden Wer-
beeinnahmen und sinkenden Abozahlen umgehen müssen. Immer
mehr kleinere und lokale Zeitungen werden eingestellt, Redaktio-
nen zusammengelegt und ausgelagert sowie RedakteurInnen ent-
lassen. Wenn Zeitungen eingestellt werden, wird die Grundlage für
die demokratische Meinungs- und Willensbildung geschmälert. Die
Anzahl der freien JournalistInnen nimmt seit Jahren zu – gleichzei-
tig wird ihre Bezahlung immer schlechter. Die sinkenden Zeilenho-
norare haben negative Auswirkungen auf die Zeit für Recherche
und damit die Qualität der Berichterstattung. Wir setzen uns dafür
ein, dass die Kontrolle und Durchsetzung der Vergütungsregeln
für JournalistInnen in Zukunft gewährleistet wird. Das Leistungs-
schutzrecht für Presseverlage lehnen wir ab, es wird an der derzeiti-
gen Situation nichts verändern. Es birgt die Gefahr, dass die online
verfügbaren Informationen und die Medienvielfalt weiter einge-
schränkt werden. Stattdessen wollen wir auf Basis wissenschaft-
licher Erhebungen eine Debatte über Stiftungsmodelle und Ge-
schäftsmodelle, unterstützende, indirekte und gezielte Förderung
und die Rolle des Bürgerjournalismus anstoßen. Zu klären ist, wie
ein qualitativ hochwertiger, aber auch investigativer Journalismus inTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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197
Freies Netz und unabhängige Medien für alleZukunft finanziert oder gefördert werden kann, ohne die Verleger
und Veranstalter aus ihrer Verantwortung zu entlassen.
5. UrheberInnen stärken, fairen
Interessenausgleich aushandeln
Das Internet revolutioniert den Zugang zu Kulturgütern und bietet
enorme Chancen für NutzerInnen, UrheberInnen und die kulturelle
Vielfalt, da es schnelle, kostengünstige, unbegrenzte Vervielfälti-
gungsmöglichkeiten bei gleichbleibender Qualität und ein globales
Verbreitungspotential bietet. Gleichzeitig stellt es massive Heraus-
forderungen an das bestehende Urheberrecht. Leitbild für unsere
politische Arbeit in diesem Bereich ist die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte. Dass jede und jeder das Recht hat, am kulturellen
Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu
erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und an dessen Er-
rungenschaften teilzuhaben. Genauso hat jede und jeder das Recht
auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihr/ihm als
UrheberIn von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst er-
wachsen.
Wir GRÜNE wollen auch weiterhin einen transparenten gesell-
schaftlichen Prozess zur Modernisierung und Reform des Urheber-
rechts gestalten. Ziel ist es, einen neuen Konsens über einen fairen
Ausgleich zwischen den Interessen der UrheberInnen, der Verwer-
terInnen sowie den Interessen der NutzerInnen und der Allgemein-
heit zu verhandeln. Für uns geht es um ein Urheberrecht für das
21. Jahrhundert, das hohe Akzeptanz genießt, UrheberInnen
schützt, eine angemessene Vergütung sichert und gleichzeitig aber
auch Nutzerrechte stärkt und Innovationen fördert.
Dem Ruf nach Warnhinweismodellen, einem Ende der Anony-
mität, der Sperrung von Internetseiten oder Internetanschlüssen,
der Filterung von Inhalten, dem ausufernden Abmahnunwesen und
einer verpflichtenden Speicherung von Telekommunikationsdaten
erteilen wir GRÜNE weiterhin eine klare Absage. Wir treten für eine
Politik ein, die auf vergüten statt verfolgen setzt. UrheberInnen und
KünstlerInnen stärken wir durch eine Reform des Urhebervertrags-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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198
Freies Netz und unabhängige Medien für allerechts, um sie fairer an den Erträgen der Verwertung ihrer Werke
zu beteiligen.
Die Möglichkeit der kollektiven Wahrnehmung der Rechte von
UrheberInnen durch Verwertungsgesellschaften ist ein entschei-
dendes Instrument, um eine angemessene Vergütung praktikabel
sicherzustellen. Auch wenn nicht alle Verwertungsgesellschaften
über einen Kamm zu scheren sind, wollen wir mehr gleichberech-
tigte Mitsprache sicherstellen. Die Verwertungsgesellschaften
müssen gerechter, transparenter und demokratischer werden, wir
werden dies rechtlich soweit möglich vorantreiben und unterstüt-
zen Initiativen wie auch die Verwertungsgesellschaften selber, diese
Reformschritte zu gehen. Mitglieder einer Verwertungsgesellschaft
müssen alternative Lizenzmodelle wie „Creative Commons“ nutzen
oder andere Geschäftsmodelle entwickeln können.
Heute werden Werke auf den unterschiedlichsten Geräten ge-
speichert und wiedergegeben. Diesen Mehrgewinn an Nutzungen
wollen wir schützen und durch eine Stärkung des Rechts auf di-
gitale Privatkopie sicherstellen. Dieses darf technisch nicht einge-
schränkt werden.
Durch den digitalen Wandel verschwimmen Grenzen. Hierdurch
wird der kreative Umgang mit geschützten Inhalten Dritter erleich-
tert. Die kreative Weiterentwicklung geschützter Inhalte unterliegt
im nichtkommerziellen Rahmen nicht dem Zugriff der Urhebe-
rInnen und KünstlerInnen, dies wollen wir durch eine zusätzliche
urheberrechtliche Schranke für nichtkommerzielle Formen der
transformatorischen Nutzung, die auf die Weiterentwicklung und
Bearbeitung vorhandener oder urheberrechtlich geschützter Werke
zielen, gesetzlich absichern. Wo der Bereich des Nichtkommerziel-
len jedoch verlassen wird, sind die UrheberInnen angemessen zu
vergüten. Urheberpersönlichkeitsrechte sind auch bei der Transfor-
mation von Werken zu wahren.
Wir unterscheiden „nichtkommerziell“ von „kommerziell“, wie
folgt: Wird urheberrechtlich geschütztes Material auf einer Inter-
netseite oder Plattform direkt angeboten, die in nicht geringfügi-
gem Maße Einnahmen durch Spenden, Beiträge von Mitgliedern
wie KäuferInnen oder durch Werbung oder Verlinkung hat, so ist
dies ein kommerzielles Ausmaß. Wir wollen eine zentrale Anlauf-
stelle zum Erwerb von Rechten an Werken für Bearbeitung, Inter-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Freies Netz und unabhängige Medien für allepretation, Remix und Mashup mit kommerzieller Absicht schaffen
und so die verworrene Rechteklärung vereinfachen. Freie Lizenzen
wollen wir attraktiver machen und diese in die öffentliche För-
derung mit einbauen. Häufig sind den NutzerInnen Umfang und
Geltungsbereich ihrer Lizenzen nicht immer klar, diese müssen
den NutzerInnen daher verständlich mitgeteilt werden. Außerdem
sollen NutzerInnen über eine „One-Click-Lizenzierung“ in der EU
Lizenzen zur kommerziellen Nutzung erwerben können.
Jährlich flattern hunderttausende Abmahnungen wegen der Zu-
gänglichmachung geschützter Musiktitel oder Filme ins Haus, die
teilweise nicht die Interessen der UrheberInnen, sondern die Pro-
fitinteressen von AnwältInnen bedienen. Dieses Abmahnunwesen
wollen wir beenden und setzen uns für klare rechtliche Grenzen
ein, ohne berechtigte Interessen der UrheberInnen unangemessen
zu beschneiden. Wir wollen den Streitwert deutlich senken, den
fliegenden Gerichtsstand beenden, Abmahnungen nur für Hand-
lungen im geschäftlichen Verkehr zulassen, eine Kostenerstattung
für die zahlreich zu Unrecht Abgemahnten einführen. Den Drittaus-
kunftsanspruch gegenüber Privaten wollen wir auf den geschäftli-
chen Verkehr beschränken.
Die kommenden Jahre werden entscheiden, ob sich neue Ge-
schäftsmodelle im digitalen Kulturmarkt durchsetzen, die sowohl
eine angemessene Vergütung für UrheberInnen sichern als auch
die kulturelle Teilhabe aller Menschen gewährleisten. Bemühun-
gen, dieses Ziel zu erreichen, werden wir unterstützen und aktiv
begleiten. Ein Scheitern dieser Geschäftsmodelle wird ein gesetz-
geberisches Eingreifen erfordern, das einerseits eine angemessene
Vergütung sichert und andererseits dem Drang nach noch mehr
Repression entgegentritt. Um dies zu erreichen, diskutieren wir
intensiv die Einführung einer Pauschalabgabe auf Breitbandinter-
netanschlüsse. Unsere Bundestagsfraktion hat hierzu ein umfang-
reiches Gutachten über die rechtliche und vor allem die wirtschaftli-
che Umsetzbarkeit vorgelegt, welches wir weiter auswerten wollen,
offene Fragen bei einem solchen Ansatz klären möchten und dieses
perspektivisch weiterentwickeln wollen. In diesem Zusammenhang
wollen wir eine neue Schranke für privaten Upload auf europäischer
Ebene einführen, um bestehende Hürden abzubauen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Freies Netz und unabhängige Medien für alleWissenschaft und Forschung können immens von den digitalen
Möglichkeiten profitieren, denn Wissen wächst, wenn man es teilt.
Wir wollen auch im Wissenschaftsbereich urheberrechtliche Hinder-
nisse für den Zugang abbauen und setzen uns für frei verfügbare
wissenschaftliche Publikationen (Open Access), ein gesetzliches
Recht auf entsprechende Veröffentlichungen für mit öffentlichen
Mitteln geschaffene Werke und für freie Forschungsdaten (Open
Data) ein. Im Rahmen der öffentlichen Forschungsförderung soll
Open Access zur verpflichtenden Bedingung gemacht werden. Zu-
dem wollen wir ein unabdingbares Zweitverwertungsrecht schaffen.
Wir wollen eine umfassende Wissenschaftsschranke einführen.
Die Nutzung publizierter Werke jedweder medialer Art sollte für
den nicht gewerblichen, wissenschaftlichen Gebrauch grundsätz-
lich genehmigungsfrei und ohne Einschränkungen erlaubt sein.
Wer GRÜN wählt …
• votiert für ein freies, sicheres und barrierefreies Internet.
• stärkt die Bürgerrechte.
• fördert Green IT, freie Software und innovative
Geschäftsmodelle.
• stellt den Zugang zu Breitbandinternet für alle sicher.
• stimmt für einen fairen Interessenausgleich im Urheberrecht.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Freies Netz und unabhängige Medien für alleSchlüsselprojekte
Freies und schnelles Internet für alle –
Breitbandausbau vorantreiben
Die Freiheit im Internet ist keineswegs selbstverständlich und noch
immer gibt es Regionen ohne schnellen Internetzugang. Zukünf-
tig wird die Teilhabe von Jung und Alt vom Zugang zum Internet
abhängen. Deshalb soll allen Haushalten und Unternehmen um-
gehend ein Breitbandanschluss von mindestens 6 Mbit/s zur Ver-
fügung stehen. Unser Ziel ist die flächendeckende Versorgung mit
Breitbandanschlüssen im zweistelligen Mbit/s-Bereich bis Ende der
Legislaturperiode. So schaffen wir auch im ländlichen Raum einen
besseren Zugang zur digitalen Welt. Diesen Universaldienst gestal-
ten wir dynamisch. Finanziert wird er über einen Unternehmens-
fonds, wie es bereits für andere Dienste im Telekommunikationsge-
setz vorgesehen ist. So stellen wir schnelles Internet für alle sicher
und verankern zudem die Netzneutralität gesetzlich.
Ein modernes und faires Urheberrecht –
das Abmahnwesen beenden
Statt den bürgerrechtsfeindlichen Rufen nach Internetsperren,
Warnhinweisen oder dem Ende der Anonymität zu folgen, machen
wir uns auf den Weg zu einem modernen und fairen Urheberrecht
im Dialog mit allen Beteiligten. Durch ein verbessertes Urheber-
vertragsrecht wird die Verhandlungsposition von UrheberInnen
gestärkt, eine angemessene Vergütung erreicht und ihnen klare-
re Rechte eingeräumt. Die transformatorische Nutzung (Remix/
Mashup) von urheberrechtlich geschützten Werken im definierten
nichtkommerziellen Umfang werden wir durch eine neue Ausnah-
meregelung (Urheberrechtsschranke) im Urheberrecht absichern.
Die digitale Privatkopie wird ermöglicht und das Abmahnwesen be-
endet. Verwertungsgesellschaften werden gerechter, transparenter
und demokratischer.Zeit für den grünen Wandel
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BündniS 90/die grünen
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Freies Netz und unabhängige Medien für allePrivatsphäre stärken – Vorratsdatenspeicherung
verhindern und Datenschutz modernisieren
Cloud-Computing, Smart Grids, Big Data, soziale Netzwerke: Wir
haben ein Recht auf Privatsphäre und doch werden von uns so viele
Daten gesammelt und unkontrolliert verarbeitet wie noch nie. Mit
uns wird es keine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung
geben. Stattdessen kämpfen wir für ein wirksames und modernes
Datenschutzrecht in Deutschland und in Europa. Wir müssen den
Datenschutz fit machen für das digitale Zeitalter und Überwachung
durch den Staat sowie das völlig enthemmte Datensammeln von
Unternehmen zurückdrängen. Dafür wollen wir Private stärker in
die Pflicht nehmen, den Beschäftigtendatenschutz ausbauen und
die Durchsetzung des Datenschutzes bei grenzüberschreitenden
Datentransfers verbessern. Das sind die Grundlagen für einen zeit-
und verfassungsgemäßen Datenschutz – ohne anlasslose Massen-
speicherungen.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
203
Demokratie erneuernM. Demokratie erneuern
Wie wir Transparenz herstellen, Öffentlichkeit schaffen,
Bürgerbeteiligung stärken und Repräsentation verbessern
Demokratie ist ein Erfolgsmodell. Politische Minderheiten können
zu Mehrheiten werden. Unsere grüne Parteigeschichte zeigt es:
Vom Atomausstieg bis hin zur eingetragenen Lebenspartnerschaft
haben wir echte Politikwechsel bewirkt.
Aber wir sehen auch Krisensymptome. Im politischen Diskurs
werden Zweifel laut, ob die Demokratie überhaupt in der Lage ist,
globale Zukunftsfragen wie den Klimawandel zu gestalten, ob sie
mit ihren Verfahren rasante Entwicklungen wie die Finanz- und Eu-
rokrise in den Griff bekommt. Nicht zu vergessen sind die offenen
Feinde der Demokratie, wie alte und neue Nazis.
Aber es gibt auch eine starke Gegenbewegung und viel Enga-
gement für die Demokratie und deren Stärkung. Viele engagieren
sich in Initiativen, Verbänden und Parteien für das Gemeinwohl.
Der Anspruch auf Beteiligung, auf gute Information und Transpa-
renz wächst.
Die große Mehrheit will eine neue demokratische Kultur. Sie
wollen eine starke Demokratie und haben erkannt, dass wir die De-
mokratie immer weiterentwickeln müssen. Wir nehmen diese Men-
schen ernst, denn Demokratie funktioniert nur, wenn Menschen
Verantwortung übernehmen können und auch wollen.
Wir wissen, Demokratie braucht die Einmischung aller. Alle müs-
sen mitreden können und wir wollen alle darin bestärken, mitzuma-
chen. Wir wollen unsere Demokratie vitalisieren. Deshalb fördern
wir das Engagement vor Ort und schaffen neue Beteiligungsmög-
lichkeiten auf kommunaler, nationaler und europäischer Ebene.
Deshalb setzen wir auf Gehörtwerden und Hörbarmachen. Doch
demokratische Teilhabe braucht Zeit und braucht eine neue Zeit-
politik.
Wir stehen für die demokratische Teilhabe aller. Sowohl durch
mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten als auch durch eine bessere
und geschlechtergerechte Repräsentanz. Dafür brauchen wir neue
Verfahren, aber auch starke Parlamente. Bürgerbeteiligung ist fürZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
204
Demokratie erneuernuns kein Zustand, sondern ein Prozess, der Beteiligung fortentwi-
ckelt und allen Menschen offenstehen soll. Dafür bauen wir die so-
zialen Hürden unserer Demokratie ab und machen uns für schwa-
che und weniger laute Stimmen stark. Wir sorgen für Transparenz
und bekämpfen Korruption.
Demokratie schafft Zukunft. Gegen technokratische Macht-
ansprüche und Expertokratie sagen wir deutlich: Demokratische
Verfahren sind nicht das Problem. Im Gegenteil: Mehr Demokratie
und Transparenz, mehr Dialog und Beteiligung sind die Lösung. Wir
setzen auf gemeinsames Nachdenken – so können wir die Zukunft
am besten gestalten.
1. Mitreden, gehört werden, mitentscheiden
Einmischen ist erwünscht! Basta-Politik war gestern. In den grün
regierten Bundesländern haben wir bereits einen neuen Regie-
rungsstil eingeleitet, eine Politik des Gehörtwerdens und des Hör-
barmachens. Bürgerbeteiligung muss dafür so früh ansetzen, dass
gegebenenfalls noch umgesteuert werden kann, und so organisiert
werden, dass niemand vom Beteiligungsprozess ausgeschlossen
wird. Deshalb fördern wir alle Angebote, an der Gestaltung des
eigenen Lebensumfeldes mitzuwirken. Alternative Methoden der
Konfliktlösung wie Mediation oder Schlichtung wollen wir stär-
ken. Gleichzeitig wollen wir bereits in einem frühen Planungssta-
dium Klagemöglichkeiten eröffnen. Es ist viel besser, von Anfang
an in Planungsqualität, Dialog und Beteiligung zu investieren, als
später in langjährige Verfahrensstreite oder gar in extrem teure
Polizeigroßeinsätze. Bürgerbeteiligung ist nicht nur dort angesagt,
wo gebaggert und gebaut werden soll. Wir GRÜNE haben immer
wieder Positionspapiere, Anträge und Gesetzentwürfe online zur
Diskussion gestellt, bevor sie in den Bundestag eingereicht wur-
den. Alle, die wollten, konnten sich so direkt einbringen und haben
geholfen, unsere Entwürfe zu optimieren. Solche Konsultationen,
mindestens per Internet, wollen wir auch bei Gesetzesvorhaben der
Bundesregierung vorsehen und auch in geeigneter Weise mit Mög-
lichkeiten zur Offline-Partizipation ausgestalten. Das erfolgreiche
Instrument der „öffentlichen Petition“ wollen wir als eine Form derTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
205
Demokratie erneuernBürgergesetzgebung weiterentwickeln. Offenes Regierungs- und
Verwaltungshandeln muss Standard werden. Wir wollen die Infor-
mationsfreiheit verfassungsrechtlich stärken, ausweiten und Open-
Data-Strategien durchsetzen.
Alle vier Jahre die Wahl zu haben, reicht nicht. Wir wollen auch
im Bund direkte Demokratie ermöglichen. Sie kann die repräsen-
tative Demokratie gut ergänzen. Die öffentliche Mobilisierung zu
Sachthemen bringt frischen Wind in die politische Landschaft.
Bislang verweigert sich vor allem die CDU/CSU einer dafür not-
wendigen Grundgesetzänderung. Aber wir lassen nicht locker,
bis eine dreistufige Volksgesetzgebung mit Volksinitiative, Volks-
begehren und Volksentscheid Wirklichkeit wird. Ein wirksamer
Minderheitenschutz ist dabei für uns selbstverständlich. So sollen
Volksinitiativen, die darauf aus sind, die Rechte einer Minderheit
einzuschränken, die sich nach den Kriterien eines verfassungs- und
europarechtlichen Gleichheitsartikels definieren, unzulässig sein.
Auch Grundrechte und wesentliche Verfassungsprinzipien dürfen
durch Volksentscheide nicht zur Disposition gestellt werden. Für
die direkte Demokratie soll das Transparenzgebot gelten: Es muss
Klarheit geben, aus welchen Finanzquellen sich Volksentscheid-
Kampagnen speisen. Wie bei der Parteienfinanzierung möchten wir
auch hier die Spendenhöhe begrenzen. Auf EU-Ebene wollen wir zu
gesamteuropäischen Volksentscheiden kommen.
2. Parlamente stärken, Parteien öffnen
Die repräsentative Demokratie ist Garant für die Vertretung der
gesamten Gesellschaft gegenüber Einzelinteressen. Unsere Demo-
kratie braucht einen selbstbewussten Bundestag mit starken, un-
abhängigen Abgeordneten, die die Gesellschaft abbilden und dem
Drängen mächtiger Interessen standhalten.
Wir haben erfolgreich dafür gekämpft, dass der Bundestag bei
europäischen Entscheidungen frühzeitig mitbestimmen kann, und
setzen uns weiterhin für seine Stärkung ein. Das Parlament muss
unabhängige Expertise haben, um für seine Entscheidungen nicht
auf Informationen von Lobbyisten angewiesen zu sein und auch
nicht alleine auf Regierungsdaten. Dafür braucht es ausreichendeZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
206
Demokratie erneuernAusstattung an wissenschaftlicher Dienstleistung einschließlich
eines Justiziariats. Auch wollen wir das Parlament – wie in den
USA – über ein unabhängiges „Budget-Office“ im Haushaltsver-
fahren stärken. Die Kontrolle des Regierungshandelns wollen wir
wirkungsvoller ausgestalten, die Rechte von Untersuchungsaus-
schüssen stärken.
Zur Demokratie gehören Parteien für die Bündelung, Vertretung
wie Austarierung unterschiedlicher Werthaltungen und Interessen.
Parteien müssen sich für mehr Transparenz und Mitbestimmung
öffnen. Wir GRÜNE reden nicht nur davon, sondern haben in dieser
Legislaturperiode eine Vielzahl entsprechender Initiativen für mehr
Transparenz in den Bundestag eingebracht, Beteiligung und Mitar-
beit ermöglicht und handeln auch danach: Als erste Partei haben
wir die SpitzenkandidatInnen für die Bundestagswahl verbindlich
über eine Urabstimmung gewählt.
3. Demokratie im Alltag beleben
Kern der Demokratie ist die politische Gleichheit aller. Wir wollen
keine Demokratie, die von einigen wenigen gestaltet wird, die da-
für über die notwendigen Ressourcen – insbesondere Zeit – ver-
fügen und ihre Interessen durchsetzen. Wir wollen die leisen und
unterrepräsentierten Stimmen hörbar machen. Wir setzen daher
auf neue, niedrigschwellige Verfahren der Bürgerbeteiligung, bei
denen von Anfang an alle gesellschaftlichen Gruppen auf Augen-
höhe eingebunden werden und die Chance bekommen, dass auch
ihre Interessen im Entscheidungsprozess Berücksichtigung finden.
Gut geplante und moderierte Bürgerbeteiligung ermöglicht bei den
Teilnehmern und Teilnehmerinnen einen Lernprozess, in welchem
sie über die Vertretung der eigenen unmittelbaren Interessen hi-
naus die Perspektiven der anderen Beteiligten kennen lernen und
nachvollziehen und somit eine Vorstellung von Gemeinwohl entwi-
ckeln, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft essentiell ist. Zu
große Ballungen wirtschaftlicher und finanzieller Macht stehen im
Widerspruch zum Prinzip politischer Gerechtigkeit und Gleichheit
und damit zur Demokratie. Dem muss nicht nur ordnungspolitisch
entgegengewirkt werden, sondern auch mit Demokratisierung vonTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
207
Demokratie erneuerninnen, zum Beispiel durch Ausbau der Mitbestimmungsrechte der
Beschäftigten und Reformen im Aktienrecht.
Mit dem Internet sind neue, digitale Öffentlichkeiten entstan-
den. Sie laden zum Informieren, Mitmachen und Einmischen ein.
Beispiele gibt es viele: Seien es Online-Petitionen, kommunale Bür-
gerhaushalte, Blogs oder auch Wikipedia. Sie alle sind eine Frisch-
zellenkur für unsere Demokratie und bringen mehr Transparenz-
und Beteiligungsmöglichkeiten. Redaktionell-journalistischen und
gleichzeitig nichtkommerziellen Angeboten im Netz wollen wir mit
einer zeitgemäßen und übersichtlichen Regelung zur Impressums-
pflicht entgegenkommen und formale Hürden abbauen, wie den
Zwang der Angabe einer ladungsfähigen Anschrift.
Demokratie ist nicht nur eine Sache für Profis und Parlamen-
te. Sie wird nicht allein im Sozialkundeunterricht gelernt, sondern
dann, wenn junge Menschen in den Institutionen selbst mitgestal-
ten können. Wir wollen das Wahlalter auch auf Bundesebene auf
mindestens 16 Jahre absenken. Das Wahlrecht für Betreute und
Obdachlose muss gewährleistet werden, der Zugang zu politischer
Betätigung für alle Menschen barrierefrei sein.
Wir wollen den Zugang zum Wahlrecht durch eine Einbürge-
rungsoffensive erleichtern. Wir streben die demokratische Teilhabe
aller Menschen an, die längerfristig hier leben. Als nächsten Schritt
wollen wir das kommunale Wahlrecht auch Menschen ohne deut-
schen Pass oder Unionsbürgerschaft eröffnen.
Angesichts der geringen Frauenanteile in den Parlamenten und
Kommunalvertretungen haben wir die Absicht, eine gesetzliche
Regelung zur Quotierung zu schaffen, um die Geschlechterparität
bei den Mandaten zu befördern. Denn zur Demokratie gehört Ge-
schlechtergerechtigkeit.
Es braucht weiterhin nicht von Kommerz beherrschten Raum in
den Innenstädten, der Menschen aus allen Schichten offensteht,
ebenso Begegnungsorte vom Bürgerzentrum bis zur Volkshoch-
schule. Maßnahmen, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen
von öffentlichen Plätzen fernhalten sollen und sie so stigmatisie-
ren und oder gar kriminalisieren, lehnen wir ab. Ziel grüner Ord-
nungspolitik ist ein friedliches Miteinander aller Menschen jeden
Alters, ohne dass einzelne Gruppen in ihrer Lebensführung beein-
trächtigt werden. Zur Demokratie gehören Demonstrationen undZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
208
Demokratie erneuernProtest, mitunter auch ziviler Ungehorsam. Wir wenden uns klar
dagegen, DemonstrantInnen durch unverhältnismäßige polizeiliche
Überwachungsmaßnahmen wie pauschales und anlassloses Filmen,
überrobustes Auftreten oder Kriminalisierung einzuschüchtern. Die
Polizei braucht genug Personal, gute Ausbildung und eine moderne
Ausrüstung, um das Recht auf Demonstration durchzusetzen.
4. Engagement fördern
Über Jahrzehnte ist eine vielfältige Kultur des Engagements ent-
standen. Bürgerinitiativen für die Revitalisierung von Stadtvierteln,
Migrantenselbstorganisationen, selbstorganisierte Kinderläden,
Frauengesundheitszentren bis hin zu neueren Formen wie Bür-
gerstiftungen, Wohnprojekten und Integrationsbetrieben. Bürger-
schaftliches Engagement braucht mehr Anerkennung, Freiräume
und Unterstützung, auch eigene feste Orte und Einrichtungen. Wir
wollen die in vielen Städten und Gemeinden entstandenen Freiwil-
ligenzentren und Einrichtungen zur Engagementförderung stärken.
Unser Ansatz zielt zudem darauf, auch Ausgegrenzte einzubeziehen
und ihnen eine Stimme zu geben.
Freiwilligendienste sind eine besondere Form bürgerschaftlichen
Engagements. Ihr Charakter als Lern- und Orientierungsdienst
muss erhalten bleiben. Sie dürfen aber nicht der Ersatz für wegfal-
lende staatliche Leistungen sein. Wir wollen in einem Freiwilligen-
dienstestatusgesetz einen gesetzlichen Rahmen schaffen, damit die
Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Ausrichtung und Orga-
nisation weiterentwickelt werden. Eine breite Vielfalt von Einsatz-
möglichkeiten und die Trägerschaft auch kleinerer Organisationen
muss ermöglicht werden. Wichtig ist auch, dass Freiwillige aktiv in
die Ausgestaltung und Entwicklung der Projekte einbezogen wer-
den. Wir wollen, dass alle Jugendlichen die Chance bekommen, in
einer wichtigen Lebensphase soziale, ökologische und kulturelle Fä-
higkeiten in einem Jugendfreiwilligendienst zu entfalten.
Wir wollen das Engagement von Kindern und Jugendlichen in
demokratischen Strukturen fördern. Je früher demokratische Ver-
fahrensweisen selbstwirksam erfahrbar gemacht werden, desto
größer ist die Akzeptanz für die Demokratie. Dabei ist es notwen-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Demokratie erneuerndig, Kindern und Jugendlichen den Rahmen der Beteiligung so weit
wie möglich selber gestalten zu lassen und Vertrauen in ihr Ver-
antwortungsbewusstsein zu legen. Wir wollen die vielfältige Arbeit
der Jugendverbände, gemeinnützigen Vereine und freier Initiativen
erhalten und ihre Finanzierung trotz schwieriger Haushaltslage si-
cherstellen.
5. Informationsfreiheit und Transparenz
konsequent ausbauen
Der Zugang zu öffentlichen Daten ist ein Grundrecht, das wir aus-
drücklich im Grundgesetz verankern möchten. Informationen staat-
licher Stellen gehören den Bürgerinnen und Bürgern und nicht den
Verwaltungen. Mehr Transparenz stärkt die Beteiligung der Bürge-
rinnen und Bürger auf allen Ebenen des staatlichen Handelns. Diese
Abkehr von der Geheimniskrämerei ist ein großer Schritt in Richtung
mehr Demokratie und einer Reform der öffentlichen Verwaltungen.
Wir wollen das – maßgeblich von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
2006 durchgesetzte – Informationsfreiheitsgesetz des Bundes aus-
bauen zu einem umfassenden Transparenzgesetz. Der überborden-
de Katalog der Ausnahmeregelungen ist gründlich abzuspecken.
Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse und das Urheberrecht dürfen
nicht länger das Instrument zur Verhinderung von mehr Transpa-
renz sein.
Das Recht auf Informationszugang ist selbstverständlich nicht
schrankenlos. So muss weiter umfassender Datenschutz gewähr-
leistet sein. Ausnahmen vom Grundsatz der Informationsfreiheit
müssen aber gut begründet werden.
Informationen sollen nicht nur auf Anfrage herausgegeben wer-
den. So gehören Verträge der öffentlichen Hand ins Netz und nicht
in den Panzerschrank. Staatliche Stellen sollen – proaktiv – ihre In-
formationen, z. B. Dokumente, Analysen, Gutachten, Erhebungen
oder Statistiken von sich aus als offene Daten frei verfügbar ma-
chen (Open Data). Dafür wollen wir ein tatsächlich funktionsfähi-
ges und erweitertes bundesweites Internetportal, in dem Daten aus
Bund, Ländern und Kommunen veröffentlicht werden.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
210
Demokratie erneuernAuch der Bundestag muss sein Open-Data-Angebot deutlich
verbessern. Ein zukunftsfähiges Open-Data-Konzept muss tech-
nische und rechtliche Offenheit der Informationen garantieren.
Auf der technischen Seite ist vor allem die Maschinenlesbarkeit
der Daten zentral. Rechtliche Offenheit bedeutet, dass jeder die
Informationen ohne weitere Genehmigung weiterverwenden kann.
Dabei streben wir die vollständige, zeitnahe, diskriminierungs- und
barrierefreie Veröffentlichung von Rohdaten an. Die Open-Data-
Verpflichtungen der Behörden wollen wir in einem Informations-
freiheitsgesetz 2.0 verankern.
Den freien Zugang zu Daten verstehen wir als eine Triebfeder
der Wissensgesellschaft. Die Erfahrungen aus anderen Staaten zei-
gen, dass die umfangreiche, offene und freie Bereitstellung von
Daten des öffentlichen Sektors neue wirtschaftliche Impulse geben
kann: Durch Weiterverarbeitung, Veredelung und Weiterverbrei-
tung können aus offen bereitgestellten Daten neue Anwendungen,
Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle entstehen. Auch
für den Bereich Bildung und Wissenschaft birgt die angestrebte
Transparenz und Zugänglichkeit der Daten enormes Innovationspo-
tential. Für alle staatlichen Veröffentlichungen, auch die von Par-
lamenten, fordern wir die Verwendung von freien Datenformaten
und die entsprechende Auswahl von Nutzungslizenzen zur privaten
wie zur kommerziellen Nutzung. Offenes Regierungs- und Verwal-
tungshandeln muss Standard werden. Transparenz bedeutet auch,
Licht ins Dunkel des Bundessicherheitsrats zu bringen. Dort werden
geheim Rüstungsexportentscheidungen gefällt. Seine Beschlüsse
gehören umgehend begründet und veröffentlicht.
Transparenz ist auch die beste Vorbeugung gegen Filz. Bund,
Länder und Gemeinden vergeben jährlich Aufträge im Wert von
mehreren hundert Milliarden Euro. Damit kein Cent davon an zwei-
felhafte Firmen geht, brauchen wir ein bundesweites Korruptions-
register für wirtschaftskriminell auffällig gewordene Unternehmen.
So wird der faire Wettbewerb zugunsten redlicher Unternehmen
erhalten. Korruption im Konzern, Skandale in der Massentierhal-
tung oder Missstände im Pflegeheim kommen oft erst durch dort
Beschäftigte ans Tageslicht. Diesen sogenannten Whistleblowern
drohen häufig Repressalien bis zur Kündigung. Wir wollen sie des-
halb gesetzlich wirksam schützen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
211
Demokratie erneuernDie Organisation und Artikulation von Interessen ist ein Kern-
bestandteil einer pluralistischen Gesellschaft. Aber viele Menschen
zweifeln, dass es auf ihre Stimme überhaupt noch ankommt, wenn
Lobbys mit großem Geld im Rücken immer mehr Einfluss auf die
Gesetzgebung nehmen. Ein verpflichtendes Lobbyistenregister soll
daher transparent machen, wer mit wie viel Geld Einfluss auf ein
Gesetz genommen hat. Wir wollen eine Karenzzeit für ausschei-
dende Regierungsmitglieder und Führungspersonal in Ministerien,
während der keine Lobbytätigkeit auf dem gleichen Feld ausgeübt
werden darf. Der Mitarbeit von Lobbyisten in Ministerien wollen
wir ein Ende machen.
Wir wollen mehr Transparenz und schärfere Regeln bei der Par-
teienfinanzierung. Unsere Bundestagsfraktion hat hierzu ein Trans-
parenzgesetz vorgelegt. Die anderen Parteien mauern. Wir lassen
beim Kampf für die Integrität der politischen Institutionen nicht
locker. Unternehmen, die einen Antrag zur Genehmigung von Rüs-
tungsexporten stellen, müssen im Antragsverfahren darlegen, ob
und in welcher Höhe sie in den zurückliegenden fünf Jahren Spen-
den an Parteien und MandatsträgerInnen geleistet haben.
Wir wollen die Transparenzregeln über Nebeneinkünfte von Ab-
geordneten verbessern und Abgeordnetenbestechung konsequent
unter Strafe stellen. Dann kann Deutschland endlich die UN-Kon-
vention gegen Korruption ratifizieren, wie das 160 Staaten bereits
getan haben. Dass Schwarz-Gelb sich bislang weigert, ist peinlich
für unser Land.
6. Entschlossen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorgehen
Alte und neue Nazis sind vielerorts bereits tief verankert, sie ha-
ben durch ihr Auftreten vielerorts „Angst-Räume“ geschaffen, in
denen Menschen sehr real Einschüchterung und Bedrohung erfah-
ren, wenn sie in das menschenfeindliche Raster der Nazis passen
oder sich gegen sie aktiv zur Wehr setzen. Doch in einigen Regi-
onen herrscht ein viel zu unkritischer Umgang mit ihnen auch in
den Kommunalparlamenten. Das ist auch darauf zurückzuführen,
dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie Rassismus, An-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
212
Demokratie erneuerntisemitismus, Antiziganismus, antimuslimischer Rassismus, Trans-
und Homophobie, Sexismus sowie Abwertung von Obdachlosen,
Langzeitarbeitslosen und Menschen mit Behinderungen, nicht nur
am rechten Rand, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft anzu-
treffen sind. Gleichzeitig gibt es oftmals eine erfreuliche zivilgesell-
schaftliche Gegenwehr. Wo immer BürgerInnen sich gegen Nazis
engagieren, durch Bildungs- und Beratungsarbeit, durch Demos
und friedliche Blockaden von Nazi-Aufmärschen, haben sie die vol-
le Unterstützung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Ihr Engagement
für die Demokratie verdient staatliche Unterstützung und Anerken-
nung statt Verdächtigung und Repression.
Deshalb werden wir die diskriminierende „Extremismusklausel“
der Bundesministerin Schröder abschaffen, die ausgerechnet Demo-
kratieinitiativen unter Generalverdacht stellt. Wir wollen, dass der
Bund für die Demokratieförderung und den Kampf gegen Rechts-
extremismus und andere Formen gruppenbezogener Menschen-
feindlichkeit dauerhaft jährlich 50 Mio. Euro bereitstellt. Demokra-
tieförderung ist eine Daueraufgabe. Daher wollen wir zusammen
mit den Ländern und der Zivilgesellschaft eine neue Förderstruktur
entwickeln, wodurch Programme, die in den vergangenen Jahren
wiederholt positiv evaluiert wurden, eine langfristige Planungsper-
spektive erhalten. Für staatliche Institutionen und Vereine muss
es Hilfestellung und Angebote zur Rechtsberatung geben, wie sie
rechten Aktivitäten und Unterwanderungen entgegenwirken kön-
nen, auch in Bezug auf Immobilienankäufe durch Rechtsextreme.
Grundsätzlich müssen alle Maßnahmen gegen Rechtsextremismus
geschlechtersensibel angeboten werden.
Der Staat muss Rechtsextremismus, alltäglichen und institu-
tionell verankerten Rassismus mit allen rechtsstaatlichen Mitteln
bekämpfen. Sicherheitsbehörden müssen gerade nach ihrem un-
fassbaren Versagen bei der Aufdeckung der NSU-Morde den Blick
nach rechts schärfen und dazu das breite Wissen zivilgesellschaftli-
cher Initiativen besser würdigen und in ihre Analysen einbeziehen.
