Wahlprogramm 2017
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ZUKUNFT
WIRD
AUS MUT
GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
WIRD
AUS MUT
GEMACHT.
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Dieses Bundestagswahlprogramm wurde
auf der 41. Bundesdelegiertenkonferenz
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom
16. bis 18. Juni 2017 in Berlin beschlossen.
Herausgeber*in
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
Telefon: 030 28442-0
Fax: 030 28442-210
E-Mail: info@gruene.de
Internet: www.gruene.de
V.i.S.d.P.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lea Belsner
Platz vor dem Neuen Tor 1
10115 Berlin
Layout und Satz
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Kommunikation GmbH, Berlin
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Titelgestaltung: W/O, Berlin
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Druck: CPI books GmbH, Leck
Bundestagswahlprogramm 2017
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Bundestagswahlprogramm 2017
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Inhalt
A. EINLEITUNG 7
B. UMWELT IM KOPF 14
I. Wir erhalten unsere Natur 17
II. Wir sorgen für gesunde Lebensmittel
und beenden Tierleid 25
III. Wir retten das Klima 33
IV. Wir begrünen unsere Wirtschaft für Umweltschutz,
Lebensqualität und neue Arbeitsplätze 40
V. Wir steigen um – komplett auf grüne Energien 48
VI. Wir sorgen für saubere, bezahlbare
und bequeme Mobilität 56
C. WELT IM BLICK 65
I. Wir kämpfen um Europas Zusammenhalt 68
II. Wir stehen ein für Frieden, globale Gerechtigkeit
und Menschenrechte 79
III. Wir machen den Welthandel fair 90
IV. Wir schützen Geflüchtete und bekämpfen
Fluchtursachen 98
V. Wir gestalten unser Einwanderungsland 111
D. FREIHEIT IM HERZEN 116
I. Wir streiten für Akzeptanz und Respekt,
für Vielfalt und Selbstbestimmung 119
Inhalt
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5
II. Wir stehen ein für Selbstbestimmung
und Gleichberechtigung 128
III. Wir sichern Freiheit 136
IV. Wir stärken die Demokratie und verteidigen
den freiheitlichen Rechtsstaat 146
V. Wir machen Verbraucherinnen und
Verbraucher stark 157
VI. Wir machen das Internet frei und sicher 164
E. GERECHTIGKEIT IM SINN 171
I. Wir investieren in Kindertagesstätten,
Schulen und Hochschulen 174
II. Wir kämpfen für bezahlbare Wohnungen
und lebenswerte Kommunen 183
III. Wir teilen den Wohlstand gerechter 190
IV. Wir machen den Sozialstaat sicher und zukunftsfest 197
V. Wir holen Kinder aus der Armut
und fördern Familien 209
VI. Wir kämpfen für gute Arbeit
und bessere Vereinbarkeit 216
VII. Wir gestalten die Digitalisierung 223
F. WOFÜR WIR VERANTWORTUNG
ÜBERNEHMEN WOLLEN 232
I. Zehn-Punkte-Plan für grünes Regieren 232
Stichwortregister 240
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Einleitung
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A. EINLEITUNG
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
am 24. September ist Bundestagswahl. Bevor wir Ihnen sagen, was
wir vorhaben, haben wir eine Bitte an Sie: Diskutieren Sie mit,
mischen Sie sich ein, gehen Sie wählen. Treten Sie mit uns für die
Werte ein, die unser Land und Europa stark und lebenswert ge
macht haben, die uns weit über Partei- und Ländergrenzen hinweg
verbinden: die Würde des Menschen, Gerechtigkeit und Gleichbe
rechtigung, Freiheit und Demokratie.
Diese Werte schienen uns bis eben noch selbstverständlich. Nun
erleben wir, wie sie hierzulande, in Europa und vielen Teilen der
Welt massiv infrage gestellt werden. Radikaler Nationalismus kehrt
zurück. Die ökologische Krise spitzt sich zu. Europa ist in sozialer
und wirtschaftlicher Hinsicht tief gespalten. Viele Menschen sind
auf der Flucht vor Kriegen und Krisen. Diese Bundestagswahl ist
wichtig, vielleicht historisch.
Wir haben es gemeinsam in der Hand, jetzt eine bessere Zukunft
zu gestalten. Wir können so wirtschaften, dass Boden, Luft und
Wasser sauber bleiben, dass wir die Grundlagen unseres Lebens
auch für die kommenden Generationen erhalten. Eine Gesellschaft
ist möglich, in der alle Menschen am Wohlstand beteiligt sind, in
der jede und jeder eine Chance bekommt und selbstbestimmt die
eigenen Ziele verfolgt. Wir wollen die Folgen des demografischen
Wandels nicht dem Schicksal überlassen, sondern das Beste daraus
machen: Vom generationengerechten Zusammenleben über die
Entwicklung ländlicher Räume bis hin zum Strukturwandel in Groß
städten sind Innovationen gefragt, nicht Fatalismus. Wir können
unseren Teil dazu beitragen, dass Fluchtursachen bekämpft werden
und nicht die Flüchtenden. Globalisierung und Digitalisierung sind
keine Naturgewalten, die sich gegen den Menschen richten. Sie
können unser Leben besser machen, wenn wir international faire
Regeln durchsetzen und die Bürgerrechte schützen. Auch hier müs
sen der Mensch und demokratische Grundwerte im Mittelpunkt ste
hen. Wir müssen uns jetzt entscheiden und mutig anpacken: für
eine soziale und ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft,
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die Arbeitsplätze sichert und neue schafft, und gegen weitere Um
weltzerstörung. Für eine Politik, die in unsere Infrastruktur und in
die Zukunft investiert und gegen ungebremstes Profitstreben auf
Kosten des Zusammenhalts. Für ein friedenstiftendes Europa, das
nach innen zusammenarbeitet und nach außen gemeinsam handelt
und gegen Hetze und Nationalismus.
Manche meinen, es sei heute schon viel erreicht, wenn Rück
schritte vermieden werden. Wir nicht. Mit den ökologischen Krisen
und vor allem der Klimakrise stellt sich der Menschheit die Exis
tenzfrage, nicht weniger. Mit der Krise Europas und dem Rückfall in
den Nationalismus stellt sich die Frage des Friedens und der Bedin
gungen für ein gutes Leben. Durch die globale Ungleichheit stellt
sich die Frage nach fairer Verteilung des Wohlstandes, zum Beispiel
durch fairen Handel. Es sind große Fragen, aber sie sind nicht weit
weg. Sie betreffen auch unser Zusammenleben und unseren Alltag.
Es wäre die Aufgabe der Großen Koalition gewesen, diese He
rausforderungen anzugehen. Sie hat es nicht getan. Die drei betei
ligten Parteien CDU, CSU und SPD verfolgen längst nur noch ihre
eigenen Interessen. Während die Koalition erschöpft ist, wachsen
die Probleme. Statt den Raubbau an der Umwelt zu stoppen, blo
ckiert sie beim Klimaschutz, würgt die Energiewende ab und ver
passt die Chancen auf zukunftsfähige Jobs. Sie ruht sich auf der
derzeit guten Wirtschaftslage aus, statt sie für den sozialen Zusam
menhalt und mehr Chancengleichheit zu nutzen. Nach einem Jahr
Willkommenskultur gibt sie zunehmend rechten Stimmungen nach.
Auf neue Bedrohungen reagiert sie mit immer schärferen Gesetzen,
anstatt mit kühlem Kopf gezielt Probleme zu lösen. Mit einer einsei
tigen Sparpolitik hat sie die Gräben in der EU vertieft. Mit ihrer Po
litik setzt sie eine gute Zukunft aufs Spiel.
Die Große Koalition lähmt unser Land und stärkt vor allem den
rechten Rand im politischen Spektrum unserer Gesellschaft. In Groß
britannien hat solch eine Stimmung das Land aus der EU herausge
sprengt und in den USA einen gefährlichen Narzissten an die Macht
gebracht. Damit es bei uns nicht auch so weit kommt, braucht es jetzt
echte politische Alternativen und eine neue, positive Dynamik.
Es gibt guten Grund für Mut und Zuversicht. Millionen Bürgerin
nen und Bürger haben in den vergangenen Jahren ehrenamtlich ge
holfen, Menschen auf der Flucht Schutz und eine neue Heimat zu
bieten. Ihnen gebührt unser ausdrücklicher Dank! Hunderttausende
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sind aufgestanden gegen eine neoliberale Handelspolitik, die Profi
te für Großkonzerne über das Wohl der Menschen und der Umwelt
stellt. Überall arbeiten Unternehmer*innen und Forscher*innen an
einem besseren Morgen. Eltern rackern sich ab, um ihren Kindern
eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Künstler*innen und Kreative
bereichern unsere lebendige Gesellschaft und kulturelle Vielfalt
mit ihren Ideen und durch spannende Innovationen. Viele engagie
ren sich gegen Diskriminierungen und für gleiche Rechte und Chan
cen. Diese Menschen sind unser Antrieb. Für sie und mit ihnen wol
len und können wir vieles zum Guten bewegen.
Wir wollen Deutschland zum ökologischen Spitzenreiter ma
chen. Wir sind die erste Generation, die die Auswirkungen der
Klimakrise spürt – und die letzte, die etwas dagegen tun kann. Des
wegen braucht es jetzt ein großes sozial-ökologisches Moder
nisierungsprojekt. Mit allem, was wir haben, kämpfen wir für Klima
schutz: Erneuerbare Energien werden mit uns günstiger, fossile
teurer. So machen wir die Energiewende wieder flott und steigen
schnellstmöglich aus der klimaschädlichen Kohle aus, wir fördern
das abgasfreie Auto und den umweltfreundlichen Verkehr. Wir ge
stalten eine innovative Wirtschaft, die mit „Öko – Made in Germa
ny“ Produkte und Dienstleistungen für die Zukunft entwickelt und
jede Menge neue Arbeitsplätze schafft – in Deutschland und Euro
pa. Wir machen Schluss mit industrieller Massentierhaltung und
landwirtschaftlichen Monokulturen, wir wollen eine Landwirt
schaft, die möglichst ohne Gifte auskommt. Mit uns gibt es gutes
Essen ohne Gift und Gentechnik.
Wir kämpfen für ein gerechteres Land. Wir wollen, dass jedes
Kind die gleichen Chancen hat – gleich welcher Herkunft, welchen
Geschlechts oder welcher Hautfarbe. Für uns kommt es nicht darauf
an, wo jemand herkommt, sondern wo jemand hin will. Jedes Kind
soll in unserem Land seine Talente und Stärken entfalten und sei
nen Traum verwirklichen können. Sicher werden nicht alle Chefärz
tin oder Chefarzt, aber alle sollen es werden können. Wir sorgen
dafür, dass Eltern mehr Zeit für ihre Kinder haben, dass Kitas und
Schulen intakt sind und Erzieherinnen und Erzieher besser bezahlt
werden. Wir finden uns nicht damit ab, dass bei uns, in einem der
reichsten Länder der Erde, jedes fünfte Kind in Armut lebt.
Wir wollen ein Netz sozialer Sicherheit, das bei Krankheit,
Arbeitslosigkeit und im Alter für alle da ist und vor Armut schützt.
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Unsere soziale Sicherung soll so gut sein, dass sie den Menschen
auch die Zuversicht gibt, Neues zu wagen, und niemanden aus
grenzt. Selbstbestimmung und ein gutes Leben sind in diesem Land
für alle möglich – mit guten Arbeitsbedingungen und einer Politik,
die der sozialen Spaltung entgegenwirkt, sodass weniger Menschen
in prekären Verhältnissen leben und alle an unserem Gemeinwesen
teilhaben können.
Wir kämpfen dafür, dass multinationale Unternehmen ihre Steu
ern hier zahlen und die Gesellschaft nicht länger um Milliarden
prellen, um ihren Vorständen obszöne Gehälter und Abfindungen zu
zahlen. Auch trägt das in unserem mittelständisch geprägten Land
zu einem fairen Wettbewerb bei, der besonders die Chancen von
Gründerinnen und Gründern sowie kleine und mittlere Unterneh
men fördert. Wir wollen, dass gesellschaftlicher Reichtum gerecht
geteilt wird, damit wir unsere öffentlichen Orte und Institutionen
auch gut finanzieren können: Kindergärten, Schulen und Hochschu
len, Krankenhäuser und Theater, Straßenbahnen und Busse genau
so wie schnelles Internet überall im Land.
Wir streiten für eine Gesellschaft, in der alle frei und sicher le
ben können. Eine Gesellschaft, in der jeder Mensch glauben kann,
was er will, lieben und heiraten kann, wen er will. Eine geschlech
tergerechte Gesellschaft, in der Frauen und Mädchen unabhängig
und selbstbestimmt leben und teilhaben, zum Beispiel weil Frauen
für ihre Arbeit genauso gut bezahlt werden wie Männer. Eine Ge
sellschaft, in der wir uns vor Terrorismus, rechtsextremer Gewalt
und Kriminalität schützen, ohne dabei unsere Freiheit aufzugeben.
Wir streiten dafür, dass Deutschland weiterhin Menschen, die auf
der Flucht vor Krieg und Gewalt sind, Schutz und Heimat bietet.
Weil Deutschland auf Einwanderung angewiesen ist, wollen wir
sie transparent und vernünftig regeln. Das Zusammenleben von
Menschen verschiedener Herkunft, Religion und Kultur bringt uns
weiter, aber es verlangt auch allen etwas ab. Deshalb stärken wir
das Band, das unsere Gesellschaft eint und zusammenhält. Das
Grundgesetz und seine Werte gelten für alle. Keine Toleranz der
Intoleranz.
All das erreichen wir nur in einem vereinten Europa. Europa ist
ein Ort des Friedens und der Freiheit. Das ist nicht selbstverständ
lich. Europa ist unsere Heimat und unsere Zukunft. Wir werden es
mit aller Kraft gegen Nationalismus verteidigen. Nur wenn wir in
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einem vereinten Europa zusammenarbeiten, können wir helfen, die
Konflikte in unserer Nachbarschaft zu lösen, Terrorismus, Flucht
ursachen, Steuerbetrug und Korruption zu bekämpfen. Wir wollen,
dass sich Deutschland und Europa den Problemen der Welt zuwen
den und mehr Verantwortung übernehmen, statt sich abzuschotten.
Wir setzen uns ein für den Frieden statt Rüstungsspiralen, für die
Menschenrechte und eine global gerechte Entwicklung statt Unter
drückung und Ausbeutung.