Immer noch nicht vollständig aufgeklärt ist das Attentat auf das
Münchner Oktoberfest am 26. September 1980. Wir wollen, dass
die Hintergründe dieses schwersten Anschlages in der Geschichte
der Bundesrepublik endlich und restlos aufgeklärt werden. Unsere
Vorstellungen zum dringend notwendigen Umbau der deutschenTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
213
Demokratie erneuernSicherheitsarchitektur beschreiben wir im Kapitel „BürgerInnen-
rechte stärken“. Die Strukturen der extremen Rechten müssen auch
stärker unter Gendergesichtspunkten betrachtet werden. Geeigne-
te Aussteigerprogramme wollen wir stärken. Gerade Frauen, die die
Naziszene verlassen wollen, benötigen für sich und ihre Kinder ge-
zielte Angebote. Darüber hinaus müssen vor allem Polizei und Justiz
ausreichend für dieses Thema sensibilisiert werden. Auch wenn es
kein Allheilmittel ist und nur ein Baustein im Kampf gegen rechts
sein kann, haben wir Interesse an einem erfolgreichen Verbotsver-
fahren des Bundesrates gegen die NPD. Die NPD ist eine verfas-
sungsfeindliche, menschenverachtende und rechtsextreme Partei,
die in vielen Regionen eng mit gewaltbereiten Gruppierungen wie
Freien Kameradschaften und Autonomen Nationalisten zusammen-
arbeitet. Ein Verbot der NPD würde finanzielle und organisatorische
Strukturen der rechtsextremen Szene in erheblichem Ausmaß zer-
schlagen.
Weitere politische Gruppen und Internetportale betreiben ihr
Geschäft mit dem populistischen Schüren von Ängsten vor „Über-
fremdung“, mit Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, sozialdarwinis-
tischen Thesen, Transphobie, Homophobie oder der Diffamierung
alternativer Jugendkulturen. Neue rechte Initiativen versuchen be-
sonders im Internet gezielt mit einer jugendlichen Sprache und ei-
nem optisch ansprechenden Stil junge Menschen anzusprechen und
so ihre Ideologien, ihre gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
und im speziellen ihren antimuslimischen Rassismus zu propagie-
ren. Das liefert rechten Schlägern eine ideologische Rechtfertigung.
Diese Grauzonen zwischen rechtskonservativer und rechtsextre-
mer Ideologie wollen wir ausleuchten. Die politische Bildungsar-
beit muss darauf reagieren und mit Aufklärung, Bildung und Un-
terstützung demokratischer Initiativen neuen rechten Sprach- und
Denkweisen entgegenwirken. Rassismus und andere Formen von
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit haben in unserem Land
keinen Platz.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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Demokratie erneuernWer GRÜN wählt …
• bekommt mehr Rechte und Möglichkeiten für Beteiligung
und Engagement.
• erhält eine moderne und offene Verwaltung.
• zeigt klare Kante gegen Korruption.
• stimmt in Zukunft öfter ab: mit Volksinitiativen,
Volksbegehren und Volksentscheiden.
• stärkt den Kampf gegen Rechtsextremismus und gruppen-
bezogene Menschenfeindlichkeit und unterstützt die Opfer
rechter Gewalt.
Schlüsselprojekte
Demokratische Beteiligung fördern durch mehr
Mitbestimmung
Wir wollen ein neuartiges Planungsrecht für Infrastrukturgroßpro-
jekte einführen. In diesen Verfahren haben Bürgerinnen und Bürger,
aber auch Verbände die Möglichkeit, sich umfassend zu informie-
ren und zu beteiligen. Wir setzen auf Transparenz und Öffentlich-
keitsbeteiligung auf jeder Stufe der Planungs- und Entscheidungs-
verfahren, gerade auch bei mehrjährigen Planungsprozessen. Die
demokratische Mitwirkung muss über die Beteiligung an Planungs-
verfahren hinausgehen. Bürgerinnen und Bürger müssen nicht nur
bei Großprojekten die Möglichkeit haben, direkt abzustimmen. Wir
streiten für die politische Mehrheit zur Änderung des Grundgeset-
zes, um Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksabstimmungen
einzuführen und so die Demokratie zu stärken.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
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Demokratie erneuernRechtsextremismus entschieden entgegentreten –
Projekte gegen Rechtsextremismus systematisch fördern
Intoleranz, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus, Ras-
sismus, Transphobie und Homophobie sind leider allzu oft Alltag
in Deutschland. Dem stellen wir uns entschieden entgegen. Mit
unserer Offensive für Demokratie gegen rechts setzen wir alles
daran, die durch Rechtsextreme bedrohten Orte und Regionen für
unsere Demokratie zu schützen. Die Verantwortung für diese ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe müssen Bund, Länder, Kommunen
und die Zivilgesellschaft gemeinsam tragen. Die Umsetzung der
gesamtstaatlichen Aufgabe muss unter Beteiligung der Zivilgesell-
schaft erfolgen. Dafür bauen wir die Förderung von Projekten der
Zivilgesellschaft und einer demokratischen Alltagskultur aus, denn
Demokratieförderung ist eine Daueraufgabe und muss eine zu-
kunftsfeste Finanzgrundlage erhalten. Der Bund muss seine Verant-
wortung wahrnehmen. Er muss mindestens 50 Mio. Euro jährlich
für die kontinuierliche Förderung von Maßnahmen und Strukturen
für Demokratie und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlich-
keit zur Verfügung stellen. Außerdem wollen wir die unsägliche
Extremismusklausel abschaffen. So werden wir dem Rechtsextre-
mismus ebenso entschieden entgegentreten wie rechtspopulisti-
schen Haltungen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in
der gesamten Gesellschaft.
Mit Transparenz Korruption bekämpfen –
Informationsfreiheitsgesetz ausbauen
Schwarze Kassen, Schmiergelder und Politfilz sind ein Problem für
die Demokratie. Einzelne profitieren so auf Kosten der Gesellschaft.
Wir sorgen für mehr Klarheit mit einem Korruptionsregister für
wirtschaftskriminell auffällig gewordene Unternehmen. Mit einem
verpflichtenden Lobbyistenregister wollen wir transparent machen,
wer mit wie viel Geld Einfluss nimmt. Wir wollen im Rahmen der
anstehenden Parteiengesetzreform die Spendenmöglichkeit auf
natürliche Personen mit einer jährlichen Obergrenze beschränken.
Für ausscheidende Regierungsmitglieder und Führungspersonal inZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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Demokratie erneuernMinisterien wollen wir eine Karenzzeit, während der keine Lobby-
tätigkeit auf dem gleichen Feld ausgeübt werden darf. Die Trans-
parenzregeln über Nebeneinkünfte von Abgeordneten wollen wir
weiter verbessern und Abgeordnetenbestechung konsequent unter
Strafe stellen. Mehr Transparenz verschafft auch die Weiterent-
wicklung der bestehenden Informationsfreiheitsgesetze zu einem
Informationsfreiheitsgesetz 2.0, mit dessen Hilfe Daten zukünftig
proaktiv zur Verfügung gestellt werden (Open Data). So erhöhen
wir die Transparenz politischer Entscheidungen und ermöglichen
Beteiligung.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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BürgerInnenrechte stärkenN. BürgerInnenrechte stärken
Wie wir Freiheit stärken, Sicherheit rechtsstaatlich
gestalten und Diskriminierung überwinden
Immer mehr Unternehmen sammeln umfassend Daten, erstellen
Profile von uns und verkaufen die Informationen weiter. Die Sicher-
heitsbehörden sollen immer weitreichendere Befugnisse bekom-
men, Computer auszuspähen. Ein Fluggastdaten-Abkommen der
EU mit den USA zwingt uns auf Reisen zur Preisgabe umfangreicher
Daten. Mit den BürgerInnenrechten steht es nicht zum Besten.
Sicherheit bedeutet in einer freien Gesellschaft aber Sicherung
der Freiheit. Freiheit ist Voraussetzung für volle gesellschaftliche
Teilhabe. Das zu ermöglichen, ist die Aufgabe eines Rechtsstaates.
Wir wollen Terrorismus und Kriminalität bekämpfen, ohne die Frei-
heitsrechte aufzugeben. Doch stattdessen werden bei einer Anti-
Nazi-Demo in Dresden eine Million Handydaten völlig unbeteiligter
BürgerInnen abgefragt und auch sonst informieren sich staatliche
Stellen über uns – bei Banken, Internetunternehmen oder Telekom-
munikationsanbietern.
Wir sind diese permanente Grenzüberschreitung leid. Jeder und
jede hat ein Recht auf ein diskriminierungsfreies Leben, ohne die
Blockaden durch Vorurteile, Sexismus und Rassismus. Wir merken,
dass es vielen Bürgerinnen und Bürgern genauso geht.
Wir stehen zu einer offenen und inklusiven Gesellschaft, an der
alle teilhaben können. Dazu gehört die Anerkennung von Vielfalt,
vielfältigen Lebensweisen und Identitäten. Es ist nicht hinzuneh-
men, wenn beispielsweise junge Menschen trotz gleicher Qualifi-
kation deutlich schlechtere Chancen haben, zu einem Bewerbungs-
gespräch eingeladen zu werden oder erfolgreich eine Mietwohnung
zu finden, wenn sie einen (vermeintlich) nicht deutsch klingenden
Nachnamen tragen. Wir sehen aber, dass es vielen so geht.
Wir sorgen dafür, dass Menschen sich ungehindert einmischen
können – ohne dabei Angst vor Nachteilen oder Diskriminierung
haben zu müssen. Und wir nehmen nicht hin, dass Menschen weiterZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
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BürgerInnenrechte stärkenvon demokratischen Rechten ausgeschlossen bleiben, obwohl sie
schon lange hier leben.
Wir wollen eine Zukunft schaffen, in der nicht alles Mögliche
über uns von irgendjemand gespeichert wurde, in der wir uns frei
bewegen können, ohne überall beobachtet zu werden, und in der
Freiheit statt Angst herrscht.
1. Sicherheit in den Dienst der Freiheit stellen
Eine freiheitliche Gesellschaft braucht BürgerInnen, die frei sind von
Furcht vor Kriminalität, aber ebenso frei von Angst vor Überwa-
chung durch den Staat. Niemand kann absolute Sicherheit gewähr-
leisten – auch nicht auf Kosten oder unter Aufgabe der Freiheit.
Aufgabe der Politik ist es, mit den Mitteln des Rechtsstaates für
das größtmögliche gesellschaftlich verantwortbare Maß an Sicher-
heit zu sorgen, Grundrechte zu schützen und Bedrohungen effektiv
abzuwehren, ohne dabei die Freiheit so weit einzuschränken, dass
sie zu einer leeren Worthülse verkommt. Gläubige sind in gleicher
Weise vor Beleidigung und Hetze geschützt wie andere Menschen
auch. Deshalb soll § 166 StGB ersatzlos entfallen. Sicherheit steht
im Dienst der Freiheit und nicht umgekehrt. Eingriffsbefugnisse der
Sicherheitsbehörden und Überwachungsmaßnahmen dürfen nicht
selbst zu einer Bedrohung der Freiheit werden. Eine verpflichten-
de anlasslose Massenspeicherung von Telekommunikationsdaten
wäre ein massiver Eingriff in die Grundrechte, zudem auch noch
ineffektiv. Deshalb werden wir alles in unserer Macht Stehende
tun, um eine Wiedereinführung der vom Bundesverfassungsgericht
gestoppten Vorratsdatenspeicherung zu verhindern. Wir wollen
keinen Generalverdacht gegen Unbescholtene, sondern gezielte
Ermittlungsarbeit. Selbstverständlich gilt für Drittstaatenangehöri-
ge dieselbe Unschuldsvermutung. Daher muss für sie das gleiche
Datenschutzniveau gelten. Es geht um den Kernbereich privater
Lebensgestaltung.
Auch die heimliche Online-Durchsuchung lehnen wir ab. Er-
eignisunabhängige Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen sind
im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Diskriminierungs- und
Übermaßverbote höchst bedenklich und daher auf ein absolutesTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
219
BürgerInnenrechte stärkenMinimum zu reduzieren. Die Schleierfahndung auf Zugstrecken
und in der Nähe der Schengen-Außengrenzen wollen wir abschaf-
fen. Die immer weiter ausufernde Videoüberwachung des öffent-
lichen Raums wollen wir zurückdrängen. BürgerInnen müssen in
einem öffentlichen Register einsehen können, wo diese stattfindet.
Zudem muss die Datenschutzaufsicht bei der Kontrolle staatlicher
wie privater Videoüberwachung ausgeweitet werden. Bei Verstö-
ßen gegen die Regelungen im Bundesdatenschutzgesetz zur Video-
überwachung im öffentlichen Raum wollen wir eine Bußgeldvor-
schrift einführen. Den Einsatz von Drohnen durch staatliche Stellen
wollen wir strikt regulieren, sowohl in Fragen der Sicherheit als auch
des Datenschutzes, und lehnen den Einsatz von Drohnen durch die
Polizei zur Observation oder Videoüberwachung vom öffentlichen
Raum oder von Demonstrationen ab.
Drohnen werden zunehmend auch von nichtstaatlichen Stellen
eingesetzt, sowohl durch Hochschulen für Forschungszwecke, als
auch von Unternehmen oder Privatpersonen. Wir fordern eine all-
gemeine Kennzeichnungspflicht für Drohnen und klare Regeln für
die Haftung, die Sicherheit, den Datenschutz und die Nutzung im
öffentlichen Luftraum.
Gegen Bedrohungen der Sicherheit, sei es durch Neonazis, durch
Terrorismus oder durch Kriminalität müssen Behörden ausreichend
ausgestattet und gewappnet sein. Die Verhinderung solcher Straf-
taten funktioniert aber am besten durch klassische solide Polizei-
arbeit. Eine föderale im rechtsstaatlichen Bewusstsein handelnde
und effizient organisierte Polizei ist Garant für die Sicherheit und
den Schutz der Grund- und Freiheitsrechte der BürgerInnen. Dafür
braucht sie eine angemessene Ausstattung, Ausbildung und Besol-
dung. Es braucht nicht ständig neue Sicherheitsgesetze auf Vorrat.
Wir wollen die nach 2001 erlassenen Sicherheitsgesetze wissen-
schaftlich und unabhängig evaluieren und die Gesetze anhand der
Evaluierungsergebnisse zugunsten eines echten Grundrechtsschut-
zes ändern. Die Bundesregierung hat der Chance für eine zukunfts-
fähige Aufstellung der Sicherheitsarchitektur durch ihre halbherzige
Kommission einen Bärendienst erwiesen. Es geht uns darum, die
Bürgerrechte nicht nur zu verteidigen. Wir wollen sie stärken. Dar-
um wollen wir Verschärfungen und Ausweitungen der Anti-Terror-
Gesetzgebung seit 2005 zurücknehmen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
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220
BürgerInnenrechte stärkenPräventive Ansätze zur Bekämpfung des Terrorismus wollen wir
stärken. Die Verbreitung von menschenfeindlichen Überzeugungen
wie zum Beispiel Islamfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus
sind der Nährboden für die Entwicklung islamistischer und rechts-
extremer TerroristInnen. Der Radikalisierung Einzelner und der Bil-
dung terroristischer Gruppierungen müssen wir entgegenwirken.
Deswegen wollen wir eine bessere und zukunftsfeste Demokratie-
förderung und mehr und besser koordinierte Aussteiger- und Dera-
dikalisierungsprogramme schaffen.
Kriminalitätsbekämpfung ist Sache der Polizei, nicht des Militärs.
Den Einsatz der Bundeswehr im Inneren lehnen wir ab. Tatsächliche
Sicherheitslücken wollen wir konsequent schließen, zum Beispiel
durch ein schärferes Waffenrecht. Wir wollen in einer Gesellschaft
leben, in der der Grundsatz gilt: Öffentliche Räume und private
Wohnungen sind waffenfrei. Einsatzbereite funktionsfähige scharfe
Schusswaffen wollen wir nur noch in zwingenden Ausnahmefällen
(z. B. PolizeibeamtInnen) in privaten Haushalten zulassen. Wir set-
zen uns für ein Verbot großkalibriger Faustfeuerwaffen als Sport-
waffen und für die Begrenzung von Waffen- und Munitionsbesitz
ein. Auch für hohe Standards bei der Luftfrachtkontrolle treten wir
ein. Hier darf nicht an der Sicherheit von Passagieren und Besatzun-
gen gespart werden.
Über ein Jahrzehnt hinweg konnte die rechtsextreme Terror-
truppe „NSU“ unerkannt morden, Bombenanschläge verüben und
Banken ausrauben. Das hat uns alle tief erschüttert; viele Menschen
haben das Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden verlo-
ren. Polizei, Justiz und Geheimdienste waren offensichtlich nicht in
der Lage, diesen Naziterror zu verhindern, und waren zu oft auf
dem rechten Auge blind. Die von uns GRÜNEN angestoßenen Un-
tersuchungsausschüsse haben dieses massive Versagen von Polizei
und Geheimdiensten ans Licht gebracht. Wir brauchen eine brei-
te Diskussion über die Sicherheitsarchitektur. Für das ganze Ge-
heimdienstwesen muss es eine klare Zäsur und einen umfassenden
strukturellen und personellen Neustart und eine Neuausrichtung
der Aufgaben geben. Geheimdienste sollen künftig ausschließlich
Aufgaben wahrnehmen, die nicht auf anderen Wegen, also durch
öffentlich und parlamentarisch besser kontrollierbare Institutionen,
erbracht werden können. Der MAD soll aufgelöst werden.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
221
BürgerInnenrechte stärkenVerfassungsschutz ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Die
Beobachtung und Analyse demokratie- und menschenfeindlicher
Bestrebungen anhand öffentlicher Quellen soll künftig ein unab-
hängiges „Institut zur Analyse demokratie- und menschenfeind-
licher Bestrebungen“ mit wissenschaftlichen Mitteln leisten. Die
Bildungs- und Präventionsarbeit gilt es insgesamt zu stärken und
zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich gegen jegliche Form
von Demokratiefeindlichkeit, Gewalt und Menschenverachtung en-
gagieren, finanziell besser zu unterstützen. Darüber hinaus wollen
wir NGOs, die sich gegen Rechtsextremismus und gruppenbezoge-
ne Menschenfeindlichkeit engagieren, sowie die wissenschaftliche
Demokratieforschung an den Hochschulen verstärkt fördern. Die
Bundeszentrale für politische Bildung kann mit einer verbesserten
Ausstattung einen wertvollen Beitrag zur Demokratieförderung
leisten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner bisherigen
Form gehört dagegen aufgelöst. Wir brauchen eine institutionelle
Neugründung. Eine neue „Inlandsaufklärung“ mit klar eingegrenz-
ten nachrichtendienstlichen Befugnissen, neuem, verkleinertem
Personalstab und anderem Selbstverständnis soll sich neben der
Spionageabwehr auf die Aufklärung gewaltbereiter Bestrebungen
beschränken. Bundes- und Landesbehörden müssen sich dabei
besser koordinieren. Wir GRÜNE setzen uns für eine umfassende
Aufgabenkritik geheimdienstlicher Mittel ein. Insbesondere der Ein-
satz von V-Leuten hat sich als Schwachpunkt und problematisch in
der Arbeit des Verfassungsschutzes erwiesen. Es kann nicht sein,
dass mit öffentlichen Geldern angeworbene überzeugte Rechtsex-
tremisten unter dem Schutz der Verfassungsschutzämter im Sinne
ihrer Ideologie handeln oder gar schwere Straftaten begehen. Das
Führen bezahlter V-Personen birgt immer unvertretbare rechts-
staatliche Risiken, denen ein nur begrenzter Erkenntnisgewinn ge-
genübersteht. Deswegen treten wir auch unter Inkaufnahme einer
ggf. beeinträchtigten Erkenntnisgewinnung für einen bewussten
Verzicht auf die Führung von V-Leuten ein.
Aber auch in der Polizei und Justiz muss sich einiges ändern. Es
braucht mehr Vielfalt und Interkulturalität in der gesamten Bun-
desverwaltung sowie die Integration von Diversitykompetenz in
Aus- und Fortbildung, um PolizistInnen, StaatsanwältInnen und
RichterInnen mehr Sensibilität zu vermitteln. Wir werden ver-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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222
BürgerInnenrechte stärkenbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils der Beschäftigten
mit Migrationshintergrund und Maßnahmen zur interkulturellen
Öffnung festlegen. Dabei werden wir insbesondere Beschäftigte
mit Vorgesetzten- und Leitungsfunktionen in die Pflicht nehmen.
Anders werden wir dem institutionellen Rassismus und Sexismus
nicht dauerhaft begegnen können.
Weiterhin muss ein striktes Trennungsgebot zwischen Polizei
und Geheimdiensten bestehen. Aufgaben und Befugnisse dürfen
nicht vermischt werden. Die Polizei ist zuständig für die Gefahren-
abwehr und Strafverfolgung, die Inlandsaufklärung beobachtet und
dokumentiert gewaltbereite Bestrebungen im Vorfeld konkreter
Gefahren oder Straftaten. Der notwendige Informationsaustausch
zwischen Gemeindiensten und Polizei muss gesetzlich streng ge-
regelt sein und effektiv kontrolliert werden. Anforderungen und
Grenzen der organisierten gemeinsamen Arbeit müssen gesetzlich
so formuliert sein, dass eine dauerhafte personelle, strukturelle und
informationelle Vermischung von Polizei- und Nachrichtendiensten
ausgeschlossen wird.
Die Einrichtung des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorab-
wehrzentrums (GETZ) im November 2012 erfolgte blindlings, ohne
gründliche Fehleranalyse und ohne ausreichende Beteiligung der
Länder. Die Ausrichtung u. a. gegen „Linksextremismus“, „Aus-
länderextremismus“, Spionage und Proliferation erscheint mangels
terroristischer Strukturen in diesen Bereichen geradezu skurril. Wir
sehen dafür keinen Bedarf und wollen das GETZ einer kritischen
Prüfung unterziehen. Weitere Abwehrzentren und gemeinsame
Dateien lehnen wir ab.
Wir setzen uns für mehr Transparenz ein: starke Auskunftsrechte
der von Überwachung Betroffenen gegenüber Nachrichtendiensten
und anderen Sicherheitsbehörden sowie eine effiziente Kontrolle.
Den Geheimdiensten mangelt es generell an wirkungsvoller exter-
ner und öffentlicher Kontrolle. Wir werden den Geheimdiensten
das Geheime gegenüber dem Parlament nehmen und zum Beispiel
durch eine bessere Ausstattung der Abgeordneten und öffentliche
Sitzungen der Kontrollgremien mehr Transparenz schaffen. Durch
Gesetze wollen wir die Voraussetzungen und Kontrollen ausdrück-
lich benannter nachrichtendienstlicher Befugnisse präzise regeln.
Die parlamentsnahe G10-Kommission soll gestärkt werden, umTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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223
BürgerInnenrechte stärkenmehr als bisher an der Anordnung und Verlaufskontrolle aller ver-
deckten Ermittlungsmethoden mitzuwirken.
Der Unterwanderung von gesellschaftlichen Strukturen durch
korrumpierende Bestrebungen der organisierten Kriminalität muss
entschieden entgegengetreten werden. Im Bereich der Wirtschafts-
kriminalität entstehen jährlich Milliardenschäden für die Gesell-
schaft.
Die Polizei hat eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Sie kann
ihre anspruchsvollen Aufgaben nur mit gut ausgebildeten und moti-
vierten PolizistInnen erfüllen. Wir wollen eine dialogorientierte Po-
lizeikultur fördern. Beispiel Versammlungsfreiheit: Zur Demokratie
gehören Demonstrationen und Protest, mitunter auch ziviler Unge-
horsam. Wir wenden uns klar dagegen, DemonstrantInnen durch
unverhältnismäßige polizeiliche Überwachungsmaßnahmen wie
pauschales und anlassloses Filmen, überrobustes Auftreten oder
Kriminalisierung einzuschüchtern. Statt durch martialisches Auftre-
ten sollte die Polizei mit angemessener Ausrüstung und genügend
Personal, das Gefahrenlagen richtig einschätzt, deeskalieren und
das Recht auf Versammlungsfreiheit gewährleisten.
Wir wollen die Rechte der BürgerInnen aber auch dadurch
stärken, dass PolizistInnen jederzeit, auch in Großeinsätzen, klar
identifiziert werden können. Dies kann mit dem Namen oder auch
ohne jedes Sicherheitsrisiko über eine anonymisierte, aber klar zu-
zuordnende Nummer geschehen. Zur Aufklärung von Vorwürfen
zu Polizeiübergriffen wollen wir für die Bundespolizei und in den
Ländern das Beschwerdemanagement verbessern und eine neutrale
Aufklärung gewährleisten.
Diskriminierung bringt keinen Sicherheitsgewinn. Ausweiskon-
trollen und Maßnahmen von Sicherheitsbehörden, die sich häufig
allein deswegen gegen Menschen richten, weil sie eine dunklere
Hautfarbe haben oder ihre nicht deutsche Herkunft vermutet wird,
sind diskriminierend und nach Verfassungs- und Völkerrecht ver-
boten. Wir wollen dieses Verbot von diskriminierendem Ethnic Pro-
filing klar gesetzlich regeln. Umfassende Aufklärung der Betroffe-
nen über ihre Rechte und angemessener Rechtsschutz müssen eine
Selbstverständlichkeit sein. Polizeibeamte müssen zudem verstärkt
Antidiskriminierungsschulungen erhalten und die Polizei muss sich
stärker interkulturell öffnen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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224
BürgerInnenrechte stärkenWir möchten die Bevölkerung und ihre Lebensgrundlagen vor
Gefahren wie Naturkatastrophen und anderen schweren Notla-
gen schützen. Dafür brauchen wir einen gestärkten Bevölkerungs-
schutz in den Ländern und im Bund, der eine widerstandsfähige
Gesellschaft fördert und der staatlichen Schutzpflicht gerecht wird.
Voraussetzung dafür ist ein gut ausgestatteter und wirkungsvoller
Katastrophenschutz des Bundes und der Länder sowie eine Stär-
kung und Wertschätzung des Ehrenamtes in diesen Strukturen. Au-
ßerdem muss die Krisenbewältigung überregionaler Schadenslagen
weiter gestärkt werden.
2. Daten schützen, Freiheit sichern
Noch nie wurde so viel an persönlichen Daten erfasst, gespeichert
und übermittelt wie heute. Daten werden gesammelt, ausgewertet
und zusammengefasst. Die Stärkung der informationellen Selbst-
bestimmung ist für uns zentrales Leitbild für einen modernen Da-
tenschutz. Die BürgerInnen müssen wissen, wer was wann und wo
speichert und übermittelt. Das gilt für den Staat wie für Private.
Die Grenzen zwischen staatlicher und privater Datenverarbeitung
verschwimmen, wenn private Telekommunikationsfirmen für den
Staat Verkehrsdaten bevorraten sollen. Auch deshalb lehnen wir die
Vorratsdatenspeicherung ab.
Der Datenschutz gehört ausdrücklich ins Grundgesetz, das Da-
tenschutzrecht muss komplett neu gestaltet werden. Auch Privat-
unternehmen müssen die Daten ihrer Kundschaft so schützen wie
heute schon ihre Geschäftsgeheimnisse. Persönliche Daten dür-
fen im Geschäftsverkehr nur mit ausdrücklicher Zustimmung ge-
speichert und weitergegeben werden („Opt-in-Regelung“). Guter
Datenschutz kann durchaus ein Geschäftsmodell sein. Wir wollen
Datenschutz durch Technik („Privacy by Design“) und Datenschutz
durch Voreinstellung („Privacy by Default“) voranbringen und da-
für auch ein geschütztes Gütesiegel einführen.
Abhöraffären in Unternehmen und Fälle von Videoüberwachung
bis hinein in die Umkleidekabinen der Angestellten zeigen: Wir brau-
chen endlich einen effektiven Beschäftigtendatenschutz. Hierzu haben
wir, anders als die Merkel-Koalition, bereits einen eigenen Gesetzesvor-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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225
BürgerInnenrechte stärkenschlag zum Schutz der Beschäftigten vor Ausspähung vorgelegt. Immer
häufiger werden Daten zur Profilerstellung missbraucht. Wir wollen es
grundsätzlich verbieten, die Kreditwürdigkeit nach dem Wohnort zu
berechnen. Denn mit solchem „Geoscoring“ werden Menschen, die in
sozial schwierigen Stadtteilen leben, pauschal diskriminiert.
Wir wollen die Unabhängigkeit des Bundesdatenschutzbeauf-
tragten sicherstellen, seine Kontrollkapazitäten ausbauen und ihm
Sanktionskompetenzen gegenüber Privatunternehmen, insbeson-
dere der Telekommunikationsbranche, geben. BürgerInnen sollen
sich zukünftig bei Datenmissbrauch gemeinsam und unterstützt
durch Verbände vor Gericht wehren können. Weil die Datenströme
heute mehr denn je grenzüberschreitend sind, sind insbesondere
verbindliche EU-Datenschutzregelungen unabdingbar. Maßnah-
men wie das massenhafte anlasslose Auswerten von Bank- und
Fluggastdaten zur Kriminalitätsbekämpfung lehnen wir als zu weit
gehende Eingriffe in die Grundrechte ab.
3. Den Rechtsstaat stärken
Der Rechtsstaat verwirklicht sich zuallererst in einem starken
Grund- und Menschenrechtsschutz. Wir wollen die Grundrechte
ergänzen, ausweiten und anpassen, um diesen Schutz zu festi-
gen. Die Politik darf nicht immer wieder die Grenzen der Verfas-
sung austesten. Wir wollen einen starken Rechtsstaat und setzen
auf eine strikte Gewaltenteilung. Dies garantiert die Gleichheit vor
dem Gesetz und den Schutz der Schwachen vor wirtschaftlicher
Übermacht und Kriminalität. Dazu brauchen wir eine leistungs-
starke und unabhängige Justiz. Wir wollen daher das ministerielle
Einzelweisungsrecht von Justiz- und Innenministerien einschränken,
damit konkret eingeleitete Ermittlungen und Verfahren nicht durch
politische Interventionen beeinflusst, behindert oder abgebrochen
werden können. Der Privatisierung der Justiz treten wir entschieden
entgegen. Eine Verkürzung des Instanzenzuges und die Abschaf-
fung von Beschwerdemöglichkeiten führen weder zu gerechteren
Lösungen noch zu einer Entlastung der Justiz. Der Bund muss hier
mit gutem Beispiel vorangehen. Alle müssen die Gewissheit haben,
in angemessener Zeit Recht erhalten zu können. Außerdem spre-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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226
BürgerInnenrechte stärkenchen wir uns für die Stärkung außergerichtlicher Konfliktbeilegung
wie z. B. Mediation aus. Wir wenden uns entschieden dagegen, die
Anrufung der Gerichte zu beschneiden und Prozesskostenhilfe und
Beratungshilfe einzuschränken, und unterstützen die Einführung ei-
ner Mediationskostenhilfe.
Richterliche Unabhängigkeit ist Garant des Rechtsstaates. Wir
befürworten eine stärkere Selbstverwaltung der Justiz und wollen
es den Ländern ermöglichen, die Unabhängigkeit der Justiz aus-
zuweiten. Wir unterstützen das Anliegen der RichterInnenschaft
in Bund und Ländern, ein weites Mitspracherecht bei der Richter-
einstellung und Beförderung zu erhalten. Das einzelfallbezogene
Weisungsrecht der Politik gegenüber der Staatsanwaltschaft wollen
wir abschaffen, denn es widerspricht der Gleichheit aller vor dem
Gesetz. Für die Wahl der RichterInnen zu Bundesgerichten wie zum
Bundesverfassungsgericht wollen wir mehr Transparenz durchset-
zen, ebenso Geschlechtergerechtigkeit.
Justiz wie auch Polizei arbeiten transnational immer enger zu-
sammen, insbesondere in der EU. Ein weiter Ausbau der Zusam-
menarbeit darf nur erfolgen, wenn er Hand in Hand geht mit
verbindlichen hohen Standards zu Rechtsschutz und Rechtsstaat-
lichkeit in der EU, z. B. durch die Verankerung verbindlicher und
starker Rechte von Beschuldigten und StrafverteidigerInnen und
transnationalem Rechtsschutz. Dazu gehören auch einheitliche
Rechtsgrundlagen und Verfahrensstandards, damit transnationale
Polizeieinsätze und dabei getroffene Maßnahmen jederzeit nach-
vollziehbar und überprüfbar sind.
Das Strafrecht ist nicht das Mittel der Wahl zur Lösung ge-
sellschaftlicher Probleme, sondern letztes Mittel staatlichen Han-
delns, welches immer besonderer Begründung bedarf. Ein liberaler
Rechtsstaat darf BürgerInnen nicht mit dem Mittel des Strafrechts
vor einer möglichen Selbstschädigung „schützen“. Die Strafver-
folgung in der Drogenpolitik ist gescheitert, daher setzen wir auf
die Regulierung aller Drogen. Wir wollen das Sanktionensystem
reformieren. So darf etwa die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel
ohne Fahrschein nicht mehr länger als Straftat verfolgt werden. In
der Strafvollstreckung setzen wir auf intelligentere Alternativen zur
Haft wie z. B. gemeinnützige Arbeit und den Ausbau alternativer
Konfliktlösungen. Ein modernes Unternehmensstrafrecht, das dieTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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227
BürgerInnenrechte stärkenGrenzen von Schuld und Zurechnung achtet, halten wir für not-
wendig. Die Opferhilfe ist finanziell sicherzustellen. Wir wollen Op-
fern von Justizirrtümern besser helfen und die Entschädigung für
zu Unrecht verhängte Haft deutlich anheben. Für Jugendliche und
Heranwachsende brauchen wir ein reformiertes Jugendgerichtsge-
setz, das den Vorrang der Erziehung vor Bestrafung strikt wahrt.
Jenseits der jugendtypischen Straffälligkeit sind Chancen- und Per-
spektivlosigkeit, prekäre Familienverhältnisse, Bildungsarmut sowie
Gewalterfahrung in der Regel Ursache wiederholter und schwerer
Jugendkriminalität. Diesen sozialen und personellen Risiken prä-
ventiv entgegenzuwirken, ist gerade auch im Rahmen von Jugend-
gerichtsverfahren Aufgabe der Jugendhilfe. Es braucht eine Strate-
gie, die solche Risikofaktoren in den Blick nimmt. Die ambulanten
sozialpädagogischen Maßnahmen der Jugendhilfe bedürfen einer
deutlichen Stärkung, damit die traditionell strafenden, insbesonde-
re Freiheit entziehenden Sanktionen endlich auch tatsächlich zur
Ultima Ratio werden.
Bei Drogen wie Cannabis wollen wir unter der Berücksichtigung
des Jugendschutzes eine legale Abgabeform über lizenzierte Fach-
geschäfte ermöglichen und diese besteuern. Als ersten Schritt hier-
zu wollen wir den Eigengebrauch und privaten Anbau von Drogen
wie Cannabis entkriminalisieren. Auch der medizinische Einsatz von
sowie die Forschung an Drogen darf nicht länger behindert werden.
Die Ungleichbehandlung von Cannabis und Alkohol durch das Füh-
rerscheinrecht soll beendet werden. Cannabis-Delikte ohne Zusam-
menhang zum Straßenverkehr dürfen nicht mehr unaufgefordert
und ohne Zustimmung der Betroffenen an die Führerscheinstelle
übermittelt werden.
4. Diskriminierungsfreie Teilhabe ermöglichen
In einer offenen Gesellschaft wird niemand wegen des Geschlechts,
aus ethnischen oder rassistischen Gründen, aufgrund der Religi-
on oder Weltanschauung, der sexuellen Identität, des Alters oder
wegen einer Behinderung benachteiligt. Sie ermöglicht und sichert
gleichzeitig allen Mitgliedern die individuelle Wahrnehmung der
Freiheits- und Bürgerrechte. Wir wollen in Deutschland und Euro-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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228
BürgerInnenrechte stärkenpa Diskriminierungen bekämpfen und die von der schwarz-gelben
Bundesregierung blockierte fünfte Antidiskriminierungsrichtlinie
der EU voranbringen. Eine strukturelle und finanzielle Stärkung der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes und stärkere Rechte für Ein-
richtungen wie Behindertenbeauftragte sollen im nationalen Bereich
helfen, Diskriminierungen anzugehen. Das „Allgemeine Gleichbe-
handlungsgesetz“ wollen wir effektiver gestalten, den Rechtsschutz
für Betroffene stärken und insbesondere gegen strukturelle Diskri-
minierungen ein Verbandsklagerecht vorsehen. Wie wir das Arbeits-
recht für Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen regeln wollen,
beschreiben wir im Kapitel „Teilhaben an guter Arbeit“.
Auch dort, wo staatliche Institutionen selbst diskriminieren, wer-
den wir wirksamen gesetzlichen Schutz schaffen. Es kann nicht sein,
dass es leichter ist, sich gegen einen diskriminierenden Vermieter zu
wehren als gegen einen diskriminierenden Beamten. Staat und Zi-
vilgesellschaft müssen sich gegen alle Formen von Diskriminierung
wenden. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geht uns alle an,
denn sie gefährdet unsere Demokratie. Ob Grundbuchamt, Zoll oder
Ausländerbehörde: Gute Institutionen zeichnen sich dadurch aus,
dass sie die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Wir wollen Di-
versität und interkulturelle Öffnung von Verwaltung und Justiz ge-
zielt fördern. Ein wichtiges Ziel inklusiver Politik ist die religiöse und
weltanschauliche Gleichberechtigung aller Menschen. Während bis-
her vor allem die christlichen Kirchen den Status einer Körperschaft
des öffentlichen Rechts besitzen, sind andere Gemeinschaften ver-
einsrechtlich organisiert. Grüne Politik wird ergebnisoffen nach We-
gen suchen, diese rechtliche Ungleichheit zu beseitigen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich dafür ein, die Militär-
seelsorge in der Bundeswehr zu öffnen. Zudem muss sichergestellt
werden, dass die Truppe in ausreichendem Maße durch Psycholo-
gInnen betreut wird.
5. Barrieren beseitigen – das Selbstbestimmungsrecht von
Menschen mit Behinderung stärken
Wir wollen umfassende Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen.
Dabei verstehen wir Barrierefreiheit umfassend als Zugangs- undTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BürgerInnenrechte stärkenNutzungsmöglichkeit für mobilitätseingeschränkte, sehbehinderte
oder blinde, hörbehinderte oder gehörlose Menschen und solche
mit Lernschwierigkeiten. Visuelle und akustische Nutzbarkeit oder
die Verwendung leichter Sprache gehören für uns ebenso dazu wie
Stufenlosigkeit und taktile Leitsysteme. Kulturelle, sportliche und
künstlerische Darbietungen sind ebenso barrierefrei zu gestalten
wie Bildungsangebote auf allen Ebenen. Bislang wird das Wunsch-
und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen eingeschränkt,
weil diese Möglichkeiten nicht erfüllt werden.