Globale Verantwortung fängt bei uns zu Hause an. Darum nutzen
wir die Gestaltungsmacht Deutschlands als viertgrößte Volkswirt
schaft der Welt, um die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten
Nationen zu erreichen. Damit sollen Umwelt- und Klimaschutz, Frie
den und Gerechtigkeit weltweit gefördert, und unsere Art zu leben
und zu wirtschaften sozial und ökologisch umgestaltet werden. Nur
mit einem solidarischen Europa können wir Mensch und Umwelt
besser schützen. Wir brauchen ein vereintes Europa, damit wir Ban
ken und Großkonzerne auf das Gemeinwohl verpflichten und wir
dem globalen Kapitalismus wirklich ökologische und soziale Zügel
anlegen können, damit die Wirtschaft den Menschen dienen kann.
Und mit Ihrer Stimme bei der Bundestagswahl entscheiden Sie auch
darüber, wie Deutschland in Europa auftritt und für welche Rich
tung es steht.
In vielen Landesregierungen und in etlichen Kommunen arbei
ten GRÜNE als Minister*innen, Landrät*innen, Bürgermeister*innen
oder andere Mandatsträger*innen bereits an der Lösung dieser
drängenden Probleme. Dort arbeiten wir bereits jeden Tag und er
folgreich: für eine tier- und umweltfreundliche Agrarpolitik und Kli
maschutz, für mutige und innovative Unternehmen, für gute Schu
len und Kitas, für gute Integration und die humanitäre Aufnahme
von Geflüchteten, für echte Gleichstellung und eine gut ausgestat
tete und ausgebildete Polizei. Grün wirkt. Doch für viele Verände
rungen braucht es auch im Bund eine Regierung mit uns GRÜNEN.
Wir wollen die Große Koalition ablösen. In den Ländern stellen
wir die Mehrzahl der Umweltministerinnen und -minister. Aber so,
wie es für den Atomausstieg einen grünen Bundesumweltminister
brauchte, braucht es für die Agrarwende und vieles mehr wieder
GRÜNE in der Bundesregierung. Unser Land ökologischer, weltoffener,
gerechter machen – das ist unser Anspruch an eine grüne Regierungs
beteiligung. Dafür treten wir an!
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Politik ist nicht machtlos. Sie gestaltet unser Zusammenleben.
Zukunft wird aus Mut gemacht. Jeden Tag. Es macht einen Unter
schied, wer regiert. Deshalb ist Ihre Stimme bei der Wahl entschei
dend. Welche Richtung unser Land einschlägt, liegt in unser aller
Hand. Wir werden manches ändern, anderes neu denken und voran
bringen. Helfen Sie uns zu erhalten, was in unserem Land wertvoll
und wichtig ist, und zu verbessern, was besser werden muss.
Es ist nicht immer leicht, die eigenen Ziele zu erreichen. Wir ha
ben das oft genug erlebt. Manchmal braucht es Umwege und Kom
promisse. Manchmal braucht es Widerstand und Kontroverse. Wir
wissen auch nicht für alles schon die Lösung. Die Ziele sind für uns
jedoch klar. Wir beschreiben sie Ihnen mit diesem Programm.
Unsere Ziele weisen einen Weg in eine ökologische, friedliche,
vielfältige, weltoffene und gerechte Zukunft. In eine gute Zukunft
für uns, unsere Kinder, unsere europäischen Nachbarinnen und
Nachbarn und für Menschen anderswo in der Welt. Lassen Sie uns
diesen Weg gemeinsam gehen! Stimmen Sie am 24. September 2017
für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN!
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B. UMWELT IM KOPF
Das Klimaabkommen von Paris ist ein Meilenstein für die Rettung
unseres Planeten. Wir haben das Wissen, die Technik und den
Erfinder*innengeist, um die Klimakatastrophe noch abzuwenden.
Wir stehen deshalb jetzt vor einer Entscheidung, die unser Leben
und das Leben unserer Kinder prägen wird. Kämpfen wir für den Er
halt unserer natürlichen Lebensgrundlagen oder sägen wir weiter
an dem Ast, auf dem wir sitzen? Setzen wir auf dreckige Kohle wie
Union und SPD oder auf schmutziges Öl wie Trump und Putin? Oder
brechen wir auf in ein neues, grünes Zeitalter?
Wir wollen anpacken: Denn Hochwasser, Dürren und das Anstei
gen des Meeresspiegels sind keine fernen Bedrohungen mehr. Sie
finden statt. Täglich. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es auf der
Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um etwa weitere vier Grad wär
mer. Wir sind dabei, mit unserer Art zu wirtschaften und zu konsu
mieren unsere Lebensräume zu zerstören – von den Regenwäldern
über unser Grundwasser und unsere Böden bis hin zu den Weltmee
ren. Und wir verursachen ein neues Artensterben, das unsere Um
welt ärmer und zerbrechlicher macht.
Die Folgen wären Hunger, Armut und Konflikte um knapper wer
dende Ressourcen, wie zum Beispiel Wasser. Die Kriege und Flucht
bewegungen der vergangenen Jahre wären nur ein laues Lüftchen
gegenüber dem Sturm, der kommenden Generationen drohte. Uns
geht es darum zu verhindern, dass blinder Wachstumsglaube und
ungebremstes Profitstreben unseren einzigartigen Planeten zer
stören. Wir wollen dafür eine Wirtschaft, die mit der Umwelt statt
gegen sie arbeitet, die nachhaltigen Wohlstand für alle ermöglicht.
Frieden, Sicherheit und ein gutes Leben für alle können wir in Zu
kunft erreichen, wenn wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen
schützen, statt sie weiter zu zerstören.
Wenn wir jetzt entschlossen handeln, ist das gleichzeitig auch
eine große Chance und der richtige Weg für unser Land in eine le
benswerte Zukunft, die Wohlstand und Sicherheit für alle schafft.
Auf diesen Weg haben sich längst viele Menschen und Unter
nehmen gemacht. Und schon einiges erreicht. Wir haben in den ver
gangenen Jahrzehnten Wälder geschützt, Abgase und Schadstoff
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belastungen reduziert und wertvolle Arten gerettet. Bürger*innen
schließen sich zusammen und erzeugen Strom durch Wind, Sonne
und Wasser, Ingenieur*innen tüfteln an immer besseren Elektro
fahrrädern, E-Autos und Lkw mit erneuerbaren Antrieben. Archi
tekt*innen und Bauarbeiter*innen bauen Häuser, die mehr Energie
erzeugen, als sie verbrauchen. Es sind viele, die davon profitieren:
Hunderttausende, die ihr Geld mit erneuerbaren Energien verdie
nen – von Stahlarbeiter*innen bis zu Installateur*innen. Genauso
ganze Wirtschaftszweige, die mit grünen Ideen schwarze Zahlen
schreiben und schon heute die Märkte von morgen erschließen.
Wir werden jetzt die nächsten Schritte der ökologischen Moder
nisierung gehen. Wir machen eine Wirtschaftspolitik mit ehrgeizi
gen Zielen, die den Unternehmen zwar etwas zumutet, aber gerade
durch Innovationen neue Möglichkeiten eröffnet, Planungssicher
heit schafft und neues Wissen und neue Technologien fördert. Wir
wollen einen fairen Wettbewerb, der die Folgekosten umweltschäd
lichen Handelns nicht weiter der Allgemeinheit aufbürdet. Das be
deutet: Die Unternehmen, die den Weg in die ökologische Erneue
rung gehen, unterstützen wir. Wir werden aber auch weiterhin mit
den Lobbyverbänden und den Unternehmen den Konflikt austra
gen, die ihre Geschäftsinteressen ohne Rücksicht auf die Umwelt
verfolgen. Freiwillige Selbstverpflichtungen helfen da wenig wei
ter. Wir werden alles dafür tun, dass Umweltrecht konsequent um
gesetzt wird und Bürger*innen sich ohne Hürden in Verfahren ein
bringen und auch klagen können.
Wir werden unsere Wirtschaft, unseren Verkehr sowie unsere
Energie- und Lebensmittelproduktion konsequent auf grünes Wirt
schaften und grüne Technologien umstellen. Mit einem konsequen
ten Ausbau der erneuerbaren Energien, dem Kohleausstieg und dem
Umstieg auf Elektromobilität. Mit dem Ausstieg aus der industriel
len Massentierhaltung und der Förderung einer menschen-, um
welt- und tiergerechten Landwirtschaft.
Klima- und Umweltpolitik sind auch eine Frage der Gerechtig
keit. Gerade diejenigen, die wenig haben, leben in Vierteln mit ho
her Luftverschmutzung oder großer Lärmbelastung. Global sind es
die Ärmsten, vor allem Frauen und Kinder, die von der Umwelt
zerstörung besonders betroffen sind – obwohl sie am wenigsten
dazu beitragen oder an den Entscheidungen beteiligt sind. Die
Kleinbäuerinnen und -bauern in Afrika, deren Land verdorrt, das
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Waisenkind, das auf hochgiftigen Deponien im Elektroschrott der
Industrieländer wühlt: Dagegen tun wir etwas: Wir recyceln unsere
Rohstoffe, beenden die schädlichen Subventionen für die Agrar
industrie, die zum Billigexport von europäischen Lebensmitteln in
alle Welt führen, und stoppen die Überfischung vor Afrikas Küsten.
Wir sorgen dafür, dass es bei Umwelt- und Klimaschutz gerecht
zugeht. Wo Jobs, zum Beispiel in der Kohleindustrie, verloren gehen,
kümmern wir uns schon heute um gute soziale Absicherung und
neue Jobperspektiven. Wo Preise endlich die ökologische Wahrheit
sagen, sorgen wir mit besseren Löhnen und angemessenen Sozial
leistungen dafür, dass die Preise auch von allen bezahlt werden
können.
Um eine lebenswerte Zukunft für unsere Kinder zu ermöglichen,
werden wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften so verändern,
dass wir die ökologischen Grenzen unseres Planeten respektieren.
Ökologische Politik bedeutet für uns Gemeinwohlorientierung, Bil
dung für nachhaltige Entwicklung, Teilhabe und Verantwortung für
kommende Generationen zu fördern. All das ist es, was wir mit der
sozial-ökologischen Transformation angehen wollen.
Der Schutz unserer Lebensgrundlagen ist unsere gemeinsame
Herausforderung. Zugleich schafft die ökologische Modernisierung
einmalige Chancen: auf sauberes Wasser und Luft, auf gesundes Es
sen, auf unzerstörte Naturlandschaften, auf mehr Lebensqualität
und weniger Lärm, auf neue Jobs und Innovationen, auf ein gutes
und friedliches Leben auf unserem blauen Planeten.
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I. WIR ERHALTEN
UNSERE NATUR
Der Mensch ist auf sauberes Wasser, gesunde Böden und gute Luft
angewiesen. Nur dann können alle frei, unbesorgt und gesund le
ben, können gestalten und genießen. Natur und Umwelt zu schüt
zen heißt, die Grundlagen unseres Lebens zu schützen. Doch wir
Menschen setzen die planetaren Grenzen mit unserer Art zu wirt
schaften und zu konsumieren mehr und mehr aufs Spiel. Der zu
kunftsvergessene Umgang mit der Natur und ihren Schätzen fällt
am Ende auf uns selbst zurück. Das Quecksilber, das die Kohlekraft
werke in die Luft pusten, der Plastikmüll, den wir in Flüssen und
Meeren „entsorgen“, die Pestizide und Arzneimittelrückstände, mit
denen wir unsere Böden und Gewässer belasten – all das löst sich
nicht einfach auf. Es gelangt in unser Trinkwasser, in unsere Atem
luft und in unser Essen. Es ist allerhöchste Zeit, das zu beenden. In
einigen Bereichen haben wir heute schon längst die Belastungs
grenze unseres Planeten überschritten.
Darum stellen wir GRÜNE die Umwelt und den Erhalt unserer Le
bensgrundlage in das Zentrum unserer Politik. Wer die Umwelt
schützt, kämpft für eine lebenswerte und gerechte Welt für alle. Wir
GRÜNE wollen unser Naturerbe, die biologische Vielfalt der Erde,
bewahren. Wir wollen das Verramschen unserer Umwelt beenden.
Wir wollen saubere Flüsse und Seen, ohne Gülle, Medikamenten
rückstände und Mikroplastik. Wir wollen Felder und Wiesen, auf de
nen Insekten und Vögel einen Lebensraum finden. Unser Ziel ist es,
eine lebenswerte Welt auch für unsere Kinder und die kommenden
Generationen zu erhalten. Dafür streiten wir mit Leidenschaft.
1. Kein Leben ohne Wasser
Wasser ist die Wiege allen Lebens und unser Lebensmittel Nummer
eins. Wir müssen es daher vor Verschmutzung schützen und endlich
auch in Deutschland überall einen guten ökologischen Zustand der
Gewässer erreichen. Zusätzliche Risiken wollen wir ausschließen.
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Darum lehnen wir Fracking nachdrücklich ab. Trinkwasser, Umwelt
und Gesundheit zu gefährden und Erdbeben zu riskieren, nur um so
auch noch den letzten Rest Erdgas und Öl aus dem Boden zu pres
sen, ist unverantwortlich. Auch müssen die bereits nachgewiesenen
Probleme mit Lagerstättenwasser, aber auch Methanemissionen bei
der Öl- und Gasförderung beseitigt und keine neuen, unabsehbaren
Gefahren befördert werden.
Diesen vorsorgenden Blick nehmen wir auch beim Hochwasser
schutz ein. Wir beugen vor, indem wir Bächen und Flüssen Raum
geben, sich wieder naturnah zu entwickeln. Wir verlegen Deiche zu
rück und weisen Überschwemmungsgebiete aus. So schützen wir
Bürger*innen und Unternehmen vor Schäden durch Hochwasser und
fördern eine artenreiche Tier und Pflanzenwelt, die in ausgedehn
ten Flussauen wichtige Lebensräume findet. Wir werden Hochwas
serschutzstrategien für ganze Fließgewässersysteme zur Anpassung
an die Folgen des Klimawandels entwickeln und so vermeiden, dass
Schutzmaßnahmen in einer Region beim folgenden Hochwasser zu
sätzliche Schäden in einer anderen Region verursachen. Flussvertie
fungen wie an Elbe und Weser lehnen wir ab.