Durch Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen, der Finan-
zierungen und Fördermöglichkeiten sowie durch Bewusstseins-
bildung wollen wir mehr Barrierefreiheit erreichen. Der Ausgleich
behinderungsbedingter Nachteile ist eine Grundvoraussetzung für
selbstbestimmte Teilhabe. Dabei garantieren individuelle und ge-
schlechtersensible Unterstützungsleistungen Menschen mit Behin-
derung ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an der Gemein-
schaft. Dazu fordern wir auch ein Budget für Arbeit, an dem sich
alle relevanten Leistungsträger – Träger der Eingliederungshilfe, das
Integrationsamt, die Arbeitsagenturen und die Jobcenter – betei-
ligen. Besonders die ambulanten Hilfen, die persönliche Assistenz
und das persönliche Budget sowie die Berufsbetreuerinnen und
-betreuer sind wichtige individuelle Unterstützungsangebote, die
weiter ausgebaut bzw. gestärkt werden sollen. Darum werden wir
die Leistungen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung
aus der Sozialhilfe lösen und in ein Teilhabeleistungsgesetz über-
führen. Diesem muss der Behinderungsbegriff aus der UN-Behin-
dertenrechtskonvention zu Grunde gelegt und der jeweilige Bedarf
individuell ermittelt werden.
Unterstützungsleistungen sollen nicht mehr an Institutionen,
sondern an den Bedürfnissen derjenigen orientiert sein, die sie be-
nötigen, und vermögens- und einkommensunabhängig gewährt
werden. Sonst müssten diejenigen, die von Barrieren betroffen sind,
noch für deren Beseitigung einstehen. Menschen mit Behinderun-
gen sollen die Wahl zwischen verschiedenen Wohnformen haben.
Sie dürfen nicht länger darauf verwiesen werden, dass aufgrund
des Kostenvorbehalts nur eine Unterbringung im Wohnheim mög-
lich ist. Deshalb wollen wir im Leistungsrecht für Menschen mit Be-
hinderungen den Kostenvorbehalt des Sozialhilferechts streichen,ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
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230
BürgerInnenrechte stärkenambulante Unterstützungsangebote ausbauen und den Ausbau
selbständiger Wohnformen aktiv fördern.
Das Recht auf Inklusion muss alle einbeziehen. Auch Men-
schen mit einem intensiven Unterstützungsbedarf müssen selbst-
bestimmt teilhaben können. Das inklusive Gemeinwesen setzt
auf Veränderungen in der Haltung der Menschen zueinander, die
das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen
zur Normalität werden lassen. Das Thema Inklusion muss deshalb
Querschnittsaufgabe im Bund, in den Ländern wie auch in den
Kommunen sein und unter Berücksichtigung des „Disability-Main-
streaming“ zu einem festen Bestandteil der Strategien der nachhal-
tigen Entwicklung werden.
Die Finanzierung der Entwicklung des inklusiven Gemeinwesens
kann und darf nicht allein Aufgabe und Pflichtleistung der Kommu-
nen sein. Wir wollen eine gemeinsame Verantwortung der staatli-
chen Institutionen in Bund, Ländern und Gemeinden.
6. Menschen einbürgern – mit Integration und Inklusion
Wir wollen unsere Integrationspolitik durch eine Politik der In-
klusion vervollständigen. Denn die Kinder, Enkel und Urenkel der
ersten Einwanderer-Generation müssen nicht „integriert“ werden.
Sie stehen nicht außerhalb unserer Gesellschaft, sondern gehören
von Anfang an dazu. Integration kann nicht mit ausgestrecktem
Zeigefinger von oben verordnet werden. Wir GRÜNE wollen Inte-
grations- und Inklusionspolitik gemeinsam mit der Zivilgesellschaft
entwickeln, so dass sie selbstbestimmt und gleichberechtigt umge-
setzt werden kann. Es braucht echte Chancengerechtigkeit bei Bil-
dung und Arbeit. Deshalb wollen wir die Qualität von Integrations-
kursen und Sprachförderung in Kitas verbessern, Deutschkurse im
Inland für alle Interessierten öffnen, Mehrsprachigkeit als Ressour-
ce nutzen und ausländische Berufsabschlüsse leichter anerkennen.
Wir wollen Teilhabe aller hier lebenden Menschen, egal welcher
Herkunft. Wir setzen auf eine Einbürgerungsoffensive, damit Mig-
rantInnen schneller und leichter die deutsche Staatsbürgerschaft er-
langen können. Dabei dürfen Frauen nicht benachteiligt werden. Für
die „erste Generation“, die seit Jahrzehnten hier lebt, muss es einTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BürgerInnenrechte stärkenerleichtertes Einbürgerungsverfahren geben. Wir werden den Erwerb
der Staatsbürgerschaft durch Geburt stärken: wer mit uns regieren
will, muss akzeptieren, dass wir die doppelte Staatsbürgerschaft ein-
führen und den diskriminierenden Optionszwang abschaffen wer-
den. Mehrstaatigkeit muss generell erlaubt sein. Kulturelle Vielfalt ist
ein Gewinn. Auch bereits eingebürgerte Menschen werden so das
Recht bekommen, erneut ihre alte Staatsbürgerschaft zusätzlich an-
zunehmen.
Im Sozialrecht, z. B. bei der Arbeitsmarktförderung, müssen
MigrantInnen gleichbehandelt werden. Den Nachzug von auslän-
dischen Ehegatten und eingetragenen LebenspartnerInnen wol-
len wir wieder erleichtern, denn Deutsch lernt man am besten im
Alltag. Den Sprachtest im Ausland als Vorbedingung schaffen wir
ab. Auch deren eigenständiges Aufenthaltsrecht werden wir ge-
genüber den Einschnitten der Regierung Merkel wieder ausbauen.
Das Aufenthaltsrecht muss modernisiert werden. Menschen brau-
chen einen sicheren Aufenthaltsstatus als verlässliche Grundlage,
um sich bei uns niederzulassen und eine Perspektive zu haben. In
einer globalisierten Welt kann es auch nicht angehen, dass Men-
schen ihren deutschen Aufenthaltsstatus verlieren, wenn sie sich
aus beruflichen Gründen, zum Studium oder im Ruhestand zu lange
im Ausland aufhalten. Wir wollen die Einwanderung von Arbeits-
kräften grundsätzlich erleichtern. Alle einwandernden Arbeitskräfte
sollen ihren Aufenthalt einfacher verlängern und verfestigen kön-
nen. Durch ein breitgefächertes und transparentes Punktesystem
kann Zuwanderung so gesteuert werden, dass sie Folgen des Alte-
rungsprozesses unserer Gesellschaft abmildert und eine Inklusion
auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Den Familiennachzug im
Aufenthaltsgesetz wollen wir dem geltenden EU-Recht anpassen.
Türkische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen, die
in Deutschland leben, haben aufgrund des Assoziationsabkommens
zwischen der Türkei und der heutigen EU Rechte, die denen von
UnionsbürgerInnen nahekommen. Diesen Status wollen wir auch
ausdrücklich gesetzlich verankern, z. B. im Aufenthalts-, Beschäfti-
gungserlaubnis- und Beamtenrecht.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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BürgerInnenrechte stärken7. Flüchtlinge aufnehmen und menschenwürdig behandeln
Kriege, Verfolgung, Vertreibung und Klimaveränderungen zwingen
viele Menschen zur Flucht. Tausende sterben Jahr für Jahr bei dem
Versuch, die Küsten Europas zu erreichen. Wir wollen eine men-
schenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik und lehnen die derzeitige
Abschottungspolitik an den Außengrenzen ab. Wir wollen keine
„Festung Europa“. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und
die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) stellen die
Grundlage unserer Flüchtlingspolitik dar. Wir sehen in der Praxis der
Grenzschutzagentur FRONTEX und der EU-Mitgliedsstaaten einen
Verstoß gegen das Verbot der Zurückweisung und eine schwere
Menschenrechtsverletzung. Wir wollen die Regelung abschaffen,
nach der Flüchtlinge nur in denjenigen EU-Staaten aufgenommen
werden können, in denen sie als Erstes angekommen sind (Dublin-
II-Abkommen), und setzen uns für einheitliche, hohe Asylstandards
in allen Mitgliedsländern ein. Deutschland muss seiner humanitären
Verantwortung gerecht werden und die stark betroffenen Aufnah-
mestaaten unterstützen. Ergänzend zu einem fairen Asylsystem
wollen wir eine großzügige Aufnahme einer festgelegten Zahl be-
sonders schutzbedürftiger Flüchtlinge (sogenanntes Resettlement).
Wir setzen uns für eine deutliche Erhöhung der jährlichen Mindest-
aufnahmequote ein, die Deutschland dem UNHCR dafür zur Ver-
fügung stellt. Die Quote muss der weltweiten Flüchtlingssituation
angemessen sein.
Es ist außerdem unsere humanitäre Pflicht, Flüchtlingen aus
Syrien zu helfen. Dazu gehört es, mehr Flüchtlinge aufzunehmen,
ihnen die Einreise nach Deutschland zu erleichtern und hier leben-
den syrischen Flüchtlingen einen sicheren Aufenthaltsstatus zu
geben. SyrerInnen, die von ihren Angehörigen nach Deutschland
eingeladen werden, dürfen nicht an der Einreise gehindert werden.
Abschiebungen von SyrerInnen in andere EU-Länder, die weiter-
hin nach Syrien abschieben, lehnen wir ab. Darüber hinaus müssen
Nachbarländer Syriens, die mehr als eine Million Flüchtlinge aufge-
nommen haben, unsere volle Unterstützung bei der Versorgung der
Flüchtlinge bekommen.
Wir engagieren uns für einheitliche Schutzstandards auf hohem
Niveau in ganz Europa. Schutzsuchende dürfen nicht in StaatenTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
233
BürgerInnenrechte stärkenzurückgeschoben werden, in denen sie statt eines fairen Asylver-
fahrens Diskriminierung oder soziales Elend erwartet.
Besonders beschämend ist die Politik gegenüber Roma und
Ashkali. Diese Minderheiten sind in allen Balkanstaaten härtesten
Diskriminierungen ausgesetzt. Wir fordern die Beibehaltung der Vi-
sumsfreiheit für Serbien und Mazedonien und wir wollen, dass die
Situation von Roma und die rassistische Diskriminierung, denen sie
in ihren Herkunftsländern ausgesetzt sind, in angemessener Weise
im Asylverfahren berücksichtigt werden. Zudem muss die Bundes-
republik die EU-Romastrategie umsetzen. Deutschland muss sich
in der EU für ein Programm zur wirksamen Inklusion der Roma in
ihren wichtigsten Herkunftsländern einsetzen. Dabei müssen Hilfe
zur Selbsthilfe und ein unabhängiges europäisches Controlling des
Mitteleinsatzes großgeschrieben werden.
In Deutschland unterliegen Schutzsuchende und Flüchtlinge
einschneidenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, Ausbil-
dungs- und Arbeitsverboten und diskriminierenden sozialrechtli-
chen Leistungseinschränkungen. Mit verschiedenen öffentlichkeits-
wirksamen Aktionen wehren sich die Betroffenen zu Recht gegen
behördliche Schikanen und staatliche Ausgrenzung.
Das Bundesverfassungsgericht hat die gekürzten Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz für grundgesetzwidrig erklärt.
Jetzt müssen dessen vollständige Aufhebung und die sozialrecht-
liche Gleichstellung von Flüchtlingen folgen. Wir wollen zudem die
Ausbildungs- und Arbeitsverbote für Asylsuchende beseitigen und
schaffen den rechtlichen Rahmen, damit sich Flüchtlinge im gesam-
ten Bundesgebiet frei bewegen können. Dazu schaffen wir die Resi-
denzpflicht ab und setzen uns für einen weniger reglementierten All-
tag ein. Wir setzen uns dafür ein, dass Flüchtlinge menschenwürdig
in eigenen Wohnungen leben dürfen. Auch wollen wir Flüchtlingen
von Anfang an den Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen, Inte-
grationskursen, Spracherwerb und Kommunikationsmedien eröffnen.
Viele Abschiebungen verlaufen unter großem Protest mit der
Angst, dass die Abgeschobenen in ihren Herkunftsländern wieder
verfolgt werden. Wir brauchen aber unabhängige und verlässliche In-
formationen, wie es Flüchtlingen nach der Abschiebung in ihren Her-
kunftsländern wie z. B. Iran und Kosovo ergeht und inwieweit sie wie-
der verfolgt oder diskriminiert werden. Vielfach genügt hierzu schon
die Kenntnisnahme der Behörden vor Ort, einen Antrag auf Asyl imZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
234
BürgerInnenrechte stärkenAusland gestellt zu haben. Solange für einzelne Länder (z. B. Koso-
vo) eine erneute Verfolgung nicht eindeutig ausgeschlossen werden
kann, wollen wir für diese Länder ein Abschiebemoratorium erlassen.
Wir wollen die Abschiebehaft abschaffen. Bis dahin muss sie so
weit wie möglich vermieden werden. Die mit der Anordnung von Ab-
schiebehaft verbundene Freiheitsentziehung kann in einem Rechts-
staat nur Ultima Ratio sein und soll so weit als möglich vermieden
werden. Sie stellt den stärksten Eingriff in die Persönlichkeitsrechte
des Einzelnen dar, den das deutsche Rechtssystem kennt. Damit ist
stets auch eine besondere psychische Belastung der Betroffenen
verbunden. Abschiebungshaft ist daher immer nur als letztes Mit-
tel zur unmittelbaren Durchsetzung einer Ausreiseverpflichtung zu
betrachten. Bis zur Abschaffung der Abschiebungshaft wollen wir
zumindest die Einhaltung strenger menschenrechtlicher Standards
durchsetzen. Wir wollen eine strikte Trennung von der Straf- oder
Untersuchungshaft und eine Begrenzung der Haft auf maximal drei
Monate. Außerdem müssen besonders Schutzbedürftige, wie Min-
derjährige, Schwangere, Traumatisierte und Alte, von der Inhaftnah-
me ausnahmslos ausgenommen werden.
Das entwürdigende Flughafenverfahren, bei dem Asylsuchende
bereits am Flughafen festgehalten werden, muss ein Ende haben.
Alle müssen das Recht haben, sich vor Gericht gegen Abschiebungen
effektiv zu wehren – auch wenn ein anderer EU-Staat für ihr Asylver-
fahren zuständig ist. Langjährig hier lebende, bisher nur geduldete
Menschen müssen über eine realitätstaugliche stichtagsunabhängige
Bleiberechtsregelung eine sichere Zukunftsperspektive bekommen.
Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge bedürfen eines besonde-
ren Schutzes. Wir setzen uns für die vorbehaltlose Umsetzung der
UN-Kinderrechtskonvention ein. Insbesondere wollen wir die Herauf-
setzung der Handlungsfähigkeit in Asylverfahren von 16 auf 18 Jahre.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollen vollen Zugang zu den
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe wie des Gesundheitssystems
bekommen. Für uns gilt der Leitsatz: „Kein Mensch ist illegal!“ Des-
wegen wollen wir, dass Menschen ohne Aufenthaltsrecht Zugang zu
medizinischer Grund- und Notfallversorgung erhalten und ihre Kinder
ungehindert Kindergärten und Schulen besuchen können. Außerdem
muss für Menschen, die über viele Jahre hinweg ohne Aufenthaltssta-
tus in Deutschland gelebt haben, die Möglichkeit zur Erlangung eines
sichereren Aufenthaltstitels geschaffen werden. Kurzfristig wollenTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
235
BürgerInnenrechte stärkenwir das hohe Strafmaß bei irregulärer Einreise und irregulärem Auf-
enthalt deutlich verringern.
8. Gleiche Rechte schaffen –
Homo- und Transphobie entgegentreten
Lesben und Schwule können heute so frei wie nie zuvor in Deutsch-
land lieben und leben. Das ist auch ein Erfolg grüner Politik. Aber
Diskriminierung ist noch nicht überwunden. Wir wollen daher ei-
nen bundesweiten „Aktionsplan für Vielfalt“, der Homophobie und
Transphobie entgegensteuert, der Forschung u. a. zu Diskriminie-
rungen sowie queeren Lebensweisen fördert, insbesondere Jugend-
liche stärkt und deren Ausgrenzung im Elternhaus, in der Schule
und in der Freizeit entgegenwirkt. Im Besonderen brauchen wir für
Menschen aller Altersklassen und vor allem Jugendliche einen Aus-
bau der Comingout-Beratung. Im Unterricht sollen alle Lebenswei-
sen und sexuellen Identitäten gleichberechtigt dargestellt werden.
Auch muss es möglich sein, im Alter nicht heterosexuelle Lebens-
entwürfe frei von Diskriminierung zu leben.
In Artikel 3 des Grundgesetzes muss ergänzt werden, dass nie-
mand wegen der sexuellen Identität diskriminiert werden darf. Wir
wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen und das ge-
meinschaftliche Adoptionsrecht ermöglichen. Viele Kinder leben
bereits mit zwei Müttern oder Vätern. Diese Regenbogenfamilien
haben ein Recht auf Anerkennung. Alle Familien müssen dem Staat
gleich viel wert sein.
Wir unterstützen transsexuelle und intersexuelle Menschen in
ihrem Kampf um ihre Menschenrechte. Eine Reform des Transse-
xuellenrechts muss Freiheit und Selbstbestimmung zum Leitbild
haben, die Pathologisierung beenden und die Menschenwürde si-
chern. Die Leistungspflicht der Krankenkassen muss gesichert wer-
den. Etwa 150 Kinder werden jedes Jahr in Deutschland geboren,
die keinem Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können. Die
zwangsweise Geschlechtsanpassung intersexueller Menschen muss
ein Ende haben. Geschlechtliche Uneindeutigkeit muss rechtlich zu-
gelassen und anerkannt werden.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
236
BürgerInnenrechte stärkenIn vielen Ländern wird LSBTTI das Leben zur Hölle gemacht: straf-
rechtliche Verfolgung, Unterdrückung, Gewalt und Zensur. Deutsche
Politik muss hier klar Position beziehen und Menschenrechtsvertei-
digerInnen aktiv stärken, auch durch finanzielle Unterstützung der
hier bereits erfolgreich tätigen zivilgesellschaftlichen Hirschfeld-Eddy-
Stiftung. Auch seine Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat der Ver-
einten Nationen muss Deutschland für die Stärkung der Rechte sexu-
eller Minderheiten weltweit nutzen. Einsatz für die Menschenrechte
wird zudem umso glaubwürdiger, wenn Deutschland die Opfer sei-
ner eigenen früheren antihomosexuellen Strafgesetze (insbesondere
§ 175 StGB) endlich rehabilitiert und entschädigt.
Wer GRÜN wählt …
• macht die BürgerInnenrechte wieder stark.
• bekommt ein wirksames Datenschutzpaket.
• sorgt für Inklusion und klare Kante gegen Diskriminierungen.
• erleichtert die Einwanderung, Einbürgerung und schützt
Flüchtlinge.
• öffnet die Ehe für lesbische und schwule Paare.
• erhält eine interkulturelle Öffnung der öffentlichen Institutionen.
Schlüsselprojekte
BürgerInnenrechte und den Rechtsstaat stärken –
neue Sicherheitsarchitektur bauen
Wir stellen Sicherheit in den Dienst der Freiheit und nicht umge-
kehrt. Deshalb stärken wir die BürgerInnenrechte und stellen in
Grundrechte eingreifende Sicherheitsgesetze auf den Prüfstand.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
237
BürgerInnenrechte stärkenWir setzen auf Reformen bei Justiz, Polizei und eine klare Zäsur
beim Verfassungsschutz. Verzicht auf den Einsatz von V-Leuten,
personeller und struktureller Neustart, klare Eingrenzung, Kontrol-
le und gesetzlich geregelte Verfahren bei nachrichtendienstlichen
Befugnissen, Förderung einer neuen Polizeikultur, Stärkung des
Rechtsstaates: So bauen wir an einer neuen Sicherheitsarchitektur.
Gleiche Rechte für gleiche Liebe –
die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen
Wir wollen, dass alle Paare die Ehe eingehen können. Dank uns
GRÜNEN war Deutschland Vorreiter bei der Einführung der einge-
tragenen Lebenspartnerschaften. Heute haben uns viele Länder
überholt. In Argentinien, Spanien, Südafrika, den Niederlanden und
in anderen Ländern wurde die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
bereits geöffnet. Diesen Weg muss endlich auch Deutschland gehen.
Damit wird die Gleichstellung vollendet – etwa im Steuer- und Beam-
tenrecht oder beim gleichberechtigten Adoptionsrecht. Gleiche Liebe
verdient gleichen Respekt und deshalb auch die gleichen Rechte.
Einbürgerung erleichtern –
Rechte von AsylbewerberInnen stärken
Viele Menschen leben schon lange in Deutschland, ohne staatsbür-
gerschaftliche Rechte zu haben. Wir setzen auf eine Einbürgerungs-
offensive. Sie umfasst die Akzeptanz von Mehrstaatigkeit, den Er-
werb der Staatsbürgerschaft durch Geburt in Deutschland und die
Streichung des Optionszwangs. Wir wollen das Aufenthaltsrecht
von einem Ordnungs- und Abwehrrecht umbauen zu einem echten
Zuwanderungsrecht. Integration kann nur gelingen, wenn Men-
schen in Rechtssicherheit leben können. Wir treten deshalb für ein
großzügiges Recht auf Familiennachzug ein sowie für einen siche-
ren Aufenthaltsstatus für Menschen, die lange in Deutschland le-
ben. Wir wollen eine Willkommenskultur etablieren unter anderem
durch eine interkulturelle Öffnung von Schulen, Krankenhäusern,
Behörden und anderen öffentlichen Einrichtungen. Die Grundrech-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
238
BürgerInnenrechte stärkente gelten für alle in Deutschland lebenden Menschen. Wir fordern
deshalb unter anderem die Abschaffung der Residenzpflicht und
des Asylbewerberleistungsgesetzes. Nicht nur sind die Leistungen
unzureichend. Dieses Gesetz versperrt Flüchtlingen auch den Weg
zum Gesundheitssystem. Für uns gilt, was das Bundesverfassungs-
gericht unmissverständlich klargestellt hat: Das Existenzminimum
ist für alle in Deutschland gleich.
Inklusives Gemeinwesen voranbringen – Teilhabe sicherstellen
Wir setzen uns für eine inklusive Gesellschaft ein, in der alle Men-
schen am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können. Menschen
mit Behinderungen sollen selbstbestimmt und gleichberechtigt leben
können. Wir wollen dafür ein Teilhabeleistungsgesetz auf den Weg
bringen, bei dem die Unterstützungsleistungen aus der Sozialhilfe
gelöst werden und der Kostenvorbehalt sowie die Einkommens- und
Vermögensabhängigkeit gestrichen werden. Wir treten dafür ein,
dass der Bund sich im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Verant-
wortung an den Kosten für die Eingliederungshilfe beteiligt.
Die Sicherheit der KonsumentInnen stärken –
Drogenpolitik reformieren
Der globale „War on Drugs“ ist gescheitert. Jährlich sterben Millionen
Menschen aufgrund der derzeitigen Verbotspolitik. Statt Verfolgung
von KonsumentInnen wollen wir eine Reform der Drogenpolitik. Wir
setzen dabei auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Die
gesundheitlichen Risiken wollen wir durch Prävention und Aufklä-
rung minimieren. Wir fordern die langfristig an den tatsächlichen
gesundheitlichen Risiken orientierte Regulierung aller Drogen. Dazu
gehören für uns auch die Ausweitung von Drug-Checking und Sprit-
zentauschprogrammen. Außerdem wollen wir den Eigenverbrauch
und privaten Anbau von Cannabis legalisieren und den Verkauf be-
steuern. Wir wollen Cannabis für Medizin und Forschung nutzen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
239
Gleichberechtigung schaffenO. Gleichberechtigung schaffen
Wie wir eine geschlechtergerechte Gesellschaft erreichen
und endlich die Benachteiligung von Frauen beenden
Wir wollen eine geschlechtergerechte Gesellschaft, die ein selbstbe-
stimmtes und solidarisches Leben ermöglicht. Geschlechtergerechte
Politik will den Lebenslagen von Frauen, Männern sowie Trans- und
Intersexuellen Rechnung tragen und damit der Vielfalt des Lebens.
Im Zentrum unserer Geschlechterpolitik stehen eine Zeitpolitik
und Rahmenbedingungen, die individuellen Bedürfnissen und un-
terschiedlichen Lebensentwürfen von Männern und Frauen Rech-
nung tragen. Denn wir alle brauchen Zeit für Phasen der Fürsorge-
arbeit, für Bildung, für Karrieren, Zeit für uns selbst. Diese Zeiten
müssen möglich und sie müssen sozial abgesichert sein.
Für die Bundesregierung und ihre Frauenministerin sind die
Vielfalt weiblicher Lebensentwürfe und die Komplexität der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit nur störend. Sie hält an überkommenen
Rollenbildern fest, wie sie sich in dem unsäglichen Betreuungsgeld
oder dem Ehegattensplitting ausdrücken. Sie setzt auf Freiwilligkeit
bei Fördermaßnahmen in der Wirtschaft, obwohl längst klar ist,
dass sich so nichts bewegt, und bekämpft mit allen Mitteln die von
der EU-Kommission vorgeschlagene Quote für Aufsichtsräte. Aber
es gibt zaghafte Bewegung – immerhin. Selbst CSU-PolitikerInnen
streiten für die Quote. Das Interesse von Vätern an Elternzeit steigt.
Das sind wichtige Erfolge der Frauenbewegung und auch von uns
GRÜNEN. Dennoch bleibt der Fortschritt eine Schnecke: Deutsch-
land ist europäisches Schlusslicht bei der Entgeltgleichheit. Dabei ist
die Lohnlücke in Westdeutschland wesentlich größer, da Frauen in
Ostdeutschland, auch wenn sie Kinder haben, öfter und in größe-
rem Umfang erwerbstätig sind. Denn das traditionelle Alleinernäh-
rermodell hatte in der ehemaligen DDR nicht die gesellschaftliche
Bedeutung wie in der alten Bundesrepublik erlangt. Aber auch in
Ostdeutschland hat sich die Infrastruktur für Eltern verschlech-
tert. So nimmt im gesamten Bundesgebiet die Anzahl der in Teil-
zeit oder geringfügigen Jobs beschäftigten Frauen zu. Damit wirdZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
240
Gleichberechtigung schaffendie Rentenlücke größer und Altersarmut ist vorprogrammiert. Mit
der Lebensverlaufsperspektive werden die Auswirkungen von Ent-
scheidungen in einer Lebensphase auf ein ganzes Leben deutlich.
Wir wollen eine Gleichstellungspolitik, die über alle Lebensphasen
hinweg konsistent ist. Es ist widersprüchlich, steuerliche Anreize für
das Haupternährermodell durch das Ehegattensplitting zu setzen,
aber nach einer Scheidung die zügige Sicherung des Lebensunter-
halts durch eigene Erwerbstätigkeit zu fordern.
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die
tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und
Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
So steht es im Grundgesetz. Es gibt uns den Auftrag, auf die Durch-
setzung dieser Gleichberechtigung hinzuwirken. Diesen Auftrag wol-
len wir erfüllen. Uns geht’s ums Ganze und das heißt konkret: „Die
Hälfte der Macht und der Verantwortung für Frauen und Männer.“
Von einer eigenständigen Existenzsicherung für Frauen bis dahin,
dass Männer überholte Rollenbilder überwinden und die Macht in
allen gesellschaftlichen Bereichen besser verteilt ist – es bleibt noch
viel zu tun, bis Frauen so teilhaben können, wie es ihnen zusteht.
Gleichberechtigung braucht Geschlechterdemokratie. Wir wol-
len die Bedingungen dafür schaffen, dass sich Frauen selbstver-
ständlich auf Augenhöhe beteiligen können – in der Gesellschaft,
im Parlament und am Arbeitsplatz.
Gleichberechtigung schafft Zukunft, denn nur eine geschlechter-
gerechte Gesellschaft wird die Aufgaben von morgen bewältigen.
1. Gleiche Anerkennung, gleiche Sicherheit, gleiche Chance
Das Familienideal gerade in Westdeutschland scheint stabil: ein
männlicher Haupternährer, die Mutter – oftmals ebenso oder bes-
ser qualifiziert – jongliert nach einer Erwerbsunterbrechung einen
Halbtagsjob, holt die Kinder vom Kindergarten ab, schmeißt den
Haushalt und pflegt die Angehörigen. Inzwischen ist aber deutlich,
wie brüchig dieses Bild geworden ist und welch hohe Risiken es
birgt. Befristete Jobs, Erwerbslosigkeit, Krankheit oder auch Schei-
dung bringen dieses Konstrukt sehr schnell ins Schleudern. Auch
dass es immer mehr Alleinerziehende gibt, wird allzu oft vergessen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
241
Gleichberechtigung schaffenEs gibt viel zu tun, denn wir leben noch lange nicht in einer Ge-
sellschaft, die frei ist von struktureller Benachteiligung und Macht-
strukturen, die Frauen diskriminieren. Das nicht mehr so neue Un-
terhaltsrecht fordert von den Müttern nach einer Scheidung zügig
für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen – und sieht für den
entgangenen beruflichen Aufstieg in den Betreuungszeiten keine
Kompensationen vor. Auf der anderen Seite sind eine junge, gut
ausgebildete Frauengeneration und immer mehr Männer nicht
mehr bereit, ein tradiertes Familienbild zu leben. Sie fordern Gleich-
berechtigung in der Partnerschaft, Elternzeit für beide, Erwerbsun-
terbrechungen und Arbeitszeitreduzierung.
Insbesondere der eigenständigen Existenzsicherung durch Er-
werbstätigkeit für Frauen stehen Hindernisse entgegen. Dazu ge-
hören neben mangelnder Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die
immer noch als ein individuelles Problem der Frauen angesehen
wird und nicht als ein strukturelles Defizit, die Schwierigkeiten beim
beruflichen Ein- und Aufstieg. Dabei wollen auch viele Männer
nicht mehr eine Vollzeiterwerbstätigkeit ausüben, die keine Zeit für
Kinder oder Sorgearbeit lässt. Sie wollen Wahlfreiheit, die wirklich
eine freie Wahl lässt. Davon sind wir aller Vereinbarkeitsrhetorik
zum Trotz noch weit entfernt.
Freiwilligkeit bringt uns nicht weiter. Ohne gesetzliche Maßnah-
men wird das nicht gehen. Wir wollen ein Entgeltgleichheitsgesetz,
Regelungen für die Privatwirtschaft und eine Quote für Aufsichts-
räte und Vorstände. Perspektivisch wollen wir die Quote auch auf
andere Ebenen ausweiten und so Frauen nicht nur in Führungseta-
gen, sondern im gesamten Unternehmen gleichstellen. Wir müssen
die Arbeitszeiten so regeln, dass es neben dem Recht auf Teilzeit
auch ein Recht auf Rückkehr zu Vollzeit gibt. Wir brauchen quali-
fizierte Angebote für Erwerbslose und WiedereinsteigerInnen nach
einer Familienzeit. Die Lage der Alleinerziehenden hat sich in den
vergangenen Jahren sogar noch verschlechtert. Um das Armuts-
risiko zu vermindern, brauchen sie besondere Unterstützung in
Form von Betreuungsinfrastruktur und flexiblen Arbeitszeitmodel-
len sowie die Weiterentwicklung des Unterhaltsvorschusses. Von
Altersarmut sind insbesondere Frauen betroffen. Gründe liegen in
Teilzeitbeschäftigung, Minijobs und Auszeiten für Betreuung von
Kindern und Angehörigen, also in der mangelnden VereinbarkeitZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
242
Gleichberechtigung schaffenvon Familie und Beruf. Dies wollen wir ändern. Daher wollen wir
u. a. durch den ganztägigen Kita-Ausbau, den Ausbau von Ganz-
tagsschulen, durch flexible Arbeitszeitmodelle und durch mehr Ak-
zeptanz von Vätern in Eltern- und Teilzeit Frauen die Möglichkeit
geben, erwerbstätig zu sein. Mit unserem Konzept der Garantie-
rente schlagen wir zudem ein Rentenkonzept vor, das insbesondere
Frauen vor Altersarmut schützt.
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist gestiegen, allerdings bei
nahezu gleichbleibendem Arbeitsvolumen. Immer mehr Frauen ar-
beiten immer weniger. Viele sind jedoch mit ihren Arbeitszeiten un-
zufrieden und würden lieber mehr arbeiten und verdienen. Wir wol-
len Arbeitszeit und Arbeitsvolumen zwischen den Geschlechtern,
aber auch zwischen viel Arbeitenden und Arbeitslosen oder prekär
Beschäftigten besser verteilen. Die sogenannten Minijobs müssen
sozialverträglich ersetzt werden. In der Kombination mit der Mit-
versicherung in der Krankenversicherung und dem Ehegattensplit-
ting behindern sie die eigenständige Existenzsicherung, weil sie das
Signal aussenden, dass sich eine sozialversicherungspflichtige Ar-
beit kaum lohnt. Langfristige Nachteile wie niedrige Renten werden
von der Merkel-Regierung ignoriert. Wir wollen das Ehegattensplit-
ting durch eine Individualbesteuerung mit übertragbarem Grund-
freibetrag ersetzen. Einnahmen, die dem Staat durch das Ehegat-
tensplitting bisher entgehen, wollen wir zur Finanzierung von guten
Kitas, Ganztagsschulen und für eine Kindergrundsicherung nutzen.
Bedarfsgemeinschaften wollen wir ersetzen durch eine individuelle
Existenzsicherung. Diese Umstellung geht zwar nicht von heute
auf morgen, doch wollen wir diesen Wechsel in der kommenden
Legislaturperiode anpacken und mit konkreten Schritten einleiten.
Kurzfristig brauchen wir den Zugang zu allen Maßnahmen der
Arbeitsmarktförderung unabhängig vom Leistungsbezug.
In einer Gesellschaft, die Vielfalt als Bereicherung erfährt,
kommt MigrantInnen eine wichtige Rolle zu. Allerdings finden viele
trotz qualifizierter Ausbildung nur eine niedrig bezahlte Beschäfti-
gung z. B. in der Reinigung oder Pflege. Bei der Ausbildungsplatz-
und Studienfachwahl wählen gerade junge Frauen aus einem nur
eingeschränkten Spektrum. Damit nutzen sie ihre Potentiale nicht
aus, der Wirtschaft gehen wichtige Nachwuchskräfte verloren.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
243
Gleichberechtigung schaffenJunge Frauen und Männer sowie ArbeitgeberInnen sollten für
geschlechtsuntypische Entscheidungen motiviert werden.
2. Männer in neuen Rollen unterstützen
Gleiche Rechte und Pflichten werden wir nur dann erreichen, wenn
auch Männer als Akteure für Gleichberechtigung stärker in den Blick
genommen werden. Immer mehr Männer erkennen, dass traditionel-
le Männerrollen auch negative Seiten für sie haben, und wollen zum
Beispiel nicht mehr nur Alleinverdiener oder Haupternährer der Fami-
lie sein, sondern wünschen sich auch eine aktive Vaterschaft. Dabei
finden sie aber – genau wie Frauen – Rahmenbedingungen vor, die
traditionelles Rollenverhalten fördern. Grüne Politik ist feministisch
und emanzipatorisch, sie löst Geschlechterrollen auf und erlaubt allen
Menschen mehr individuelle Gestaltungsfreiheit. Damit kommt Bewe-
gung in die geschlechterpolitische Debatte. Dazu ist es nötig, Männer,
Jungen und Väter darin zu unterstützen, sich in gleichstellungspoliti-
schen Anliegen besser zu vernetzen. Sie sind Partner bei der Umset-
zung von Gleichstellung. Ihre Anliegen und Bedürfnisse sollen in der
geschlechterpolitischen Debatte ihren eigenen Raum finden.
Wir wollen Männer unterstützen, neue Wege zu gehen und
auch vermehrt Berufe, die klassisch mehrheitlich von Frauen ausge-
übt werden, wie z. B. im pädagogischen Bereich und der sogenann-
ten Care-Arbeit, zu ergreifen. Die Vereinbarkeit von Lebens- und
Arbeitswelt ist auch ein Thema für Männer. Die „Partnermonate“
beim Elterngeld waren und sind ein erster Erfolg. Eine Weiterent-
wicklung der Elternzeit soll es auch für Männer selbstverständlicher
machen, familiäre Aufgaben zu übernehmen. Eine geschlechter-
sensible Pädagogik stellt die Frage, inwieweit alle Kinder individuell
am besten gefördert werden können. Deswegen unterstützen wir
geschlechtersensible Bildungsarbeit und Berufsberatungsangebote.
Die Politik muss ebenso wie die Wissenschaft die Veränderun-
gen der Rollenbilder auch von Männern stärker berücksichtigen. Wir
wollen eine regelmäßige Berichterstattung und Begleitforschung für
Genderfragen umsetzen. Wir brauchen einen Aufbruch für die Män-
nergesundheit, eine stärkere Konzentration auf die Prävention und
Vorsorgeuntersuchungen von Männerkrankheiten, in den Kranken-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
244
Gleichberechtigung schaffenkassen und in der betrieblichen Gesundheitsförderung. Zum Thema
Männer als Opfer von Gewalt liegen bisher kaum Daten vor. Hier wol-
len wir mehr Forschung ebenso wie eine gesellschaftliche Debatte.
3. Die Demokratie vervollständigen
Unsere Demokratie lebt vom Engagement, vom Mitmachen. Tat-
sächlich sinkt in vielen Landtagen und Kommunalvertretungen der
Anteil von Frauen. Das ist knapp 100 Jahre nach Einführung des
Frauenwahlrechts in Deutschland ein äußerst bedenklicher Trend.
Wir wollen auch mit gesetzlichen Regelungen den Frauenanteil und
die politische Teilhabe erhöhen, ähnlich wie das mit dem franzö-
sischen Paritätsgesetz ermöglicht wurde. Erfahrungsgemäß erhö-
hen vor allem feste Quoten den Anteil von Frauen in Parteien und
Parlamenten. Durch eine Dokumentationspflicht von Frauen- und
Männeranteil bei Nominierungsveranstaltungen wollen wir gender-
sensible Daten über politische Beteiligungsprozesse erheben.
Wir halten an der Strategie des Gender-Mainstreamings fest, mit
der bei allen politischen Handlungen nach den Auswirkungen auf
Frauen und Männer gefragt wird. Unser Ziel ist Geschlechterdemo-
kratie, die ein gerechtes Verhältnis von Frauen und Männern beinhal-
tet. Eine bundesweite Forschungseinrichtung zur Gleichstellung soll
wissenschaftliche Expertise bündeln, Diskussionsprozesse initiieren
und unterstützen. Wir wollen einen zweiten Bundesgleichstellungs-
bericht erstellen lassen, der die Schwerpunkte auf die Bereiche legt,
die im ersten Bericht nicht ausführlich behandelt werden konnten.
Durch die Einführung des Gender-Budgetings auf allen Ebenen
wollen wir Gleichberechtigung auch im Bereich der Haushaltspolitik
umsetzen. Die geschlechtersensible Analyse eines Haushalts macht
deutlich, welche Auswirkungen die Verwendung öffentlicher Mit-
tel auf Frauen und Männer in unterschiedlichen sozialen und wirt-
schaftlichen Lebenslagen hat.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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245
Gleichberechtigung schaffen4. Über den Körper selbst bestimmen
Selbstbestimmung umfasst auch den eigenen Körper. Frauen müs-
sen über ihre Schwangerschaften frei und ohne Kriminalisierung
entscheiden können. Das Recht auf Information und freiwillige
Beratung muss allen offenstehen. Dazu gehören auch freiwilli-
ge Angebote rund um vorgeburtliche Untersuchungsmethoden.
In Deutschland gibt es eine hohe Quote an Geburten mit Kaiser-
schnitt. Wir wollen die Beratung und Unterstützung durch Heb-
ammen stärken mit dem Ziel, Frauen eine selbstbestimmte Ent-
scheidung zu ermöglichen. Fehlanreize zur Durchführung nicht
medizinisch indizierter Kaiserschnitte müssen abgeschafft werden.
Frauen müssen während der Schwangerschaft, Geburt und in der
Nachsorge Zugang zu einer kontinuierlichen Betreuung durch eine
Hebamme ihres Vertrauens haben. Für BezieherInnen von Trans-
ferleistungen sind Verhütungsmittel unentgeltlich bereitzustellen.
Die „Pille danach“ muss rezeptfrei erhältlich sein. Auf die Neben-
wirkungen und die Notwendigkeit von Kontrolluntersuchungen soll
hingewiesen werden.
Der Druck, auch den eigenen Körper so weit wie möglich zu
optimieren, ist real vorhanden. Abweichungen von der Norm sind
schwer zu leben, Fälle von Essstörungen nehmen zu, ebenso wie
der Anteil von Schönheitsoperationen. Dabei kommt der photoge-
shoppten, zum Teil offensichtlich, zum Teil eher subtil sexistischen
Werbung eine nicht unwesentliche Rolle zu. Gerade für junge Men-
schen wird hier ein hoher Druck aufgebaut und ein starres Schön-
heitsideal vermittelt. Hierüber ist ein gesellschaftlicher Verständi-
gungsprozess erforderlich, der für körperliche Vielfalt sensibilisiert
und Sexismus in den Medien ächtet.
Abweichungen von der Norm der Zweigeschlechtlichkeit sind in
unserer jetzigen Gesellschaft schwer zu leben, müssen aber selbst-
bestimmt möglich sein. Obwohl intergeschlechtliche Menschen
meist ohne medizinische Eingriffe oder Hormonpräparate leben
können, werden sie oft unmittelbar nach der Geburt operiert und
leiden oft ihr ganzes Leben darunter. Hier fehlt es an Aufklärung
und Beratung der Eltern sowie ausreichend geschultem medizini-
schem Personal. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss
auch für Intersexuelle gelten. Wir fordern deshalb, dass medizinisch
nicht notwendige Eingriffe nur mit Einwilligung der Intersexuellen
selbst durchgeführt werden können.Zeit für den grünen Wandel
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246
Gleichberechtigung schaffen5. Gewalt ächten
Gewalt ist für viele Frauen bittere Realität. Das Gewaltschutzgesetz
hat mit der erleichterten Überlassung der Wohnung die Situation für
Gewaltbetroffene in Familien wesentlich verbessert. Dennoch müs-
sen jährlich etwa 34.000 Frauen und Kinder in Frauenhäuser fliehen.
Weder die Anzahl der Plätze noch die Hilfs- und Beratungsangebote
sind ausreichend. Wir brauchen spezifische Angebote und Plätze in
Frauenhäusern, insbesondere für Frauen mit Behinderung, Migran-
tinnen, Frauen mit Kindern und pflegebedürftige Frauen. Mit der
zentralen Notrufnummer sollen mehr Betroffene erreicht werden –
dann müssen aber auch die Unterstützungseinrichtungen mehr Mit-
tel erhalten. Auch ältere Frauen, Migrantinnen, Frauen mit geringem
Einkommen und Frauen in Ausbildung oder ohne eigenes Einkom-
men haben Schwierigkeiten. Als besondere Gruppe von Gewalt be-
troffen sind außerdem Frauen in der Obdachlosigkeit. Sie befinden
sich oft in problematischen Abhängigkeitsverhältnissen und werden
aufgrund eines fehlenden festen Wohnsitzes nicht in Frauenhäusern
aufgenommen. Ihnen müssen eigenständige Unterstützungsange-
bote gemacht werden. Wir müssen eine ausreichende Finanzierung
für ein qualitativ hochwertiges Angebot durch die Übernahme als
staatliche Pflichtaufgabe für all diese spezifischen Bedürfnisse si-
cherstellen. Für vergewaltigte Frauen muss zeitnah eine qualifizierte
Notfallversorgung und -behandlung einschließlich (anonymer) Spu-
rensicherung und einer Notfallverhütung mit der „Pille danach“ in
allen deutschen Krankenhäusern sichergestellt sein. Die Finanzie-
rung des Notfallpakets muss gewährleistet werden.
Vergewaltigungsmythen, die dazu führen, dass Betroffenen von
sexualisierter Gewalt generell eine Teilschuld zugeschrieben wird,
sind in Deutschland immer noch weit verbreitet. Sie tragen dazu
bei, dass die Dunkelziffer für diese Straftaten weiterhin sehr hoch
ist. Wir wollen deshalb sicherstellen, dass Betroffene deutschland-
weit von regelmäßig geschulten und sensibilisierten Polizei- und
JustizbeamtInnen betreut werden. Außerdem muss die Finanzie-
rung von umfangreichen Unterstützungs- und Beratungsangeboten
gewährleistet sein. Dadurch wollen wir die Betroffenen von sexua-
lisierter Gewalt vor einer erneuten Traumatisierung schützen. Dazu
gehört auch eine Überprüfung der Strafgesetzgebung.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
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Gleichberechtigung schaffenFrauen und Mädchen mit Behinderungen sind regelmäßig Mehr-
fachdiskriminierungen ausgesetzt. Es gibt zu wenig Angebote und
auch zu wenig Schutz für sie in den Einrichtungen, in denen sie
leben. Deshalb brauchen wir verpflichtende Antidiskriminierungs-
maßnahmen und spezifische Förderung, damit auch sie selbstbe-
stimmt leben können. Eine geschlechtergerechte Ausrichtung der
Inklusion und umfassende Maßnahmen gegen die Mehrfachdiskri-
minierung und Gewalt an Frauen und Mädchen mit Behinderungen
ist dringend erforderlich.
Das rot-grüne Prostitutionsgesetz hat den Bereich des Sexge-
werbes entkriminalisiert und die Doppelmoral rechtlich beendet.
Das war ein längst überfälliger Schritt. Eine Rückkehr zum Verbot
der Prostitution würde die Prostituierten in die Illegalität drängen,
ihre Arbeitsbedingungen weiter verschlechtern und sie stärker der
Gefahr von gewalttätigen Übergriffen aussetzen. Allerdings blieb
man damals auf halbem Wege stehen. Deshalb werden wir das
Prostitutionsgesetz im Bundestag weiterentwickeln. Unser Ziel ist
der möglichst weitgehende Schutz von Prostituierten. Das Bera-
tungs- und Hilfsangebot wollen wir ausbauen und niedrigschwellig
zugänglich machen. SexarbeiterInnen müssen über ihre Rechte auf-
geklärt werden. Wir wollen einen Ausbau der Ausstiegsprogramme.
Dabei setzen wir nicht auf Einschränkungen, sondern auf das Recht:
So sollen unter anderem Prostitutionsbetriebe ab einer bestimmten
Größe der gewerberechtlichen Erlaubnispflicht unterliegen. Durch
gewerberechtliche Überprüfungen von Prostitutionsstätten und
ihren BetreiberInnen wollen wir SexarbeiterInnen schützen und
ihre Arbeitsbedingungen sicherer machen. Außerdem wollen wir
sie rechtlich besser schützen vor Mietwucher und Ausbeutung und
überprüfen, inwieweit der Zugang zur Sozialversicherung verbes-
sert werden kann. Wir wollen zusätzlich kostenfreie medizinische
Beratungsangebote für SexarbeiterInnen schaffen.
Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung ist eine
eklatante Menschenrechtsverletzung und eine schwere, abscheu-
liche Straftat. Die Umsetzung der Europaratskonvention und der
EU-Opferschutzrichtlinie gegen Menschenhandel erfordert gesetz-
liche Neuregelungen auch auf nationaler Ebene. Die Opfer müssen
besser vor Abschiebungen geschützt werden, insbesondere, aber
nicht nur während laufender Gerichtsverfahren. Ein dauerhaftesZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
248
Gleichberechtigung schaffenBleiberecht würde ihre Anzeige- und Aussagebereitschaft deutlich
erhöhen und so zur Ermittlung der TäterInnen und Erhellung der
Strukturen führen. Menschenhandelsopfer, die als ZeugInnen auf-
treten, brauchen ein umfassendes Opferschutzprogramm. Freier
von Zwangsprostituierten müssen auch strafrechtlich zur Verant-
wortung gezogen werden können, wenn ihnen bekannt ist, dass es
sich bei dem Opfer um eine Zwangsprostituierte handelt. Außer-
dem brauchen alle Opfer von Zwangsehen ein eigenständiges und
dauerhaftes Rückkehrrecht.
Frauen wie Männern, die sich einer Zwangsverheiratung entzie-
hen wollen, muss schnell, kompetent und effektiv geholfen werden.
Dies erfordert länderübergreifendes Handeln und für alle verbind-
liche Leitlinien.
Auch in Deutschland leben viele von Genitalverstümmelung be-
troffene oder bedrohte Frauen und Mädchen. Das wollen wir aus-
drücklich als Fall von schwerer Körperverletzung in das Strafgesetz-
buch aufnehmen. Eine Bestrafung muss auch dann möglich sein,
wenn Mädchen dazu ins Ausland verbracht wurden.
6. Europäische und internationale Frauenpolitik
Deutschland ist ein Global Player und das muss sich auch in unse-
rer Frauenpolitik zeigen. Die schwarz-gelbe Regierung torpediert
auf EU-Ebene die Initiative, eine Quote für Aufsichtsräte einzufüh-
ren. Sie kürzt in der Entwicklungshilfe die Mittel für Projekte zur
Gleichberechtigung von Frauen und hebt die Bindung der Mittel
an Frauenförderung auf. Für die Umsetzung von CEDAW (UN-
Frauenrechtskonvention) bekommt die Regierung schlechte Noten.
Und den Sitzungen von UN Women bleibt Ministerin Schröder fern.
Wir GRÜNE nehmen die internationalen Gremien ernst und wer-
den auch in der Frauen- und Gleichstellungspolitik präsent sein. Wir
werden Einfluss nehmen, zu unserer Verantwortung stehen und fi-
nanzielle Mittel in angemessener Höhe dafür zur Verfügung stellen.
50 % der Nahrungsmittel und über 70 % der Bekleidung weltweit
werden von Frauen produziert und auch in Deutschland gekauft.
Hier stehen wir in der Pflicht, uns mit und für die Frauen in den pro-
duzierenden Ländern für gute Arbeitsbedingungen einzusetzen. AufTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
249
Gleichberechtigung schaffender anderen Seite gibt es Länder, die uns in Gleichstellungsfragen
weit voraus sind. Der Austausch mit diesen Ländern ist wertvoll.
Auch unser diplomatischer Dienst macht tagtäglich ganz prakti-
sche Außenpolitik und benötigt dazu geschlechterpolitische Kom-
petenz. Wir setzen uns außerdem für mehr Diplomatinnen in den
deutschen Vertretungen weltweit ein.
Wer GRÜN wählt …
• will ein gleichberechtigtes Miteinander von Frauen und Männern.
• ist für die eigenständige Existenzsicherung und den Abschied
vom Haupternährermodell.
• sorgt für gleiche Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
• bekommt mehr Frauen in den Parlamenten und Entschei-
dungspositionen.
• setzt sich für ein Leben ohne Gewalt ein.
Schlüsselprojekte
Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit –
ein Entgeltgleichheitsgesetz erlassen
Frauen erhalten im Schnitt noch immer 22 % weniger Lohn als
Männer. Typische Frauenberufe werden schlechter entlohnt als
typische Männerberufe. Selbstverpflichtungen der Wirtschaft und
Freiwilligkeit haben in den letzten zehn Jahren zu nichts geführt.
Darum wollen wir das Gebot des gleichen Entgelts bei gleicher und
gleichwertiger Arbeit mit gesetzlichen Regelungen und angemesse-
nen Sanktionen durchsetzen. Damit gleiche Tätigkeiten und gleich-
wertige Jobs endlich gleich entlohnt werden.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
250
Gleichberechtigung schaffenEigenständige Existenzsicherung voranbringen –
Ehegattensplitting ersetzen
Unser Ziel ist, dass jede und jeder die Möglichkeit hat, das, was er
oder sie zum Leben braucht, selbst zu erwirtschaften. Dabei müssen
Zeiten von Nichterwerbstätigkeit selbstverständlich abgesichert sein.
Traditionelle Rollenbilder, die unsere Steuer- und Sozialgesetzgebung
bis heute prägen, behindern dies. Strukturen, die vor allem für Frauen
erhebliche Erwerbshemmnisse darstellen, wollen wir abbauen, dazu
gehören unter anderen die Ersetzung der Minijobs, die Überführung
der kostenlosen Mitversicherung in die BürgerInnenversicherung und
der Ausbau der Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur. Das Ehegat-
tensplitting wollen wir deshalb durch eine Individualbesteuerung mit
übertragbarem Existenzminimum ersetzen. Damit steigern wir die
Erwerbsanreize für Frauen, leisten einen wichtigen Beitrag zur eigen-
ständigen Existenzsicherung und senken das Armutsrisiko von Frauen
und Familien. Dabei werden wir in einem ersten Schritt Einkommen
bis 60.000 Euro mit einem Splittingdeckel von Belastungen ausneh-
men. Die frei werdenden Mittel werden wir in den massiven Ausbau
der Betreuungsinfrastruktur und in den Aufbau einer Kindergrund-
sicherung investieren. Mit einem umfassenden Aktionsprogramm
werden wir Frauen unterstützen, den (Wieder-)Einstieg in existenz-
sichernde Erwerbsarbeit erfolgreich zu gestalten.
Die Hälfte der Macht den Frauen –
eine verbindliche Quote einführen
Diverse Selbstverpflichtungen der Unternehmen blieben ohne grö-
ßeren Einfluss auf den Frauenanteil in den Führungsgremien. Wir
haben genug von den Lippenbekenntnissen und wollen endlich
Taten sehen, um die gläserne Decke für Frauen zu beseitigen. Ge-
setzliche Quoten für Aufsichtsräte und Vorstände wie in Norwegen
werden die Männerclubs in den Führungsetagen aufbrechen und zu
mehr Qualität und Vielfalt führen. Weibliche Vorbilder werden sich
positiv auswirken und andere Frauen nachziehen. Damit schaffen
wir eine bessere Basis für eine geschlechtergerechte Gesellschaft.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
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Kunst und Kultur beflügelnP. Kunst und Kultur beflügeln
Wie wir Kunst als gesellschaftlichen Stein des Anstoßes be-
stärken, kulturellen Wandel fördern und den Sport stärken
Kunst und Kultur ermöglichen es uns, die Welt mit anderen Augen
zu sehen, differenzierter zuzuhören und neu zu denken. Sie sind
entscheidend für Selbstbestimmung und soziale Teilhabe und sie
fördern die demokratische Entwicklung einer Gesellschaft. Sie sind
ein entscheidendes Feld sozialer Teilhabe. Sie können Impulsgeber
für Veränderung und für die ständige Weiterentwicklung unseres
Wertesystems sein.
Eine lebendige lernfähige und zukunftsorientierte Gesellschaft
braucht eine starke kulturelle Infrastruktur, kulturelle Teilhabe, kul-
turelle Bildung und eine aktive Kulturpolitik. Wir stehen für faire Ar-
beitsbedingungen, künstlerische Freiheit, gleichberechtigte Zugänge
und transparente Förderkriterien sowie eine transparente Mittelver-
gabe. Die Kreativen in unserem Land leisten einerseits einen großen
Beitrag zum Wohlstand und damit auch zum Steueraufkommen,
andererseits müssen viele selbständige KünstlerInnen und Kreative
mit einem Einkommen knapp über dem Existenzminimum zurecht-
kommen. Neben den großen Häusern und den klassischen Kultur-
institutionen werden wir die freien Initiativen und Projekte stärker
unterstützen und ihnen auch mehr Anerkennung verschaffen.
Kulturpolitik sollte nach unserem Verständnis Grenzen über-
winden und Brücken bauen. Sie kann auch Grundlage im globalen
Dialog und in der europäischen Integration und Verständigung sein.
Kunst und Kultur fördern den Perspektivenwechsel und ein Gespür
dafür, dass wir in der Einen Welt aufeinander angewiesen sind. Mit
Blick auf die Dynamiken der Globalisierung ist die auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik wichtige Aufgabe des Bundes.
Es gibt eine Übereinkunft, dass eine lebendige, lernfähige Gesell-
schaft eine starke kulturelle Infrastruktur für die kulturelle Teilhabe
aller braucht. Doch dafür brauchen wir eine andere, eine aktive und
vorausschauende Kulturpolitik. Wir sehen und fördern Kunst und
Kultur auch als Schlüssel zur Beteiligung gesellschaftlich benach-Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
252
Kunst und Kultur beflügelnteiligter Bevölkerungsgruppen – in der Stadt-, Quartiers- und Regi-
onalentwicklung, bei Bauprojekten, der Anlage und Gestaltung von
öffentlichen Freiräumen, in der Umweltbildung und für die ständige
Entwicklung neuer Kulturangebote. Angesichts veränderter gesell-
schaftlicher Anforderungen, stärkerer gesellschaftlicher Segregation
und knapper Kassen ist die Frage nach Erhalt, notwendigen Verän-
derungen und gegebenenfalls Neuausrichtungen kultureller Ange-
bote, Institutionen und Förderungen immer wieder neu zu stellen.
Wir unterstützen kulturelle Orte, an denen alle teilhaben kön-
nen – aktiv und passiv. Kunst und Kultur sind für uns kein elitäres
Projekt – für die mit der umfassenden Vorbildung oder dem dicken
Geldbeutel. Wir unterstützen die Kulturinstitutionen darin, Mög-
lichkeitsräume für alle zu schaffen. Wir stehen für die Förderung
von Kunst- und Kulturschaffenden durch den Erhalt und die Schaf-
fung kulturfreundlicher Rahmenbedingungen.
Gute Kulturpolitik schafft Zukunft und Lebensqualität. Wir
brauchen die Kreativität und die Kraft, die Dinge anders zu sehen,
als wir es gewohnt sind, und den Mut, die Dinge anders anzupa-
cken, als sie schon immer gemacht wurden. Das gilt für die Zukunft
von Demokratie und Menschenrechten ebenso wie für eine Welt
in Nachhaltigkeit und Frieden. Sport und Bewegung sind wichti-
ge Aspekte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und der
Selbstverwirklichung jedes Menschen. Sportkultur ist vielfältig und
Ausdruck einer lebendigen und bunten Gesellschaft.
1. Kultureinrichtungen für alle öffnen
Wir schaffen für alle einen Zugang zu Kunst und Kultur, indem wir
auf kulturelle Bildung setzen und Kultureinrichtungen vor Ort stär-
ken. Unser Ziel ist es, dass noch mehr Menschen in die kulturellen
Räume, in die Theater, Konzertsäle, Kinos, Museen, Clubs und Bi-
bliotheken kommen. Hierfür bauen wir die Barrieren ab, die physi-
schen wie die sozialen. Unsere Kulturlandschaft muss für jede und
jeden interessant, erschwinglich und zugänglich sein.
Durch kulturelle Bildung wird vielen Menschen die Tür zur Kunst
aufgestoßen. Schulfächer wie Musik und Kunst sind essentieller
Bestandteil einer guten Bildung. Dafür brauchen wir genügendTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
253
Kunst und Kultur beflügelnPersonal, insbesondere künstlerische Lehrkräfte, und eine stärkere
Kooperation mit den KollegInnen aus anderen Fachbereichen, Kultur-
institutionen sowie externen Kulturschaffenden. Die Pilotprojekte
der Kulturstiftung des Bundes leisten dafür bereits einen wichtigen
Beitrag, den wir mit zusätzlichen Mitteln unterstützen werden.
Gleichzeitig erkennen und fördern wir das Potential jugend- und
subkultureller Räume wie Skaterparks und Jugendzentren. Diese
Räume sind eine Möglichkeit, die Menschen dort abzuholen, wo sie
sind – um gemeinsam mit ihnen diese Räume weiterzuentwickeln.
Auch im außerschulischen Bereich sollen die kulturellen Einrich-
tungen allen, ganz besonders Kindern und Jugendlichen, offen-
stehen. Dafür brauchen wir mehr KulturpädagogInnen, die fest in
den Häusern verankert sind. Wir stärken dezentrale und niedrig-
schwellige Kulturangebote etwa in Jugendzentren oder Kinder- und
Jugendtheatern. Wir stellen fest, dass Menschen mit Migrations-
hintergrund in vielen Kultureinrichtungen unterrepräsentiert sind.
Hier sehen wir großen Handlungsbedarf und werden die Kulturein-
richtungen bei der interkulturellen Öffnung stärken. In einer sich
globalisierenden Welt sind trans- und interkulturelle Projekte und
Erfahrungen eine große Triebkraft für Kreativität. Mit ihnen ent-
steht auch ein neues, kritisches und inklusives Bild von Heimat und
Zugehörigkeit. Nicht zuletzt setzen wir uns für mehr Barrierefreiheit
ein, damit Kultur allen zugänglich ist. Ein Beispiel für Barrierefrei-
heit ist unser grünes Engagement für den barrierefreien Film. Un-
tertitelungen und Audiodeskriptionen für Menschen mit Hör- und
Sehbehinderungen sind dank unserer Initiative in der Bundesfilm-
förderung nun verpflichtend. Wir wollen, dass dieses Beispiel breit
Schule macht – auch im Fernsehangebot.
2. Gerechtigkeit für alle Kulturschaffenden
Eine Gesellschaft ohne KünstlerInnen und Kreative ist arm und leer.
Privates Kultur-Sponsoring ist wichtig; es kann allein aber keine
Grundlage für künstlerische und kulturelle Entfaltung liefern. Wir
müssen Kulturschaffenden so viel Sicherheit bieten, dass sie experi-
mentieren und auch scheitern können, dass sie uns herausfordern,
kritisieren oder irritieren können. Kunst und kulturelle Werke wer-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Kunst und Kultur beflügelnden dabei von unterschiedlichsten Menschen geschaffen, professi-
onell, semiprofessionell, aber auch in der Freizeit.
In Deutschland arbeiten etwa eine Million hochqualifizierte
Kulturschaffende, KünstlerInnen und Kreative. Alle Kulturschaffen-
den in Deutschland brauchen angemessene steuerliche und recht-
liche Rahmenbedingungen. Wir schaffen faire Arbeitsbedingungen
und mehr soziale Sicherheit und sprechen uns für Mindestabsiche-
rungen und Honoraruntergrenzen für alle ausgebildeten Interpre-
tInnen, BühnendarstellerInnen und Lehrenden ohne Festanstellung
in Kunst und Kultur aus. Wir sorgen dafür, dass sie trotz brüchiger
Erwerbsbiografien bei der Arbeitslosenversicherung und dem Kran-
kengeldanspruch abgesichert sind. Die Aneinanderreihung zeitlich
befristeter Honorarverträge jenseits einer angemessenen Vergü-
tung wollen wir beenden. Bei der Einführung der Bürgerversiche-
rung erhalten wir die Prinzipien der Künstlersozialversicherung.
Auch bei Lehrtätigen in Kunst und Kultur setzen sich Aneinan-
derreihungen von zeitlich befristeten Honorarverträgen ohne dau-
erhafte soziale Absicherung immer mehr durch, weit entfernt von
einer angemessenen Vergütung.
Die digitale Gesellschaft ist Wirklichkeit und bietet zahlreiche,
auch neue Möglichkeiten für kulturelle Teilhabe und kulturelle Viel-
falt. Etablierte Kunstformen können sich im Internet weiterentwi-
ckeln und neue entstehen, Partizipation und Handeln werden re-
volutioniert. Wir wollen, dass künstlerische Leistung und kreative
Arbeit als solche anerkannt und angemessen vergütet wird. Dies
muss weiterhin Maßgabe bei der Reform und Modernisierung des
Urheberrechts sein. Wir wollen UrheberInnen und NutzerInnen
in ihren Rechten stärken und gleichzeitig Respekt und Vertrauen
zwischen KünstlerInnen und NutzerInnen fördern. Deshalb setzen
wir auf einen fairen Interessenausgleich. Mit der Reform des Urhe-
bervertragsrechts stärken wir die UrheberInnen, denn sie sind heu-
te oft in einer schwachen Verhandlungsposition gegenüber ihren
GeschäftspartnerInnen, den VerwerterInnen und VermittlerInnen,
die zwischen UrheberInnen und NutzerInnen stehen. Wir wollen
das Schlichtungsverfahren über Vergütungsregeln zwischen Krea-
tiven und VerwerterInnen so gestalten, dass es am Ende zu einem
für beide Seiten bindenden Ergebnis führt. Außerdem müssen die
InhaberInnen von Nutzungsrechten die Kreativen auf VerlangenTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
255
Kunst und Kultur beflügelndarüber informieren, wie oft ihr Werk oder ihre Leistung genutzt
wurde und welche Erträge damit erwirtschaftet wurden. Denn nur
wenn sie umfassend über die Nutzung ihrer Werke oder Leistun-
gen informiert sind, können UrheberInnen und KünstlerInnen auf
dieser Grundlage eine angemessene Vergütung verlangen. Wei-
terhin muss dafür Sorge getragen werden, dass gefundene Verein-
barungen kontrolliert und im Streitfall auch durchgesetzt werden.
Urheberpersönlichkeitsrechte müssen auch in der Zukunft gewahrt
bleiben, damit UrheberInnen auch weiterhin über die Nutzung ihrer
Inhalte selbst entscheiden können. Leitbild für unsere politische Ar-
beit in diesem Bereich ist die Allgemeine Erklärung der Menschen-
rechte: dass jede und jeder das Recht hat, am kulturellen Leben der
Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen
und wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften
teilzuhaben. Genauso hat jede und jeder das Recht auf Schutz der
geistigen und materiellen Interessen, die ihr/ihm als UrheberIn von
Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen.
3. Eine Reform der Kulturförderung
Wir schaffen eine verlässliche, transparente und öffentliche Kulturfi-
nanzierung auch in den Zeiten der Schuldenkrisen und der Schulden-
bremsen. Deshalb wollen wir die bestehenden Fonds, unter anderem
für Soziokultur und darstellende Künste, unter dem Dach der Kultur-
stiftung des Bundes stärken und durch ein Programm zur Förderung
künstlerischer Ausdrucksformen der Jugendkultur ergänzen. Auch
die Förderung der Kulturarbeit der Vertriebenen ist nicht mehr zeit-
gemäß und führt oftmals zu Konflikten, statt die Verständigung mit
unseren Nachbarn voranzutreiben. Wir richten die Förderung ge-
meinsam neu aus und schaffen mehr Transparenz. Der Kulturstaats-
minister darf nicht weiterhin allein hinter verschlossenen Türen über
die Bewilligung von Förderanträgen entscheiden, sondern wir brau-
chen transparente Kriterien, öffentliche, mitberatende Jurysitzungen
und eine regelmäßige Evaluation in jedem Förderbereich. Auch die
Kommunen müssen zur Wahrung ihrer unabhängigen Kulturförde-
rung vor Ort stärker entlastet werden. Die Mehreinnahmen durch
die grüne Reform der Erbschaftsteuer sind eine große Chance auchZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
256
Kunst und Kultur beflügelnfür die Kultur. Als GRÜNE kämpfen wir in Bund, Ländern und Kom-
munen gemeinsam dafür, dass sie genutzt wird. Wir treten für die
Unterstützung regionaler kultureller Infrastruktur, wie des örtlichen
Buchhandels und kleiner lokaler Kinos, ein.
Wir bekennen uns zur einzigartigen Kulturlandschaft der Bun-
desrepublik, mit ihren Theatern, Orchestern, der freien Szene und
den Einrichtungen der Soziokultur. Wir wollen, dass die finanzielle
Kluft zwischen den etablierten Häusern und der freien Szene nicht
immer größer wird. Langfristiges Ziel muss sein, die Kooperationen
mit der freien Szene zu verstetigen und für deren bessere finanzielle
Absicherung zu sorgen. Wir fördern die verschiedenen Theaterfor-
men und stärken Produktionsgemeinschaften. Wir sehen uns auch
in der Verantwortung für die Kultur, die nicht aus öffentlichen Mit-
teln finanziert wird. Die Entwicklung darf nicht allein den Kräften
des Marktes überlassen werden. Mehr Unterstützung und Vermitt-
lung seitens der Politik sind hier notwendig. Wir fordern die Prüfung
eines KfW-Sonderprogramms Kulturförderung, das bei drohender
Schließung Überbrückungskredite gewährt. Auch bei der energe-
tischen Sanierung von Kulturgebäuden sollen Kultureinrichtungen
von den bestehenden Programmen profitieren.
Wir heben das Doppelfinanzierungsverbot auf, um gerade auf
diesem Feld die interministerielle Zusammenarbeit zu fördern. Wir
planen die Einrichtung eines Fonds für „Ästhetik und Nachhaltig-
keit“. Denn die ökologische Krise erfordert einen Umbau unserer
gesamten Gesellschaft, der sich nicht in technischen Fragen wie
Gebäudesanierung erschöpft, sondern völlig neue Lebensweisen
hervorbringen wird. Wir müssen aus der Tradition der europäischen
Stadt eine neue Baukultur mit dem Menschen als zentralem Maß-
stab entwickeln. Hierfür sind Konzepte, Strategien und Struktu-
ren des öffentlichen Designs zu entwickeln – „Infrastrukturen des
Glücks“, die sich den globalen und lokalen Aufgaben stellen, ohne
das Maß an persönlicher Freiheit einzuschränken. Diese Entwick-
lung dürfen wir nicht der Sphäre der Ökonomie überlassen – die
Künste, Kultur und Wissenschaft müssen tatkräftig mitwirken.
Ob Schauspiel, Musik, Bilder, Filme, Computerspiele oder Bü-
cher – wir brauchen bei der Förderung einen differenzierten Blick
auf die verschiedenen Medien. Wir fördern alle kreativen Theater-
formen und stärken die Produktionsgemeinschaften. Wir fordernTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
257
Kunst und Kultur beflügelndie Einrichtung eines Fonds „Neue Musik“ zur Förderung der Pro-
duktion, Aufführung und Vermittlung neuer musikalischer Werke
aus allen musikalischen Sparten und unterstützen besonders jun-
ge MusikerInnen, indem mehr Probe- und Auftrittsmöglichkeiten
geschaffen werden. Die kulturelle Zwischennutzung leerstehender
Gebäude wollen wir vereinfachen. Dadurch können wir auch die
Liegenschaften des Bundes besser nutzen. Die vielfältige Clubland-
schaft wollen wir erhalten.
Künstlerinnen und Künstler erhalten bislang für die öffentliche
Ausstellung ihrer Werke üblicherweise keinerlei Vergütung. Wir for-
dern daher, dass der Bund eine verpflichtende Ausstellungszahlung
an bildende Künstlerinnen und Künstler in seine Förderkriterien auf-
nimmt. Dadurch kann der Bund eine Vorbildfunktion übernehmen
für Länder, Kommunen und private Aussteller. Graffiti-KünstlerIn-
nen muss mehr Raum und ihrer Kultur damit auch genug öffentliche
Entfaltungsmöglichkeit gegeben werden.
Wir wollen die Filmförderung in Deutschland vom Kopf auf die
Füße stellen. Bei der Filmförderung geht es um die Verwirklichung
anspruchsvoller kreativer Projekte – und nicht nur um ausgeklügel-
te Marketingpläne. Nicht das Schielen nach Hollywood, sondern
qualitativ hochwertige Filme sind der Garant für nachhaltige Erfol-
ge des deutschen und europäischen Films. Wir wollen deshalb den
kulturellen Kriterien in der Filmförderung wieder Gewicht verleihen
und nehmen die regionale Film- und Medienwirtschaft sowie kleine
und freie Produktionen in den Blick. Dafür bedarf es auch Reformen
in den Gremien der Filmförderung. Kreative Filmschaffende müssen
mehr Einfluss bekommen. Wir unterstützen die Ökologisierung der
Kulturwirtschaft, von der klimaschonenden Produktion über CO2-
neutrale Transporte, giftfreie und wiederverwendbaren Werkstoffe
bis hin zu nachhaltigem Catering. Dahingehend stärken wir auch
die Förderrichtlinien. Deshalb plädieren wir für eine „Green Film“-
Initiative in der Bundesfilmförderung. Computerspiele sind kreative
Werke. Wir wollen die Förderung von kulturell hochwertigen und
außergewöhnlichen Games über den Computerspielpreis der Bun-
desregierung hinaus ausdehnen.
Wir sind stolz auf die vielfältige Literaturlandschaft in der Bun-
desrepublik und wollen sie unterstützen, indem wir junge AutorIn-
nen, AutorInnen mit neuen und kreativen Ansätzen fördern undZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
258
Kunst und Kultur beflügelngute Bedingungen auch für kleine Verlage schaffen. Wir tragen
dazu bei, dass die Leseförderung intensiviert wird und nicht aus-
schließlich an Schulen stattfindet. Lesen und Schreiben sind die
entscheidenden Voraussetzungen für Medien- und Konsumkom-
petenz, Integration und Inklusion, gesellschaftliche und politische
Teilhabe. Deshalb wollen wir die öffentlichen, nicht kommerziellen
Bibliotheken erhalten – als Orte des niedrigschwelligen und kosten-
günstigen Zugangs zu Literatur und Wissen. Zudem wollen wir die
elektronische Ausleihe in Bibliotheken vereinfachen.
Wir brauchen unser kulturelles Erbe als Quelle des Nachdenkens
und als Zeugnis stetigen Wandels. Deshalb soll die Digitalisierung
und Archivierung von Video- und Audiokunst, Musik- und Filmar-
chiven, Flyer- und Streetart, aber auch „flüchtigen“ Künsten, wie
Theater und Tanz, vorangetrieben und zugänglich gemacht werden.
Entsprechende Hürden wollen wir abbauen. Ebenso wie das visuelle
Erbe muss auch das aktenmäßig dokumentierte historische Erbe aus
den Archiven, Bibliotheken und Museen digitalisiert werden, um
dauerhaft Teil der Erinnerungskultur bleiben zu können.
4. Anstoß für Demokratie und Menschenrechte,
Nachhaltigkeit und Frieden
Demokratie braucht Kultur. Kulturelle Orte sind Orte der gesell-
schaftlichen Begegnung, der produktiven Reibung. Sie sind Keim-
zellen für demokratische Ideen und Prozesse. Sie schaffen Raum für
Neues, für Reflexion und Widerspruch, für Debatte und Diskurs.
Sie sind unser gesellschaftliches Labor – abseits vom Sound des
Sachzwangs. Kultur ist ein Medium der Freiheit und Individualität.
Wo sie – auch unter dem Vorwand der „Beleidigung religiöser Ge-
fühle“ – zum Angriffsziel menschenrechts- und demokratiefeindli-
cher Kräfte wird, werden wir entschlossen für sie Partei ergreifen.
Kultur schafft Raum für Protest. Gerade an Orten der Unter-
drückung und in Zeiten der Verfolgung. Bei systematischen Men-
schenrechtsverletzungen ist die Kunst oft das einzige Sprachrohr,
über das Protest uns noch erreicht. Wir müssen diese Kanäle of-
fenhalten. Künstlerinnen und Künstler, die mutig genug sind auf-
zustehen und Widerstand zu leisten, finden unsere Solidarität: vomTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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Kunst und Kultur beflügelnchinesischen Schriftsteller Liao Yiwu bis zur russischen Band Pussy
Riot, von den Dichterinnen des Arabischen Frühlings bis zum irani-
schen Filmemacher Jafar Panahi.
Kultur ist ein wichtiges Mittel in der Präventionsarbeit und im
Kampf gegen den Rechtsextremismus. Neonazis haben in Regionen
ohne zureichendes Kulturangebot, ohne Jugendzentren und sons-
tige Orte der Begegnung, oft ein leichtes Spiel. Deswegen fordern
wir auch für die kulturellen Initiativen gegen den Rechtsextremis-
mus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit eine sichere und
verstetigte Förderung durch den Bund.
Kultur stellt Fragen nach einer ökologisch verantwortungsbewuss-
ten Lebensweise. Diese Fragen und Irritationen können uns aus dem
alltäglichen Phlegma der ressourcenverschwendenden Bequemlich-
keit herausreißen. Deshalb werden wir das Politikfeld Kultur in den
Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie aufneh-
men.
Kulturpolitik ist Friedenspolitik. Auswärtige Kulturpolitik und
internationaler Kulturaustausch gehören zu den wichtigsten Inst-
rumenten für Völkerverständigung. Die auswärtige Kulturpolitik
werden wir deshalb stärken, insbesondere Mittlerorganisationen
wie Goethe-Institut und Deutscher Akademischer Austauschdienst.