Um unser Grundwasser, unsere Flüsse und Seen vor dem über
mäßigen Eintrag von Nähr- und Schadstoffen zu schützen, werden
wir die Güllemassen aus der industriellen Landwirtschaft eindäm
men. Wir wollen unser Wasser besser und wirksamer vor Rückstän
den und Schadstoffen, die bei Menschen und Tieren hormonverän
dernde Wirkung bis zur Unfruchtbarkeit zeigen oder krebserregend
sind, schützen. Dadurch werden erhebliche zusätzliche Kosten bei
der Trinkwassergewinnung vermieden. Über die Flüsse gelangen
Müll und Schadstoffe auch in die Meere, wo sie großen Schaden an
richten. Medikamentenrückstände, hormonwirksame Stoffe und
Schwermetalle reichern sich in der Nahrungskette an.
Nitrat und Phosphat aus der Landwirtschaft befeuern die Algen
blüte und schaffen Todeszonen in den Meeren und in den heimi
schen Gewässern. Acht Millionen Tonnen Plastik landen jedes Jahr
in unseren Ozeanen. Wir akzeptieren nicht, dass die Meere ein Raum
ohne Leben werden, in dem es mehr Plastik als Fische gibt, dies
würde auch unsere Existenz gefährden. Deshalb wollen wir Schluss
machen mit dem Eintrag von Plastik in Gewässer und Umwelt. Dafür
stärken wir national Abfallvermeidung, das Recycling, die Einfüh
rung von Mehrwegsystemen wie etwa bei To-go-Bechern und die
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Entwicklung abbaubarer Kunststoffe. Ebenso gilt es, den Eintrag
von Mikroplastik vor allem ins Wasser einzudämmen. So hat dies
etwa in Kosmetika nichts zu suchen; zugleich braucht es in Klärwer
ken Filterstufen zur Entfernung von Plastikpartikeln.
Das Leben in den Meeren steht auch durch zweifelhafte Fische
reipraktiken, wie den Einsatz von Grundschleppnetzen, und zu hohe
Fischereiquoten massiv unter Druck. Nach wie vor fischen euro
päische Trawler die Meere vor Afrikas Küsten leer und gefährden
damit nicht nur das Meeresökosystem, sie nehmen auch den Fi
scher*innen vor Ort ihre Lebensgrundlage. Darum wollen wir die
Überkapazitäten der europäischen Fangflotte abbauen und alle Fi
schereiabkommen ökologisch und sozial verträglich gestalten. Nut
zungsfreie Meeresschutzgebiete sollen dafür sorgen, dass sich das
Ökosystem Meer erholen kann, auch in Nord- und Ostsee. Kurzfris
tig müssen Naturschutzgebiete frei von Grundschleppnetzen und
Stellnetzen sein, die den Meeresboden umpflügen und Schweins
wale beziehungsweise Seevögel ersticken und ertrinken lassen.
Mittelfristig dürfen in der gesamten Ost– und Nordsee nur noch
alternative Fischfangmethoden zum Einsatz kommen, um die Fi
scherei in Einklang mit der Meeresumwelt zu bringen. An den Küs
ten Deutschlands wird derzeit noch mitten im Nationalpark und
UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer unter Gefährdung der Arten
vielfalt nach Öl gebohrt. Das wollen wir beenden. Dank der GRÜNEN
in Schleswig-Holstein wurden bereits Erkundungsbohrungen im
Nationalpark Wattenmeer verhindert.
2. Saubere Luft und gesunder Boden
Jedes Jahr sterben weltweit zehntausende Menschen, weil Stick
oxide und Feinstaub die Luft verpesten und zu Lungen- und Herz
Kreislauf-Erkrankungen führen. Auch wenn sich bei uns der Himmel
über den Städten nicht gelb einfärbt wie in vielen Städten Asiens,
ist auch bei uns der Kampf für saubere Luft längst noch nicht ge
wonnen. Jährliche Messungen zeigen, dass vielerorts Grenzwerte
bei Feinstaub und Stickoxiden überschritten werden. Hauptursache
sind Millionen von Dieselautos, die infolge der Tricks und Manipu-
lationen der Autoindustrie die Grenzwerte im Alltagsbetrieb oft
um ein Vielfaches überschreiten. Wir wollen, dass die betroffenen
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Autos so schnell wie möglich auf Kosten der Hersteller nachgerüs
tet werden, damit die Halter*innen nicht die Leidtragenden von
Fahrverboten sind, die die Bundesregierung mit ihrer Untätigkeit zu
verantworten hat. Um die Menschen zu schützen und die Schad
stoffbelastung der Atemluft zu verringern, wollen wir eine blaue
Plakette einführen, emissionsfreie Mobilität fördern, einen Großteil
der Beförderungsleistung auf den ÖPNV und das Rad verschieben,
die notwendige Nachrüstung von Baumaschinen, Dieselloks et ce
tera fördern und so die Einhaltung strenger Luftreinhaltungsnor
men sicherstellen. Nur so kann es gelingen, die Luft in unseren
Städten sauber zu bekommen. Mit verbindlichen Grenzwerten für
Innenraumluft werden wir zudem die gesundheitliche Belastung in
Wohnungen und Büros etwa durch Emissionen aus Laserdruckern
oder Kopierern reduzieren. Um Betroffene nicht weiter mit den
gesundheitlichen und finanziellen Folgen belasteter Wohn und Ar
beitsräume alleinzulassen, wollen wir anlassbezogene Luftschad
stoffmessungen für Innenräume und Schadstoffsanierungen im
Gebäudebestand fördern.
Auch unsere Böden sind in Gefahr und brauchen dringend
Schutz. Immer mehr landwirtschaftliche und naturnahe Flächen in
Deutschland werden zubetoniert. Die Industrialisierung der Land
wirtschaft überlastet unsere Böden mit Gülle und Pestiziden, ent
wässert und verdichtet sie. So können sie ihre wichtige Funktion für
einen funktionierenden Naturhaushalt und als Kohlenstoffspeicher
nicht erfüllen.
Wir streben das Null-Hektar-Ziel an: Künftig sollen nicht mehr
Flächen in Anspruch genommen werden, als an anderer Stelle wie
der freigelegt werden. So stoppen wir den Flächenfraß. Dazu führen
wir einen Mix an Instrumenten ein, um den Flächenverbrauch
schrittweise zu reduzieren und langfristig zu stoppen. Hektarweise
liegen alte Industrieflächen brach, die man wieder nutzen kann. So
ermöglichen wir wirtschaftliche Entwicklung, ohne dabei grüne
Wiesen einzuebnen. Wir streben in Abstimmung mit den Ländern
eine Sanierung aller Altlasten bis zum Jahr 2050 an und wollen ge
rade die Kommunen dabei unterstützen, alte, versiegelte Industrie-
und Brachflächen zu reaktivieren.
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3. Wir schützen Pflanzen und Tiere
Das Aussterben von Tier und Pflanzenarten, die Bedrohung der ge
samten biologischen Vielfalt, hat unabsehbare Konsequenzen für das
ökologische Gleichgewicht der Erde. Der Schutz der biologischen
Vielfalt ist bei uns genauso wichtig wie in den tropischen Regenwäl
dern oder in der Arktis. Jede dritte Art ist in Deutschland vom Aus
sterben bedroht.
Zu den Hauptgründen zählt die industrielle Landwirtschaft mit
ihren Pestiziden und Monokulturen. Heute kann man von Flensburg
nach Freiburg fahren, ohne immer wieder die Frontscheibe seines
Autos von Insekten reinigen zu müssen. Das ist keine gute Nach
richt. Denn „Pflanzenschutz“ heißt in der industriellen Landwirt
schaft heute vor allem Insektenvernichtung. In den vergangenen
Jahren hat die Zahl der fliegenden Insekten um 80 Prozent abge
nommen. Damit wird die Nahrungskette schon zu Beginn durch
trennt: Findet die Schwalbe keine Mücke, sind auch ihre Tage ge
zählt. So löschen wir die „Festplatte“ unserer Natur jeden Tag ein
Stück mehr und hinterlassen biologische Einöde statt blühender
Landschaften. Auch unsere Ernährung hängt von funktionierenden
Ökosystemen ab: Ohne die Bestäubungsleistung der Bienen sähen
unsere Supermarktregale ganz schön leer aus.
Wir GRÜNE setzen auf konsequenten Natur- und Artenschutz.
Damit erhalten wir nicht nur die natürliche Vielfalt und Schönheit
der Landschaft, eine intakte Natur leistet auch unbezahlbare Diens
te, zum Beispiel im Wasser-, Boden- und Luftschutz, und stellt wich
tige Grundstoffe für unzählige Produkte, etwa in der Chemie und
Medizin, zur Verfügung. Das gilt insbesondere für den Wald, dem auf
einem Drittel der Fläche Deutschlands eine besondere Rolle für den
Klima- und Artenschutz zufällt. Um die biologische Vielfalt zu
schützen, werden wir dafür sorgen, dass die bestehende Gesetzge
bung im Naturschutzbereich konsequent umgesetzt und wo nötig
an die Erfordernisse des Naturschutzes angepasst wird. Weiterhin
werden wir internationale Konventionen wie das Übereinkommen
über die biologische Vielfalt umsetzen.
Immer neue Gewerbegebiete, Straßen und Siedlungen planieren
die Natur zu und zerstören die letzten wilden Lebensräume für vie
le Tiere und Pflanzen. Wir GRÜNE wollen stattdessen Wildnis zulas
sen. Neben traditionellen artenreichen Kulturlandschaften wie zum
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Beispiel Heide oder den bunten Orchideenwiesen, die auf eine ex
tensive Bewirtschaftung angewiesen sind, schützen wir Wälder,
damit sie sich wieder zu Urwäldern entwickeln können, ebenso wie
Moore und Auen. So wie in Baden-Württemberg und Rheinland
Pfalz, wo unsere Landesregierungen zwei neue Nationalparks er
kämpft haben.
Für unseren Siedlungs- und Infrastrukturbedarf kann durch Um
nutzung und Nachverdichtung ausreichend Platz gefunden werden.
Wir unterstützen die Einrichtung von weiteren Nationalparks und
eine Ausweitung des Grünen Bandes. Natur hat für uns auch dann
einen Wert, wenn dieser nicht in Euro und Cent ausgedrückt werden
kann. Die Praxis der Land-, Fischerei- und Forstwirtschaft soll sich
künftig am Schutz der biologischen Vielfalt ausrichten. Deshalb
wollen wir unter anderem den Naturschutz im Waldgesetz veran
kern und naturnahe Waldbewirtschaftung unterstützen. Bei Eingrif
fen in die Natur werden wir die Ausgleichsregelungen so gestalten,
dass stets der größte Nutzen für die Natur und den Naturschutz er
reicht wird.
4. Ressourcen schonen – Vom Müllberg zum Kreislauf
Stetig steigt die Müllflut. Viele Produkte wie Plastiktüten und Ein
weg-Kaffeebecher werden nur kurz genutzt und dann weggeworfen.
Einige Hersteller gestalten ihre Produkte so, dass sie nicht reparier
bar sind. Damit schaden sie der Umwelt und den Verbraucher*innen.
Wir wollen längere Lebensdauern von Produkten fördern und da
durch zu einer Schonung von Ressourcen beitragen.
Ökologisch vorteilhafte Pfandsysteme werden von Getränkein
dustrie und -handel mit Unterstützung der Bundesregierung gezielt
unterlaufen. Wir GRÜNE wollen, dass unsere Ressourcen geschützt
werden, so werden wir unter anderem dafür sorgen, dass Plastikein
wegflaschen durch Mehrweg ersetzt werden. Mit einer Ressourcen
abgabe auf Produkte setzen wir einen Anreiz für Ressourcenschutz
und Effizienzmaßnahmen. Alle, die Ressourcen nutzen, sollen für
die ökologischen und sozialen Kosten ihrer Gewinnung bezahlen
und die Förderung einer echten Kreislaufwirtschaft mitfinanzieren.
Auch heute noch wird Abfall nicht ausreichend in den Kreislauf zu
rückgeführt. Mit einem Wertstoffgesetz, das anspruchsvolle Ver
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wertungsquoten festschreibt, machen wir Haus- und Gewerbemüll
zu einer Quelle für Neues. Dabei sehen wir die Verantwortung für
die Abfallsammlung bei den Kommunen.
Wir wollen eine Kreislaufwirtschaft, die mit neuen Produkten
neue Märkte erschließt und neue Arbeitsplätze schafft und zugleich
unseren Rohstoffverbrauch entscheidend verringert. Denn eine an
dere Ressourcenpolitik ist nicht nur ökologisch notwendig. Sie trägt
auch dazu bei, den Wettlauf um immer knapper werdende Ressour
cen, der mit Menschenrechtsverletzungen und kriegerischen Kon
flikten einhergeht, einzudämmen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Für sauberes Wasser ohne Gift und Plastik
Wasser ist unser wichtigstes Lebensmittel. Damit unsere Gewäs
ser einen guten ökologischen Zustand erreichen, richten wir das
Düngerecht an ihrem Schutz aus. Wir machen uns für eine inter
nationale Plastikkonvention zur Verringerung von Plastikmüll
stark, fördern innovative Projekte zur Abfallvermeidung und zei
gen dem unnötigen Einsatz von Mikroplastik in Kosmetikproduk
ten die Rote Karte. Hersteller von problematischen Medikamen
ten, Chemikalien und umweltschädlichen Pestiziden wollen wir
mit in die Verantwortung nehmen, die Schäden zu beseitigen.
Saubere Luft in Städten
Um die Luft in Städten sauberer zu machen und Fahrverbote zu
vermeiden, wollen wir, dass alle manipulierten Autos auf Kosten
der Autoindustrie so umgerüstet werden, dass sie die Grenzwer
te auch im Realbetrieb einhalten. Für die Folgeerkrankungen
sollen die Hersteller Verantwortung übernehmen, die Kosten
sollen nicht immer auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Mit
der blauen Plakette sollen Kommunen die Möglichkeit bekom
men, die Mobilität zum Schutz der Gesundheit ihrer Bürgerinnen
und Bürger zu steuern. Wir wollen neben dem öffentlichen Ver
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kehr sowie dem Radverkehr emissionsfreie Mobilität besonders
bei Fahrzeugen fördern, die viel in Innenstädten unterwegs sind.