Wir begreifen kulturelle Verständigung als einen Schlüssel für ein
zusammenwachsendes Europa und für den notwendigen „Dialog
der Kulturen“ weltweit. Kultur kann Dialoge mit Ländern eröffnen,
zu denen es keine weiteren Zugänge gibt. Sie spielt eine wichtige
Rolle in der Krisenprävention und Konfliktüberwindung. Auch ihre
Bedeutung für die Entwicklungszusammenarbeit wird zunehmend
erkannt. Im Sinne der „UNESCO-Erklärung zur kulturellen Vielfalt“
verstehen wir die Vielfalt der Kulturen als wesentliche Ressource für
die Zukunft der Menschheit.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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Kunst und Kultur beflügeln5. Erinnerung wachhalten – Verantwortung übernehmen
Die Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen des National-
sozialismus und die Vertreibung und Ermordung von über sechs Mil-
lionen Menschen jüdischer Abstammung muss ihren Niederschlag
in einer vielfältigen Erinnerungskultur finden. Diese ist umso wich-
tiger, als bald keine Überlebenden und ZeitzeugInnen des National-
sozialismus von ihrer Erfahrung berichten können. Auch vor diesem
Hintergrund hat dieses Land nicht mehr viel Zeit, seine notwendige
Verantwortung wahrzunehmen. So fand gegenüber der zweitgröß-
ten Opfergruppe des NS, den sowjetischen Kriegsgefangenen, bis
heute keine Anerkennung als rassisch Verfolgte und keine Entschä-
digung statt. Wir werden dies ebenso einfordern wie eine Anerken-
nung der Opfer der NS-„Euthanasie“-Programme und der Zwangs-
sterilisation als rassisch Verfolgte des Nationalsozialismus. Gerade
im Bereich der Bildung müssen neue Formen der Erinnerungskultur
systematisch verankert werden. Gedenkstätten, Erinnerungsor-
te, Museen, Bibliotheken und Archive müssen durch eigens dafür
ausgebildete PädagogInnen gepflegt und bundesweit koordiniert
werden. Zur Erinnerung gehört für uns, die eigene Vergangenheit
aufzuarbeiten und in dem Zusammenhang die Auseinandersetzung
mit Leben und Werk verfolgter KünstlerInnen zu verstärken. Wir
begrüßen, dass mit auf grüne Initiative hin ein Informationsort „T4“
zu den NS-Euthanasiemorden entsteht. Erfreulich ist auch, dass es
in Berlin endlich ein Denkmal für die in der NS-Zeit ermordeten
Sinti und Roma gibt. Doch es genügt offensichtlich nicht, Denk-
mäler einzuweihen, denn während wir der im Nationalsozialismus
ermordeten Sinti und Roma gedenken, betreibt die schwarz-gelbe
Bundesregierung gegen die Lebenden eine rassistische „Asylmiss-
brauchs“- oder „Armutszuwanderungs“-Kampagne.
Aufarbeitung brauchen wir auch bei den Ministerien und Be-
hörden. Sie sollen ihre NS-Vergangenheit so untersuchen lassen,
wie wir es etwa im Auswärtigen Amt angestoßen haben. Nötig ist
jetzt ein systematisches Vorgehen, auch mit Blick auf die großen
Irritationen im Umgang von Bundesministerien und Behörden mit
NS-Verbrechern wie Eichmann, Barbie oder Carl Theodor Schütz.
Wir brauchen klare Kriterien für weitere Untersuchungen und den
Umgang mit den Ergebnissen. Und eine bessere Koordinierung beiTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
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Kunst und Kultur beflügelnder Aufarbeitung – auf Bundesebene, aber auch in die Länder, Krei-
se und Kommunen hinein. Denn die NS-Herrschaft war flächen-
deckend. Und ihre Hinterlassenschaften sind es auch.
Auch die Geschichte der DDR als Unrechtsstaat muss weiter um-
fassend und differenziert aufgearbeitet werden. Dazu ist die Stasi-
Unterlagen-Behörde ein wichtiger Bestandteil. Wir setzen uns dafür
ein, dass das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ von
Ben Wagin mit den einzigen Mauerresten im Regierungsviertel un-
ter Denkmalschutz gestellt wird. Die Auseinandersetzung mit dem
Leben in der DDR, mit der Verfolgung der Künste und der Rolle
der KünstlerInnen in der DDR und des Stalinismus in der sowjetisch
besetzten Zone müssen Bestandteil der schulischen Bildung in Ost-
und Westdeutschland werden.
Die deutsche Kolonialgeschichte, ihre Verbrechen und Kontinu-
itäten verdienen mehr Aufmerksamkeit in der Forschung und der
Erinnerung. Bornierte Renationalisierung der Kultur und des Ge-
schichtsbildes brauchen wir in einer globalisierten Welt nicht.
6. Es lebe der Sport
Sport ist für die Gesundheit und das Wohlbefinden jedes Menschen
wichtig und leistet einen wesentlichen Beitrag zum sozialen Zusam-
menhalt unserer Gesellschaft. Dabei wird der Sport in Deutschland
von einem einzigartigen zivilgesellschaftlichen Engagement in Ver-
einen getragen, das wir ausdrücklich unterstützen.
Deutschland hat eine vielfältige und lebendige Sportkultur. Unse-
re Sportvereine und Sportstätten sind Orte der Begegnung zwischen
Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters, unterschiedli-
cher Herkunft, sexueller Identität und Religion. Schon die Kleinsten
lernen beim Sport Teamgeist sowie einen fairen Umgang miteinander
und erlangen soziale Kompetenzen wie den Umgang mit Erfolgen
und Misserfolgen. Auch weltweit entfaltet Sport Möglichkeiten des
Dialogs und des Austauschs. Gleichzeitig verstehen wir Sport als Teil
des Bildungs- und Gesundheitssystems und wollen Rahmenbedin-
gungen schaffen, damit alle Menschen am Sport teilhaben können.
Die barrierefreie Gestaltung von Sportstätten ist vor diesem Hinter-
grund ebenso wichtig wie die Weiterentwicklung der bestehendenZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
262
Kunst und Kultur beflügelnSportkonzepte durch die Verbände und Vereine. Längst überfällig ist
auch die Angleichung der Förderung von olympischem und paralym-
pischem Sport in allen Bereichen. Wir GRÜNE setzen uns ebenfalls
dafür ein, dass die Vielfalt des Sports stärker in den öffentlich-recht-
lichen Medien gezeigt und dadurch sichtbar gemacht wird.
Neben der Unterstützung des Breitensports setzen wir uns für
eine transparente Spitzensportförderung ein, bei der die Athletinnen
und Athleten im Mittelpunkt stehen. Der verantwortungsvolle Um-
gang mit jungen SportathletInnen erfordert die Etablierung dualer
Laufbahnen, in denen neben der sportlichen Karriereplanung die
persönliche Entwicklung in Schule, Studium und Beruf bedacht wird.
Allen Formen von Gewalt, Rechtsextremismus, Rassismus, An-
tisemitismus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie und Trans-
phobie werden wir zusammen mit Vereinen, Verbänden, zivilgesell-
schaftlichen Akteuren und sozialpräventiv arbeitenden Expertinnen
und Experten aktiv entgegentreten. Zu diesem Zweck treten wir
auch für eine Stärkung der Koordinationsstelle Fanprojekte ein. Wir
stehen zum selbstverwalteten Sport und werden ihn bei seinem
Kampf gegen Doping und Korruption sowie für mehr Transparenz
in den eigenen Strukturen und Entscheidungen unterstützen. Bei-
des, Doping und Korruption, widerspricht dem Fairness-Gedanken.
Doping schadet zudem der Gesundheit. Darum brauchen wir ein
Anti-Doping-Gesetz, eine effektivere Präventionspolitik und eine
vom Einfluss der Sportfachverbände und von staatlicher Seite un-
abhängige Nationale Anti-Doping-Agentur Deutschland mit einer
dauerhaften und ausreichenden Finanzierung. Ziel ist eine nach-
haltige und effektive Dopingbekämpfung, die auch die Persönlich-
keitsrechte der Athletinnen und Athleten schützt.
Potentiale des Sports für Umwelt- und Klimaschutz und den Er-
halt der biologischen Vielfalt gilt es stärker zu nutzen. Nachhaltig-
keitsaspekte wollen wir im Sport stärker verankern und Programme
und Initiativen für einen klima- und umweltfreundlichen Sport un-
terstützen und fördern. Fairness heißt dabei auch, diesen Bereich
bei der Durchführung von sportlichen Großveranstaltungen und bei
der Planung und Weiterentwicklung der Sportstätten mit zu beden-
ken. Ziel grüner Sportpolitik ist der Einklang von Sport und Natur.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
263
Kunst und Kultur beflügelnWer GRÜN wählt …
• fördert eine vielfältige und zukunftsfähige Kulturlandschaft,
an der alle teilhaben können.
• schafft bessere soziale, rechtliche und wirtschaftliche
Bedingungen für KünstlerInnen und Kulturschaffende.
• stärkt die freie Szene und sichert die bewährten
Kulturinstitutionen.
• wählt kulturelle Bildung von Anfang an.
• unterstützt das vielfältige Engagement für den Sport und
setzt sich für einen fairen und barrierefreien Sport ein.
Schlüsselprojekte
Kulturschaffenden den Rücken stärken –
Urhebervertragsrecht reformieren
Faire Vertragsverhältnisse gibt es nur, wenn Urheberinnen und
Urheber mit ihren VerwerterInnen auf Augenhöhe verhandeln
können. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass dies
nicht gegeben ist. Deshalb fordern wir eine Stärkung der Rechte
der Urheberinnen und Urheber. Wir wollen das Schlichtungsver-
fahren über Vergütungsregeln zwischen Kreativen und Verwerte-
rInnen so gestalten, dass es am Ende zu einem für beide Seiten
bindenden Ergebnis führt. Außerdem müssen InhaberInnen von
Nutzungsrechten die Kreativen darüber informieren, wie oft ihr
Werk genutzt wurde und welche Erträge damit erwirtschaftet
wurden. Denn nur wenn sie umfassend über die Nutzung ihrer
Werke informiert sind, können UrheberInnen eine angemessene
Vergütung aushandeln.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
264
Kunst und Kultur beflügelnKulturschaffende besser absichern –
faire Zugänge zur Arbeitslosenversicherung schaffen
Viele KünstlerInnen und Kreative sind sozial zu wenig oder gar nicht
abgesichert. Auch unstetig Beschäftigte brauchen faire Arbeitsbe-
dingungen und mehr soziale Sicherheit. Wir ermöglichen deshalb,
dass diejenigen Arbeitslosengeld erhalten, die mindestens vier Mona-
te innerhalb zweier Jahre in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt
haben, und schaffen eine befristete Vermittlungspause im SGB II
und SGB III. Auch die Krankengeldregelung passen wir an: Anstatt –
wie von Schwarz-Gelb eingeführt – nach sieben Wochen soll spä-
testens ab dem 15. Tag, in der Regel aber schon ab dem 1. Tag
ein Krankengeldanspruch möglich sein. Bei der Einführung der Bür-
gerversicherung werden wir die Prinzipien der Künstlersozialversi-
cherung erhalten. So schaffen wir die Sicherheit, die kreativer Mut
braucht.
Erinnerung für eine bessere Zukunft wachhalten –
die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Ministerien
und Behörden vorantreiben
Die nationalsozialistische Herrschaft war flächendeckend. Die
Aufarbeitung ihrer Hinterlassenschaften ist eine Frage der de-
mokratischen Selbstvergewisserung. Über den Umgang mit der
NS-Geschichte in unseren staatlichen Institutionen wird breit
diskutiert, sie ist ein wichtiges Kapitel demokratischer Erinne-
rungskultur. Die vom damaligen Außenminister Joschka Fischer in
Auftrag gegebene Studie zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen
Amtes war ein wichtiger Anstoß. Doch noch gibt es viele offe-
ne und drängende Fragen und viele Lücken in der Aufarbeitung.
Wir wollen diese Aufgabe systematisch angehen, Lücken in der
Aufarbeitung schließen und Kriterien für den Umgang mit den
Forschungsergebnissen definieren. Dabei wollen wir auch Länder
und Kommunen einbeziehen.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
265
Unsere Politik vor OrtQ. Unsere Politik vor Ort
Wie wir bezahlbaren Wohnraum schaffen, Kommunen stark
machen und zu einem gerechten Ausgleich zwischen den
Regionen kommen
Vor Ort wird Politik lebendig. In den Kommunen werden abstrakte
Gesetze zu Entscheidungen, die unseren Alltag prägen. Wir spüren,
dass die Luft besser wird, wenn die Bürgermeisterin auf das Fahr-
rad, Busse und eine intelligente Verkehrsführung setzt. Wir erleben
aufregende Theaterabende, weil dem Bürgermeister die kulturelle
Vielfalt am Herzen liegt. Wir merken aber auch, wie prekär die Fi-
nanzlage ist, wenn das Schwimmbad zubleibt oder es durch das
Schuldach tropft.
Wir GRÜNE sind viel vor Ort aktiv und haben deshalb die Si-
tuation vor Ort immer im Blick. Wir sehen die Sorgen der Bürger-
meisterInnen, der RätInnen in Städten, Gemeinden und Bezirken.
Sie leisten Tag für Tag ganze Arbeit, aber werden vom Bund und
von den Ländern allzu oft allein gelassen. Die Union setzt weiter
auf viel zu teure Prestigeprojekte – und will die Millionengräber im
Zweifel auch gegen den Willen der Bevölkerung und auf Kosten ei-
ner nachhaltigen Infrastruktur durchsetzen. Uns sind hundert kleine
Bühnen lieber als eine Arena. Statt eines überteuerten Zentralbahn-
hofs wollen wir schnellere Zugverbindungen in der ganzen Region.
Grüne Politik vor Ort heißt vor allem bezahlbares Wohnen für
alle ermöglichen. Wohnen ist ein Grundbedürfnis, hier sind wir zu
Hause und gestalten Nachbarschaft. Um Mieterinnen und Mieter
besser vor Verdrängung zu schützen und zukunftsfähigen, bezahl-
baren Wohnraum zu schaffen, müssen alle Ebenen zusammenar-
beiten – von der Kommune vor Ort bis zur Bundespolitik.
Vor Ort ist den meisten Bürgerinnen und Bürgern klar: Die Kom-
munen brauchen eine stärkere Unterstützung. Wir stehen deshalb
für einen kooperativen Föderalismus ein, der gleichwertige Lebens-
verhältnisse in allen Regionen befördert. Natürlich unterscheidet
sich das Leben in einer Metropole von dem auf dem Lande, aberZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
266
Unsere Politik vor OrtKommunen müssen überall dazu befähigt sein, die Grundlagen für
ein gutes, vielfältiges Miteinander zu schaffen.
Unsere Politik ermöglicht allen Menschen die gesellschaftliche
Teilhabe vor Ort. Wir unterstützen die Kommunen darin, eine so-
ziale und kulturelle Infrastruktur zu schaffen, die allen offensteht,
denn hier entscheidet sich, ob Teilhabe wirklich gelingt.
Unsere Politik ermöglicht Einmischung vor Ort. Die Menschen
in den Kommunen haben die Ideen und die Kraft für ein lebendiges
Gemeinwesen. Was sie brauchen, ist die Möglichkeit zum Mitreden
und Mittun.
Unsere Politik schafft vor Ort Zukunft. Indem wir die Kommu-
nen unterstützen und entlasten, eröffnen wir neue Gestaltungs-
möglichkeiten und Handlungsspielräume. Wir arbeiten mit an der
grünen Stadt der Zukunft – vielfältig, solidarisch und nachhaltig.
1. Bezahlbar grün wohnen
Zukunftsfähige Wohnungspolitik heißt vor allem, soziales Miet-
recht, gemeinwohlorientierten Wohnungsbau und die energeti-
sche Modernisierung der Gebäude zusammen zu denken. Denn
während einige Regionen mit Wohnungsleerstand kämpfen, wird
Wohnraum in wirtschaftsstarken Regionen immer knapper und
teurer. Schon heute leben in Deutschland drei von vier Personen
in Städten. Das weckt spekulative Begehrlichkeiten und erhöht den
Druck auf die Mieterinnen und Mieter. Doch unsere Städte sind
Städte für alle Bürgerinnen und Bürger – statt Spielwiesen für Spe-
kulantInnen. Niemand soll aus dem eigenen Viertel ziehen müssen,
weil die Miete plötzlich zu hoch ist. Die negativen Auswirkungen
von Gentrifizierung können wir nicht länger hinnehmen und haben
dafür auch die passenden Antworten.
Der größte Preistreiber sind aktuell die Wiedervermietungsmie-
ten. Sie sollen künftig nicht höher als 10 % über der ortsüblichen
Vergleichsmiete liegen dürfen, wo Wohnraummangel herrscht. In
laufenden Verträgen bremsen wir den Mietanstieg durch die Dros-
selung der regelmäßigen Erhöhung der ortsüblichen Vergleichsmie-
te. Auch im Zuge von Modernisierungen senken wir die Mieterhö-
hung auf maximal 9 % der Kosten pro Jahr und beschränken sieTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
267
Unsere Politik vor Ortauf die energetische Sanierung sowie altersgerechten Umbau. Den
Kommunen geben wir bessere Instrumente an die Hand, indem wir
das Baugesetzbuch reformieren, so dass auch die Einführung von
Mietobergrenzen und erweiterter Schutz vor den Nachteilen der
Eigentumsumwandlung möglich sind. Auch die Maklergebühren
sind vielerorts zu einem echten Kostenfaktor geworden. Deshalb
soll den Makler oder die Maklerin bezahlen, wer ihn oder sie be-
auftragt.
Vielerorts wird der Druck auf die MieterInnen durch die Finanz-
krise und die damit einhergehenden Immobilienspekulationen mit
Mietsteigerungen, Eigentumsumwandlung und neuem Luxuswoh-
nungsbau noch erhöht. Es trifft vor allem Menschen mit niedrigen
und ungesicherten Einkommen und verschärft damit die soziale
und räumliche Spaltung der Gesellschaft. Die Zahl der Haushalte,
die mehr als 40 % ihres Einkommens für das Wohnen aufwenden
müssen und in Transferleistungen gezwungen werden, steigt be-
drohlich an. Frauen, die häufiger als Männer Kinder allein erziehen
und im Schnitt geringere Löhne und Renten haben, sind davon in
besonderem Maß betroffen. Auch deshalb muss der soziale Woh-
nungsbau in Deutschland eine Renaissance erleben. Seit dem Jahr
2000 ist die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland um fast
ein Drittel gesunken – mit entsprechenden Folgen für die Miete-
rInnen. Doch nun stellt sich die Frage der Sicherung sozialer und
öffentlicher Wohnungsbestände neu. Der Bund soll die Länder und
Kommunen besser beim sozialen Wohnungsbau und bei gezielten
Ankäufen in innerstädtischen Lagen unterstützen. Die Kompensati-
onsmittel des Bundes sollen bis 2019 weiterhin an die Bundesländer
zweckgebunden gezahlt werden. Anders als in den 70er Jahren dür-
fen aber keine Ghettos am Stadtrand hochgezogen werden, denn
Sozialwohnungen gehören in lebendige Stadtteile. Das Wohngeld
sollte wieder als Instrument gestärkt werden, um zu verhindern,
dass Haushalte in die Transferleistungen gedrängt werden. Auch
die Verhinderung von Obdachlosigkeit ist uns ein wichtiges Ziel.
Dafür brauchen die Kommunen zunächst eine bundesweite Woh-
nungsnotfallstatistik.
Beim Handeln mit Immobilien wollen wir die Finanzinvestoren
steuerlich erreichen. Auch im Umgang mit verwahrlosten Immo-
bilien, sogenannten Schrottimmobilien, und zur Sicherung derZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
268
Unsere Politik vor OrtWohnqualität wollen wir die Handlungsmöglichkeiten der Kom-
munen stärken. Dazu hat eine Enquete-Kommission des Landtags
NRW wegweisende Empfehlungen gegeben. Nicht zuletzt wollen
wir prüfen, ob gesetzliche Regelungen für eine neue gemeinwohl-
orientierte Wohnungswirtschaft wieder sinnvoll sind, und sagen,
dass Wohnungen in öffentlicher Hand nur noch notfalls verkauft
werden sollen – und dann bevorzugt an nachhaltig wirtschaftende
Gesellschaften. Die Gründung stadtteilorientierter Genossenschaf-
ten unterstützen wir ebenfalls – zum Beispiel indem wir für Bewoh-
nerInnen, die sich zu Wohngenossenschaften zusammenschließen,
ein Vorkaufsrecht einführen.
Die energetische Modernisierung der Wohnungen und aller an-
deren Gebäude ist ein zentraler Bestandteil der Energiewende. 40 %
der Energie werden hier verbraucht – besonders für warme Woh-
nungen. Allein 2012 sind die Heizkosten um 12 % gestiegen. Ener-
getische Modernisierung ist die beste Absicherung für bezahlbare
Wärmekosten in der Zukunft. Gerade weil wir GRÜNE uns für einen
klimaneutralen Gebäudebestand bis 2050 starkmachen, setzen wir
uns für eine sozial ausgewogene Mieten- und Wohnungspolitik ein.
Dabei zielen wir auf Warmmietenneutralität ab. Wir setzen auf In-
formation und Transparenz – mit dem Energiebedarfsausweis für
Gebäude, der auch Angaben zum Energieverbrauch enthält, öko-
logischen Mietspiegeln und einem Netz von Beratungszentren. Das
haben wir auch im Energiekapitel beschrieben (vgl. B. 5. Bezahlba-
re Wärme und Strom für alle). Für neue Gebäude wollen wir den
Niedrigstenergiestandard vorgeben, doch der Fokus liegt auf dem
Bestand. Hier sind besonders private KapitalgeberInnen gefragt, so
dass wir auch die richtigen Anreize setzen. Die Sanierungsquote soll
durch zielgruppengerechte Förderung und Planungssicherheit auf
3 % ansteigen. Die energetische Modernisierung muss bezahlbar
und die Kosten gerecht verteilt sein – zwischen EigentümerInnen,
MieterInnen und Staat. Nur so können die notwendigen Investi-
tionen sozialverträglich gestaltet werden. Dazu wollen wir das
KfW-Gebäudesanierungsprogramm mit 2 Mrd. Euro jährlich aus-
statten und verstetigen. Zusätzlich wollen wir den Energiesparfonds
in Höhe von jährlich 3 Mrd. Euro einrichten, mit dem wir beson-
ders Maßnahmen in Stadtteilen mit vielen einkommensschwachen
Haushalten fördern wollen. Inwieweit eine steuerliche FörderungTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
269
Unsere Politik vor Ortfür private Hausbesitzer sinnvoll ist, soll neu ausgelotet werden. So-
ziale Härten sollen mit einem Klimazuschuss zum Wohngeld und
einem Klimabonus bei den Kosten der Unterkunft aufgefangen
werden. Mit dieser Gesamtstrategie schaffen wir die Energiewen-
de im Gebäudebestand, lösen eine Investitionsoffensive aus und
schaffen Arbeitsplätze.
2. Die grüne Stadt entwickeln
Wir entwickeln unsere Städte weiter – zu Orten für ein vielfältiges
und nachhaltiges Miteinander, mit kurzen Wegen und vielen Grün-
flächen, mit heterogenen Vierteln, kulturellen Treffpunkten und
lebendigen Innenstädten. Es sollen Lebens- und Gestaltungsräume
für alle Bürgerinnen und Bürger werden, in denen sich Kinder, aber
auch Alte oder Menschen mit Behinderung frei bewegen können.
Grüne Städte sind bunt, kreativ, lebendig – und für alle da. Des-
halb erhalten wir öffentliche Freiräume und schaffen mehr Platz
für Menschen und Initiativen, die sich vor Ort für eine lebenswerte
Stadt einsetzen. Integrierte Stadtentwicklung ist der Kern grüner
Stadtpolitik und bildet die Voraussetzung für ein vielfältiges Mitei-
nander. Bei städtebaulichen Planungen sollen AnwohnerInnen frü-
her informiert und verbindlich beteiligt werden. Gerade junge Men-
schen brauchen hier spezifische Programme und Ansprachen, um
an den Bauplanungsprozessen beteiligt zu werden. Dafür ändern
wir das Bau- und Planungsrecht und knüpfen Programme an ent-
sprechende Bedingungen. Auch wollen wir die Mittel für die Städ-
tebauförderung, insbesondere für die Programme Soziale Stadt,
Stadtumbau und Denkmalschutz, mittelfristig erhöhen. Denn diese
Programme sind seit 40 Jahren ein wichtiges Instrument zur Erneu-
erung unserer Städte, um das uns viele Länder beneiden. Die Initi-
ative „Nationale Stadtentwicklungspolitik“ wollen wir neu beleben
und weiterentwickeln. Die Mittel des Europäischen Strukturfonds
sollen ab 2014 verstärkt für die ökologisch-soziale Stadtentwick-
lung eingesetzt werden.
Grüne Städte leben von der Vielfalt in den Vierteln. Dafür stär-
ken wir im Sinne der Sozialen Stadt die dauerhafte Teilhabe in heu-
te benachteiligten Stadtteilen. Dafür brauchen wir die verbindlicheZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
270
Unsere Politik vor OrtZusammenarbeit zwischen den verschiedenen Politikbereichen.
Zusätzlich zu baulichen Maßnahmen sollen Aktivitäten wie Vernet-
zung, Bildung oder bürgerschaftliches Engagement gefördert wer-
den. Außerdem koppeln wir Neubauprojekte an die Schaffung von
bezahlbarem Wohnraum. Wir wollen den gesetzlichen Auftrag der
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben neu regeln. Wenn Brach-
flächen, wie alte Kasernengelände, verkauft werden, sollen nach-
haltige und stadtpolitische Faktoren berücksichtigt werden, damit
nicht nur das Höchstgebot zählt. Auch das Erbbaurecht sollte zum
Beispiel gegenüber dem Verkauf häufiger eingesetzt werden.
Grüne Städte sind Bürgerstädte. Sie brauchen Wirtschaftsviel-
falt und Eigentumsvielfalt. Wir wollen den inhabergeführten Einzel-
handel als wichtiges Element lebendiger Innenstädte stärken. Auch
Klein- und Mittelbetriebe in Ballungsgebieten leiden unter explo-
dierenden Gewerbemieten. Den Anstieg wollen wir auf ein für die
Betriebe wirtschaftlich tragbares Maß begrenzen und dafür unter-
schiedliche Maßnahmen prüfen.
Grüne Städte sind auch der richtige Ort für den Klimaschutz.
Dafür stärken wir die Innenstädte, minimieren den Flächenver-
brauch im Umland und verbinden urbane Dichte mit Stadtgrün so-
wie Stadtnatur im Baurecht und bei den Förderprogrammen. Mit
unserem Konzept der energetischen Quartierssanierung, das durch
den Energiesparfonds finanziert wird, können die Kommunen eine
behutsame Stadterneuerung und die Abstimmung von Investitio-
nen auf die Wohnraumnachfrage und Stadtentwicklung umsetzen.
Fehlinvestitionen werden vermieden und Kosten gesenkt. Eine de-
zentrale Energieversorgung und effiziente Leitungssysteme werden
geplant und gebaut. Wir stärken aber auch die Anreize, verstärkt
ökologisch nachhaltige Baustoffe zu verwenden und die Baukultur
sowie urbane Lebensqualität zu pflegen und weiterzuentwickeln.
Eine wichtige Aufgabe wird dabei die energetische und die funk-
tionale Modernisierung der kommunalen Infrastrukturen, bei der
die Anpassung und Ertüchtigung der vorhandenen Gebäude und
Anlagen Vorrang vor Neubau haben muss. Dies soll gemeinsam mit
den Bürgerinnen und Bürgern entwickelt werden – transparent und
auf Augenhöhe.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
271
Unsere Politik vor Ort3. Mehr Grün im ländlichen Raum
Deutschland wird durch eine Vielzahl von unterschiedlichen ländli-
chen Regionen geprägt. Sie bestimmen durch ihre wirtschaftlichen
Potentiale, ihre landschaftlichen Reize und ihre landwirtschaftlichen
Strukturen den Charakter unseres Landes. Leider wurde der länd-
liche Raum in den letzten Jahren zunehmend vernachlässigt. Die
Folge ist, dass immer mehr Menschen wegen besserer Bildungs-,
Berufs- und Lebensgestaltungsmöglichkeiten in die großen Städ-
te und Ballungsräume ziehen und die, die bleiben, im Durchschnitt
immer älter werden. Besonders für die strukturschwachen Regi-
onen fehlen Konzepte für eine nachhaltige Entwicklung, und ein
verschärfter Strukturwandel in der Landwirtschaft verändert das
Aussehen unserer Dörfer stark. Deshalb müssen wir die bisherigen
Förderinstrumente besser auf diese Herausforderungen ausrichten
und dafür sorgen, dass Grund und Boden nicht zu bloßen Spekula-
tionsobjekten werden.
Klar ist, dass wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort die
Rahmenbedingungen verändern müssen, denn ländliche Räume
sollen sich eigenständig entwickeln können. Wir wollen sie dabei
unterstützen, eine bessere regionale Vernetzung sowie regionale
Wirtschaftskreisläufe mit regionaler Weiterverarbeitung, Vered-
lung und Vermarktung aufzubauen. Wir setzen deshalb Anreize
zur interkommunalen Zusammenarbeit und beseitigen die beste-
henden Rechtsunsicherheiten und steuerlichen Hindernisse. Auch
der Naturtourismus bietet in Verbindung mit dem Erhalt der Kultur-
landschaft und der Förderung von Biolandwirtschaft neue Perspek-
tiven und wir wollen dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger
besser an der Energiewende teilhaben können. Dazu unterstützen
wir BürgerInnennetzwerke und Bioenergiedörfer zur regionalen
Energieversorgung.
Wir wollen das Leben wieder in die Zentren der Dörfer und
Kleinstädte holen, denn kurze Wege für alle Generationen sind
auch auf dem Land möglich: Statt eines Supermarkts für die Region
brauchen wir viele kleine Läden in den Ortszentren. Wo nötig un-
terstützen wir dafür auch mobile Versorgungssysteme oder Dorf-
ladenkonzepte, die mehr als nur Einzelhandel betreiben, sondern
zusätzliche Dienstleistungen anbieten. Den ungebremsten NeubauZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
272
Unsere Politik vor Ortauf der grünen Wiese wollen wir stoppen. Außerdem führen wir
einen Demografiecheck zur Abschätzung der lokalen Bevölkerungs-
entwicklung sowie eine obligatorische Folgekostenbetrachtung vor
der Ausweisung neuer Baugebiete ein. Wir müssen aber die Kom-
munen auch besser dabei unterstützen, für junge Menschen gut
erreichbare Betreuungs- und Bildungsangebote zu schaffen. Und
damit es für alte Menschen genügend Wohnungen gibt, unterstüt-
zen wir altersgerechte Umbauten durch eine gezielte Förderung, ein
besseres Informationsangebot und rechtliche Änderungen.
Bei der Gesundheitsversorgung stehen wir im ländlichen Raum
vor besonders großen Herausforderungen. Sie muss besser auf Be-
dürfnisse alter Menschen ausgerichtet werden – bei weniger Ange-
boten und weiteren Wegen. Wir brauchen eine bessere Vernetzung
und eine andere Aufgabenteilung. Die Pflegekräfte spielen dabei
eine Schlüsselrolle. Sie sollen mehr Verantwortung übernehmen
können. Nicht zuletzt brauchen wir flexible Versorgungsformen wie
Fahrdienste oder mobile Praxisteams, die Einführung und Anwen-
dung von telemedizinischen Diensten und den Ausbau von ambu-
lanten Wohn- und Betreuungsangeboten als übergreifende mobile
Versorgungsdienste und genügend Präventions- und Hilfsangebote
für Menschen mit problematischen Konsummustern von legalen
und illegalen Drogen.
Unsere Politik für den ländlichen Raum soll auch die Zivilgesell-
schaft stärken. Rassismus, Homophobie und andere Diskriminie-
rungen gibt es leider zu häufig und in manchen Dörfern treiben
Nazis uneingeschränkt ihr Unwesen. Wo andere lieber schweigen,
sprechen wir die Tatsachen an und unterstützen das zivilgesell-
schaftliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger vor Ort durch
ein vielfältiges kulturelles Angebot, Bildungs- und Teilhabemöglich-
keiten wie z. B. selbstverwaltete Jugendräume und andere alternati-
ve Projekte als Keimzellen gesellschaftlicher Veränderungen.
Wir unterstützen die Kommunen dabei, eine gut funktionierende
Infrastruktur bereitzustellen. Im Netz- und im verkehrspolitischen
Kapitel beschreiben wir die passenden Lösungen für das Internet
und den öffentlichen Nahverkehr, so dass auch Menschen, die kein
Auto haben, vielfältige Möglichkeiten der Lebensgestaltung erhal-
ten. Wenn die Unterauslastung von Wasser- und Abwassernetzen
zum Problem wird, bevorzugen wir dezentrale und nachhaltige Lö-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
273
Unsere Politik vor Ortsungen. Auch Ausnahmen beim Anschluss- und Benutzungszwang
müssen für abgelegene Wohneinheiten möglich werden.
Auf nationaler Ebene wollen wir mehr Mittel aus den Europäi-
schen Strukturfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes zur
Verfügung stellen. Auch der integrierte Fondseinsatz muss zur An-
wendung kommen, um flexible und bedarfsgerechte Fördermög-
lichkeiten in den Regionen zur Verfügung zu haben. Ziel muss eine
integrierte ländliche Entwicklung unter Beteiligung der Bürgerinnen
und Bürger sein.
4. Kommunale Handlungsfähigkeit stärken
Unsere Ansprüche an die Kommunen sind hoch, denn wir wollen
gute Institutionen für alle. Vor Ort werden die Weichen für die ge-
sellschaftliche Teilhabe der Menschen gestellt. Doch die finanzielle
Lage ist zum Teil dramatisch. Die Einnahmen sind in der Krise ein-
gebrochen und viele haben sich bis heute nicht erholt. Steigende
Sozialausgaben führen zu zusätzlichen Kosten für die kommunalen
Haushalte. Das alles führt zu immer mehr Schulden und beschnei-
det die Handlungsfähigkeit massiv.
In vielen Kommunen werden die Menschen deshalb in Form
hoher Gebühren, maroder Infrastruktur und durch den Verlust an
Lebensqualität übergebührlich belastet. Doch die Hilfe von Bund
und Ländern bleibt vielerorts aus. Stattdessen verkünden sie weite-
re Aufgaben und übertragen den Kommunen die Verantwortung,
ohne die entsprechenden Mittel bereitzustellen. Wir stehen für ei-
nen fairen Umgang mit den Städten und Gemeinden. Zusätzliche
Aufgaben müssen immer durch zusätzliche Mittel gedeckt sein.
Das Konnexitätsprinzip muss also endlich auch auf Bundesebene
verankert werden. Darüber hinaus muss der Bund die Kommunen
bei den Sozialausgaben spürbar entlasten. Wir erhöhen dazu in ei-
nem ersten Schritt den Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft
auf 35 %, in einem zweiten auf 37,7 %. Damit entlasten wir die
Kommunen um 1 Mrd. Euro. Außerdem wollen wir die bisherige
Eingliederungshilfe durch ein Teilhabeleistungsgesetz ablösen und
den Bund angemessen an der Finanzierung beteiligen. Eine ent-
sprechende Reform der Eingliederungshilfe muss die Ziele der UN-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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274
Unsere Politik vor OrtBehindertenrechtskonvention befördern und einen Strukturwandel
einleiten hin zur Stärkung der Selbstbestimmung und Teilhabe. Die
Angebote und Leistungsformen gilt es hierauf auszurichten und
auszustatten. Die Entwicklung des inklusiven Gemeinwesens kann
und darf nicht allein Aufgabe und Pflichtleistung der Kommunen
sein. Kosten, die aus einem Teilhabegesetz erwachsen, dürfen nicht
komplett auf Länder und Kommunen abgewälzt werden.
Das Geld fehlt auch für wichtige Investitionen – sei es in neue
Zukunftsprojekte wie Bildung und Energie, sei es für dringend not-
wendige Sanierungen. Leere Kassen und einseitige Wettbewerbs-
vorgaben für kommunale Unternehmen erhöhen den Druck auf
die Kommunen, ihre Leistungen zu privatisieren. Wieder einmal
versucht die EU-Kommission mit Unterstützung von Schwarz-Gelb
zentrale Bereiche der Daseinsvorsorge wie die Wasserver- und
-entsorgung durch hohe Auflagen an Stadtwerke, Zweckverbände
und interkommunale Kooperationen zu beschneiden. Doch häufig
haben Privatisierungen mehr Probleme geschaffen als gelöst. Oft
bedeutet dies, Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisie-
ren, denn das Risiko trägt letztlich die Allgemeinheit. Privatisierun-
gen sind nur im Ausnahmefall sinnvoll und müssen an harte Bedin-
gungen geknüpft werden.
Wir GRÜNE stehen für eine Stärkung und Weiterentwicklung
verlässlicher und qualitativ hochwertiger öffentlicher Güter und
Institutionen. Wir wissen, wie wichtig es ist, die politische Steu-
erungsfähigkeit der Kommunen, Transparenz und die demokra-
tische Kontrolle sicherzustellen, wenn es um die Zukunft der Da-
seinsvorsorge geht. Wir unterstützen Städte und Gemeinden, die
ihre Leistungen wieder selbst erbringen wollen. Dazu wollen wir
die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen sichern und die in-
terkommunale Zusammenarbeit fördern. Ein Weg kann auch die
Bildung von Regionalkreisen sein, in denen die Kernstadt mit den
Umlandkreisen eine gebietskörperschaftliche Einheit bildet.
Aufgaben der Daseinsvorsorge von der Wasserversorgung bis
zur Abfallbeseitigung wurden in den letzten Jahren vielfach in Ge-
sellschaften privaten Rechts in kommunaler Eignerschaft oder mit
Beteiligung privaten Kapitals überführt. Dadurch werden die kom-
munalpolitischen Grundsätze der Transparenz und der Kontrolle
durch den Gemeinderat ausgehöhlt. Eine Beteiligung der Öffent-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
275
Unsere Politik vor Ortlichkeit wird in zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge praktisch
unmöglich gemacht. Deshalb fordern wir öffentliche Aufsichtsrats-
sitzungen und Informationspflichten auch kommunaler öffentlicher
Unternehmen.
Obwohl Kommunen ihre Beschaffung grundsätzlich nach ökolo-
gischen und sozialen Kriterien ausrichten können, schöpft die Ver-
gabepraxis diese rechtlichen Möglichkeiten oft nicht aus. Die Ent-
scheidung fällt häufig immer noch für das billigste Angebot, obwohl
es bei einer Betrachtung über den gesamten Lebenszyklus hinweg
wirtschaftlichere Alternativen gäbe. Wir wollen deshalb prüfen, wie
Dumpingangebote automatisch und rechtssicher aus dem Vergabe-
verfahren ausgeschlossen werden können.
Die Finanzlage der Kommunen muss insgesamt verbessert wer-
den. Die wichtigste Maßnahme ist eine Gemeindefinanzreform,
die eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen im
Grundgesetz sicherstellt. Wir fordern den Erhalt der Gewerbesteu-
er, die Weiterentwicklung einer kommunalen Wirtschaftssteuer
und eine Reform der Grundsteuer. Dazu haben wir ein Modell dis-
kutiert, nach dem die Grundsteuer nach den aktuellen, pauschalier-
ten Verkehrswerten berechnet werden soll. Leitplanken sind für uns
GRÜNE: eine verfassungsfeste, gerechte Besteuerung ohne ökolo-
gische Fehlanreize. Das Hebesatzrecht liegt bei den Kommunen.
5. Regionen bedarfsgerecht und nachhaltig fördern
Wir stehen für eine solidarische Politik, die geschwächte Struktu-
ren stärkt und zurückgebliebene Regionen dabei unterstützt, sich
neu aufzustellen. In Ostdeutschland ist viel bewegt worden. Die
Menschen dort haben in einem schwierigen Transformationspro-
zess Großartiges geleistet. Aber die wirtschaftliche Finanzkraft ist
nach wie vor niedriger als in den alten Ländern. Solidarische Unter-
stützung wird noch lange notwendig sein, doch der Solidarpakt II
läuft 2019 aus. Wir glauben, dass im Anschluss eine Förderung von
Kommunen in strukturschwachen Regionen nach Bedarf der richti-
ge Weg ist. Allen Kommunen stehen große Herausforderungen im
Zuge der Schuldenbremse ins Haus. Durch die Krise wurden beson-
ders strukturschwache Regionen, die schon aufgrund des demogra-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
276
Unsere Politik vor Ortfischen Wandels unter erheblichem Druck stehen, hart getroffen.
Viele dieser Kommunen in den neuen, aber auch in den alten Bun-
desländern können diese Probleme nicht allein lösen. Insbesondere
bei der Altschuldentilgung brauchen sie Hilfe.
Ostdeutschland ist neben einzelnen Regionen im Westen – auch
und gerade in den ländlichen Räumen – flächendeckend von den
verschiedensten Auswirkungen der demografischen Entwicklung
betroffen und muss mit diesen umgehen. Diese Prozesse laufen im
Osten beschleunigt und in erheblichen Größenordnungen ab. Ne-
ben dem politischen Willen, in den ländlichen Räumen ein gutes
Leben zu ermöglichen, sind hier volkswirtschaftlich intelligente Lö-
sungen gefragt. Dezentralität und Subsidiarität sind für uns dabei
wichtige Grundprinzipien.
Wir werden die aktuelle Förderstruktur auch mit Blick auf
Nachhaltigkeitskriterien auf den Prüfstand stellen. Die Kommu-
nen, Regionen und Länder bestärken wir darin, fair gehandelte
und ökologische Produkte zu kaufen. Mit Hilfe von Fördermitteln
und Regionalfonds können die verschiedenen AkteurInnen aus ei-
ner Region zusammenarbeiten und die Möglichkeiten ihrer Region
gemeinsam stärken. Die Wertschöpfung wollen wir in der Region
halten; etwa durch ein Regionalsiegel. Die nachhaltige Bewirt-
schaftung und Pflege unserer vielfältigen Kulturlandschaft ist für
die Menschen in der Region wichtig. Auch der Tourismus profitiert
davon und sollte deshalb einen Beitrag dazu leisten.
6. Kooperativer Föderalismus
Wir stärken die Zusammenarbeit zwischen den föderalen Ebenen,
ohne die Entscheidungsfreiheit der Länder und Kommunen zu be-
schneiden. Das Gegenteil ist der Fall. Erst durch eine partnerschaft-
liche Kooperation kann die Politik vor Ort ihrer Aufgabe gerecht
werden und die Lebenswirklichkeit der Menschen positiv gestalten.
Die Zinszahlungen für die aufgelaufenen Schulden belasten Länder
und Kommunen in erheblichem Maße. Wir wollen sie mit einem
Altschuldentilgungsfonds entlasten, damit alle die Chance haben,
die Schuldenbremse einzuhalten.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
277
Unsere Politik vor OrtDie Verhandlungen über die Finanzbeziehungen zwischen Bund,
Ländern und Kommunen sind verzwickt. Die derzeitige Mittelver-
teilung gleicht einem unübersichtlichen Flickenteppich und diese
Verstrickung der Einnahmequellen verhindert eine sinnvolle Über-
windung der strukturellen Finanzierungslücke in den Kommunen.
Wir wollen die Neuordnung des Länderfinanzausgleichs für die
Zeit nach 2019 mit einer Föderalismusreform III verbinden. Dar-
in werden wir auch die anderen Finanzströme zwischen Bund und
Ländern sowie die finanzielle Situation der Kommunen einbeziehen.
Außerdem wollen wir dafür Sorge tragen, dass der Länderfinanz-
ausgleich nach Bedürftigkeit, fair, anreizkompatibel und solidarisch
ausgestaltet wird. Anstrengungen für Mehreinnahmen, Effizienz
und Einsparungen müssen sich für alle Bundesländer lohnen. Eines
steht für uns schon fest: Das Grundgesetz muss wieder gemein-
sames Handeln von Bund, Ländern und Kommunen ermöglichen.
Wir setzen uns schon lange dafür ein, das Kooperationsverbot im
Bildungsbereich abzuschaffen und die Kooperationsmöglichkeiten
in der Wissenschaft zu erweitern. Den Ländern und Kommunen
fehlen einfach die finanziellen Mittel, um die gesamtstaatlichen He-
rausforderungen für den notwendigen Bildungsaufbruch mit guten
Ganztagsschulen zu bewältigen. Es ist an der Zeit, mehr Koopera-
tion zu ermöglichen.
Wer GRÜN wählt …
• sorgt für bezahlbares und klimaschonendes Wohnen.
• entwickelt Städte, Gemeinden und ländliche Räume grün
und lebenswert.
• gibt den Kommunen ihre Handlungsfähigkeit zurück.
• fördert Regionen nachhaltig und bedarfsgerecht.
• steht für einen kooperativen Föderalismus.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
278
Unsere Politik vor OrtSchlüsselprojekte
Bezahlbares Wohnen ermöglichen – soziales Mietrecht,
gemeinwohlorientierten Wohnungsbau und energetische
Modernisierung zusammen denken
In unseren Städten werden rasant steigende Mieten zu einem im-
mer größeren Problem. Dagegen wollen wir vorgehen und die Ver-
drängung von Menschen aus ihren Vierteln stoppen. Wir werden
die regelmäßige Erhöhung der ortsüblichen Vergleichsmiete stär-
ker begrenzen. Bei Wohnraummangel wollen wir Obergrenzen für
Wiedervermietungsmieten ermöglichen. Die Länder unterstützen
wir besser beim sozialen Wohnungsbau. Mieterhöhungen durch
Modernisierungen senken wir auf maximal 9 % und beschränken
sie auf den Abbau von Barrieren sowie die energetische Moder-
nisierung. Mit gezielter Förderung und einem Klimazuschuss zum
Wohngeld senken wir die Kosten für die energetischen Modernisie-
rungen ab. So schaffen wir Wohnqualität und bezahlbare Wohnun-
gen, die fit sind für die Energiewende.
Städte und Gemeinden zukunftsfähig machen –
der Städtebauförderung neuen Schwung geben
Die Programme der Städtebauförderung wurden kräftig gestutzt,
obwohl uns viele Länder darum beneiden. Denn damit können
Kommunen investieren, um ihre Infrastruktur auszubauen. Deshalb
wollen wir die Fördermittel für dieses Programm wieder schrittwei-
se erhöhen. Dabei nehmen wir besonders das Programm Soziale
Stadt zur Stärkung sozial benachteiligter Stadtteile und die Förde-
rung des Stadtumbaus in Kommunen mit Wohnungsleerstand und
Industriebrachen in den Blick. Wir wollen zusätzlich die energeti-
sche Quartierssanierung einbeziehen. So bekommen die Kommu-
nen mehr Freiheit und Flexibilität beim Einsatz der Mittel. Damit
können wir die Infrastruktur unserer Städte besser auf Teilhabe und
die Energiewende ausrichten.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
279
Unsere Politik vor Ort
Die Kommunalfinanzen stärken – Unterstützung durch den
Bund bei den Kosten der Unterkunft
Die Finanzlage vieler Kommunen ist so dramatisch, dass vor Ort
keinerlei Gestaltungsspielraum besteht. Trotzdem müssen wir
überall die Teilhabe aller ermöglichen. Dafür schaffen wir einen
fairen Umgang mit den Städten und Gemeinden, indem künftig
zusätzliche Aufgaben des Bundes für die Kommunen immer durch
zusätzliche Mittel vom Bund gedeckt werden müssen. Außerdem
entlasten wir die Kommunen bei den derzeitigen Kosten für die
Mieten von ALG-II-BezieherInnen. Dafür soll der Bund künftig
1 Mrd. Euro zusätzlich bereitstellen. So unterstützen wir die Kom-
munen dabei, eine gerechte und solidarische Sozialpolitik umzu-
setzen.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
280
Unser gemeinsames EuropaR. Unser gemeinsames Europa
Warum Europa unsere Zukunft ist
Die Europäische Union ist viel mehr als nur ein gemeinsamer Wirt-
schafts- und Währungsraum. Die EU der 28 Mitgliedsländer ist Ort
der Freiheit und Vielfalt, des Friedens und der Demokratie. Die EU
hat jahrhundertealte Gegensätze überwunden und einen historisch
einmaligen innereuropäischen Frieden geschaffen. Deswegen hat
sie letztes Jahr zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten.
Ohne Zweifel kann und muss man mit Blick auf die EU viel kri-
tisieren und man kann auch vieles verbessern. Doch Europapolitik
findet nicht nur im fernen Brüssel statt, sondern beginnt bei der
Kommunalpolitik und durchzieht alle politischen Bereiche vom Um-
welt- bis zum Verbraucherschutz. Europapolitik ist Innenpolitik und
die Bundestagswahl somit auch eine wichtige Entscheidung über
die Zukunft Europas. Um das unfertige europäische Projekt gerech-
ter, sozialer und nachhaltiger weiterzubauen, braucht es die rich-
tigen politischen Mehrheiten. Die EU steckt derzeit in einer tiefen
Identitätskrise, doch Europa ist unsere Zukunft. Gestalten wir sie
gemeinsam.
Viele Bürgerinnen und Bürger, auch in Deutschland, haben nicht
mehr die Erwartung, dass die EU ihnen automatisch Wohlstand und
Sicherheit in einer globalisierten Welt bringt. Häufig schieben Po-
litikerinnen und Politiker die Schuld auf die Brüsseler Kommission,
so manche schwarz-gelbe PolitikerInnen erwecken allzu gerne den
Eindruck, dass es nur ein deutsches Europa bräuchte oder unser
Land gar besser allein weitermachen sollte, um alle Probleme zu lö-
sen. Wieder andere wie Angela Merkel setzen auf eine Stärkung der
nationalen Ebene und würden am liebsten alles in Hinterzimmern
unter den 28 Staats- und RegierungschefInnen ausdealen.
Doch wissen wir ebenso wie die große Mehrheit der Bundesbür-
gerinnen und -bürger, dass es die Rückkehr zu nationalen Allein-
gängen nur unter Inkaufnahme extremer sozialer, wirtschaftlicher
und politischer Gefahren gibt. Wir sagen „Ja“ zu Europa und setzen
uns ein für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
281
Unser gemeinsames EuropaMischen wir uns ein für ein demokratisches Europa! Wir GRÜNE
setzen auf ein gemeinsames Europa, in dem Parlamente und eu-
ropäische Zivilgesellschaft transparent und aktiv mitentscheiden,
denn ohne demokratische Legitimation ist keine politische Ent-
scheidung auf Dauer tragfähig. Wir wollen, dass die EU innerhalb
wie außerhalb ihrer Grenzen zur glaubwürdigen Anwältin der Bür-
ger- und Menschenrechte und des Friedens wird. Dies ist und bleibt
für Europa auch im 21. Jahrhundert eine historische Verpflichtung.
Bekennen wir uns zu einem solidarischen Europa! Wir GRÜNE
machen uns stark für eine handlungsfähige EU, die den global agie-
renden Akteuren an den Finanzmärkten selbstbewusst entgegen-
tritt. Die damit auch und ganz besonders den jungen Menschen in
Südeuropa, für die die Finanzkrise eine reale Katastrophe geworden
ist, die Teilhabe an den Errungenschaften des europäischen Sozial-
staates verschafft.
Kämpfen wir für ein gerechtes Europa! Die einseitige und un-
solidarische Kürzungspolitik unter Führung der schwarz-gelben
Bundesregierung hat dazu geführt, dass sich die Wirtschaftskrise in
den südeuropäischen Ländern zusätzlich verschärfte. Die Arbeitslo-
sigkeit wächst – insbesondere unter der Jugend – ins Unerträgliche
und immer mehr Menschen werden in Armut und Existenzunsicher-
heit getrieben. Die Gesundheitsversorgung in Griechenland kolla-
biert. Eine grün geprägte Bundesregierung wird nicht hinnehmen,
dass auf dem Rücken der Ärmsten gespart wird.
Und schaffen wir eine europäische Zukunft! Wir GRÜNE wol-
len die kommende Bundestagswahl nutzen, um den Politikwech-
sel auch in Europa voranzubringen. Die vollständige Abwahl von
Schwarz-Gelb ist ein wichtiger Schritt, um einen neuen Abschnitt
der europäischen Integration zu beginnen, der das stärker zusam-
menführt, was nur europäisch gemeinsam geleistet werden kann,
ohne die Subsidiarität zu vergessen. Wir wollen aus der EU eine
Vorreiterin in friedlicher Nachbarschaft machen, im Klimaschutz
und im nachhaltigen Wirtschaften, und ihre Vorreiterrolle in Bezug
auf die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern ausbauen.
Wir kämpfen mit allen Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam dafür,
dass es wieder gerechter zugeht in Deutschland, Europa und der
Welt.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
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282
Unser gemeinsames Europa1. Für ein europäisches Deutschland
Um Europa herum steht die Welt nicht still. Aber sie dreht sich auch
nicht mehr so viel um Europa wie früher. Europas Rolle in der Welt
ändert sich. Europa muss seine Verantwortung neu finden. Dabei
gilt: Europa gewinnt zusammen – oder verliert. In Zeiten der Globa-
lisierung, angesichts endlicher Ressourcen und einer Klimakatastro-
phe, deren Ausmaß immer deutlicher wird, kann kein europäischer
Nationalstaat die Probleme im Alleingang lösen. Dies geht nur ge-
meinsam – mit der EU und mit starken demokratischen europäi-
schen Institutionen.
Auch wirtschaftlich profitiert Deutschland von einer starken EU.
60 % der deutschen Exporte gehen in andere EU-Mitgliedsländer.
Ohne die Stärke des Binnenmarktes wäre die deutsche Wettbe-
werbsfähigkeit auch international kaum zu sichern. Schon aus wirt-
schaftlichem Eigeninteresse darf Deutschland daher Europas südli-
che Mitgliedsländer nicht hängen lassen. Doch der Rolle als größtes
und wirtschaftlich stärkstes EU-Mitgliedsland wird Deutschland
politisch in keiner Weise gerecht. Seit Anbeginn der Finanz- und
Staatsschuldenkrise blockierte oder verzögerte Kanzlerin Merkel
notwendige Reformschritte und setzte einseitig auf „Sparen, spa-
ren und nochmal sparen“, statt eine Balance in einer Politik der So-
lidität, Solidarität und Nachhaltigkeit zu finden. Damit hat sie die
Krise verschärft und die finanziellen Risiken der europäischen Steu-
erzahlerInnen vervielfacht.
Wir GRÜNE werben stattdessen für ein europäisches Deutsch-
land innerhalb einer Wirtschafts- und Solidarunion. Das haben wir
im Kapitel „Anders wirtschaften“ bereits ausführlich beschrieben.
Darüber hinaus braucht die EU einen gestärkten Haushalt, der den
wachsenden Aufgaben der Union Rechnung trägt. Wir brauchen
eine klare Prioritätensetzung, die die Ausgaben in den Bereichen
mit europäischem Mehrwert stärkt. Wir wollen nicht, dass agroin-
dustrielle Großbetriebe oder ein sinnloses Projekt wie der Fusions-
reaktor ITER mit Milliarden subventioniert werden, während immer
mehr bäuerliche Kleinbetriebe aufgeben müssen oder für das Eras-
mus-Programm zu wenig Mittel zur Verfügung stehen. Im Sinne
haushaltspolitischer Subsidiarität muss die EU ihre Schwerpunkte
dort setzen, wo sie Gelder besser und effizienter ausgeben kann alsTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
283
Unser gemeinsames Europadie einzelnen Mitgliedsstaaten. Der Eigenmittelanteil muss erheb-
lich ausgeweitet und die intransparenten Rabattregelungen abge-
schafft werden. Die Mitgliedsstaaten müssen ihren Zusagen nach-
kommen und die EU mit den entsprechenden Mitteln versorgen,
um die sich verschärfende Zahlungskrise zu beenden und drohende
Zahlungsausfälle bei den EU-Förderprogrammen zu vermeiden.
Schengen und die damit verbundene Reisefreiheit sind zentrale
Grundpfeiler der EU und müssen vor populistischer Stimmungsma-
che durch die schwarz-gelbe Koalition geschützt werden. Mitglieds-
staaten dürfen die Reisefreiheit nicht im Alleingang einschränken.
Wir GRÜNE wollen, dass die Wiedereinführung von Grenzkontrol-
len im Schengenraum allerletztes Mittel bleibt und nur gemeinsam
auf europäischer Ebene entschieden und überprüft werden darf;
verstärkte Einwanderung ist für uns definitiv kein Grund für die
Schließung der Binnengrenzen. Genauso wichtig ist uns die Wah-
rung der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit in der EU. Wir machen
nicht mit beim schwarz-gelben Populismus gegen Menschen aus
Zentraleuropa. Wir weisen besonders die Diskriminierung von
Roma zurück. Alle EU-BürgerInnen, gleich welcher Herkunft oder
Ethnie, sollen auch in Zukunft die Möglichkeit haben, sich in einem
anderen EU-Land Arbeit zu suchen. Herausforderungen wie mas-
sive Armut und Arbeitslosigkeit, Diskriminierung oder Korruption
müssen wir gemeinsam europäisch und in Zusammenarbeit mit
den entsprechenden nationalen und regionalen Akteuren angehen,
statt zentrale Rechte von UnionsbürgerInnen zu beschneiden.
Entgegen der Position anderer Parteien ist für uns GRÜNE die
Erweiterung der Europäischen Union nicht abgeschlossen. Wir ste-
hen zu der Erweiterungsagenda von Thessaloniki und wollen alle
Staaten des westlichen Balkans ohne Änderung ihrer Grenzen in
die EU integrieren. Die Erweiterungspolitik ist für uns eine Erfolgs-
geschichte – auch wenn in der Vergangenheit Fehler gemacht wur-
den. Deswegen unterstützen wir die Forderung, dass der Beitritt
jedes einzelnen Landes von dem konkreten Fortschritt im Beitritts-
prozess abhängig gemacht wird. So ist die Erweiterungspolitik ein
Instrument für Frieden und Stabilität, aber auch für Rechtsstaat,
Freiheitsrechte, Demokratie, Sozialstandards und Umweltschutz
auf dem Kontinent Europa. PartnerInnen in diesem Prozess sind vor
allem die Zivilgesellschaft und progressive AkteurInnen, die noch
stärker unterstützt werden müssen. Die neuen Verfahren könnenZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
284
Unser gemeinsames Europaauf dem westlichen Balkan aber dazu führen, dass gerade die Staa-
ten, die unter den Kriegen des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhun-
derts am meisten zu leiden hatten, noch am weitesten von einem
EU-Beitritt entfernt sind. Daher wollen wir neue Transitionsverfah-
ren etablieren, um nicht neue unüberwindbare Grenzen mitten in
der Region zu schaffen.
Die Europäische Union muss, 50 Jahre nach dem entsprechen-
den Assoziationsabkommen, endlich für neuen Schwung in den
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sorgen. Diese müssen fair,
ergebnisorientiert und auf Augenhöhe geführt werden. Für uns
stehen hierbei Demokratie und Menschenrechte vor Ort im Vor-
dergrund. In der Türkei gibt es nach wie vor Defizite, z. B. im Fall
von Pressefreiheit, Frauenrechten und Minderheitenschutz. Gerade
ein ernsthafter Beitrittsprozess verspricht jedoch den meisten Re-
formerfolg. Bei den bestehenden Kriterien darf es keine Abstriche
geben. Das Ziel der Verhandlungen ist der Beitritt, sobald diese
Kriterien erfüllt sind. Wir wollen die Zugehörigkeit zur EU nicht
von religiösen Identitäten abhängig machen. Ungeachtet dessen
muss die EU in der Gestaltung ihrer Nachbarschaftspolitik aktiver
werden. Auch den Menschen in den Staaten östlich der EU und im
Mittelmeerraum muss ein menschenwürdiges Leben in einem de-
mokratischen Rechtsstaat ermöglicht werden. Die demokratischen
Reformbemühungen in Nordafrika und der arabischen Welt sollte
die Europäische Union im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik un-
terstützen. Wir wollen, dass sich Deutschland für Erleichterungen
bei der Visavergabe, dem Marktzugang und der Arbeitsmigration
einsetzt sowie den Austausch in den Bereichen Bildung, Sport und
Kultur mit dieser Region fördert. Die Liberalisierung der europä-
ischen und deutschen Visapolitik ist ein entscheidender Schlüssel
für Reformanstöße und gesellschaftlichen Wandel außerhalb der
Europäischen Union. Deswegen setzen wir uns auch in den Staaten
östlich der EU für eine weitere Unterstützung der demokratischen
Reformbemühungen ein und wollen, dass Deutschland sich im Rah-
men der EU für die generelle Überprüfung der Visumspflicht der
einzelnen Staaten starkmacht und insbesondere darauf hinwirkt,
dass die Visumspflicht für Menschen aus den Ländern der Östlichen
Partnerschaft, Russland, Kosovo und der Türkei zügig aufgehoben
wird. Grundsätzlich stehen wir für eine starke gemeinsame europä-
ische Außen- und Menschenrechtspolitik.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
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285
Unser gemeinsames Europa2. Für ein demokratisches Europa
Unsere Antwort auf das „Europa der nationalen Regierungen“ ist
eine gestärkte europäische Demokratie, deren Weg transparent
und mit den Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet wird. Die europä-
ische Demokratie wird oft so beschrieben, als bestehe sie nur aus
einem Demokratiedefizit. Dieses Zerrbild lebt auch von der Polemik
derjenigen, die für alles, was schiefgeht, regelmäßig „Europa“ die
Verantwortung zuschieben, während dies ja de facto nie ohne die
Mitwirkung der Nationalstaaten geschieht. Doch es gibt tatsäch-
lich Demokratiedefizite. Eines liegt – auf der nationalen Ebene; es
besteht in der intransparenten Europapolitik der Regierungen, die
versuchen sich der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. Der
Bundestag hat hier jedoch – insbesondere auf grünes Betreiben –
schon viele Verbesserungen durchgesetzt. Ein zweites Demokratie-
defizit entsteht aus dem gerade von der Bundesregierung betrie-
benen intergouvernementalen Herangehen an mehr europäische
Zusammenarbeit, wodurch das Europaparlament um seine Kont-
rollverantwortung gebracht wird. Auch die Institutionalisierung
der Eurogruppe zu Lasten der demokratischen Institutionen wirkt
in diese Richtung. Der Gemeinschaftsmethode ist grundsätzlich
Vorrang vor intergouvernementalem Handeln einzuräumen. Wie
in der Vergangenheit kann es notwendig sein, im Einzelfall vorü-
bergehend unterschiedliche Geschwindigkeiten der Integration zu
entwickeln. Dabei ist es wichtig, dass die Institutionen und Regeln
des Gemeinschaftsrechts der Rahmen der Zusammenarbeit sind.
Unsere grüne Strategie für mehr Demokratie in der EU setzt auf
eine starke Allianz der Parlamente aller Ebenen – und auf die aktive
Einmischung der EuropäerInnen. Deswegen haben wir uns von An-
fang an für die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative stark
gemacht. Diese wollen wir weiter stärken und mittelfristig in Rich-
tung eines europäischen Volksentscheides entwickeln. Bei der ins-
titutionellen Weiterentwicklung bauen wir auf einen öffentlichen
Europäischen Konvent zur Zukunft der EU. Er darf aber nicht zum
Expertenzirkel verkommen. Stattdessen sollen unter dem Vorsitz
des Europäischen Parlaments Vertreterinnen und Vertreter der EU-
Kommission, der nationalen Parlamente und Regierungen sowie
der Zivilgesellschaft und SozialpartnerInnen zusammentreten, umZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
286
Unser gemeinsames Europadie Verfasstheit der Europäischen Union unter dem Gesichtspunkt
einer effektiveren und breiter legitimierten Arbeitsweise insbeson-
dere zu institutionellen Fragen sowie in den Bereichen Wirtschaft,
Haushalt, Finanzen, Soziales und Demokratie zu erarbeiten. Der
Konvent muss in seiner Zusammensetzung der TeilnehmerInnen die
Gesellschaft widerspiegeln.
Um die Mitbestimmung der europäischen BürgerInnen auf allen
politischen Ebenen zu gewährleisten, wollen wir die Unionsbürger-
schaft ausbauen. Wir treten dafür ein, dass alle EU-BürgerInnen das
Wahlrecht in dem Mitgliedsstaat erhalten, in dem sie ihren ständi-
gen Wohnsitz haben, und dies nicht nur für Kommunalparlamente
und das Europaparlament, sondern auch bei regionalen und natio-
nalen Wahlen, wenn sie seit fünf Jahren dort leben.
Das Europäische Parlament soll endlich das Recht erhalten, ei-
gene Gesetzesinitiativen vorzuschlagen und den/die EU-Kommissi-
onspräsidentIn zu wählen. So soll es zum zentralen Debatten- und
Entscheidungsort der europäischen Politik werden und muss volles
Mitentscheidungsrecht in allen Politikbereichen erhalten. Wenn die
EU mehr Kompetenzen erhalten soll, muss das mit mehr Kontroll-
rechten für das Europäische Parlament einhergehen. Wo die EZB
als Bankenaufsicht tätig ist, muss die demokratische Rechenschafts-
pflicht der EZB gegenüber dem Europaparlament erhöht werden.
Das Parlament muss ein Mitspracherecht bei den Krisenmechanis-
men und der Economic Governance erhalten.
Die Parteien sollen bei Europawahlen künftig Spitzenkandida-
tInnen nominieren, unter denen nach der Wahl entsprechend ih-
rem Ergebnis der/die EU-KommissionspräsidentIn gekürt werden
soll. Wir treten damit auch für eine stärkere Personalisierung der
Europawahl ein. Zusätzlich zu den jeweils national bestimmten
KandidatInnen soll deshalb ein Teil der Abgeordneten über trans-
nationale Listen gewählt werden. Auch müssen starke Regeln ein-
geführt werden, die die Transparenz der europäischen Institutionen
erhöhen und den großen Einfluss der Unternehmenslobby in Brüssel
eindämmen.
Zu einem demokratischen Europa gehört jedoch mehr als Refor-
men der Arbeitsweise der Europäischen Union. Viel zu oft hat die
EU wie ein Papiertiger agiert, wenn Menschenrechte in Mitglieds-
ländern verletzt wurden und etwa die Pressefreiheit systematischTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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287
Unser gemeinsames Europaeingeschränkt oder Roma aufs Schlimmste diskriminiert wurden.
Die Kommission sollte daher viel öfter die bestehenden Möglich-
keiten nutzen, Gelder einzufrieren, wenn Mitgliedsländer gegen
elementare Werte der Union verstoßen. Außerdem sollte diese
Möglichkeit auf alle Teile des Unionshaushalts ausgedehnt werden.
Statt die EU-Außengrenzen immer weiter hochzurüsten und
stillschweigend zu tolerieren, dass Jahr für Jahr tausende Flücht-
linge auf dem Weg in die EU im Mittelmeer ertrinken, wollen wir
unser außen- und entwicklungspolitisches Handeln stärker darauf
ausrichten, die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen
Ursachen von Flucht und Vertreibung zu bekämpfen. Etwa durch
Vereinfachung von finanziellen Transfers („Rücküberweisungen“)
und die Möglichkeit, durch längeren Aufenthalt im Herkunftsland
die wirtschaftliche Situation vor Ort positiv zu beeinflussen, ohne
dabei aufenthaltsrechtliche Konsequenzen in Kauf nehmen zu müs-
sen. Wir wollen ein faires Asylsystem schaffen und legale Zuwan-
derung ermöglichen. FRONTEX leistet dies nicht. Deshalb fordern
wir einen institutionellen Neuanfang. Wir wollen eine gemeinsame
Grenzpolitik der EU, welche die rechtlichen Normen Europas wahrt,
die Menschenrechte garantiert, das Recht auf Asyl durchsetzt,
Flüchtlinge aus Seenot rettet und durch das Europäische Palament
kontrolliert wird. Kostenintensive und aus daten- und menschen-
rechtlichen Gründen höchst bedenkliche Vorschläge wie Eurosur
und „smart borders“, die die Abschottung der EU zementieren,
lehnen wir daher ebenfalls ab. Wir wollen zudem die Regelung ab-
schaffen, nach der Flüchtlinge nur in denjenigen EU-Staaten auf-
genommen werden können, in denen sie als Erstes angekommen
sind (Dublin-II-Abkommen). Flüchtlinge sollen selbst entscheiden,
wo sie Asyl beantragen. Zudem brauchen wir einheitliche, hohe
Asylstandards in allen Mitgliedsländern. Wir werden in Brüssel eine
Roadmap für ein EU-weites solidarisches Asylsystem initiieren, mit
dem alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen Verantwortung über-
nehmen und das Flüchtlingen ein Leben in Würde in ganz Euro-
pa ermöglicht. Zudem braucht es eine rechtliche Verankerung des
Schutzes von Umwelt- und Klimaflüchtlingen in der EU und welt-
weit, aufbauend auf bereits bestehenden lokalen und regionalen
Initiativen sowie Entschlüssen der internationalen Gemeinschaft auf
VN-Ebene.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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288
Unser gemeinsames EuropaZu einem demokratischen Europa gehört eine starke und leben-
dige Zivilgesellschaft. Mit einem freiwilligen Europäischen Jahr für
alle – für junge wie für ältere Menschen – können wir eine euro-
päische Zivilgesellschaft noch weiter stärken und alle mitnehmen.
Deshalb fordern wir einen umfassenden Ausbau eines europäischen
Freiwilligendienstes für alle Generationen, getragen von zivilgesell-
schaftlichen Organisationen, und eine gute finanzielle Grundaus-
stattung durch öffentliche Mittel.
3. Für eine europäische Energiewende
Mit der deutschen Ausstiegsentscheidung sind die Risiken der
Atomtechnologie noch nicht gebannt. Die Bundesregierung muss
sich für einen EU-weiten Atomausstieg einsetzen. Sie muss ihre
Möglichkeiten nutzen, um den Neubau von Atomkraftwerken zu
verhindern, und energiepolitische Alternativen aufzeigen. Solange
in der EU noch Atomkraftwerke betrieben werden, müssen für alle
verbindliche Sicherheitsstandards auf dem Stand von Wissenschaft
und Technik gelten. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, die Bür-
gerinnen und Bürger bei grenznahen Neubauprojekten von Atom-
kraftwerken in Nachbarstaaten zu informieren und Einwände der
Bevölkerung gegenüber den Nachbarstaaten zu vertreten.
Die deutsche Energiewende soll Europa ökologisch-innovative
Impulse geben. Dazu muss sie aber auch gut in die gesamteuro-
päische Energielandschaft integriert werden. Dafür brauchen wir
eine europäische Energieinfrastruktur, einen funktionierenden
Emissionshandel, einen integrierten europäischen Energiemarkt mit
funktionierendem Wettbewerb und eine konsequent auf niedrigen
CO2-Ausstoß setzende europäische Industriepolitik. Wir setzen uns
für umfassende europäische Investitionen zur energetischen Nut-
zung von Sonne und Wind und zur Förderung von Energieeffizienz
und -einsparung ein, vor allem in den von der Eurokrise stark be-
troffenen südeuropäischen Regionen. Mit einer europäisch voran-
getriebenen Energiewende wollen wir gleichzeitig zukunftsfähige
Beschäftigungsfelder schaffen. Auch die groß angelegte Subven-
tionierung von fossilen und atomaren Energieträgern muss been-
det werden. Die deutsche Energiewende braucht die europäischeTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
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289
Unser gemeinsames EuropaEbene, um zu funktionieren, und für die Energiewende in der EU
brauchen wir endlich eine Bundesregierung, die den Umbau des
Energiesektors auch auf EU-Ebene engagiert vertritt.
Die Mitgliedsstaaten der EU haben allein 2011 für den Import
von Erdöl mehr als 400 Mrd. US-Dollar bezahlt. Gleichzeitig ist
der Ehrgeiz beim Ausbau der Erneuerbaren und bei der Steigerung
der Energieeffizienz verflogen. Auch beim Klimaschutz kann von
einer europäischen Vorreiterrolle kaum mehr die Rede sein. Die Po-
litik der EU, das von ihr mit beschlossene Ziel, die Schwelle von 2
Grad weltweiter Klimaerwärmung nicht zu überschreiten, ist längst
zur Farce verkommen. Allen Risiken zum Trotz hält eine politische
Mehrheit aus Konservativen, Sozialisten und Liberalen am alten
Energiemix auf der Basis der Hochrisikotechnologie Atomkraft und
dreckiger Kohle fest.
Statt den alten Konzepten und Lobbyinteressen weiter hinter-
herzurennen, wollen wir ein Europa, das auf Energieeinsparung,
Energieeffizienz und Erneuerbaren Energien aufbaut. Damit können
wir Umwelt- und Naturschutz europaweit vorantreiben, Energiear-
mut abfedern, werden unabhängig von teurer werdenden fossilen
Energieträgern, schaffen die nötigen Anreize für technische Innova-
tionen und damit neue Arbeitsplätze im Rahmen unseres europäi-
schen Green New Deals. Zudem ist eine bessere Koordinierung der
europäischen Netzstruktur eine Möglichkeit, die Schwankungen
der Erneuerbaren Energien auszugleichen. Mit business as usual
werden wir das jedoch nicht schaffen. Deswegen setzen wir uns für
eine Europäische Gemeinschaft für Erneuerbare Energien (ERENE)
ein. Zudem sollten auch die Nachbarstaaten der EU, und dabei ins-
besondere die Beitrittskandidaten, in den Umbau der Energiesyste-
me mit einbezogen werden. Auch wollen wir noch im Vorfeld des
kommenden UN-Klimagipfels 2013 in Warschau das derzeitige Ziel,
den EU-weiten CO2-Ausstoß bis 2020 um 20 % zu reduzieren, auf
mindestens 30 % erhöhen. Zudem treten wir für die Abschaffung
von Euratom ein. Solange es keine Mehrheit für die Abschaffung
des Euratom-Vertrages gibt, setzen wir uns für eine Reform von
Euratom und eine Überführung in den EUV ein, um Euratom endlich
der demokratischen Kontrolle zu unterstellen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
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290
Unser gemeinsames Europa4. Für ein soziales Europa der Bürgerinnen und Bürger
Einer der größten Skandale in Europa heute ist die grassierende
Jugendarbeitslosigkeit in vielen Mitgliedsländern. In Spanien und
Griechenland sind mehr als 50 % der am besten ausgebildeten
Generation, die diese Länder je kannten, seit längerem arbeitslos.
Auf europäischer Ebene haben wir GRÜNE uns deswegen für eine
Jugendgarantie eingesetzt, nach höchstens vier Monaten Arbeits-
losigkeit eine Beschäftigung, Lehrstelle oder Weiterbildung ange-
boten zu bekommen. Deren Verwirklichung – das heißt vor allem
deren Finanzierung – können wir aber nicht den jeweiligen Län-
dern selbst überlassen. Denn denjenigen, die eine solche Garantie
am meisten brauchen, stehen die wenigsten Mittel zu Verfügung.
Der neu eingerichtete EU-finanzierte Sonderfonds, der in Regionen
mit sehr hoher Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt wird, ist ein erster
Schritt, der jedoch nicht ausreicht. In Solidarität mit den Mitglieds-
staaten sollte der Fonds so lange aufrechterhalten und gegebenen-
falls erhöht werden, bis die Arbeitslosigkeit unter der Jugend signi-
fikant und dauerhaft zurückgeht.
Die europäische Einigung lebt grundsätzlich davon, dass die
Menschen, die Regionen und die Staaten in Europa füreinander
einstehen. Dem Grundprinzip der europäischen Solidarität und der
gemeinsamen sozialen Absicherung kommt in der derzeitigen Kri-
se ein besonderer Stellenwert zu. Angesichts einer sich europaweit
öffnenden Schere zwischen Arm und Reich reicht es nicht, nur am
nationalen Rad zu drehen! Europa krankt heute an Unterbietungs-
wettbewerben bei Löhnen, Steuern und sozialen Standards.
Deswegen wollen wir eine soziale Fortschrittsklausel im EU-
Primärrecht einführen, die eine stärkere Balance gegenüber den
Grundfreiheiten des Marktes herstellt. Außerdem wollen wir das
Armutsgefälle verringern, das Einkommensgefälle zwischen den
Mitgliedsstaaten abschwächen und die Lohnunterschiede zwischen
Frauen und Männern minimieren. Zu einem sozialen Europa ge-
hören für uns außerdem gemeinsame soziale Mindeststandards,
wie ein Mindestlohn und eine Grundsicherung, die sich jeweils am
nationalen BIP orientieren, sowie das Recht auf eine gute Gesund-
heitsversorgung. Gerade in Zeiten, in denen immer mehr Menschen
während ihres Berufslebens in unterschiedlichen EU-Mitglieds-Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
291
Unser gemeinsames Europaländern tätig sind, wollen wir eine verbesserte Anrechnung von
Renten- und Arbeitslosenansprüchen erreichen und dafür sorgen,
dass eine gute Gesundheitsversorgung nicht nur ein Privileg we-
niger ist.
Wir stehen für eine andere – eine faire – europäische Steuerpo-
litik, die den Steuerwettlauf innerhalb Europas eindämmt und Steu-
ervermeidung, Steuerhinterziehung und Steuerdumping verhindert.