Artenvielfalt schützen
Das große Artensterben ist neben der Klimakrise die zweite
existenzielle Bedrohung für unsere globalen Ökosysteme und
damit auch für uns Menschen. Wir wollen unsere Natur und un
seren Artenreichtum schützen. Dazu werden wir den Natur
schutz übergreifend in allen Politikbereichen verankern sowie
finanziell und personell angemessen ausstatten. In Naturschutz
gebieten sollen die Ziele des Naturschutzes Vorrang vor allen
anderen Nutzungen haben. Den Biotopverbund wollen wir bun
desweit ausbauen und Schutzgebiete ambitioniert umsetzen
und managen und großflächige Wildnisgebiete aus der Nutzung
nehmen. Einer der größten Artenkiller ist die industrialisierte
Landwirtschaft, besonders der flächendeckende massive Einsatz
von Gülle und Pestiziden. Wir werden deshalb Sofortmaßnah
men ergreifen, um die flächendeckende Vergiftung und Über
düngung unserer Landschaft einzudämmen, auf eine Reform der
EU-Agrarpolitik im Einklang mit der Natur drängen und einen
eigenen Naturschutzfonds fordern.
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II. WIR SORGEN FÜR GESUNDE
LEBENSMITTEL UND
BEENDEN TIERLEID
Unser Ziel ist eine vielfältige Landwirtschaft, die ohne Gift, Gentech
nik und Tierleid gesundes Essen für alle erzeugt. Eine Landwirtschaft,
in der die Leistungen unserer Landwirt*innen gewürdigt werden und
die ihnen ein gutes Auskommen verschafft. Die unsere Versorgung mit
gesunden und bezahlbaren Lebensmitteln sichert und auf gute Pro
dukte für den Wochenmarkt statt auf Massenproduktion für den Welt
markt setzt. Die unserem Klima nützt, statt ihm zu schaden. Die mit
der Natur arbeitet und nicht gegen sie. Eine Landwirtschaft, die die
Würde von Tieren achtet, statt sie beispielsweise durch Amputationen
an die Industriehaltung anzupassen. Und eine Agrarpolitik, die für fai
re Entwicklungschancen sorgt, damit Kleinbäuerinnen und -bauern
weltweit nicht mit hochsubventionierten europäischen Agrarfabriken
und deren Abfällen konkurrieren müssen.
Viele Bäuerinnen und Bauern haben sich bereits mit uns auf den
Weg gemacht hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft. Sie bewirt
schaften Flächen, reich an Streuobstwiesen, Hecken, bunten Wiesen
und Weiden. Doch leider sieht es oft auch ganz anders aus: industri
elle Massentierhaltung, zu viel Gülle auf den Feldern, Glyphosat und
Gifte für Bienen und andere Insekten. Für uns steht fest: Die industri
elle Agrarwirtschaft ist eine Sackgasse. Außer der Agroindustrie
kennt sie nur Verlierer*innen. Diese Art der Agrarwirtschaft vernich
tet ihre eigene Grundlage durch großflächige Monokulturen auf den
Äckern und die Beschränkung auf wenige Hochleistungstierrassen.
Auch für den Boden- und Hochwasserschutz hat diese Art der Agrar
wirtschaft fatale Folgen. Eine solche Landwirtschaft richtet unsere
Naturräume zugrunde und ist so zum größten Naturkiller unserer Zeit
geworden. Zudem müssen viele Landwirt*innen aufgrund des wirt
schaftlichen Drucks ihre Höfe aufgeben. Sie ist weder gut für die
Verbraucher*innen noch für die Bäuer*innen.
Unsere Landwirt*innen leisten viel. Sie arbeiten hart und ver
sorgen uns zuverlässig mit Lebensmitteln. Deshalb wollen wir für
landwirtschaftliche Betriebe eine sichere Zukunft schaffen. Doch
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anders, als es die Agrarindustrie uns glauben machen will, gelingt
das besser ohne Gentechnik, Ackergift und Qualzucht. All das spricht
dafür, die Agrarwende so schnell wie möglich durchzuset zen – im
mer mehr Landwirt*innen und Verbraucher*innen sind dabei auf
unserer Seite. In den Ländern zeigen wir, dass es zusammen geht.
Solange bundesgesetzliche Regelungen nicht greifen, unterstützt
zum Beispiel Niedersachsen auf Initiative der GRÜNEN die Bäuerin
nen und Bauern finanziell, die ihren Schweinen nicht die Ringel
schwänze abschneiden. Und damit Milchbäuerinnen und -bauern
wirtschaftlich überleben können, kämpfen unsere Landwirtschafts
minister*innen in den Ländern für einen fairen Milchpreis.
Der ökologische Landbau bleibt unser Leitbild. Wir GRÜNE wol
len dafür sorgen, dass der Ökolandbau in den nächsten sieben Jah
ren mit einer Milliarde Euro gefördert wird. Aber auch für die kon
ventionelle Landwirtschaft gilt: Die landwirtschaftliche Produktion
muss auf der gesamten Fläche umweltverträglicher werden. Wir
wollen Bäuerinnen und Bauern den Weg ebnen, dass auch die Land
wirtschaft ihre Klimaverpflichtungen erfüllt und bis 2050 von der
industriellen Landwirtschaft auf eine klimaneutrale, ökologische
Landwirtschaft umstellt. Wir werden bäuerliche Betriebe unter
stützen und Existenzgründer*innen fördern, die im Einklang mit der
Natur produzieren und unsere gewachsenen Kulturlandschaften –
von den Knicks in Schleswig-Holstein bis zur Almbewirtschaf tung
in Bayern – bewahren.
1. Raus aus der industriellen Massentierhaltung
Wir GRÜNE wollen die Art und Weise, wie wir unser Essen produzie
ren, verändern. Unter den Bedingungen der heutigen Nutztierhal
tung leiden in erster Linie die Tiere. Für uns steht fest: Die Zustände
der Agrarindustrie sind einer modernen Gesellschaft unwürdig.
Deshalb fordern wir radikale Änderungen in der Tierhaltung. Bei un
serem Einsatz für eine zukunftsfähige Landwirtschaft wissen wir
uns unterstützt von vielen Verbraucher*innen, die möglichst gut
und gesund essen wollen. Sie verstehen nicht, warum der Export
weltmeister Deutschland ausgerechnet bei der Versorgung mit Bio
lebensmitteln auf Importe angewiesen ist. Und warum regionale
Produkte im Handel Mangelware sind.
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Am schlimmsten ist die Entwicklung bei der industriellen Mas
sentierhaltung aus dem Ruder gelaufen. Die wachsenden Fleisch
exporte führen zu traurigen Rekordzahlen in den Schlachthöfen,
wo prekäre Beschäftigungsbedingungen oftmals den Arbeitsalltag
prägen. Zusammen mit der Mehrheit der Bürger*innen und vielen
Landwirt*innen wollen wir es nicht akzeptieren, dass gequälte Tiere
zusammengepfercht vor sich hin vegetieren und Schmerzen leiden
müssen, ohne je die Sonne zu sehen.
Wir wollen, dass die Tiere ein besseres Leben haben: mehr Platz in
den Ställen, Zugang zu frischer Luft und Tageslicht, kein Küken
schreddern, keine Amputationen und Qualzuchten, tiergerechte Füt
terung und deutlich weniger Antibiotika. Tierschutz schützt auch
unsere Gesundheit. Mit der Eindämmung des Antibiotikaeinsatzes
in der Landwirtschaft reduzieren wir auch die Gefahr multiresisten
ter Bakterien. Gute Arbeitsbedingungen und das Wohl der Tiere
müssen im Vordergrund stehen – von der Aufzucht und der Haltung
über den Transport bis zur Schlachtung. Wir wollen kleine regionale
Schlachthöfe und mobile Schlachteinrichtungen fördern, die Tier
transporte entbehrlich machen und Wege verkürzen. Wir wollen die
industrielle Massentierhaltung in den nächsten 20 Jahren beenden.
Das fördern wir mit einem Pakt für faire Tierhaltung, damit sich tier
und umweltgerechte Haltung auch wirtschaftlich rechnet. Auch aus
Klimaschutzgründen ist der Rückgang des Konsums tierischer Le
bensmittel eine gute Entwicklung.
In Schulen und Ausbildung sollen die globalen Folgen unserer
Lebensmittelproduktion thematisiert und verdeutlicht werden. Ko
mmunen sollen mitentscheiden können, ob Tierhaltungsanlagen
auf ihrem Gemeindegebiet entstehen. Zur Haltung unserer Nutztie
re existieren häufig keine oder unzureichende Gesetze. Deshalb ist
es unser Ziel, die Haltung aller Nutztiere in einer entsprechenden
Verordnung zu regeln. Zudem müssen die Informationen über Tier
haltung viel transparenter und zugänglicher gemacht werden. Dazu
gehört es neben der Freiheit von Krankheiten und Verletzungen
auch, das Wohl der Tiere zu beurteilen. Nur so können Verbrau
cher*innen wirklich eine Entscheidung darüber fällen, welches
Fleisch sie essen wollen.
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2. Für eine Landwirtschaft ohne Gift
Der massive Einsatz von umweltschädlichen Pestiziden hat verhee
rende Folgen für den Artenreichtum und den Erhalt der Bodenfrucht
barkeit. Wir GRÜNE wollen eine Lebensmittelproduktion, an der die
Bäuerinnen und Bauern verdienen und nicht die chemische Industrie.
Darum beenden wir den Einsatz von besonders schädlichen und ge
sundheitsgefährdenden Stoffen wie Glyphosat und Neonicotinoiden.
Hier nehmen wir besonders die großen Agrar- und Chemiekonzerne
in die Pflicht. Wir unterstützen die Bäuerinnen und Bauern dabei
pestizidfrei zu wirtschaften. Dazu legen wir ein Programm auf, das
den Pestizideinsatz eindämmt, und eine Pestizidabgabe enthält.
Damit stärken wir die Forschung bezüglich der Wirkungen von Pes
tiziden auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit. Die Zulas
sung neuer chemischer Wirkstoffe in der EU wollen wir einschrän
ken und aus dem Einflussbereich der Hersteller herausholen. Nur
was wirklich unbedenklich ist, darf auf den Markt gelangen.
Ein solcher Nachweis wird für gentechnisch veränderte Orga
nismen jedoch bis heute nicht erbracht. Genfood und Biopatente
braucht kein Mensch. Wir halten an unserem Standpunkt fest: Pflan
zen aus den Laboren der Agroindustrie haben auf unseren Äckern in
Deutschland und Europa nichts verloren.
Wir werden ein Gentechnikgesetz auflegen, das unsere Äcker
und unsere Teller frei von Gentechnik hält, auch wenn sie sich als
„neu“ tarnt. Und wir setzen uns dafür ein, dass die Verbraucher*innen
dank einer umfassenden Kennzeichnung auch erkennen können,
wenn ihr Fleisch, ihre Milch oder ihre Eier mithilfe von Futtermitteln
aus genetisch veränderten Pflanzen produziert wurden.
Digitalisierung in der Landwirtschaft kann einen wichtigen Bei
trag leisten, um ressourcenschonender, effizienter und tierwohlge
rechter produzieren zu können. Mit diesem Ziel unterstützen wir
auch die Forschung zum „Smart Farming“.
3. Klare Kennzeichnung
Unsere wichtigsten Verbündeten auf dem Weg zu einer nachhaltigen
Landwirtschaft sind die Verbraucher*innen. Doch die Lebensmittel
industrie macht es ihnen schwer, eine bewusste Kaufentscheidung
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zu treffen. Wir GRÜNE wollen, dass die Lebensmittelverpackung
sagt, was in ihr steckt. Darum werden wir eine eindeutige Kenn
zeichnung von Fleisch einführen, die deutlich macht, wie die Tiere
gehalten wurden – so wie bei der Kennzeichnung von Eiern. Und wir
führen die Kennzeichnung auch für verarbeitete Produkte ein. Dann
können Konsument*innen beim Einkaufen sich bewusst für tier- und
umweltfreundlich hergestellte Lebensmittel entscheiden.
Wir wollen, dass genießbare Lebensmittel auf dem Teller lan
den und nicht in der Tonne. Wir wollen verbindliche Reduktions
ziele bei der Lebensmittelverschwendung. Um diese Ziele zu errei
chen, sind alle gefragt: vom Handel über die Industrie und
Gastronomie bis zu den Verbraucher*innen. Deshalb wollen wir Su
permärkte ab einer gewissen Größe dazu verpflichten, nicht ver
kaufte, aber noch gute Lebensmittel kostenlos zur Verfügung zu
stellen. Dieses Angebot soll für alle Menschen offen sein. Dabei
soll sichergestellt werden, dass dies nicht zur Müllentsorgung
missbraucht wird. Menschen, die Lebensmittel aus dem Müll ret
ten, sollen nicht bestraft werden ( Kapitel: Wir machen Ver
braucherinnen und Verbraucher stark, S. 157).
4. Mehr Geld für grüne Landwirtschaft
Wir GRÜNE wissen: Der Umbau zu einer tier- und umweltfreund
lichen Landwirtschaft kostet zunächst einmal Geld. Gleichzeitig
sind wir davon überzeugt, dass eine andere Form der Landwirt
schaft für unsere Gesellschaft im Gesamten günstiger ist.
Wir wollen mit den Bäuerinnen und Bauern zusammenarbeiten,
die sich mit uns auf den Weg machen. Wir wollen, dass sie wieder
von ihrer Arbeit leben können, auch durch die Förderung bereits
etablierter, rein pflanzlicher Landwirtschaft. Die notwendigen Gel
der mobilisieren wir durch eine Umschichtung der europäischen Ag
rarmittel: Über 60 Milliarden Euro gibt die Europäische Union für die
Unterstützung ihrer Landwirt*innen aus, sechs Milliarden davon ge
hen direkt nach Deutschland. Aber bisher wird nur der Besitz von
Fläche belohnt, unabhängig davon, wie sie bewirtschaftet wird.
Deshalb erhalten nur 20 Prozent der Betriebe 80 Prozent der Mittel.
Die Bundesregierung hat großen Einfluss auf die Zukunft der euro
päischen Landwirtschaftspolitik. Wir wollen sicherstellen, dass die
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ser Einfluss genutzt wird: zugunsten der Landwirt*innen, der Konsu
ment*innen, der Tiere und der Natur.
Die intransparente und großflächige Aneignung von Landflä
chen durch agrarindustrielle Unternehmen und außerlandwirt
schaftliche Investor*innen ist eine traurige Realität in Deutschland.
Immer wieder kommt es zu massiven Preisexplosionen, während die
Bundesregierung sich vehement für die Interessen der industriellen
Landwirtschaft einsetzt. Das wollen wir beenden. Wir brauchen
endlich eine wirksame und transparente Regulierung des Marktes
für landwirtschaftliche Böden.
Wir wollen für die Agrarförderung das Prinzip „öffentliches
Geld für öffentliche Leistung“ so schnell wie möglich durchsetzen.
Unser Ziel ist eine europäische Agrarpolitik, die bei Lebensmitteln
den Umbau hin zu einer Landwirtschaft und einem Agrarmarkt
fördert, die auf Klasse statt Masse setzen. Die dafür sorgt, dass es
den Tieren in den Ställen besser geht. Die die Artenvielfalt erhält
und Klima, Wasser und Boden schützt. Wir wollen bäuerliche,
ökologische und regionale Wirtschaftsweisen unterstützen – und
nicht die exportorientierte, industrielle Agrarwirtschaft. Die euro
päische Agrarpolitik darf nicht mehr zulasten anderer gehen. Wir
wollen das Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität welt
weit sichern.
5. Tierschutz stärken
Auch außerhalb der Landwirtschaft wollen wir den Tierschutz stär
ken. Tiere empfinden Schmerzen, Leid und Angst. Deshalb streiten
wir GRÜNE dafür, Tiere um ihrer selbst willen zu schützen. Das
Staatsziel Tierschutz, das wir nach langem Kampf erreicht haben,
muss endlich mit Leben gefüllt werden. Deshalb brauchen wir ein
neues Tierschutzgesetz. Eine Mehrheit der Menschen in unserem
Land will wie wir keine Pelzfarmen dulden und das Leid von Wild
tieren im Zirkus und von Delfinen in Gefangenschaft beenden. Tiere
sind für uns keine Gegenstände, die zu Unterhaltungszwecken ge
quält werden dürfen. Wenn Tiere möglichst naturnah gehalten wer
den, können zoologische Gärten wichtige Funktionen übernehmen,
wie zum Beispiel bei Arterhaltungsprogrammen oder bei der Um
weltbildung.
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Wir GRÜNE wollen Tierversuche konsequent reduzieren und
schnellstmöglich überflüssig machen. Qualzucht wollen wir auch
bei Heimtieren beenden. Aus Tier- und Artenschutzgründen wollen
wir eine rechtskonforme Positivliste mit den Tierarten, die privat
gehalten werden können, aufstellen und Haltungsvoraussetzungen
formulieren wie etwa Sachkundenachweise für bestimmte Tier
arten. Kommerzielle Exotenbörsen wollen wir unterbinden. Der
Handel mit exotischen Tieren muss schärfer reguliert und strenger
kontrolliert werden. Illegalen Tierhandel wollen wir konsequent
verhindern. Die wichtige Arbeit der Tierheime soll endlich entspre
chend finanziert werden. Um den Tierschutz effektiver durchsetzen
zu können, werden wir ein bundesweites Verbandsklagerecht für
Tierschutzorganisationen schaffen und eine*n Bundesbeauftragte*n
für Tierschutz einsetzen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Kein Gift in der Landwirtschaft
Wir wollen eine giftfreie Landwirtschaft und gesunde Lebens
mittel auf unseren Tellern. Eine Landwirtschaft, die ohne Gly
phosat und Gifte für Bienen arbeitet. Der Einsatz von Glyphosat
hat einen erheblichen Anteil am dramatischen Artensterben. Neo
nicotinoide verursachen massenhaftes Bienensterben. Darum
werden wir sie verbieten. Wir wollen die Zulassungsverfahren so
ändern, dass nur noch für Menschen unbedenkliche Stoffe zuge
lassen werden und die Risiken für die Natur minimiert werden.
Ausstieg aus der Massentierhaltung
Tiere brauchen mehr Platz für Auslauf, Rückzug und zum Aus
leben arteigener Verhaltensweisen. Wir beenden das Küken
schreddern, die Qualzucht auf Kosten der Tiergesundheit und
den Missbrauch von Antibiotika. Die Schlachtung von Tieren darf
nicht im Akkord geschehen. Wir streiten für kleine regionale
Schlachthöfe und mobile Schlachteinrichtungen. Lebendtrans
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porte begrenzen wir konsequent auf vier Stunden. Gemeinsam
mit den Bäuerinnen und Bauern wollen wir den Strukturwandel
zu einer Landwirtschaft schaffen, die besser mit Tieren umgeht.
Wir wollen sämtliche – auch verarbeitete – Tierprodukte verläs
slich kennzeichnen, damit Verbraucherinnen und Verbraucher
beim Einkauf bewusst entscheiden können.
Alternativen zu Tierversuchen fördern
Wir wollen Tierversuche endlich konsequent reduzieren und
schnellstmöglich überflüssig machen. Jedes Jahr werden Millio
nen Tiere in Tierversuchen regelrecht verbraucht. Dabei verur
sachen tierfreie Methoden deutlich weniger Tierleid, außerdem
sind Erkenntnisse aus Tierversuchen nur bedingt auf den Men
schen übertragbar. Hier brauchen wir einen Paradigmenwechsel.
Damit das gelingt, wollen wir das Tierschutzrecht stärken und
Alternativen zu Tierversuchen, wie zum Beispiel Organchips, bei
denen der menschliche Organismus im Kleinstmaßstab simuliert
wird, zügig voranbringen. Auch an Hochschulen wollen wir tier
versuchsfreie Verfahren stärken, das Wissen in die Lehre über
führen und Studierenden die Möglichkeit geben, ohne Tierver
suche durch das Studium zu kommen.
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III. WIR RETTEN DAS KLIMA
Die vom Menschen verursachte Klimakrise wird zur Klimakatastro
phe, wenn wir den Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch re
duzieren. Das massive Verbrennen fossiler Energieträger wie Kohle
und Öl macht die Erde zum Treibhaus. Schon heute nehmen welt
weit extreme Wetterereignisse wie Stürme, Hitze und Dürren stark
zu. Der Meeresspiegel steigt an, Gletscher schmelzen ab und an vie
len Orten werden Wassermangel und Trockenheit immer dramati
scher. Das Meereis in der Arktis und Antarktis schwindet rasant, die
Permafrostböden von Kanada bis Sibirien tauen immer schneller
auf. Wenn wir diese Entwicklung nicht stoppen, könnten bis 2050
nach Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen bis
zu 250 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Heimat zu verlas
sen. Auch hierzulande spüren wir schon Veränderungen wie häufi
gen Hagel, Starkregen, Stürme und eine sich verändernde Tier- und
Pflanzenwelt. Das Umweltbundesamt warnt vor extremer Trocken
heit und Hitze, vor Überflutungen an Flüssen und den Küsten. Zu
dem ist auch unsere Gesundheit bedroht – durch Hitze, Infektions
erreger, Allergien.
Zum Glück haben fast alle Staaten der Erde die Notwendigkeit
des Klimaschutzes erkannt. Das Klimaabkommen von Paris 2015
war ein großes Hoffnungszeichen. Die Welt will umsteuern und die
Erderhitzung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst 1,5 Grad, be
grenzen. Das schnelle Inkrafttreten des Klimaabkommens macht
Mut. Jetzt muss es umgesetzt werden. Wenn Trump aus dem Klima
abkommen aussteigt, müssen Deutschland und Europa den Klima
schutz jetzt entschieden anpacken. Denn die Klimakrise wartet
nicht, bis es sich die US-Regierung vielleicht irgendwann wieder
anders überlegt. Wenn die USA sich aus der finanziellen Unterstüt
zung der am meisten vom Klimawandel betroffenen armen Staaten
zurückziehen, dann muss die EU dafür sorgen, dass diese Lücke ge
schlossen wird. In der Handelspolitik müssen CO2-Minderungsziele
eine Voraussetzung für neue Abkommen sein. Dafür wollen wir
noch stärker mit ambitionierten Staaten und auch US-Bundesstaa
ten wie Kalifornien zusammenarbeiten – wie es das grün regierte
Baden-Württemberg in seiner Klimaallianz bereits vormacht.
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Leider ignorieren CDU/CSU und SPD die Realität der Klimakrise
und riskieren fahrlässig die Zukunft unserer Kinder und die Zu
kunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. Deutschlands Emissionen sta
gnieren seit über sieben Jahren. Vom deutschen Klimaziel, unseren
CO2-Ausstoß bis 2020 im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent zu sen
ken, sind wir meilenweit entfernt. Angela Merkel und Martin Schulz
halten an der klimaschädlichen Kohle fest. Landwirtschaft und Ver
kehr stoßen immer mehr Treibhausgase aus, die energetische Mo
dernisierung von Gebäuden kommt nicht voran. Wir wollen in die
klimaneutrale Zukunft gehen und unsere Wirtschaft ökologisch
modernisieren. Dafür werden wir aus der Kohle aussteigen, die
erneuerbaren Energien weiter ausbauen, zusätzliche Mittel für
die ener ge tische Gebäudesanierung bereitstellen, Energieeffizienz
und alle Ar ten emissionsfreier Mobilität fördern und die Landwirt
schaft umwelt- und klimaverträglich machen. So sichern wir durch
zukunftsfähiges Wirtschaften Arbeitsplätze und gesellschaftlichen
Wohlstand.
1. Klimaabkommen von Paris jetzt umsetzen
Wir GRÜNE wollen das Abkommen von Paris mit Leben füllen. Das
zentrale Instrument dazu ist ein bundesweites Klimaschutzgesetz, so
wie wir GRÜNE es auf Landesebene zuerst in NRW und dann in zahl
reichen weiteren Bundesländern bereits eingeführt haben. Damit be
schreiben wir den Klimaschutzpfad bis 2050 und setzen verbindliche
und planbare Ziele. Neben Industrie und Energiewirtschaft müssen
auch der Verkehr, die Landwirtschaft und der Gebäudesektor ihren
Beitrag leisten. Sie sind es, die gegen den Trend steigende Emissio
nen zu verzeichnen haben. Werden die Ziele nicht erreicht, muss die
Politik nachsteuern. Nur so gelingt es, auf dem Modernisierungspfad
zu bleiben.
Dem Ausstoß von Treibhausgasen wollen wir endlich einen Preis
geben, der die ökologische Wahrheit sagt. Derzeit kommt viel zu gut
weg, wer die Atmosphäre aufheizt, denn CO2Zertifikate sind viel zu
billig. Der EU-Emissionshandel muss reformiert werden, damit der
Ausstoß von Klimagasen wieder echtes Geld kostet. Hierfür müssen
überschüssige CO2 Zertifikate dauerhaft gelöscht und die kosten
lose Zuteilung von Zertifikaten beendet werden.
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Durch einen gesetzlichen CO2-Mindestpreis und eine ehrliche
CO2-Bepreisung auch außerhalb des Emissionshandels sorgen wir
dafür, dass sich Investitionen in Klimaschutz betriebswirtschaftlich
lohnen und planbarer werden. Aus diesen Einnahmen schaffen wir
die Stromsteuer ab, reduzieren die EEG Umlage und finanzieren
weitere Klimaschutzmaßnahmen – zum Beispiel die Umstellung auf
kohlenstoffarme Industrieprozesse und zusätzliche Mittel für die
sozial verträgliche, energetische Gebäudemodernisierung. Denn die
Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien muss auch zu einer
Kostenentlastung bei den privaten Hauhalten führen. Strom aus er
neuerbaren Energien darf gegenüber den Klimakillern Kohle, Öl
und Gas nicht weiter benachteiligt werden.
Neben den nationalen Klimazielen müssen auch die europä
ischen Ziele an die Vereinbarungen von Paris zur Rettung des Klimas
angepasst werden. Für alle 27 Staaten der EU muss bis 2050 eine
CO2-Reduktion von mindestens 95 Prozent gegenüber 1990 ver
pflichtend sein.
2. Kohleausstieg jetzt einleiten!
Ohne einen zügigen Kohleausstieg sind all diese Mühen umsonst.
Mindestens 80 Prozent aller fossilen Brennstoffe müssen im Boden
bleiben, wenn „Klimaschutz“ mehr als eine Worthülse sein soll.
Wir GRÜNE wollen in den nächsten vier Jahren unsere volle Ener
gie dafür einsetzen, den Kohleausstieg unumkehrbar einzuleiten.
Weil Treibhausgase sich in der Erdatmosphäre anreichern, ist es für
das Klima entscheidend, dass unverzüglich der Ausstoß des klima
schädigenden CO2 reduziert wird; weniger entscheidend ist, wann
exakt das allerletzte Kohlekraftwerk vom Netz geht. Laufen alle
Kohlekraftwerke mit voller Kraft weiter, würde Deutschland sein
Emissionsbudget im Energiebereich mit Blick auf das 1,5-Grad-Limit
bereits bis 2025 aufbrauchen. Um das international zugesagte
deutsche Klimaziel für das Jahr 2020 überhaupt noch schaffen zu
können, werden wir unverzüglich die 20 dreckigsten Kohlekraftwer
ke vom Netz nehmen und den CO2-Ausstoß der verbleibenden Koh
lekraftwerke analog zu den Klimazielen deckeln. Wir werden den
Kohleausstieg im Einklang zu unserem Ziel 100 Prozent erneuerba
re Energien im Strombereich bis 2030 gestalten. Hierfür verwenden
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wir die Instrumente unseres Kohleausstiegsfahrplans, mit dem wir
das Ende des Kohlezeitalters in Deutschland planungssicher und
unumkehrbar gestalten.
Wir achten darauf, dass der Ausstieg in einem breit angelegten
Dialog erfolgt, wir werden ihn sozial verträglich gestalten und neue
Arbeitsplätze schaffen. Die Finanzierung des Strukturwandels muss
eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Energieunter
nehmen sein.
Den Aufschluss neuer Braunkohletagebaue und ihre Erweiterung
sowie den Bau neuer Kohlekraftwerke werden wir verhindern und
keine neuen Umsiedlungen mehr zulassen. Ein Kohleausstiegsgesetz
und ein novelliertes Bergrecht schaffen hierfür die Grundlage. Das
schafft Klarheit für die Unternehmen, die Beschäftigten und die
Menschen in den betroffenen Regionen. Um das Klima international
zu schützen, werden wir zudem die Hermes-Bürgschaften für den
Export deutscher Kohletechnik stoppen. Kohle hat keine Zukunft!
3. Klimaschutz auf allen Ebenen
Wir müssen auf allen Ebenen handeln, alle Möglichkeiten nutzen und
zeigen, wie es geht. Wenn wir die Erderwärmung wirklich auf deutlich
unter zwei Grad halten wollen, müssen wir die Art und Weise, wie wir
produzieren, wie wir uns fortbewegen, wie wir bauen, wie wir uns er
nähren, grundlegend ändern. Unsere Gesellschaft muss ihre Lebens
stile und Konsumgewohnheiten überdenken und nachhaltiger ge
stalten. Deshalb sind zum Beispiel der Rückgang des Konsums
tierischer Lebensmittel, die Zunahme des Fahrradverkehrs in den
Städten oder der Trend zum Urlaub vor Ort auch aus Klimaschutz
gründen gute Entwicklungen. Auch die Reduzierung des Rohstoffver
brauchs schont das Klima. Gerade bei den Bau- und Grundstoffen wie
Stahl, Zement stehen wir jedoch noch ziemlich am Anfang der Trans
formation.