Das haben wir im Kapitel „Besser haushalten – Ökologisch, gerecht
und wirtschaftlich vernünftig: die grüne Steuerpolitik“ sehr genau
beschrieben.
Auch mit Blick auf die Krise in den Euroländern wollen wir eine
fundamentale Abkehr vom Kurs der Merkel-Regierung, der nur zu
mehr Ungerechtigkeit führt. Was wir anders machen wollen, ha-
ben wir im Kapitel „Anders wirtschaften – Die Krise überwinden“
sehr genau beschrieben. So könnten nicht nachhaltige wirtschaft-
liche Entwicklungen in Form eines sogenannten Booms oder eine
die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts bedrohende Rezession
zum wechselseitigen Vorteil gelindert werden. Im Gegensatz zur
Bundesregierung sind wir in Europa gegenüber einer Weiterent-
wicklung innovativer Modelle offen und bringen neue Konzepte zur
Abwehr der Krisengefahr mit auf den Weg.
5. Für Entscheidungen auf der richtigen Ebene
Mehr Mut zu Europa heißt für uns, entschlossen auf EU-Ebene vo-
ranzugehen, wo gemeinsames Handeln notwendig und sinnvoll ist.
Mehr Europa heißt für uns aber nicht, dass die EU oder gar Brüssel
in Zukunft alles regeln soll. Wir wollen, dass diejenige Ebene ent-
scheidet, die bei der jeweiligen Herausforderung am besten, bür-
gernah und mit der höchsten Legitimität agieren kann. Ein starkes
Europa steht für uns weder in Konkurrenz noch im Widerspruch
zu handlungsfähigen Kommunen, Regionen, (Bundes-)Ländern
und Nationalstaaten. Es kommt vielmehr darauf an, dass die un-
terschiedlichen Ebenen zusammenarbeiten. Dies bedeutet für die
Praxis, dass die europäischen Institutionen viel stärker und früher
als bisher alle politischen Ebenen durch Anhörungs- und Einfluss-
rechte in die eigene Gesetzgebung einbinden sollen. Gleiches giltZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
292
Unser gemeinsames Europafür die nationale Ebene, die in vielen Fällen europäische Vorgaben
in die nationalstaatliche Gesetzgebung implementiert und die Kri-
terien für die Vergabe von EU-Mitteln mitbestimmt. Das bedeutet
auch, dass Kompetenzverlagerung keine Einbahnstraße ist. So wie
es in vielen Bereichen sinnvoll ist, mehr Souveränität nach Europa zu
verlagern, so lassen sich manche Bereiche besser national, regional
oder lokal regeln. Deshalb sind wir grundsätzlich dafür, Kompeten-
zen auf untere Ebenen zurückzugeben, wenn es sachlich sinnvoll
erscheint – auch das gehört zum Prinzip der Subsidiarität.
Wer GRÜN wählt …
• kämpft mit uns für ein solidarisches Europa und eine
europäische Jugendgarantie.
• steht dafür ein, dass für den Westbalkan und die Türkei eine
glaubwürdige Beitrittsperspektive aufrechterhalten wird.
• vertieft das demokratische Europa, das die Bürgerinnen und
Bürger teilhaben lässt und in dem das Europäische Parlament
eine starke Rolle spielt.
• sagt Ja zu einem Europa der Erneuerbaren Energien und des
Klimaschutzes.
• setzt sich für einen besseren Schutz von Flüchtlingen und
MigrantInnen ein und dafür, dass Menschenrechte an den
EU-Außengrenzen gewahrt werden.
• bekommt eine Politik, die kein deutsches Europa, sondern
ein europäisches Deutschland will.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
293
Unser gemeinsames EuropaSchlüsselprojekte
Für ein demokratisches und bürgernahes Europa –
Europäische Bürgerinitiative weiterentwickeln und einen
Europäischen Konvent einberufen
Die Europäische Union hat demokratischen Nachholbedarf. Wir
wollen den Dialog in und über Europa und unsere gemeinsame Zu-
kunft stärken. Dazu gehören eine intensivere Beteiligung der Bür-
gerinnen und Bürger und eine breite gesellschaftliche Debatte in
ganz Europa. Wichtige europäische Fragen dürfen nicht in Hinter-
zimmern der nationalen Staats- und Regierungschefs ausgeklüngelt
werden. Daher setzen wir uns für eine Stärkung des Europäischen
Parlaments und der nationalen Parlamente ein. Dazu fordern wir
einen europäisierten und personalisierten Wahlkampf zum Europä-
ischen Parlament ebenso wie mehr Mitspracherechte der Bürgerin-
nen und Bürger. Außerdem wollen wir die Europäische Bürgerini-
tiative ausbauen und mittelfristig in Richtung eines europäischen
Volksentscheides weiterentwickeln. Als weiteren Schritt wollen wir
in einem öffentlichen, parlamentarisch geprägten Europäischen
Konvent unter Beteiligung der Zivilgesellschaft und Sozialpartne-
rInnen unter Führung des Europäischen Parlaments Vorschläge zur
Weiterentwicklung der EU diskutieren.
Für ein solidarisches Europa – Steuervermeidung und
Steuerhinterziehung mit einem europäischen Steuerpakt
bekämpfen
Auf die sich europaweit öffnende Schere zwischen Arm und Reich
reicht es nicht, nur national, sondern es gilt, auch europäisch zu
reagieren. Für ein sozialeres Europa braucht es nicht nur Solidarität
zwischen den Regionen, sondern vor allem Maßnahmen dafür, dass
sich Finanzstarke nicht mit Hilfe des freien Binnenmarktes aus der
gemeinsamen Solidarität verabschieden können. Durch Steuerdum-
ping und Steuerflucht geht den öffentlichen Kassen in Europa jedesZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
294
Unser gemeinsames EuropaJahr etwa eine Billion Euro verloren. Wir wollen Schluss machen mit
dem Unterbietungswettbewerb bei Löhnen, Steuern und sozialen
Standards. Dafür brauchen wir gemeinsame europäische Regelun-
gen, wie soziale Mindeststandards, eine soziale Fortschrittsklausel
und einen europäischen Steuerpakt. Der Steuerpakt besteht aus
einer EU-weit koordinierten Vermögensabgabe und einer gemein-
samen Bemessungsgrundlage sowie einem Mindestsatz bei der
Unternehmensbesteuerung und einem Mindestsatz für die Körper-
schaftsteuer. Zentrale Aufgabe ist zudem, Europas Steueroasen end-
lich zu schließen. Auch treiben wir die Besteuerung von Ressourcen,
z. B. durch eine Anhebung der Energiebesteuerung, voran.
Für ein menschliches Europa – eine solidarische
Asylpolitik in allen Mitgliedsstaaten etablieren
Die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik ist repressiv, unsolida-
risch und auf Abschottung ausgerichtet. Der Verschiebebahnhof und
die einseitige Verantwortung für europäische Flüchtlinge zu Lasten
von Griechenland und anderen EU-Mittelmeerländern, die mit dem
Dublin-System zementiert wurden, führen zu unterschiedlichen
Standards und müssen deshalb gestoppt werden. Wir wollen, dass
Deutschland dafür in Europa mit gutem Beispiel vorangeht: mit der
sofortigen Abschaffung der Abschiebehaft für Dublin-Flüchtlinge
in Deutschland, mit einem Stopp der Abschiebung von Flüchtlingen
in EU-Länder, in denen sie unter unwürdigen Bedingungen leben
und wie Kriminelle in geschlossene Unterkünfte gesperrt werden,
mit der solidarischen Aufnahme von Asylsuchenden aus den eu-
ropäischen Flüchtlingshochburgen und mit einer stärkeren Beteili-
gung am Resettlement-Programm der EU. Wir werden in Brüssel
außerdem eine Roadmap für ein EU-weites solidarisches Asylsystem
initiieren, mit dem alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen Verantwor-
tung übernehmen und das Flüchtlingen ein Leben in Würde in ganz
Europa ermöglicht.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
295
Unsere Eine WeltS. Unsere Eine Welt
Wie wir Frieden und Menschenrechte, Freiheit
und globale Gerechtigkeit stärken können
Im Mittelpunkt unserer grünen internationalen Politik steht der
Mensch und nicht der Staat. Ob Klimakrise oder Ressourcenkrise,
ob Hunger oder Finanzkrise, ob zerfallende Staaten oder Aufrüs-
tung. Keine dieser Fragen mitsamt den daraus folgenden Gefahren
kann heute noch von einem Land allein bewältigt werden. Frieden,
Gerechtigkeit, Freiheit und der Schutz der globalen öffentlichen
Güter stehen allen Menschen gleichermaßen zu und können nur
gemeinsam erreicht werden. Die Wahrung der Menschenrechte
und die Verhinderung von schwersten Menschenrechtsverletzun-
gen haben für uns eine besondere Priorität.
Immer noch sind die Güter der Erde und der Wohlstand äußerst
ungleich verteilt. Immer noch lebt ein Teil der Menschheit auf Kos-
ten des anderen. Immer noch sterben hunderte Menschen täglich
in bewaffneten Konflikten weltweit. Der brutale Bürgerkrieg in Sy-
rien ist schon fast aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwun-
den, erst recht Gewaltakte und Auseinandersetzungen im Kongo, in
Zentralafrika, im Irak oder in Libyen. Ungerechtigkeit, Ausbeutung,
Krieg, Hunger, eine brutale Umweltzerstörung und verheerende
Folgen der Klimakatastrophe gerade für die ärmsten Regionen und
vor allem zu Lasten der Frauen – all das gehört keineswegs der Ver-
gangenheit an, sondern prägt die Gegenwart. Arm und Reich drif-
ten weltweit dramatisch auseinander. Wir wollen eine gerechtere
Verteilung des Reichtums in der Welt erreichen. Wir in den Indus-
trieländern müssen dabei unserer Verantwortung gerecht werden
und aufhören, auf Kosten der Armen zu leben. Den Wandel müssen
wir gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern angehen.
Global denken – lokal handeln: Ohne die Beteiligung der Bürge-
rinnen und Bürger ist globale Gerechtigkeit nicht zu verwirklichen.
Deshalb wollen wir das Bewusstsein für globale Zusammenarbeit
durch entwicklungspolitische Bildung und kommunale Nord-Süd-
Partnerschaften stärken.Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
296
Unsere Eine WeltDabei gilt es, auf Weltbevölkerungswachstum, Verstädterung
oder eine rasant wachsende globale Mittelschicht und die damit
verbundenen konsumorientierten Lebensstile weltweit zu reagie-
ren. Wir möchten, dass die internationale Gemeinschaft diese
Herausforderungen mit geteilten, aber unterschiedlichen Verant-
wortlichkeiten angeht. Es geht um nichts weniger als um einen
grundlegenden Umbau in der Weltwirtschaft, um eine Neuvermes-
sung des Verhältnisses von Ökonomie und Ökologie, von markt-
getriebener Dynamik und politischer Regulierung, von ressourcen-
schonender Produktion und gerechter Verteilung auch zwischen
den Geschlechtern. Es geht um eine „große Transformation“.
Der Sturz autoritärer Regime in Nordafrika, der Protest gegen
Gewaltherrschaften insbesondere in der arabischen Welt sowie
Hunger- und Naturkatastrophen in Ländern fragiler Staatlichkeit
zwingen die deutsche und europäische Politik zu einer grundle-
genden Hinterfragung ihrer bisherigen Grundsätze. Oftmals wur-
den wirtschaftliche Interessen und vermeintliche Stabilität vor der
Förderung von Demokratie und Menschenrechten als wichtiges
Ziel definiert, und dafür wurden auch Bündnisse mit autoritären
Regimen eingegangen. Dass Schwarz-Gelb diese Politik mit Waf-
fenlieferungen an Saudi-Arabien und weitere autoritäre Staaten
fortsetzt, ist so skandalös wie verantwortungslos. Und es ist das
Gegenteil einer wertebasierten Außen- und Sicherheitspolitik, die
auf dem Schutz und der Förderung der Menschenrechte beruht.
Es geht darum, zivile Konfliktbearbeitung zu stärken, um die
tatsächlichen Ursachen von Gewalt anzugehen. Friedliche und zi-
vile Mittel haben für uns immer Vorrang vor militärischen. Unse-
re friedenspolitischen Grundüberzeugungen gründen sich auf die
Stärkung des Rechts statt auf das Recht des Stärkeren, auf die Be-
wältigung von Krisen durch gestärkte Vereinte Nationen und auf
die gewaltfreie Lösung von Konflikten. Unser Kompass sind Frieden
und der Schutz der Menschenrechte.
Wir wollen, dass Deutschland als verlässlicher Akteur seiner glo-
balen Verantwortung gerecht wird. Neue Formen der internationa-
len Kooperation mit Staaten und der zunehmend international ver-
netzten Zivilgesellschaft wollen wir auf allen Ebenen stärken. Dafür
müssen auch Länder und Kommunen bei der Wahrnehmung ihrer
Verantwortung stärker unterstützt werden. Transnational agieren-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
297
Unsere Eine Weltde Unternehmen müssen in die globale Transformation eingebun-
den und durch klare Regeln zur Einhaltung sozialer, ökologischer
und menschenrechtlicher Standards verpflichtet werden. Solche
Regeln können nicht mehr nur national gedacht, sondern müssen in
einer globalisierten Wirtschaft auch global verankert werden. Wir
wenden uns gegen eine Politik der Renationalisierung der Außen-
und Entwicklungspolitik, wie sie Schwarz-Gelb derzeit betreibt. Die
Bundesregierung setzt einseitig auf kurzfristige nationale Interessen
statt auf eine langfristig gerechte Gestaltung der Globalisierung,
an der alle gleichermaßen teilhaben können und von der alle pro-
fitieren.
Das bedeutet für uns, jetzt die Voraussetzungen für eine Zu-
kunft zu schaffen, in der fairer Welthandel, besserer Klimaschutz
und starke demokratische internationale Institutionen Wirklichkeit
werden. Deshalb setzen wir uns ein für eine klimaneutrale und res-
sourcenschonende Wirtschaftsweise, ohne die es kein Wohlstands-
versprechen für alle geben kann. Deshalb tragen wir dazu bei, den
Welthandel fair zu organisieren. Und deshalb stärken und verbes-
sern wir unsere Entwicklungszusammenarbeit.
Wir werden uns einmischen für globale Gerechtigkeit und den
Schutz der universellen Menschenrechte, die explizit auch die
Rechte der Frauen beinhalten, für die Stärkung der zivilen Krisen-
prävention und Konfliktbearbeitung und gegen Rüstungsexporte.
Niemand sollte auf Kosten der Anderen leben, alle Menschen ha-
ben das Recht auf Frieden, Entwicklung, Freiheit und Würde. Das
verstehen wir unter globaler Gerechtigkeit und Teilhabe aller.
1. Die große Transformation:
Eine Welt macht sich auf den Weg
Wir wollen die Globalisierung gestalten – politisch, ökologisch und
sozial. Die Finanz- und Klimakrise haben einmal mehr die drama-
tischen Auswüchse eines globalen Kapitalismus mit unregulierten
Märkten offengelegt. Wir brauchen eine sozial-ökologische Trans-
formation, durch die unser kohlenstoffbasiertes Wirtschaftssystem
zu einer ressourcenschonenden Nachhaltigkeitsökonomie umge-
baut wird. Dazu müssen wir das Primat der Politik über unregulierteZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
298
Unsere Eine WeltMärkte zurückgewinnen. Märkte brauchen Regeln, damit sie dem
Gemeinwohl dienen. Nur so ist Wohlstand für die wachsende Welt-
bevölkerung möglich und führt wirtschaftliches Wachstum nicht
zum Kollaps. Die Folgen des Klimawandels betreffen schon heute
große Teile der Weltbevölkerung. Die Auswirkungen sind zum Teil
dramatisch: Durch die Veränderung der klimatischen Bedingun-
gen und die Zunahme an Naturkatastrophen entsteht nicht nur
erheblicher materieller Schaden – Menschen müssen fliehen, Ent-
wicklungschancen werden zerstört und Menschenrechte verletzt.
Als Industriestaat müssen wir entschieden vorangehen und unsere
Treibhausgasemissionen bis 2050 um mindestens 80 bis 95 % ge-
genüber 1990 reduzieren. Um die Schwellen- und Entwicklungslän-
der bei ihren Anstrengungen zur Anpassung an den Klimawandel
und zum Schutz des Klimas zu unterstützen, wollen wir Technolo-
gietransfer und das notwendige Know-how zur Verfügung stellen.
Die Kosten der Anpassung an den Klimawandel müssen gerecht
verteilt werden. Dem Grünen Klimafonds (GKF) soll hierbei und bei
der Unterstützung zur CO2-Minderung eine entscheidende Rolle
zukommen. Angesichts der durch den Weltklimarat geschätzten
150 Millionen Klimaflüchtlinge im Jahre 2050 treten wir im Rahmen
einer Klimaaußenpolitik für mehr Klimagerechtigkeit ein.
Rohstoffreichtum in einem Land darf nicht zum Rohstofffluch
für seine Bevölkerung werden. Der Rohstoffabbau geht nur allzu
oft mit massiven Menschenrechtsverletzungen und Umweltver-
schmutzung einher. Deshalb müssen wir in Zeiten knapper werden-
der Ressourcen und daraus resultierender Konflikte überall auf der
Welt umdenken und unseren Rohstoffverbrauch drastisch reduzie-
ren – in Deutschland und international. Wir setzen uns für verbind-
liche soziale, ökologische und menschenrechtliche Standards bei
Abbau, Weiterverarbeitung und dem Handel von Rohstoffen sowie
für Transparenz im Rohstoffbereich ein.
Wir brauchen eine Neuausrichtung der internationalen Handels-
politik nach ökologischen und sozialen Standards. Bilaterale Frei-
handelsabkommen, wie sie die EU derzeit mit verschiedenen Län-
dern verhandelt oder anstrebt, müssen zukünftig so ausgestaltet
werden, dass sie Entwicklung und Menschenrechte stärken. Grund-
sätzlich streben wir eine multilaterale Handelsordnung an. Konkret
bedeutet das zum Beispiel, die EU-Exportsubventionen abzuschaf-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
299
Unsere Eine Weltfen und die EU-Agrarpolitik so zu gestalten, dass durch Dumping-
preise bei Lebensmitteln die Märkte in Entwicklungsländern nicht
ruiniert werden. Gleichzeitig brauchen Produkte aus Entwicklungs-
ländern einen diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen
Markt. Das heißt auch die EU-Fischereiabkommen auf ökologische
und soziale Auswirkungen zu überprüfen und neu zu verhandeln.
Wir brauchen internationale Abkommen, die zu fairen Preisen für
Agrarerzeugnisse und Rohstoffe führen, sowie eine Politik, die die
lokale Produktion von Gütern in den Entwicklungsländern fördert.
Diese handelspolitischen Ziele unterstützen wir auch durch eine
nachhaltige und faire öffentliche Beschaffungspolitik. Für weltwei-
te Steuergerechtigkeit und für die Finanzierung öffentlicher Güter
arbeiten wir daran, Steueroasen zu schließen und global agierende
Unternehmen zu zwingen, dort Steuern zu zahlen, wo sie produzie-
ren und Gewinn machen.
Waldschutz in Entwicklungs- und Schwellenländern heißt nicht
nur Klimaschutz, sondern auch die Sicherung der Lebensgrundla-
gen lokaler Bevölkerungsgruppen. Deshalb setzen wir uns für die
Einigung auf ein globales Programm zum Stopp der Degradierung
und Zerstörung von Wäldern in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern sowie für die Ratifizierung und Umsetzung der ILO-Konventi-
on 169 zur Stärkung der Rechte indigener Völker ein.
Auch die internationale Drogenpolitik muss kohärent nach so-
zialen, ökologischen und menschenrechtlichen Kriterien evaluiert
und neu ausgerichtet werden. Denn bis jetzt fördert sie organisier-
te Kriminalität und trägt damit unter anderem zur Destabilisierung
von Staaten und Weltregionen bei. Wir unterstützen die Initiative
der „Global Commission on Drugs“, die das Ende der verheerenden
Verbotspolitik fordert.
Wir wollen die menschenrechtliche Verantwortung von Un-
ternehmen stärken, indem wir nicht nur auf freiwillige Selbstver-
pflichtungen hoffen, sondern verbindliche Regelungen entwickeln,
die diese Verantwortung festlegen. Dazu gehören Offenlegungs-
pflichten nach starken sozialen und ökologischen Kriterien. Die
Öffentlichkeit muss nachvollziehen können, wie viel Lohn ein Un-
ternehmen seinen Näherinnen in Bangladesch zahlt oder wie es im
Kongo verseuchtes Wasser entsorgt. Dazu gehören auch neue Haf-
tungsregelungen. Und dazu gehören bessere Klagemöglichkeiten inZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
300
Unsere Eine WeltDeutschland und der EU für Opfer von schweren Menschenrechts-
verletzungen, die von deutschen oder europäischen Unternehmen
verursacht wurden.
Die notwendige sozial-ökologische Transformation muss Auf-
gabe der gesamten Bundesregierung sein. Es kann nicht sein, dass
weiterhin Waffenexporte gegen Friedensbemühungen laufen, kli-
maschädliche Subventionen gezahlt oder durch Exportoffensiven
Bemühungen zur Überwindung von Armut und Hunger in Entwick-
lungsländern zunichtegemacht werden.
Wir stehen ein für neue Politikkohärenz im Sinne von Frieden,
Demokratie und einer menschenrechtsbasierten nachhaltigen Ent-
wicklung. Dafür wollen wir regierungsweite Zielvereinbarungen,
mehr Kompetenz für vernetztes Regieren, die Stärkung von Res-
sortkreisen, eine bessere Koordinierung der Außenpolitik durch das
Auswärtige Amt und die Koordinierung der Entwicklungszusam-
menarbeit und aller Entwicklungsgelder durch das Entwicklungs-
ministerium.
Gleichzeitig braucht es eine fraktionsübergreifende Debatte, die
sich mit den Widersprüchen des deutschen Regierungshandelns be-
fasst. Diese Debatte wollen wir in der 18. Legislaturperiode durch
eine Enquete-Kommission „Kohärenz in einer Welt im Wandel“
anstoßen, die eine kritische Bilanz ziehen und Veränderungen vor-
schlagen soll – auch für die Arbeitsstrukturen von Bundesregierung
und Bundestag im europäischen und internationalen Kontext.
2. Eine Welt der Gerechtigkeit
Wir verstehen Entwicklungspolitik als Teil einer globalen Struktur-
politik, die auf eine weltweite menschenrechtsbasierte nachhaltige
Entwicklung zielt. Sie mobilisiert und unterstützt Individuen und
politische AkteurInnen, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, Wissen-
schaft und Kultur für die globale sozial-ökologische Transformation.
Wir wollen, dass alle Menschen in Frieden und Würde leben
können. Deshalb wollen und müssen wir Armut und Ungleichheit
in Zukunft konsequenter bekämpfen, sowohl in den ärmsten, oft
fragilen Staaten als auch in den Ländern mittleren Einkommens, in
denen zwei Drittel der ärmsten Menschen leben. Dazu werden wirTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
301
Unsere Eine Weltbis 2015 verstärkt für die Erreichung der Millenniumentwicklungs-
ziele eintreten. Gleichzeitig arbeiten wir daran, die Entwicklungs-
und Umweltagenda zusammenzubringen, um ab 2015 mit starken,
globalen Nachhaltigkeitszielen weiter für die sozial-ökologische
Transformation zu kämpfen.
Deutschland hat sich vor Jahren dazu verpflichtet, 0,7 % sei-
nes Bruttonationaleinkommens für Entwicklung und humanitäre
Hilfe bereitzustellen. Von diesem Ziel sind wir noch weit entfernt.
Um es zu erreichen, werden wir trotz aller finanziellen Heraus-
forderungen einen klaren Ausgabenschwerpunkt auf die globale
Gerechtigkeit setzen. Wir werden jährlich 1,2 Mrd. Euro zusätz-
lich für die Entwicklungszusammenarbeit und 500 Mio. Euro für
den internationalen Klimaschutz bereitstellen. Wir wollen neue
Finanzierungsinstrumente einsetzen, wie die Einnahmen aus der
Finanztransaktionssteuer und einer erhöhten Flugticketabgabe. Wir
wollen bis zum Ende der nächsten Legislaturperiode das 0,7 %-Ziel
erreichen.
Wir wollen eine zukunftsfähige Entwicklungspolitik gestalten,
die die Überwindung von Armut mit der Stärkung der Menschen-
rechte und dem Schutz der Umwelt und der biologischen Vielfalt
in Einklang bringt. Das Entwicklungsministerium muss sich auf die
globalen Herausforderungen einstellen und soll zu einem Ministe-
rium für internationale Zusammenarbeit und nachhaltige Entwick-
lung werden.
Entwicklungspolitik muss sich angesichts der globalen Heraus-
forderungen umorientieren. Um Friedensentwicklung zu befördern,
wollen wir uns kohärenter in fragilen Staaten engagieren und un-
sere Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern ausbauen.
Konflikte müssen entschärft werden, bevor sie eskalieren und zur
Gewalt führen. Für die weltweite soziale Wende wollen wir gute
Arbeit sowie den Ausbau sozialer Sicherungssysteme und Grund-
dienste zu einem Schwerpunkt unserer Entwicklungszusammenar-
beit machen, um unter anderem das Menschenrecht auf Wasser,
Bildung und Gesundheit sicherzustellen und damit auch den Kampf
gegen HIV/Aids voranzutreiben. Für die globale Agrarwende rü-
cken wir das Recht auf Nahrung ins Zentrum und setzen einen
Schwerpunkt auf die kleinbäuerliche Land- und Viehwirtschaft,
handwerkliche Fischerei und Landlose. Und um die globale Ener-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
302
Unsere Eine Weltgiewende zu forcieren, kämpfen wir gegen Energiearmut und für
Erneuerbare Energie für alle, unter anderem durch einen Wissens-
und Technologietransfer in großem Stil.
Entwicklung braucht Entschuldung! Für einen wirtschaftlichen
Neuanfang der ärmsten Länder sind Entschuldungsinitiativen und
die Streichung insbesondere illegitimer Schulden unerlässlich. Wir
setzen uns für die Schaffung eines internationalen Insolvenzrechts
für Staaten ein, um überschuldete Länder nachhaltig aus der Schul-
denspirale zu befreien.
Wir brauchen aber nicht nur mehr Geld in der Entwicklungszu-
sammenarbeit; wir wollen die Mittel für die Entwicklungszusam-
menarbeit auch effizienter als bisher einsetzen. Die Menschen in
Deutschland sollen wissen, wofür ihre Steuermittel zur Armutsbe-
kämpfung eingesetzt werden. Deswegen wollen wir mehr gemein-
same und transparentere Entwicklungsprogramme in der EU und
den VN unter einer verantwortlichen Einbeziehung unserer Part-
nerländer und der Zivilgesellschaft. Dazu gehört auch, dass wir das
Instrument der Budgethilfe, also der direkten Unterstützung der
öffentlichen Haushalte von Entwicklungsländern, weiterentwickeln
und ausbauen. Die Budgethilfe muss an klare Kriterien im Bereich
Menschenrechte und gute Regierungsführung gebunden werden.
Gleichzeitig muss unsere Politik kohärenter werden. Alle anderen
Politikmaßnahmen mit Auswirkungen auf Entwicklungsländer müs-
sen darauf geprüft werden, ob sie den entwicklungspolitischen Zie-
len in die Quere kommen.
Wir treten an gegen die von Schwarz-Gelb durchgesetzte Re-
nationalisierung der Entwicklungszusammenarbeit. Darum sind wir
für die Aufhebung der 1
/3 : 2
/3 -Quote für das Verhältnis von europä-
ischer und multilateraler zur bilateralen Zusammenarbeit. Weil die
globalen Probleme nicht mehr von einzelnen Staaten allein gelöst
werden können, wollen wir eine deutliche Stärkung der multilatera-
len Zusammenarbeit, um mit der EU und den VN mehr Wirkung für
Entwicklung zu erzielen.
Ein wesentliches Ziel der Entwicklungszusammenarbeit ist die
politische Teilhabe der Menschen in den Partnerländern. Wir wol-
len Menschen in ihren Fähigkeiten unterstützen, ihre Rechte ein-
zufordern und zu verwirklichen. Armut und Gewalt sind nicht ge-
schlechtsneutral. Frauen werden in Konflikten immer wieder OpferTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
303
Unsere Eine Weltgezielter und strategisch genutzter sexualisierter Gewalt und sind
besonders betroffen von Entrechtung, Benachteiligung und Aus-
beutung. Strukturelle Ursachen wie Machtunterschiede und Do-
minanzverhältnisse, mangelnde Rechte und nicht ausreichender
Zugang zu Ressourcen sowie fehlende politische Partizipation von
Frauen blockieren weltweit eine geschlechtergerechte Gesellschaft.
Deshalb müssen Strategien, die Armut und Gewalt überwinden
wollen, darauf abzielen, die Rechte von Frauen und Mädchen zu
stärken, ihre (Zugangs-)Chancen zu erhöhen und die Machtun-
terschiede zwischen den Geschlechtern zu verringern. Wir treten
gegen die Diskriminierung von Schwulen, Lesben und bi- und trans-
sexuellen Menschen ein und werden mehr Toleranz mit Hilfe der
Zivilgesellschaft vor Ort fördern, vor allem in Ländern, in denen
sexuelle Minderheiten gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt sind.
Gerade die Stärkung und Beteiligung von Frauen im Sinne der
UN-Resolution 1325 ist dabei von besonderer Bedeutung. In der
Resolution werden Konfliktparteien dazu aufgerufen, die Rechte
von Frauen zu schützen und Frauen gleichberechtigt in Friedens-
verhandlungen, Konfliktschlichtung und den Wiederaufbau einzu-
beziehen. Die staatlichen Institutionen der Partnerländer wollen
wir dazu auffordern und darin stärken, ihre menschenrechtlichen
Verpflichtungen gegenüber ihrer Bevölkerung anzuerkennen und
zu erfüllen. Weil Armut nicht geschlechtsneutral ist, setzen wir die
Entwicklungsgelder verstärkt für bessere Bildung und gleiche Chan-
cen von Frauen und Mädchen ein.
Hunger ist kein Schicksal, sondern eine Folge von Politikversa-
gen. Es mangelt vor allem an Zugangs- und Verteilungsgerechtig-
keit. Wir verfolgen eine kohärente, ressortübergreifende Strategie
zur Verwirklichung des Rechts auf Nahrung und für mehr Ernäh-
rungssouveränität, zu der neben der Förderung einer nachhaltigen
Landwirtschaft und Fischerei auch Wertschöpfung vor Ort und so-
ziale Sicherungssysteme zählen. Auch Maßnahmen gegen „Land
Grabbing“ und skrupellose Spekulation mit Nahrungsmitteln ge-
hören dazu. Angesichts zunehmender Hunger- und Naturkatastro-
phen sowie bewaffneter Konflikte wollen wir die Mittel für huma-
nitäre Hilfe deutlich erhöhen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
304
Unsere Eine Welt3. Eine Welt der Menschenrechte
Die Umbrüche in der arabischen Welt haben die Schwachstellen
der deutschen und EU-Außenpolitik deutlich gemacht, die auf ver-
meintliche Stabilität zu Lasten einer menschenrechtlich orientierten
Politik gesetzt hat. Eine neue Außen- und Entwicklungspolitik muss
deshalb Menschenrechte ins Zentrum rücken. Deutsche Politik
muss im Hinblick auf den Schutz und die Förderung von Menschen-
rechten und Entwicklung kohärenter werden. Es darf nicht mehr
passieren, dass ein Ressort im Dienste von Menschenrechten und
Entwicklung arbeitet und ein anderes die Erreichung dieser Ziele
mit eigenen, nicht abgestimmten Maßnahmen konterkariert oder
gar zerstört. Wir wollen Kohärenz sicherstellen, z. B. durch ressort-
übergreifende Länderstrategien für Partnerländer der Entwick-
lungszusammenarbeit. Und der/die Menschenrechtsbeauftragte
der Bundesregierung soll gestärkt werden, sowohl hinsichtlich der
Kompetenzen als auch personell.
Entwicklung und Menschenrechte sind die Grundlagen für Frie-
den und Freiheit. Für uns bedeutet das, für das Recht auf Entwick-
lung und für ein Ende von Hunger und Armut zu kämpfen. Für ein
Ende von Folter und Diskriminierung. Für ein Ende der Straflosig-
keit bei schwersten Menschenrechtsverletzungen durch Stärkung
des Internationalen Strafgerichtshofs und des Völkerstrafrechts. Für
ein Ende von ausbeuterischer Kinderarbeit. Für mehr Rechte der
Menschen, die in ihrem Land ausgegrenzt, verfolgt oder gar um-
gebracht werden, sei es wegen ihrer sexuellen Identität oder ihres
Wunsches nach Selbstbestimmung, wegen ihres Geschlechts, ihrer
Religion oder Ethnie oder weil sie politisch aktiv sind und z. B. die
Menschenrechte verteidigen. Und wir verschließen die Augen nicht
vor menschenrechtlichen Problemen in Deutschland und in der EU.
Auch im Einsatz gegen Folter wollen wir mehr tun. Wir wollen die
Nationale Stelle zur Verhütung von Folter mit ausreichend perso-
nellen und finanziellen Mitteln ausstatten und das absolute Verbot
von Folter als anerkannte Menschenrechtsnorm uneingeschränkt
stärken. Außerdem setzen wir uns dafür ein, dass die Verhängung
der Todesstrafe weltweit geächtet wird und alle Hinrichtungen
verhindert werden. Deutschland sollte zudem international mehr
Druck auf die Staaten ausüben, die den Einsatz von KindersoldatIn-Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
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Unsere Eine Weltnen nicht ächten, und Projekte zur Wiedereingliederung ehemaliger
KindersoldatInnen unterstützen.
4. Eine Welt des Friedens und der Schutzverantwortung
„Frieden schaffen ohne Waffen“ – dieser Anspruch war ein Antrieb
der grünen Parteiwerdung. Wir sind weiterhin davon überzeugt,
dass wirklicher Frieden nur politisch, nicht militärisch erreicht wer-
den kann. Wir setzen daher immer und unbedingt auf den Vorrang
ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung. Frieden lässt sich
nicht militärisch erzwingen. Aber Friedenspolitik heißt für uns nicht
absoluter Verzicht auf militärisches Eingreifen. Es gibt Situationen,
in denen gewaltsames militärisches Eingreifen notwendig ist, um
schwerste Menschenrechtsverletzungen oder gar Völkermord zu
verhindern oder zu stoppen.
Die unter Rot-Grün geschaffenen zivilen Ansätze müssen wei-
terentwickelt und ihr Rückstand gegenüber den militärischen Kapa-
zitäten aufgeholt werden: Eingebettet in eine Nationale Friedens-
strategie ist der Aktionsplan Zivile Krisenprävention an die heutigen
friedenspolitischen Herausforderungen anzupassen. Besonderen
Nachholbedarf gibt es bei den Schwerpunkten Förderung von
Friedenspotentialen und legitimer Staatlichkeit. Um zivile Krisen-
prävention und Friedensförderung ins Zentrum unserer Politik zu
rücken, braucht der zuständige Ressortkreis deutlich mehr Gewicht
und ressortgemeinsame Haushaltsmittel. Mit der Aufstellung ziviler
Planziele soll gewährleistet werden, dass Deutschland schnell und
ausdauernd zivile und polizeiliche Fachkräfte in Friedensmissionen
entsenden kann. Die Kapazitäten des Zentrums für Internationale
Friedenseinsätze (ZIF), des Zivilen Friedensdienstes und zivilgesell-
schaftlicher Programme müssen erweitert und ihre Mittel verdop-
pelt werden. Aufzubauen sind eigene Fähigkeiten zur politischen
Vermittlung. Die Polizeien von Bund und Ländern sind durch eine
zusätzliche Personalreserve und durch Anreize zu befähigen, ver-
lässliche Beiträge zur Friedenskonsolidierung zu leisten. Unverzicht-
bar sind sorgfältige Konflikt- und Wirkungsanalysen und umfassen-
de Regionalexpertise, die nur mit mehr Mitteln für praxisorientierte
Regional- und Friedensforschung zu haben sind. Die vielen AkteureZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
306
Unsere Eine Weltder zivilen Konfliktbearbeitung brauchen einen zentralen Ort der
Erfahrungsauswertung, Analyse, Weiterentwicklung und Ausbil-
dung. Um aus dem Schatten öffentlicher Wahrnehmung heraus-
zukommen, bedarf zivile Friedensförderung endlich systematischer
Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit.
Wir verstehen das internationale Konzept der Schutzverant-
wortung, der responsibility to protect, als wichtige Säule der Kri-
senprävention und wollen sie wirksamer umsetzen. Dazu gehört
für uns unbedingt die Prävention vor gewaltsamen Entwicklungen
etwa durch Unterdrückung, Diktatur, Terrorismus und schlechte
Regierungsführung, aber auch der besondere Schutz der Zivilbe-
völkerung, insbesondere von Frauen und Kindern, in bewaffneten
Konflikten. Konkret heißt das zum Beispiel, nationale und interna-
tionale Systeme zur Frühwarnung und frühen politischen Aktivie-
rung zu stärken und in der Bundesregierung eine besondere Stelle
zur Umsetzung der Schutzverantwortung einzurichten. Diplomatie,
Konfliktvermittlung und zivile Sanktionen stehen für uns an erster
Stelle. Notwendig ist eine Nationale Friedensstrategie als friedens-
und sicherheitspolitischer Kompass. Sie soll frühzeitig gesellschaft-
lich debattiert und durch den Bundestag beraten und beschlossen
werden. Sie ersetzt das Weißbuch zur Sicherheitspolitik von 2006,
legt Regionen fest, für die sich Deutschland in besonderer Mitver-
antwortung sieht, und bestimmt, welche Aufgaben die Bundesre-
publik mit welchen Mitteln im Konzert der Staatengemeinschaft
wahrnehmen kann und will.