Mit einer klimaneutralen Verwaltung des Bundes gehen wir vo
ran, zum Beispiel bei der öffentlichen Beschaffung, bei der Gebäu
desanierung, beim Fuhrpark. Gezielte Angebote sollen die kommu
nale Ebene ermutigen, uns zu folgen. Denn auch dort, wo es nicht so
offensichtlich ist, sind mit wenig Aufwand große Erfolge beim Kli
maschutz zu erzielen.
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Trotz all der Anstrengungen müssen wir uns an das Unvermeid
liche anpassen und uns – zum Beispiel durch städtisches Grün und
andere städtebauliche Maßnahmen, die zugleich mehr Lebensqua
lität schaffen – auf klimabedingte Starkregenereignisse, Stürme und
Extremhitze vorbereiten.
Auch Moorschutz ist Klimaschutz. Deshalb werden wir dafür sor
gen, dass intakte Moorböden besser geschützt und für trockenge
legte Moore flächendeckend Maßnahmen der Wiedervernässung
ergriffen werden.
Wir GRÜNE stellen uns auch der internationalen Verantwortung
Deutschlands. Wir setzen uns für einen gesamteuropäischen Dialog
über den Ausstieg aus Kohle und Atom ein. GRÜN steht für einen
europäischen Kohlekonsens und für eine europäische Unterstüt
zung der Transformationsprozesse in den Regionen. In den Ländern
des globalen Südens wollen wir eine alternative und kohlenstoff
arme Entwicklung, Klimaschutzinvestitionen und die Anpassung an
die unvermeidlichen Folgen der Klimakrise unterstützen. Das ist ge
recht, denn die Klimaveränderungen und Schäden in diesen Län
dern sind die Folgen des fossilen Zeitalters, von dem wir in Europa
wirtschaftlich mit am meisten profitiert haben.
Die Schäden unseres bisherigen Handelns abzufedern, hilft, faire
Chancen zu schaffen. Hilfen bei der Anpassung an die Klimakrise
eröffnen neue Lebensperspektiven auch in den besonders betroffe
nen Ländern. Diese Mittel ergänzen die allgemeine Entwicklungs
finanzierung.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Klimaschutzgesetz einführen
In Paris haben sich alle Staaten der Welt verpflichtet, die Erder
hitzung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Mit einem
Klimaschutzgesetz wollen wir die dazu notwendigen nationalen
Reduktionsziele rechtsverbindlich festlegen und Ziele für alle
relevanten Sektoren definieren: Stromerzeugung, Verkehr, Land
wirtschaft, Industrie und Gebäudeenergie. Dies unterlegen wir
mit ambitionierten Aktionsplänen in den einzelnen Sektoren:
vom Umstieg auf umweltfreundliche Mobilität über den Schutz
organischer Böden bis zur energetischen Gebäudemodernisie
rung. So geben wir Impulse für Investitionen in den Klimaschutz.
Klimaverschmutzung mit einem ehrlichen Preis belegen
Wer die Atmosphäre aufheizt, kommt viel zu gut weg, denn CO2-
Zertifikate sind viel zu billig. Der EU Emissionshandel muss re
formiert werden, damit die Kosten für den Ausstoß von Klimaga
sen von denjenigen getragen werden, die sie verursachen. Das
schafft auch fairen Wettbewerb für klimafreundliche Produkte
und Dienstleistungen. Überschüssige CO2 Zertifikate müssen da
her dauerhaft gelöscht und die kostenlose Zuteilung von Zertifi
katen beendet werden. Mit einem gesetzlichen CO2-Mindest
preis sorgen wir dafür, dass der Emissionshandel nicht weiter
leerläuft und dass Klimaschutzinvestitionen sich betriebswirt
schaftlich lohnen und planbar werden. Aus diesen Einnahmen
finanzieren wir weitere Klimaschutzmaßnahmen, zum Beispiel
die Umstellung auf kohlenstoffarme Industrieprozesse und die
sozial verträgliche, energetische Gebäudemodernisierung.
Kohleausstieg jetzt
Keine andere Technologie setzt mehr CO2 , Quecksilber und
Stickoxide in die Umwelt frei als die Kohleverstromung. Wir wol
len die Kohle in der Erde lassen und aus der Kohlekraft ausstei
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gen. Um das international zugesagte deutsche Klimaziel für das
Jahr 2020 überhaupt noch schaffen zu können, werden wir un
verzüglich die 20 dreckigsten Kohlekraftwerke vom Netz neh
men und den CO2-Ausstoß der verbleibenden Kohlekraftwerke
analog zu den Klimazielen deckeln. Wir werden den Kohleaus
stieg im Einklang zu unserem Ziel 100 Prozent erneuerbare
Energien im Strombereich bis 2030 gestalten. Dafür haben wir
einen Fahrplan Kohleausstieg vorgelegt, mit dem wir den Weg
zum Ende des Kohlezeitalters beschreiten. Um die Weichen rich
tig zu stellen, lassen wir keine neuen Tagebaue zu. Wir wollen
den notwendigen Strukturwandel in den Regionen gemeinsam
mit allen Beteiligten gestalten – ökologisch und sozial verträg
lich. Dafür richten wir einen Fonds ein, der auch für die Sanie
rung der Bergbaufolgeschäden eingesetzt werden soll.
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IV. WIR BEGRÜNEN UNSERE
WIRTSCHAFT FÜR UMWELT
SCHUTZ, LEBENSQUALITÄT
UND NEUE ARBEITSPLÄTZE
Die technologischen Sprünge der vergangenen beiden Jahrhunderte
haben den Wohlstand und die Lebensqualität vieler Menschen außer
ordentlich verbessert. Doch seit Langem ist klar, dass die industrielle
Wirtschaftsweise nicht nur Wohlstand schafft, sondern auch syste
matisch unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen zerstört. Materiel
les Wachstum steigert nicht in jedem Fall die Lebensqualität.
Die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft ist die
existenzielle Aufgabe unserer Zeit. Denn heute verschwendet unse
re Art zu wirtschaften noch wertvolle Ressourcen, heizt unser Klima
auf und bedroht weltweit unser Trinkwasser, unsere Luft und unse
re Böden. In unserem eigenen Menschheitsinteresse müssen wir das
dringend ändern. Und es ist möglich. Wir können unser Leben ver
bessern, ohne immer weiter materiell wachsen zu müssen.
Wir GRÜNE treten seit unserer Gründung für die ökologische Mo
dernisierung der Industriegesellschaft ein. Viele Menschen gehen
diesen Weg mit uns. Bürger*inneninitiativen und Nicht-Regierungs
organisationen kämpfen für Natur- und Umweltschutz. Unterneh
men schreiben mit grünen Ideen schwarze Zahlen, Unternehmens
initiativen setzen sich für Klimaschutz ein. Unser Land ist dabei seit
den 1970er-Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Abgase werden
inzwischen gefiltert, Abwässer nicht mehr einfach in die Flüsse ge
leitet, es wird ökologischer gebaut und produziert. Innovative
Unternehmer*innen und Tüftler*innen entwickeln Produkte und
Dienstleistungen, die dabei helfen, unsere Lebensqualität zu ver
bessern und den Ressourcenverbrauch zu senken. Sie sind die
Pionier*innen des grünen Wandels, eines neuen, nachhaltigen
Wohlstands.
Jetzt geht es darum, die Begrünung der Wirtschaft und vor allem
der Industrie quer durch alle Branchen voranzutreiben. Die grüne
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Energiewende hat gezeigt, dass es geht: Deutschland hat sich auf
den Weg gemacht, seine hoch entwickelte Industriegesellschaft
ohne Klimagase und Atommüll mit Strom zu versorgen. Nun
braucht es mutige grüne Politik und engagierte Bürger*innen,
Ingenieur*innen und Unternehmer*innen, um die ökologische Mo
dernisierung zum Ziel zu bringen.
1. Grünen Rahmen setzen für die ökologische Modernisierung
Grüne Wirtschaftspolitik macht ehrgeizige Vorgaben in Form von
Grenzwerten, CO2-Reduktionszielen und Produktstandards, die in
realistischen Zeiträumen erreicht werden können. Das mutet man
chen energieintensiven Unternehmen zwar etwas zu, schafft aber
Planungssicherheit und gibt Impulse für Investitionen. Wir sind die
Partei an der Seite der Unternehmen, die bei dieser Transformation
vorangehen und beispielsweise schon heute einen CO2-Preis bei ih
ren Investitionsentscheidungen zugrunde legen. Gleichzeitig för
dern wir dabei neue Technologien und Wissen. So können wir es
schaffen, die ökologische Modernisierung in den verschiedenen Sek
toren umzusetzen. Klar ist auch, dass die öffentliche Hand bei der
ökologischen Modernisierung nicht hinterherhinken darf, weswegen
wir die öffentliche Beschaffung konsequent auf die jeweils ressour
censchonendsten Produkte und Dienstleistungen ausrichten wollen.
Wir werden dafür sorgen, dass Preise die ökologische Wahrheit
sagen, denn die Verursacher*innen von Umweltzerstörung dürfen
die Kosten nicht länger auf die Allgemeinheit abwälzen. So setzen
wir auch die richtigen Anreize dafür, dass andere – umweltfreundli
chere – Techniken entwickelt und schnell marktfähig werden. Ein
Wettstreit um die beste ökologische Lösung kommt in Gang. Ökolo
gisch ehrliche Preise belohnen Unternehmen, die mit Ressourcen
pfleglich umgehen und Emissionen senken. Auch die Verbrau
cherinnen und Verbrauc her profitieren, wenn langlebige Geräte
Neuanschaffungen ersparen und klimafreundliche Heizungen die
Nebenkosten senken. Umweltschädliches Verhalten wollen wir
nicht weiter subventionieren. So sind zum Beispiel schwere Dienst
wagen und der Flugverkehr heute steuerlich bevorzugt, obwohl sie
ökologisch schädlicher sind als ihre Alternativen. Subventionen wie
diese belaufen sich auf über 50 Milliarden Euro pro Jahr. Es ergibt
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keinen Sinn, umweltschädliches Verhalten zu subventionieren. Eine
ökologische Finanzreform muss deshalb den Abbau dieser ökolo
gisch schädlichen Subventionen angehen. Dabei gilt es, in einem
ersten Schritt die umweltschädlichsten beziehungsweise die am
einfachsten zu kappenden Subventionen in Höhe von wenigstens
zwölf Milliarden Euro einzusparen. Dieses Geld wollen wir in den
Klimaschutz investieren und dabei gerade ärmere Haushalte bei In
vestitionen zum Energie- und Ressourcensparen unterstützen.
Durch eine ökologische Steuerreform wollen wir nicht mehr um
weltschädliche, sondern stärker ökologisch nachhaltige Produkti
onsprozesse, Erzeugnisse und Dienstleistungen begünstigen. Dabei
werden wir die Möglichkeit, neben sozialen auch ökologische Ziele
bei der Mehrwertsteuer zu berücksichtigen, wie zum Beispiel 2011
vom EU-Parlament und wiederholt vom Umweltbundesamt emp
fohlen, im Hinblick auf Umsetzbarkeit prüfen.
2. Mit grüner Industriepolitik den Industriestandort
und Arbeitsplätze sichern
Die ökologische Modernisierung ist die Zukunftssicherung für alle
Industriezweige in Deutschland. Alle Branchen müssen ihren Bei
trag zu Klima- und Ressourcenschutz leisten. Und für alle Branchen
gilt: Wenn wir den Anschluss verpassen, wie es zum Beispiel beim
Elektroauto droht, gehen Arbeitsplätze und Wohlstand verloren.
Konkret heißt das: weg vom Verbrennungsmotor und hin zum Elek
troantrieb beziehungsweise emissionsfreien Antrieb. In der Schiff
fahrt weg vom Schweröl hin zu alternativen Antrieben. Weg vom
Öl und Gas und hin zu nachwachsenden Rohstoffen in der Chemie
industrie. Die Bauwirtschaft kann mit Holzbau oder Textilbeton
Ressourcen und Emissionen einsparen. Damit sichern wir den Indus
triestandort Deutschland. Denn auch in der Zukunft wird unser
Wohlstand von guten und sicheren Arbeitsplätzen abhängen. Wir
tun das im Dialog mit Unternehmen, Gewerkschaften und der Wis
senschaft. Doch wenn nötig, auch im Konflikt mit den Lobbys der
alten Industrien.
Von besonderer Bedeutung ist in Deutschland die Automo
bilbranche. Ihr wollen wir helfen, den Sprung ins 21. Jahrhundert zu
schaffen, in der Mobilität ohne Schadstoffausstoß funktionieren
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muss. Das ist eine zentrale Frage mit Blick auf Umweltzerstörung
und Klimakrise. Dass dieser Sprung gelingt, ist aber auch von großer
Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land. Denn
wir wollen verhindern, dass Wolfsburg oder Stuttgart das Detroit
von morgen werden. Deshalb braucht es jetzt klare Rahmenbedin
gungen für diesen Industriezweig. Diese setzen wir mit einem kla
ren Fahrplan für den Ausbau der Elektromobilität und mit dem Aus
stieg aus dem fossilen Verbrennungsmotor ( Kapitel: Wir sorgen
für saubere, bezahlbare und bequeme Mobilität, S. 56).
Die ökologische Modernisierung ist ein gigantisches Innovations-
und Investitionsprogramm. Und sie ist ein Jobmotor. Sie schafft neue
Arbeit, nicht nur für Ingenieur*innen und Programmierer*innen,
sondern auch für Handwerker*innen und Bauarbeiter*innen. Jede in
die Gebäudesanierung investierte Milliarde schafft 10.000 zusätzli
che Arbeitsplätze im Baugewerbe, im Handwerk und in der Indus
trie. Seit zehn Jahren wächst der globale Markt für Umwelttechnik
und Ressourceneffizienz rasant. Deutsche Firmen sind bei Green
Tech gut aufgestellt. Deutsche und europäische Unternehmen kön
nen in diesen Bereichen viele zusätzliche Jobs schaffen. Daran wol
len wir arbeiten. Für uns ist dabei entscheidend, dass bei der ökolo
gischen Modernisierung gute Arbeitsbedingungen, Mitbestimmung
und tariflicher Schutz gelten: Auch deshalb fordern wir eine bun
desweite Fachkräfteallianz zwischen Staat und Wirtschaft zur Stär
kung des Handwerks. In den kohlenstoffintensiven Unternehmen
und Geschäftsbereichen werden allerdings auch Arbeitsplätze ab
gebaut werden. Hier kümmern wir uns um eine gute soziale Absi
cherung, um Weiterbildung und neue Chancen.
Unser Ziel ist es auch, dass so viel Kapital wie möglich aus fossi
len Energieträgern abgezogen wird und stattdessen dorthin fließt,
wo es nachhaltigen Wohlstand und neue Jobs schafft. Ganz nach
dem Motto: Die Steinzeit endete, obwohl es noch unzählige Steine
gab – und das fossile Zeitalter muss enden, obwohl es noch jede
Menge Kohle, Gas und Öl im Boden gibt. Das Stichwort dazu lautet
„Divestment“ und meint den Abzug von Investitionen aus Öl, Kohle
und Gas. Viele deutsche Konzerne, aber auch der Bund, Länder,
Kommunen, öffentliche Banken und Versicherer haben viel Geld in
fossile Energieträger investiert. Das heißt, auch mit öffentlichen
Geldern wird die Klimakrise befeuert. Wir wollen, dass die öffent
liche Hand hier vorangeht und ihre dreckigen Anlagen beendet,
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zumal diese Investments mehr und mehr zu einem finanziellen
Risiko werden. Denn die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens
macht solche Investitionen wertlos. Deshalb fordern wir: divest now!
3. Für die Entkopplung von Wohlstand
und Ressourcenverbrauch anders wirtschaften
Wachstum muss weltweit vom Umweltverbrauch entkoppelt wer
den – und Wohlstand wie Lebensqualität vom Wachstum. Wir wol
len eine Wirtschaft, die nicht blind immer weiter wachsen muss und
in der langfristige Nachhaltigkeit mehr zählt als kurzfristige Rendi
teziele. Wir GRÜNE möchten dem gesellschaftlichen Zwang zum
„Immer mehr und immer schneller“ entgegenarbeiten. Dazu werden
technische Innovationen allein nicht reichen. Es braucht auch die
Unterstützung durch nachhaltigen Konsum und eine andere Art des
Wirtschaftens. Es geht zum Beispiel nicht nur darum, den Verbren
nungsmotor einfach durch den Elektromotor abzulösen, sondern
auch darum, auf innovative Formen der Mobilität wie Carsharing
umzusteigen, ÖPNV sowie Fuß- und Radverkehr zu fördern und so
den Bedarf an Autos zu reduzieren, wie das etliche Menschen auch
schon tun. Andere engagieren sich beim gemeinschaftlichen Woh
nen, in der solidarischen Landwirtschaft, bei Energiegenossen
schaften oder Tauschringen im Sinne einer solidarischen Ökonomie,
was wir befördern wollen. Gleiches gilt für das Bauwesen, das
einen überwiegenden Teil der Ressourcen unserer Erde in Anspruch
nimmt, die es gilt, verantwortungsvoll zu nutzen. Hierzu braucht es
eine nachhaltige Baukultur, die alle Aspekte des Planens und Bau
ens berücksichtigt. Gute Baukultur ermöglicht Akzeptanz, Beteili
gung und Teilhabe ebenso wie das Recycling von Baustoffen, sie ist
Grundlage für die ökologische Modernisierung und für mehr Le
bensqualität in unseren Städten und Dörfern.
Wir wollen zuallererst die Art, wie wir Wohlstand überhaupt
messen, ändern. Wir schlagen dafür eine neue Form der Wirtschafts
berichterstattung vor. In den Zahlen des Bruttoinlandsproduktes
(BIP), das bisher die zentrale Messgröße ist, bilden sich Lebens
qualität und Wohlstand nicht wirklich gut ab. Auch die unbezahlte
Sorgearbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird und eine unver
zichtbare Grundlage unseres Wohlstands bildet, wird derzeit nicht
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berücksichtigt. In unserem Jahreswohlstandsbericht werden neben
ökonomischen auch ökologische und soziale Entwicklungen anhand
messbarer Kriterien dargestellt. Auch bei öffentlichen Unternehmen
sollte der Beitrag zum Gemeinwohl transparent werden. So wollen
wir als ersten Schritt für die Deutsche Bahn die Gemeinwohlbilan
zierung einführen. Und alle größeren privaten Unternehmen sollen
in ihrem Jahresabschluss zukünftig über Nachhaltigkeitsindikatoren
wie CO2-Emissionen berichten. Bestehende Ausnahmen für nicht bör
sennotierte Unternehmen sowie für viele Banken und Versicherer
wollen wir abschaffen.
Nur mit Kreativität und Erfinder*innengeist wird es uns gelingen,
anders und besser zu wirtschaften. Wissenschaft und Forschung als
Ideengeber, Vorreiter und kritische Begleiter brauchen deshalb Frei
räume. Gerade kleine und mittlere Unternehmen wollen wir bei der
ökologischen Modernisierung unterstützen, unter anderem durch
eine steuerliche Förderung ihrer Ausgaben für Forschung und Ent
wicklung. Mit einer Start-up-Finanzierung, Infrastruktur und einer
neuen, geeigneten Rechtsform geben wir den Pionieren des Wan
dels Rückenwind. Wir wollen speziell Frauen mit einem Förderpro
gramm bei der Gründung von Unternehmen finanziell unterstützen.
Sowohl die Gründung von Genossenschaften als auch die Gemein
wohlökonomie erachten wir als einen weiteren zentralen Baustein
eines anderen Wirtschaftens. Genossenschaften verbinden unter
nehmerisches Handeln mit Gemeinwohlorientierung und sind ein
krisenfester Motor einer gemeinwohlorientierten Ökonomie. Um
eine Gründungswelle von Genossenschaften anzuregen, wollen wir
die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft entbürokratisie
ren und von überkommenen Verfahrensvorschriften befreien.
4. Ökologische Chancen der Digitalisierung nutzen
Durch Digitalisierung können wir vieles in der Wirtschaft viel ökolo
gischer machen und zu einer ökologischen Mobilitäts- und Energie
wende beitragen. Um die Energieeffizienz zu verbessern, werden
wir die Wirtschaft unterstützen und Green-IT-Konzepte weiter vo
rantreiben. Smart Grids, also intelligente, digital gesteuerte Netze,
helfen zum Beispiel, die schwankenden Strommengen aus Wind und
Sonne auszugleichen. Wir können Verkehrsträger digital miteinan
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der vernetzen und Verkehrsströme so intelligenter steuern. Bits und
Bytes können Energie und Material nicht nur reduzieren, sondern
teilweise auch ganz ersetzen. Videokonferenzen ersetzen Geschäfts
reisen, Arbeit im Homeoffice reduziert Pendler*innenströme. Nie zu
vor war es so einfach, Dinge über Sharing-Plattformen zu teilen.
Das reduziert materiellen Konsum. Doch hierfür bedarf es höchster
Datensicherheits- und Verbraucher*innenschutzstandards.
So schaffen wir zukunftssichere Arbeitsplätze sowie neue Ge
schäftsmodelle und schützen unsere Lebensgrundlagen. Anderer
seits braucht es auch eine erfolgreiche Energiewende, sodass der
Energiekonsum im Zuge der Digitalisierung nachhaltig wird. Wie
wir die Digitalisierung mit fairem Wettbewerb und Zukunftsinvesti
tionen in einer krisenfesten Wirtschaft gestalten wollen, haben wir
im Kapitel „Wir gestalten die Digitalisierung“ beschrieben.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Umweltschädliche Subventionen abbauen,
in Klimaschutz investieren
Absurde über 50 Milliarden Euro an Steuergeldern werden jähr
lich für Klima- und Umweltkiller ausgegeben. Unter anderem
erhalten schwere Dienstwagen, der Flugverkehr und Diesel un
gerechte Steuerprivilegien. Wir GRÜNE wollen diese umwelt
schädlichen Subventionen abbauen und in einem ersten Schritt
zumindest zwölf Milliarden Euro einsparen. Dadurch, dass die
Preise zunehmend die ökologische Wahrheit sagen, unterstützen
wir die ökologische Umgestaltung unserer Wertschöpfungsket
ten und schaffen Anreize für grüne Innovationen, Klimaschutz,
nachhaltige Mobilität und eine umweltfreundliche Landwirt
schaft. Gleichzeitig gehen wir damit gegen eine der schädlichs
ten Formen der Steuerverschwendung vor.
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Divestment: Keine Kohle für die Kohle!
Trotz des Pariser Klimaabkommens stecken Investoren – vom
großen Versicherer bis zur kleinen Kommune – weiter viel Geld
in Klimakiller. Deshalb fordern wir: divest now! – Zieht das Geld
aus klimaschädlichen Geschäftsmodellen ab! Unternehmen sol
len dafür in ihren Jahresberichten die Klimarisiken von Gütern
oder Produkten offenlegen. So erhöhen wir den Druck auf Groß
investoren, CO2-intensive Finanztitel abzustoßen. Öffentlich
rechtliche Einrichtungen und Geldanlagen des Bundes sollen
dabei mit gutem Beispiel vorangehen. Ländern, Kommunen und
Pensionsfonds wollen wir helfen, klimafreundlich zu investieren.
Damit grüne Investitionsmöglichkeiten für alle Anleger*innen
erkennbar sind, wollen wir eine transparente Zertifizierung ein
führen.
Wahrer Wohlstand ist mehr als Wachstum: Für einen
Jahreswohlstandsbericht
Wohlstand ist mehr als die Entwicklung des Bruttoinlands
produkts. Wir wollen darum einen neuen Wohlstandsbericht ein
führen. Er misst neben ökonomischen auch ökologische, soziale,
gleichstellungpolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.
Denn Kriterien wie unser ökologischer Fußabdruck, Artenviel
falt, Einkommensverteilung oder ein Bildungs- und Gesund
heitsindex bilden unseren Wohlstand besser und umfassender
ab. Diese neue, ganzheitlichere Form des Jahresberichts macht
Fehlentwicklungen und politische Handlungserfordernisse deut
licher sichtbar.
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V. WIR STEIGEN UM –
KOMPLETT AUF GRÜNE
ENERGIEN
Energie ist der Treibstoff unseres Lebens. Wir alle sind auf sie ange
wiesen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten haben die Men
schen ihre Energie gewonnen, indem sie vor allem Kohle, Gas und
Öl verbrannten. Das hat die wirtschaftliche Entwicklung der Indus
triegesellschaften ermöglicht. Doch diese Art der Energiegewin
nung hat uns auch mit ungeheuren Abgasmengen in die Klimakrise
geführt. In den vergangenen 60 Jahren kam zur fossilen Energie die
Atomkraft dazu. Sie war und bleibt ein hochriskanter und extrem
teurer Irrweg. Kohle und Atom haben heute ausgedient. Wir GRÜNE
haben einen Plan für die Energiewelt der Zukunft. Es ist möglich
und unser Ziel, die Energieversorgung und Energiespeicherung von
Strom, Wärme und beim gesamten Verkehr komplett mit Sonne,
Wind, Wasser, nachhaltig erzeugter Bioenergie, Umgebungstempe
raturen und Erdwärme zu decken. Für die Verwirklichung dieser
Energiewende arbeiten wir seit unserer Gründung. So können wir
dauerhaft unseren Wohlstand sichern, ohne unsere Lebensgrundla
gen dabei zu zerstören. Sowohl Klimaschutz und Energiewende als
auch Umwelt- und Naturschutz sind für uns zukunftsentscheidend
und werden mit den Bürger*innen vor Ort gestaltet. Die Energie
wende hat bereits hunderttausende Jobs geschaffen – weitaus
mehr, als bei Kohle und Atom weggefallen sind. Damit ist die Ener
giewende nicht nur gut fürs Klima. Sie stärkt auch unsere Wirt
schaft und schafft sichere Arbeitsplätze.
1. Energiewende: Mit langem Atem zum Erfolg
Wir GRÜNE haben die Energiewende 2000 in Regierungsverantwor
tung mit den Beschlüssen zum Atomausstieg und der Förderung
grüner Energien eingeleitet. Das hat sich gelohnt. Heute sind be
reits zwölf Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet, die übri
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gen gehen in fünf Jahren vom Netz. Wir sagen: „Atomkraft? Nein
Danke!“ Schon ein Drittel des Stroms wird bei uns aus Wind, Sonne,
Wasser und Bioenergie gewonnen. Im von uns GRÜNEN mitregier
ten Schleswig-Holstein sind es schon 100 Prozent. Bei uns kommt
grüner Strom aus der Steckdose. Und der ist mittlerweile sogar
günstiger als Strom aus Kohle und Atom. Grüner Strom wird von vie
len kleinen Erzeuger*innen produziert. Dezentral und in der Hand
von Bürger*innen findet die Energierevolution statt. Ihr Engage
ment hat das Oligopol der vier großen Stromkonzerne gebrochen.
Die Energiewende ist ein industriepolitischer Meilenstein auf dem
Weg zu einer grünen Wirtschaft.
Doch trotz ihres Erfolgs ist die Energiewende kein Selbstläufer.
Und sie hat Gegner*innen. 2010 versuchten CDU/CSU gemeinsam mit
der FDP, den Atomausstieg rückgängig zu machen. Der permanente
Druck der Anti-Atom-Bewegung und letztlich die Katastrophe von
Fukushima ließ sie von diesen Plänen abrücken. Schwarz-Gelb muss
te sich den Realitäten beugen. Doch statt daraufhin auf 100 Prozent
Erneuerbare zu setzen, trieb die Bundesregierung die Solarindustrie
aus dem Land und vernichtete so mehrere zehntausend Arbeitsplätze
in einer Zukunftsbranche. Die Große Koalition bremst und deckelt
den Ausbau erneuerbarer Energie, wo sie nur kann. Sie zerstört die
Dynamik der Energiewende – so erreicht Deutschland seine Klima
schutzziele nicht.
Wir GRÜNE halten das für grundlegend falsch. Deutschland
muss den Weg der Energiewende entschlossen weitergehen. So wie
das GRÜNE in den Landesregierungen mit ambitionierten Ausbau
plänen bereits tun. Wir wollen die Energiewirtschaft auf Erneuerba
re umstellen und viele tausend neue Arbeitsplätze schaffen. In
Deutschland haben wir die Technik, die Fähigkeiten und den Willen
der Bürgerinnen und Bürger. Wir GRÜNE sind die politische Kraft,
die mit den Menschen gemeinsam die Energiewende zum Erfolg
führt und immer wieder nachjustiert, wo es sein muss. Wie bei
spielsweise in Schleswig-Holstein mit Blick auf die bedarfsgesteu
erte Befeuerung von Windkraftanlagen, um unnötiges nächtliches
Blinken zu vermeiden oder auch die temporäre Abschaltung bei Ak
tivität von Fledermäusen und starkem Vogelzug.