Der Einsatz militärischer Gewalt ist erwägenswert nur als äu-
ßerstes Mittel, wenn alle anderen allein keine Aussicht auf Erfolg
haben. Militär kann bestenfalls Zeitfenster für die Krisenbewäl-
tigung schaffen, nicht aber den Frieden selbst. Die Bundeswehr
kann einen Beitrag zur Gewalteindämmung und kollektiven Frie-
denssicherung leisten. Der Parlamentsvorbehalt hat sich bewährt,
muss jedoch insbesondere hinsichtlich der Kontrolle von geheim-
haltungsbedürftigen Einsätzen gestärkt werden. Jeder militärische
Einsatz muss fortlaufend auf seine Verhältnismäßigkeit, Wirksam-
keit und rechtliche Grundlage überprüft werden. Für einen solchen
Einsatz ist ein Mandat des Sicherheitsrats nach der gegenwärti-
gen Verfasstheit der VN die Voraussetzung. Allerdings kann einTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
307
Unsere Eine WeltNichthandeln aufgrund einer Blockadehaltung einer oder mehrerer
Vetomächte das Völkerrecht und die Vereinten Nationen ebenso
massiv beschädigen wie das Eingreifen ohne ein Mandat. Im Falle
einer Blockade des Sicherheitsrates sollte die Generalversammlung
anstelle des Sicherheitsrates mit qualifizierter Mehrheit Sanktionen
bis hin zu friedenserzwingenden Maßnahmen nach Kapitel VII der
VN-Charta beschließen.
Die Anwendung militärischer Gewalt ist unabhängig vom Ziel
immer ein großes Übel und muss, wenn irgend möglich, vermie-
den werden. Uns GRÜNEN fiel es in der Vergangenheit nicht leicht
anzuerkennen, dass es Situationen gibt, in denen zur Eindämmung
von Gewalt und zur kollektiven Friedenssicherung der Einsatz von
Militär geboten sein kann. Wir haben in unserer Partei darüber lan-
ge und intensiv diskutiert, aus den Erfahrungen mit Militäreinsätzen
gelernt und um die Prinzipien und Kriterien gerungen, nach denen
wir beurteilen, ob ein Auslandseinsatz der Bundeswehr verantwort-
bar ist.
Wir können ein gewaltsames militärisches Eingreifen im Einzel-
fall nur dann mittragen, wenn es aufgrundlage eines völkerrechtlich
klaren Mandates der VN sowie eines Bundestagsmandats erfolgt.
Das Handeln der Soldatinnen und Soldaten ist ohne Ausnahme an
Grund- und Menschenrechte gebunden. Der internationalen Ten-
denz zur zunehmenden Privatisierung militärischer Aufgaben stel-
len wir uns entgegen. Der politische Gesamtansatz muss klar defi-
niert und aussichtsreich sowie die Risiken verantwortbar sein. Dazu
bedarf es nicht nur eindeutiger Einsatzregeln: Wir haben einen
nachvollziehbaren Kriterienkatalog für die Bewertung künftiger und
zu verlängernder Auslandseinsätze sowie konkrete und überprüf-
bare Zielvorgaben für alle jeweils eingesetzten Mittel vorgelegt,
der für jede Entscheidung die Grundlage bietet. Wir fordern eine
unabhängige Evaluation internationaler Einsätze. Militärische und
zivile Einsatzkräfte haben einen Anspruch auf umfassende Fürsorge
und Betreuung während und nach dem Einsatz. Dies gilt auch für
ihre Angehörigen. Die gesellschaftliche Anerkennung von Soldatin-
nen und Soldaten darf nicht mit einer Verherrlichung militärischen
Handelns einhergehen.
Ein frühes Eingreifen bei Konflikten, die early action, funktio-
niert nur mit entsprechendem Personal. Wir wollen deshalb die VNZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
308
Unsere Eine Weltund Regionalorganisationen, vor allem die EU und OSZE, in ihren
Fähigkeiten zur zivilen Krisenprävention stärken.
Für uns haben direkt geführte VN-Missionen Vorrang vor EU-
oder NATO-geführten Missionen. An der Vision, den VN eigene
ständige Truppen zu unterstellen anstatt nationaler Militärkontin-
gente, halten wir fest. Wir setzen uns dafür ein, dass Deutschland
VN-Missionen – zivile wie militärische – nicht nur finanziell, son-
dern auch personell stärker unterstützt. Daher muss Deutschland
den VN mehr ziviles Fachpersonal zur Verfügung stellen. Die Bun-
deswehr muss europatauglicher und VN-fähiger werden, das heißt,
sie muss so umgebaut werden, dass sie ihren stabilisierenden und
schützenden Aufgaben in internationalen Konflikten besser gerecht
werden kann. Dieses Leitbild sollte wegweisend für die Bundes-
wehrreform sein. Die Abschaffung der Wehrpflicht war überfällig.
Die derzeitigen Reformpläne der Bundesregierung gehen nicht weit
genug. Die Bundeswehr muss deutlich mehr zur Haushaltskonso-
lidierung beitragen, auch durch weiteren Personalabbau. Die ur-
sprünglichen, aber nie eingehaltenen Sparbeschlüsse von Schwarz-
Gelb haben gezeigt, dass der Wehretat schrumpfen muss. Viele
Beschaffungsprojekte sind vorwiegend industriepolitisch begründet
und müssen auf den Prüfstand. Die wirtschaftlichen Folgen militä-
rischen Strukturwandels sind durch eine aktive Konversionspolitik
auszugleichen. Wir wollen über 10 % des derzeitigen Wehretats
einsparen.
5. Schluss mit der unkontrollierten und
geheimen Rüstungsexportpolitik
Deutschland ist der weltweit drittgrößte Exporteur von Rüstungs-
gütern. Vor allem unter der Regierung Merkel fielen jegliche Scham-
grenzen, wenn es darum ging, Milliardendeals auch mit autoritären
Staaten wie Saudi-Arabien zu machen. Und die Bundeskanzlerin
verklärt diese Exportpolitik zynisch als Form der Konfliktbearbei-
tung. Zugleich widerspricht es demokratischen Grundsätzen, wenn
Rüstungsgeschäfte im Bundessicherheitsrat genehmigt werden,
ohne dass Parlament und Öffentlichkeit informiert werden.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
309
Unsere Eine WeltDeswegen wollen wir ein verbindliches und restriktives Rüs-
tungsexportgesetz einführen, das deutsche Rüstungsexporte nur
nach klaren Kriterien erlaubt. Dabei sollen diese Kriterien so kon-
kretisiert werden, dass sie im Wege einer Verbandsklage vor einem
Gericht eingeklagt werden können. Die Zuständigkeit wollen wir
vom Wirtschaftsministerium auf das Auswärtige Amt übertragen.
Rüstungsexporte in Staaten, die Menschenrechte mit Füßen treten,
darf es nicht mehr geben.
Eine grüne Regierungsbeteiligung gibt es daher nur mit einer
anderen Rüstungsexportpolitik, die endlich mehr Transparenz und
Kontrolle ermöglicht und restriktiv ist. Deswegen wollen wir den
Bundessicherheitsrat in seiner jetzigen Form abschaffen. Stattdes-
sen soll künftig die gesamte Bundesregierung im Konsensprinzip
entscheiden. Das Parlament und die Öffentlichkeit sollen umge-
hend über die getroffenen Entscheidungen informiert werden.
Zudem wollen wir ein parlamentarisches Gremium einsetzen, das
die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung kontrolliert und
bei Entscheidungen über sensible Exporte, insbesondere Exporte in
Drittländer, ein aufschiebendes Veto einlegen kann. Hermes-Bürg-
schaften für Rüstungsexporte wollen wir prinzipiell verbieten, ge-
nauso wie den Export von Produktionslizenzen für Kriegswaffen an
Drittstaaten. Auch eine tatsächliche Endverbleibskontrolle wollen
wir gesetzlich verankern, um zu verhindern, dass die Exportgüter in
die falschen Hände geraten und zum Beispiel für Menschenrechts-
verletzungen oder terroristische Zwecke genutzt werden.
Außerdem wollen wir insgesamt weniger Waffen auf dieser Welt
und ein Ende der globalen Aufrüstung, die auch mit deutscher Waf-
fentechnologie vorangetrieben wird: Der Handel mit Kleinwaffen
muss massiv begrenzt und kontrolliert werden, die internationale
Ächtung von Streumunition sowie Landminen muss weltweit und
konsequent umgesetzt werden. Auch Uranmunition wollen wir um-
fassend ächten.
Wir wollen den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland und
kämpfen für Global Zero, für eine Welt ohne Atomwaffen – des-
halb streiten wir auch weiterhin für eine Nuklearwaffenkonvention,
um Atomwaffen völkerrechtlich zu ächten. Die Stationierung von
Atomwaffen in Büchel und die Befähigung deutscher Flugzeuge
und PilotInnen zum Einsatz oder Transport von Atomwaffen müs-ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
310
Unsere Eine Weltsen beendet werden. Die atomare Bewaffnung Frankreichs und
Großbritanniens steht einer zukünftigen zivilen Friedenspolitik der
EU entgegen.
Wir setzen uns dafür ein, die von den Vereinten Nationen vor-
geschlagene Konferenz zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone
im Nahen und Mittleren Osten zum internationalen Erfolg zu füh-
ren. Den Verkauf und die Überlassung von Waffenträgern, die zur
nuklearen Bewaffnung in der Region beitragen können, lehnen wir
ab und wollen wir verhindern, einschließlich der Lieferung weiterer
atomwaffenfähiger U-Boote. Der Konflikt um das iranische Atom-
programm muss friedlich gelöst und eine eventuelle atomare Be-
waffnung des Iran auf politischem Wege verhindert werden. Wir
setzen uns dafür ein, dass Deutschland und die EU in den Verhand-
lungen mit dem Iran eine aktivere und stärker vermittelnde Rolle
einnehmen und für die Überprüfung der Sanktionen eintreten.
Um die weitere Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern,
werden wir uns aktiv dafür einsetzen, dass auch die Verbreitung
der zivilen Nutzung der Atomtechnologie gestoppt wird. Je mehr
Staaten den nuklearen Brennstoffkreislauf beherrschen, umso mehr
Staaten können auch Atombomben bauen. Deshalb streben wir
eine Anpassung des Atomwaffensperrvertrags an und wollen Her-
mes-Bürgschaften für AKW-Projekte im Ausland verbieten.
Wir wenden uns gegen die Anschaffung bewaffneter Drohnen
durch die Bundeswehr und setzen uns international für ein Ver-
bot von vollständig autonomen Waffen ein. Wir streiten für mehr
Transparenz und Kontrolle beim Einsatz von Dual-Use-Gütern, die
auch zur Kriegsführung und zum repressiven Gebrauch genutzt
werden können. Auch den Export von Überwachungs- und Zen-
surtechnologie an autokratische Regime lehnen wir ab. Menschen-
rechte müssen auch im Internet verteidigt werden. Die Überflug-
rechte und Militärbasen ausländischer Streitkräfte in Deutschland
dürfen ausschließlich im Sinne des Völkerrechts genutzt werden.
Luft-Boden-Übungsplätze wie die Nordhorn Range sind verzicht-
bar. Der Militärische Abschirmdienst ist aufzulösen.TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
311
Unsere Eine Welt6. Starke Vereinte Nationen, starkes Europa
In der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts stehen wir vor der
Herausforderung, eine neue globale Sicherheitsarchitektur zu ent-
wickeln. Die Anerkennung des Gewaltmonopols der Vereinten
Nationen (VN) ist die erste Voraussetzung dafür. Kein Akteur der
internationalen Politik besitzt mehr Legitimation als die VN. Für die-
se Legitimation ist jedoch wichtig, dass jeder Staat die gleiche und
faire Möglichkeit bekommt, als Mitgliedsstaat aufgenommen zu
werden. Gleichzeitig sind die Vereinten Nationen aber immer nur so
stark, wie ihre 193 Mitgliedsstaaten sie stark machen. Wir meinen,
dass die VN unsere größte Chance sind, die globale Transformation
erfolgreich voranzutreiben. Gleichzeitig sehen wir dringenden Re-
formbedarf, damit sie für die großen Herausforderungen unserer
Zeit besser gewappnet sind. Unsere oberste Verantwortung besteht
darin, Deutschland wieder zu einem starken und engagierten Mit-
gliedsstaat mit einer klaren demokratie- und friedenspolitischen
Agenda zu machen, der besonders die zivile Krisenprävention und
Konfliktbearbeitung stärkt. Gegenwärtig ist die Bundesrepublik al-
lenfalls mittelmäßig – mittelmäßig aktiv, wenig kompromiss- und
kaum reformbereit. Wenn wir starke VN wollen, müssen wir uns
auch stark einbringen.
Der Sicherheitsrat muss reformiert werden mit dem Ziel einer
gerechteren Zusammensetzung. Die Vetomöglichkeiten wollen wir
mit einem Begründungszwang belegen. Langfristig halten wir an
der Vision einer Abschaffung des Vetos im VN-Sicherheitsrat fest.
Statt des vergeblichen Beharrens auf einen ständigen deutschen
Sitz im Sicherheitsrat setzen wir uns dafür ein, den oder die nicht-
ständigen europäischen Sitz(e) der westlichen Gruppe unter Einbe-
ziehung des Vereinigten Königreichs sowie Frankreichs als perma-
nente europäische Vertretung auszubauen. Die Meinungsbildung
und Entscheidungsfindung in den VN und im Sicherheitsrat muss
repräsentativer und transparenter werden.
Wir fordern, dass dem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung
der VN-Sicherheitsratsresolution 1325 der Begriff der menschlichen
Sicherheit zu Grunde gelegt wird. Konfliktprävention, Konfliktauf-
arbeitung, auch durch Strafverfolgung, der zivile Schutz von Men-
schen- und Frauenrechten und soziale Rechte sollen SchwerpunktZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
312
Unsere Eine WeltDeutschlands in seiner Arbeit mit dem Aktionsplan 1325 sein. Dafür
braucht es eine solide Budgetierung und ein effektives Monitoring
in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. Wir fordern außerdem
die Berufung einer Sonderbotschafterin oder eines Sonderbotschaf-
ters für Internationale Frauenpolitik.
Clubs wie die G8 oder G20 sind für einen fairen Interessen-
ausgleich nicht geeignet. Langfristig müssen alle zentralen Insti-
tutionen globaler Koordination und Regulierung unter das Dach
der Vereinten Nationen. Wir wollen eine Aufwertung des Wirt-
schafts- und Sozialrates erreichen und die Zivilgesellschaft stärker
in internationale Prozesse einbinden. Für eine globale Partnerschaft
zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen müssen wir
Schwellen- und Entwicklungsländern auch in der Weltbank und im
IWF in Zukunft mehr Mitsprache ermöglichen. Auch das Personal
dieser Institutionen sollte in Zukunft besser die Welt repräsentieren.
Weltbank, Regionalbanken und der IWF sollen alternative Entwick-
lungsmodelle jenseits der klassischen Wachstumsmodelle erarbei-
ten und umsetzen helfen. Der Schutz der Menschenrechte muss
dabei ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt werden. Wir setzen uns dafür
ein, dass IWF, Weltbank und Regionalbanken Finanzierungshilfe für
Länder vor allem im Globalen Süden nicht an die Umsetzung von
neoliberalen Reformen knüpfen.
Ein starkes, gemeinsames Europa muss in der Lage sein, Proble-
me in der eigenen Umgebung selbst zu bearbeiten. Die EU ist eben
nicht nur ein Friedensprojekt nach innen. Die EU hat mit der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und dem Europäischen
Auswärtigen Dienst Strukturen geschaffen, um an einer globalen
Friedensordnung im Rahmen der Vereinten Nationen und einem
gesamteuropäischen System kooperativer Sicherheit im Rahmen
der OSZE mitzuarbeiten. Schwarz-Gelb will die Gemeinsame Au-
ßen- und Sicherheitspolitik am liebsten einmotten und dafür das
Primat der NATO ausbauen. Wir GRÜNE wollen den Europäischen
Auswärtigen Dienst stärken mit dem Ziel, dass Europa außenpoli-
tisch mit einer gemeinsamen Stimme sprechen kann. Wir glauben
an die Zivilmacht Europa. Deshalb wollen wir diese Fähigkeiten
der EU stärken – durch einen umfangreichen Pool von zivilen Frie-
densfachkräften sowie die Einsetzung des europäischen Friedens-
instituts. Wir wollen außerdem die Gemeinsame Sicherheits- undTEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
313
Unsere Eine WeltVerteidigungspolitik weiterentwickeln und die Streitkräfte in Euro-
pa integrieren und reduzieren. Dies muss mit einer Kontrolle dieser
Streitkräfte durch das Europäische Parlament einhergehen.
Auch die NATO wollen wir so reformieren, dass sie in diese
multilaterale Sicherheitsarchitektur integriert werden kann. Ihre
bisherige starke Ausrichtung auf die militärische Absicherung von
Staaten genügt nicht unseren Ansprüchen an Friedenspolitik. Nach
dem Ende der Block-Konfrontation muss sie ihre Aufgaben neu aus-
richten. Das kann nur gelingen, wenn Russland und alle osteuropä-
ischen Länder eingebunden werden. Die OSZE wollen wir stärken,
damit sie an die wichtige Rolle ihrer Vorgängerin KSZE bei der Über-
windung des Kalten Krieges anknüpfen kann. Die NATO soll künftig
Motor bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung sein. Der Abzug
der verbliebenen US-Atomwaffen aus Europa und die Ratifizierung
des angepassten Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa
wären erste Schritte.
7. Krisen bewältigen – dauerhaften Frieden ermöglichen
Der NATO-Einsatz im Rahmen von ISAF in Afghanistan wird 2014
abgeschlossen. Sollte die afghanische Regierung eine weitere
Truppenpräsenz zur Überwachung eines Waffenstillstandes oder
als Ausbildungsmission wünschen, muss dafür eine neue Rechts-
grundlage durch die VN geschaffen werden. Sie ist als peace
building mission zu mandatieren und soll als direkt geführte VN-
Mission erfolgen – ohne Kampfauftrag und Aufstandsbekämp-
fung. Rechtzeitig vor dem Abzug der Bundeswehr wollen wir vor
Ort ein Aufnahmeprogramm für Ortskräfte der Bundeswehr und
deutscher Entwicklungsorganisationen einschließlich ihrer Familien
durchführen. Denjenigen, die dies wünschen, muss also die Mög-
lichkeit einer Aufnahme in Deutschland gewährt werden. Auch für
Menschen, die in ihrem Leben oder in ihrer Gesundheit spätestens
dann bedroht sind, wenn das Militär abzieht und die Macht neu
verteilt wird, muss es eine Möglichkeit des Asyls geben. Von der
Bundeswehr zu verantwortende zivile Opfer und ihre Angehörigen
sind großzügig und unbürokratisch zu entschädigen. Da die Kon-
flikte in Afghanistan nicht militärisch zu lösen sind, wollen wir allesZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
314
Unsere Eine Weltunternehmen, um über Verhandlungen und Gespräche einen Aus-
söhnungsprozess zu beginnen. Und nur durch ein umfassendes und
glaubwürdig finanziertes zivilgesellschaftliches und entwicklungs-
politisches Programm, das die Stärkung der Frauenrechte im Blick
hat, können wir den Wiederaufbau des Landes sicherstellen. Daher
wollen wir die zivilen Mittel für Afghanistan mindestens im bisher
erreichten Umfang aufrechterhalten.
Frieden zwischen Israel und Palästina wird nur möglich sein
durch einen fairen Interessenausgleich, der die Sichtweisen, die
Rechte und die Sicherheit aller Menschen in der Region im Blick
hat. Aus der Verantwortung Deutschlands für den Holocaust folgt
eine unverrückbare und dauerhafte Unterstützung für die Existenz
und die Sicherheit Israels. Wir setzen uns für eine Zwei-Staaten-
Regelung und ein Ende der Besatzung ein. Der Staat Palästina muss
gestärkt, zeitnah von Europa anerkannt und als Vollmitglied in die
VN aufgenommen werden. Wir wollen, gemeinsam mit der US-
Regierung, mit positiven und negativen Anreizen beide Seiten zu
direkten und substantiellen Friedensgesprächen unter Einbeziehung
aller verhandlungsbereiten Kräfte bewegen, um möglichst bald ei-
nen Frieden aufgrundlage der Grenzen von 1967 mit Jerusalem als
Hauptstadt beider Staaten und eine Lösung der Flüchtlingsfrage zu
erreichen. Eine Konfliktregelung wird nur aufgrundlage konsequen-
ter Anwendung des Völkerrechts möglich sein. Vor diesem Hinter-
grund verurteilen wir sowohl den Raketenbeschuss und Bomben-
anschläge auf Israel als auch die fortschreitende Landnahme in der
Westbank inklusive Ost-Jerusalem sowie die Blockade des Gazast-
reifens. Zudem wollen wir die vertrauensbildende und Verständnis
fördernde Arbeit der zahlreichen Friedensinitiativen in Israel und
Palästina unterstützen.
Die internationale Gemeinschaft ist nicht in der Lage oder wil-
lens, ihrer Schutzverantwortung gegenüber der syrischen Bevölke-
rung gerecht zu werden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
konnte sich bisher weder auf eine Verurteilung der Gräueltaten
noch auf gemeinsame Sanktionen einigen. Eine systematische Un-
tersuchung der schwersten Menschenrechtsverbrechen durch den
Internationalen Strafgerichtshof hat die internationale Gemein-
schaft bislang nicht verfolgt. Russland und China blockieren alle
weiter reichenden Forderungen im VN-Sicherheitsrat und stüt-TEILHABEN. EINMISCHEN. ZUKUNFT SCHAFFEN.
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
315
Unsere Eine Weltzen damit das Assad-Regime. Wir wollen syrische Flüchtlinge in
Deutschland aufnehmen und die Nachbarstaaten Syriens stärker als
bisher materiell bei der Versorgung und Unterbringung der täglich
größer werdenden Zahl an Flüchtlingen unterstützen. Außerdem
muss humanitäre Hilfe an die syrischen Binnenflüchtlinge gerade
in den sogenannten befreiten Gebieten durch Zusammenarbeit mit
syrischen und internationalen NGOs ankommen und der Aufbau
der zivilen Strukturen in diesen Gebieten gezielt unterstützt wer-
den. Im Rahmen der Vereinten Nationen wollen wir uns weiterhin
für die Aushandlung eines landesweiten politischen Prozesses ein-
setzen und ein politisches Übereinkommen gegebenenfalls durch
eine VN-Blauhelmmission absichern. Die Lieferung von Waffen in
das Bürgerkriegsland lehnen wir ab.
Wer GRÜN wählt …
• fördert Wohlstand für alle auf einem nachhaltigen Entwick-
lungspfad und stärkt die Entwicklungszusammenarbeit.
• stimmt für mehr Klimaschutz und Klimagerechtigkeit welt-
weit.
• wählt mehr Frieden durch mehr zivile Krisenprävention und
stimmt für Abrüstung, strikte Rüstungskontrolle und eine
atomwaffenfreie Welt.
• setzt sich für die Stärkung der Menschenrechte hier und
auf internationaler Ebene ein.
• wählt klare Grenzen und Kriterien für Auslandseinsätze.
• steht für stärkere, gerechtere und demokratischere
Vereinte Nationen.ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
316
Unsere Eine WeltSchlüsselprojekte
Keine Rüstungsexporte zu Lasten von Menschenrechten –
ein Rüstungsexportgesetz beschließen
Wir wollen Rüstungsexporte stärker als bisher kontrollieren. Dazu
wollen wir ein Gesetz, das die Kriterien der Rüstungsexportrichtli-
nie, insbesondere die Menschenrechtslage im Empfängerland und
die Gefahr der inneren Repression, fest verankert. Außerdem soll
das Auswärtige Amt für Rüstungsexporte zuständig sein. Wir wol-
len den Bundessicherheitsrat in seiner jetzigen Form abschaffen.
Die Geheimhaltung der Beschlüsse über Rüstungsexporte wollen
wir aufheben. Der Deutsche Bundestag wird vor einer beabsichtig-
ten Rüstungsexportgenehmigung bei besonders sensiblen Exporten
unterrichtet und erhält die Möglichkeit für ein aufschiebendes Veto
zur Stellungnahme. Zudem brauchen wir vergleichbar strikte Re-
geln für den Export von Überwachungstechnologien. Der Export
von Waffen und Software zur Überwachung von Kommunikation
und Internet an Diktaturen muss gestoppt werden. So können wir
die Exporte der Rüstungsindustrie besser kontrollieren.
Klima der Gerechtigkeit –
internationale Zusagen endlich einhalten!
Ein Sechstel der Menschheit hungert, Umweltzerstörung und Kli-
mawandel schreiten voran, Staaten zerfallen, Flüchtlingsströme
nehmen zu. Diesen globalen Herausforderungen, die nur solida-
risch bewältigt werden können, werden wir uns gemeinsam mit
unseren internationalen Partnern stellen. Darum setzen wir uns ein
für gerechtere Strukturen, soziale Teilhabe und mehr internationale
Zusammenarbeit. Im Gegensatz zur Regierung Merkel werden wir
die Zusagen Deutschlands endlich einhalten. Wir wollen die Mittel
für Entwicklungszusammenarbeit, zivile Krisenprävention und hu-
manitäre Hilfe bis 2017 auf 0,7 % des Bruttonationaleinkommens
anheben und schon 2014 1,2 Mrd. Euro zusätzlich für die Entwick-
lungszusammenarbeit und 500 Mio. Euro für den internationalenTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
317
Unsere Eine WeltKlimaschutz bereitstellen. Vor allem für die Anpassung der Entwick-
lungsländer an den Klimawandel, die globale Energie- und Agrar-
wende, den Aufbau sozialer Sicherungssysteme und die Friedens-
entwicklung wollen wir deutlich mehr Mittel einsetzen.
Zivile Krisenprävention ausbauen –
Mittel für Friedenskräfte verdoppeln
Wir wollen zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung ins
Zentrum der deutschen Außenpolitik rücken. Es braucht eine um-
fassende Nationale Friedensstrategie, effektivere Strukturen, mehr
Geld und Personal für zivile Friedensförderung in den Bereichen
Konflikttransformation, Gender-Mainstreaming, Polizei, Justiz,
öffentliche Verwaltung, Parlamentsaufbau, Dialog und Versöh-
nung. Um entsprechende zivile Fachkräftepools aus- und aufbauen
zu können, wollen wir in Deutschland die Mittel für das Zentrum
für Internationale Friedenseinsätze und für den Zivilen Friedens-
dienst verdoppeln, mehr Geld in die Friedensforschung geben und
das friedenspädagogische Angebot an Schulen unterstützen. Auf
europäischer Ebene setzen wir uns für ein EU-Friedensinstitut zur
Stärkung der Mediation und eine Stärkung der Krisenprävention
im Europäischen Auswärtigen Dienst ein. Den Ressortkreis Zivile
Krisenprävention wollen wir auf Staatsminister-Ebene verankern
und den zivilgesellschaftlichen Beirat aufwerten. Wir wollen regi-
onale Beiräte für Schwerpunktregionen einsetzen, die frühzeitige
Maßnahmen initiieren können und regelmäßig Bundestag und
Bundesregierung Empfehlungen vorlegen. Wir wollen eine bessere
Kooperation der Fachministerien erreichen, indem ein Teil der Mit-
tel gepoolt wird.Bundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
318
ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
SchlusswortSchlusswort
Liebe Wählerin, lieber Wähler,
wir hoffen, wir konnten Sie mit unserem Programm überzeugen.
Haben Sie weitere Fragen? Sprechen Sie vor Ort mit unseren
Kandidatinnen und Kandidaten für den Bundestag. Informieren
Sie sich zur Wahl auf unserer Website www.gruene.de. Gerne ste-
hen wir Ihnen für weitere Auskünfte zur Verfügung.
Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen – das bildet zusammen
die Grundlage für einen grünen Wandel in Politik und Gesellschaft –
für mehr soziale Gerechtigkeit, für mehr demokratische Beteiligung,
für ein besseres Morgen.
Tragen Sie mit Ihrer Stimme dazu bei, diese Grundlagen für ei-
nen grünen Wandel zu schaffen. Teilhaben. Einmischen. Zukunft
schaffen – das beschreibt einen neuen Weg aus den Krisen und den
Aufbruch hin zu einer offenen, modernen Gesellschaft und einer
Wirtschaft, die besser und sparsamer mit unseren natürlichen Res-
sourcen umgeht.
Energiewende und Ökologie, Gerechtigkeit und eine moderne
Gesellschaft – das sind für uns die zentralen Orientierungen. Sie ge-
ben grüner Politik die Richtung vor und unseren Vorschlägen Profil.
Wählen Sie GRÜN! Am besten mit beiden Stimmen – aber vor allem
mit der wichtigeren Zweitstimme.
ZWEITSTIMME GRÜN!
Legen Sie am 22. September 2013 die Grundlage für einen grünen
Wandel. Wählen Sie GRÜN. Für mehr Gerechtigkeit. Für mehr Be-
teiligung. Für ein besseres Morgen.
Für den grünen Wandel!Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
319
T
StichwortregisterStichwortregister
A
Abfall 155, 159, 275
Abrüstung 314, 316
Afghanistan 314–316
Agrarpolitik 153, 157, 160–168, 185, 272, 300, 304
ALG-II-Regelsatz 119–122, 137 f.
Alleinerziehende 144 f., 241 f.
Ältere Menschen 101, 121, 131–133, 136, 148 f., 289
Alterssicherung 94, 133–139, 163
Antidiskriminierung 224, 228 f., 236 f., 248
Antisemitismus siehe Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Antiziganismus siehe Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
ArbeitnehmerInnenrechte/-mitbestimmung 88–94
Arbeitsmarktpolitik 88–103
Arbeitsschutz 92 f., 103, 125
Armut(sbekämpfung) 89, 118–122, 133–139, 143–145, 150 f.
Artenvielfalt 158, 162, 167
Asyl(politik) 120, 233–236, 238 f., 288, 295
Atomausstieg/-energie 27–36, 42, 289 f.
Ausbildung 95–98, 104–117
Außenpolitik siehe Eine Welt
B
BAföG 100, 110 f., 117
Barrierefreiheit 190, 229–231, 254
Behinderung, Menschen mit 97 f., 106 f., 127, 132, 141, 229–231
Bildung 104–117, 190, 229–231, 254
Biodiversität siehe Artenvielfalt
Bodenschutz 155
Breitbandausbau 53, 190, 202
Bundeswehr 221, 229, 307–309, 311, 314
Bürgerbeteiligung 152, 174, 176, 204–217, 268, 294Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
320
StichwortregisterBürgerInnenrechte 194, 201, 218–239
Bürgerversicherung 100, 122 f., 137, 138, 255, 265
D
Datenschutz 189, 195, 203, 210, 219 f., 225 f.
Demografischer Wandel 53, 101, 103, 148 f., 174, 276 f.
Demokratie 152, 204–217, 222, 245, 259, 286 f.
Digitale Gesellschaft siehe Netzpolitik
Direkte Demokratie siehe Bürgerbeteiligung
Drogenpolitik 130, 239, 300
Drohnen 220, 311
E
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 236, 238
Ehegattensplitting 84 f., 145, 148, 240 f., 243, 251
Eigenständige Existenzsicherung 94, 120, 240–243, 250 f.
Einbürgerung 231 f., 237 f.
Eine Welt 296–318
Einkommensteuer siehe Steuerpolitik
Einwanderung 133, 232, 237
Elektromobilität 170, 172, 178
Endlager(suche) 36
Energieeffizienz 27 f., 34, 38 f., 41, 289 f.
Energieeinsparung 39, 290
Energiepolitik/-wende 27–45, 289 f.
Entwicklungspolitik 298, 301 f., 305
Equal-Pay siehe Lohngleichheit
Erinnerungspolitik 261 f., 265
Ernährung 153–168, 184 f., 304
Erneuerbare Energien 27–45, 50, 52, 172 f., 290
Euro 55–64
Existenzgründung 65Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
321
T
StichwortregisterF
Familien(politik) 84 f., 108, 140–145, 150 f.
Finanzpolitik 74–87
Finanztransaktionssteuer 62–64, 302
Flüchtlingspolitik siehe Asyl(politik)
Föderalismus 80, 266, 277 f.
Forschung siehe Wissenschaft & Forschung
Fracking 34 f., 155
Frauen 90, 94 f., 101, 136 f., 240–251, 304
Frauenquote 101, 240, 242, 245, 249, 251
Frieden(spolitik) 281–285, 296–318
G
Ganztagsschulen 109, 116 f., 144
Garantierente siehe Alterssicherung
Gemeinwohl 204, 207, 267, 269, 279
Gender Budget 53, 245
Generationengerechtigkeit 135, 149
Gentechnik 160–162, 184–187
Gerechtigkeit siehe Teilhabe(gerechtigkeit)
Geschlechtergerechtigkeit siehe Gleichberechtigung
Gesundheitspolitik 123–133
Gleichberechtigung/-stellung 208, 228 f., 240–251, 303 f.
Globalisierung siehe Eine Welt
Grundsicherung 85, 95, 138 f.,119–122, 134, 145, 150 f., 291
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit 212–216, 222, 229, 260
H
Handelspolitik 52 f., 298–301
Haushaltspolitik 74–87
Hochschulpolitik 104–107, 110–115, 117
Homosexualität 236–237, 304
Hunger(krise) 296–305, 317Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
322
StichwortregisterI
Informationsfreiheitsgesetz siehe Transparenz
Informationstechnologien 125, 191
Infrastruktur 75, 79 f., 174, 266 f., 271–274, 279
Inklusion 106, 231–234, 248, 259
Integration 231–235, 238
Interkulturalität/interkulturell 65, 107, 127, 222–224, 229, 238, 254
Internationale Politik siehe Eine Welt
Internetfreiheit siehe Netzpolitik
J
Jugend 109 f., 146–147, 152, 194, 209 f., 291
K
Kinderbetreuung 142–145
Kindergrundsicherung 85, 120, 143, 145, 151, 243
Kinder(politik) 104–109, 116, 120, 140–152
Kirchen siehe Religion
Klimapolitik/-schutz 31, 33–35, 39–45, 70 f., 153–169, 178
Kohlekraft 33, 41, 44, 168
Kommunalfinanzen 274 f., 280
Kommunalpolitik 266–280
Korruption 126 f., 211 f., 216 f., 263, 284
Krisenprävention siehe Friedenspolitik
Kulturpolitik 252–260
Kunst 198, 252–258Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
323
T
StichwortregisterL
Ländlicher Raum 125, 163, 170, 190, 202, 272–274, 276 f.
Landwirtschaft siehe Agrarpolitik
Lärmschutz 155, 172–177
Lesben siehe Homosexualität
Lohngleichheit 90, 242, 250
Luftreinhaltung/saubere Luft 153–155, 162, 168
M
ManagerInnenvergütung 54, 62
Männer 244 f.
Marktwirtschaft siehe Wirtschaftspolitik
Massentierhaltung 163–165, 167 f.
Medien(politik) 188–203, 258 f.
Mehrstaatigkeit siehe Einbürgerung
Menschenhandel 248 f.
Menschenrechte 236, 259 f., 285–289, 296–317
Mietrecht/Mieten siehe Wohnungsmarkt
Mindestlohn 56, 74, 90, 94, 102, 120, 138, 291
Minijobs 88, 90, 94 f., 136, 242, 243, 251
Mitbestimmung 69, 88–93, 207 f., 215, 287
Mobilität siehe Verkehrspolitik
N
Nahost 315 f.
NATO 309, 313 f.
Naturschutz siehe Umweltschutz
Netzneutralität 53, 192 f., 202
Netzpolitik 188–203
NSU 213, 221Zeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
324
StichwortregisterO
Ökologie siehe Umweltschutz
Ökologische Modernisierung 46, 49, 51
Ökosteuer/ökologische Finanzreform 77–87
ÖPNV 170–172, 177
Optionszwang 232, 238
Ostdeutschland 240, 276 f.
P
Partizipation siehe Bürgerbeteiligung
Pflegepolitik/Pflegeversicherung 124 f., 131–133, 138 f.
Prostitution 248
R
Rassismus siehe Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Rechtsextremismus siehe Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Rechtsstaat 226–228, 237 f.
Religion 68, 84, 93, 228 f.
Rentenpolitik siehe Alterssicherung
Ressourceneffizienz 72 f., 158–160
Rüstungsexporte 211 f., 298, 310, 317
S
Schuldenabbau/Staatsverschuldung 55–57, 59 f., 73, 80–87
Schwule siehe Homosexualität
Sexismus 213, 246
Sicherheit(spolitik) 219–224, 237 f.
Sozialpolitik 118–139
Sportpolitik 262 f.
Stadtentwicklung 146, 270 f.Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
325
T
StichwortregisterSteuerpolitik 77–87
Studium siehe Hochschulpolitik
Subventionsabbau 38, 41, 52, 83–85
Suchtpolitik siehe Drogenpolitik
T
Tempolimit 175
Tierschutz 112, 157, 160, 164–168
Tourismus 272, 276, 304
Trans- & Intersexuelle 236, 246
Transparenz 54, 204, 204–208, 210–212, 215–217, 223
U
Umweltpolitik/-schutz 70–73, 77, 87, 153–168
UNO/UN siehe Vereinte Nationen
Urheberrecht 198–202, 255
V
Verbraucherschutz/-rechte 63, 179 f., 183, 186 f., 190
Vereinte Nationen 306 f., 312, 314–316
Verfassung(sschutz) 115, 188, 206, 222, 238
Verkehr 51, 156 f., 169–178
V-Leute 222, 238
Vermögensabgabe 57, 67, 79, 82 f., 86, 295
Volksbegehren/-entscheid siehe Bürgerbeteiligung
Vorratsdatenspeicherung siehe DatenschutzZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen
326
StichwortregisterW
Wachstum 70–73
Wasser 153–155, 180, 273, 275
Weiterbildung 100, 109–111, 117, 148
Wirtschaftspolitik 46–73
Wissenschaft & Forschung 49, 52 f., 66, 111–117, 126, 192, 244 f., 318
Wohnungsmarkt/-politik 267–269, 271, 279Teilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen
327
NotizenZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen328
NotizenTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen329
NotizenZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen330
NotizenTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen331
NotizenZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen332
NotizenTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen333
NotizenZeit für den grünen Wandel
Bundestagswahlprogramm 2013
BündniS 90/die grünen334
NotizenTeilhaben. einmischen. ZukunfT schaffen.
bundestagswahlprogramm 2013
bÜnDnis 90/Die GRÜnen335
Dieses Bundestagswahlprogramm wurde auf der
35. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 26. bis 28. April 2013
in Berlin beschlossen.
Herausgeberin:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
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Titelgestaltung: Zum goldenen Hirschen Berlin GmbH
Druck: CPI books GmbH, LeckBundestagswahlprogramm 2013
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
336
ZEIT FÜR DEN GRÜNEN WANDEL
Wahlkampf 2013 —
Informieren und mitmachen:
www.gruene.de
V.i.S.d.P.: Bündnis 90 / Die Grünen, Robert Heinrich, Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 Berlin
Dieses Bundestagswahlprogramm wurde auf der
35. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 26. bis 28. April 2013
in Berlin beschlossen.
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