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2. Rein in die neue Stromwelt – vollständig auf
Erneuerbare umsteigen
Das grüne EEG ist auch eine Erfolgsgeschichte, weil es die Kosten
für Solar- und Windstrom weltweit drastisch gesenkt und so zur
nachhaltigen Entwicklung maßgeblich beigetragen hat. 100 Pro
zent Ökostrom bis 2030, das ist unser Ziel. Dafür werden wir den
Kohleausstieg einleiten und die schwarz-rote Ausbaubremse für Er
neuerbare abschaffen. So bringen wir die Dynamik in die Energie
wende zurück. Dazu braucht es eine Weiterentwicklung des Erneu
erbare-Energien-Gesetzes (EEG) und ein neues Strommarktdesign,
das heißt die Ausrichtung des Energiesystems auf erneuerbare
Energien und Lastenmanagement statt auf fossile Kraftwerke. Wir
GRÜNE wollen die jährlichen Ausbauziele kräftig anheben und an
die Klimaziele des Pariser Klimaabkommens anpassen.
Millionen Bürgerinnen und Bürger, die ihr Dach oder ihren Keller
zum Kraftwerk machen oder sich an Energiegenossenschaften be
teiligen, sind und bleiben dabei unsere wichtigsten Verbündeten.
Sie treiben den dezentralen Ausbau voran. Darum wollen wir alle
EU-rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um Erneuerbare-Ener
gien-Projekte vom bürokratischen Ausschreibungszwang und un
berechtigten Umlagen zu befreien. Die sinnwidrige Erhebung der
„Sonnensteuer“ wollen wir abschaffen und ein Ökostrommarkt
modell einführen, damit aus deutschen erneuerbaren Anlagen
Grünstrom auch wieder als Ökostrom vermarktet werden kann.
Auch Mieter*innen sollen von den Vorteilen einer klimafreund
lichen und kostengünstigen Energieversorgung profitieren, indem
wir das jetzige Bürokratiemonster durch einfache und handhabbare
Strommodelle für Mieterinnen und Mieter ersetzen. Wir führen die
milliardenschweren Strompreisrabatte für die Industrie auf ein Mi
nimum zurück und entlasten stattdessen die Verbraucher*innen,
Handwerk und Mittelstand. Nur noch solche Unternehmen, die tat
sächlich im internationalen Wettbewerb stehen, sowie energiein
tensive Prozesse sollen Rabatte erhalten, diese sollen zudem an die
Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen geknüpft werden.
Kommunen, in denen erneuerbare Energien ausgebaut werden,
sollen stärker vom Ausbau profitieren. Wir sorgen dafür, dass der
Ausbau erneuerbarer Energien und notwendiger Netze mit Natur-
und Landschaftsschutz konsequent gemeinsam gedacht und trans
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parent geplant wird. Wir wollen Bürger*innen frühzeitig die Möglich
keit geben mitzugestalten. Beim Netzausbau setzen wir vorrangig
auf Erdkabel und wollen, dass Freileitungen – zunächst in Natur
schutzgebieten und Vogelzugkorridoren – durch Vogelschutzmarkie
rungen nachgerüstet werden. Zur solidarischen Finanzierung der
Energiewende wollen wir eine verursachergerechte und auch regio
nal faire Verteilung der Kosten des Stromnetzes.
Durch eine Reform des Strommarktes schaffen wir neue Anreize
dafür, Energie flexibel und effektiv dann zu nutzen oder zu spei
chern, wenn viel Strom aus Sonne und Wind verfügbar ist. Zu diesen
Zeiten wollen wir Speicher auffüllen oder Strom in Wärme oder Gas
umwandeln, um damit Wohnungen zu heizen oder Fahrzeuge anzu
treiben. Hocheffiziente und zunehmend erneuerbare Kraft Wärme
Kopplung wollen wir dabei unterstützen, dass sie immer flexibler
auf den Strommarkt reagiert und so den Strom aus Wind und Sonne
ergänzt. Wir machen es möglich, aus erneuerbaren Quellen Strom
und Wärme zu erzeugen. Schikanöse Umlagen, Entgelte und über
bordende Bürokratie werden wir verhindern.
Zugleich muss die Erzeugung und Verteilung von Strom in Euro
pa besser vernetzt werden. Die Sonne scheint und der Wind weht
nicht immer. Aus europäischer Perspektive gibt es aber einen gro
ßen Ausgleichseffekt. Wenn man die Wetter- und Klimaregionen in
Europa vom Atlantik bis zum Baltikum, vom Mittelmeer bis Skandi
navien besser miteinander verzahnt, dann sinkt auch der Bedarf an
Speichern und Reservekraftwerken. Deshalb treiben wir die euro
päische Energieunion voran und wollen sie zu einer echten Klima
union ausbauen.
3. Effizienzrevolution auslösen
Nach wie vor gilt: Die beste Kilowattstunde ist die, die nicht ver
braucht wird. Wir wollen eine Effizienzrevolution einleiten. Darum
legen wir ein Energiespargesetz vor, das ambitionierte, aber realis
tische Vorgaben macht. Insbesondere in der Industrie gibt es noch
viele Einsparpotenziale. Mit unserem Programm „Faire Wärme“ und
konkreten Fördermaßnahmen zum Energiesparen greifen wir dabei
auch den Privathaushalten unter die Arme. Wir wollen die Nutzung
erneuerbarer Wärme im Gebäudebestand voranbringen, die energe
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tische Modernisierung von Häusern und ganzen Stadtvierteln för
dern sowie Nahwärmenetze und Abwärmenutzung ausbauen. Die
von der EU geforderten Vorgaben für energieeffiziente Gebäude
wollen wir so ausgestalten, dass neue Gebäude nur noch sehr
wenig Energie verbrauchen und hauptsächlich erneuerbar beheizt
werden.
Klar ist: Der Umstieg auf klimaschonende Wärme gelingt nur,
wenn Wohnen und Heizen bezahlbar bleiben. Missbräuchlichen Ver
drängungen von Mieter*innen bei Sanierung muss durch Änderungen
des Mietrechts ein Riegel vorgeschoben werden. Stromsparchecks
und Energieberatung sollen Standard werden. Gerade Haushalte mit
kleinem Geldbeutel wollen wir GRÜNE damit unterstützen. Auf euro
päischer Ebene werden wir uns für ambitionierte Vorgaben für Ener
gie- und Ressourceneffizienz einsetzen. Dazu wollen wir unter ande
rem das „Top-Runner“-Prinzip europaweit verankern: Für alle Geräte
mit dem gleichen Einsatzspektrum wird das effizienteste Gerät zum
Standard erhoben. Stromfresser, die diesen Standard nicht binnen
drei Jahren erreichen, verschwinden vom Markt.
4. Atomkraft endgültig abschalten
Auf dem Weg in die neue Stromwelt wollen wir die atomare Vergan
genheit endgültig hinter uns lassen. 2022 wird der letzte Meiler in
Deutschland vom Netz gehen. Außerdem wollen wir erreichen, dass
keine weiteren Strommengen mehr auf die AKWs Emsland und
Brokdorf übertragen werden, die mit ihrem Atomstrom die Netze für
den Ökostrom verstopfen. Solange noch Atomkraftwerke laufen,
müssen sie höchsten Sicherheitsstandards entsprechen. Deshalb
wollen wir das AKW Grundremmingen wegen der regelwidrigen
Sicherheitsmängel bei der Erdbebenfestigkeit sowie der Not- und
Nachkühlung unverzüglich stilllegen. Die Subventionierung der
Atomkraft muss ein Ende haben. Das wollen wir mit der Wiederein
führung der Brennelementesteuer erreichen. Da eine Neuanwen
dung atomarer Technologien für uns GRÜNE auf keinen Fall infrage
kommt, wollen wir Schluss machen damit, Steuergeld in die Erfor
schung von Kernfusion, Transmutation oder Reaktoren der vierten
Generation zu stecken. Aus dem Milliardengrab ITER muss Deutsch
land aussteigen.
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Mit dem Ende des Betriebs von Atomkraftwerken ist das atomare
Zeitalter jedoch noch lange nicht Geschichte. Für den hochgefährli
chen Atommüll brauchen wir ein Endlager. Mit dem von Winfried
Kretschmann angestoßenen Endlagersuchgesetz und dem Ergebnis
der Endlagerkommission wurde dafür eine gute Grundlage geschaf
fen: Denn in der jetzt beginnenden Suche haben Sicherheitskriteri
en Vorrang und die Bürger*innen in den betroffenen Regionen wer
den in einem ergebnisoffenen Suchprozess auf Augenhöhe beteiligt.
Wir werden das bestmögliche Endlager finden. Und das kann und
wird nicht Gorleben sein, denn wir haben für scharfe wissenschaft
liche Kriterien in der Endlagersuche gesorgt. Bis zur bestmöglichen
Endlagerung braucht der Atommüll die bestmögliche Zwischenla
gerung. Wir werden einen Prozess anstoßen, in dem unter Einbezie
hung der Länder, der Standortkommunen und der Zivilgesellschaft
entschieden wird, wie mit dem gefährlichsten Müll der Welt bis zur
Endlagerung umgegangen werden soll. Zudem setzen wir uns für
den sicheren Rückbau der stillgelegten Atomkraftwerke in Deutsch
land ein.
Unser Ziel ist es jedoch, dass überall in Europa das gefährliche
Spiel mit dem atomaren Feuer ein Ende hat. Schrottreaktoren wie
Tihange und Doel in Belgien oder Fessenheim und Cattenom in
Frankreich müssen sofort vom Netz. Wir wollen den Euratom-Ver
trag, in dem die Privilegien der Atomkraft festgeschrieben sind, an
die heutige Zeit anpassen. Wenn das nicht erreichbar ist, setzen wir
uns dafür ein, dass Deutschland aus Euratom aussteigt. Unseren
Kampf gegen die Atomkraft werden wir erst dann beenden, wenn
der Atomausstieg erreicht ist – in Deutschland, Europa und weltweit.
Der Atomausstieg ist daher auch Außenpolitik. Deswegen wollen
wir auch den Betrieb der Urananreicherungsanlage in Gronau und
der Brennelementefabrik in Lingen, die noch ganz Europa mit radio
aktiv strahlendem Brennstoff versorgen, schnellstmöglich, end
gültig und rechtssicher beenden.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Faire Wärme – klimafreundlich und bezahlbar
Die Energiewende muss im Wärmebereich vorankommen. Bei
den Gebäuden müssen wir Energie einsparen und die erneuerba
ren Energien ausbauen. Der Umstieg auf klimaschonende Wärme
gelingt nur, wenn Wohnen und Heizen bezahlbar bleiben. Dazu
wollen wir das Förderprogramm „Faire Wärme“ auflegen. Mit
mindestens zwei Milliarden Euro jährlich unterstützen wir die
energetische Modernisierung ganzer Wohnviertel. Mieterinnen
und Mieter stärken wir durch eine robuste Mietpreisbremse. Wir
minimieren die Umlage von Modernisierungskosten und führen
ein neues Klimawohngeld ein, damit auch Wohngeldempfän
ger*innen energieeffizient wohnen können. Wir unterstützen
Städte und Gemeinden bei der nachhaltigen Wärmeversorgung
mit 400 Millionen Euro für 10.000 Wärmespeicher. Mit „Mieter
strom“ vom Dach profitieren auch Mieter*innen von der Energie
wende. Nachhaltigkeit bei Energie, Baustoffen und Kosten muss
durch die Betrachtung des Lebenszyklus unserer Häuser künftig
Standard sein und schafft Arbeitsplätze bei Handwerker*innen
vor Ort.
Für grüne Energie – komplett auf Erneuerbare umsteigen
Wir wollen die menschengemachte Klimakrise noch aufhalten.
Das geht nur mit 100 Prozent Erneuerbaren. Bis 2030 wollen wir
unseren Strombedarf vollständig aus erneuerbaren Energien de
cken. Dazu werden wir die Obergrenzen für den Ausbau erneuer
barer Energien abschaffen und das Strommarktdesign sowie das
komplizierte Abgabensystem auf Energie zugunsten der erneu
erbaren Energien und der Speichernutzung novellieren. Bis zum
Jahr 2050 soll die Energieversorgung auch für Gebäude, Mobili
tät und Prozesswärme in der Industrie ausschließlich aus erneu
erbaren Energien erfolgen. Darum steigen wir zügig in die Ver
bindung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität ein und
nutzen sinnvolle Möglichkeiten der Elektrifizierung.
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Die atomare Lieferkette zerschneiden
Der Atomausstieg in Deutschland ist so lange unvollständig, wie
wir weiter Europas Atomreaktoren mit Brennelementen versor
gen. Als GRÜNE wollen wir deshalb die Urananreicherung in Gro
nau und die Brennelementefabrik in Lingen schließen. Solange
Atomkraftwerke noch laufen, müssen sie höchsten Sicherheits
standards entsprechen. Der Siedewasserreaktor Gundremmin
gen aber stellt ein besonderes Risiko dar. Ebenso die Schrottre
aktoren an unseren Grenzen wie Tihange und Doel in Belgien,
Fessenheim und Cattenom in Frankreich, Beznau in der Schweiz
oder Temelin in Tschechien. Wir setzen uns dafür ein, dass sie
sofort vom Netz gehen.
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VI. WIR SORGEN FÜR SAUBERE,
BEZAHLBARE UND BEQUEME
MOBILITÄT
Wir sind jeden Tag unterwegs – zur Arbeit oder zum Einkaufen, wir
besuchen weit entfernte Verwandte und fahren in den Urlaub. Mobil
zu sein, gehört zu unserem Leben. Wir GRÜNE wollen es für jede und
jeden einfach machen, sein Ziel so umweltfreundlich und nachhaltig
wie möglich zu erreichen. Verkehr 2017 heißt: Immer mehr Menschen
steigen um auf Bus, Bahn und Fahrrad – vor allem in den Städten. Der
öffentliche Nahverkehr erreicht neue Fahrgastrekorde. Fahrradfahren
und der Verkauf von E-Bikes boomen. Carsharing meldet immer hö
here Nutzer*innenzahlen. Die Menschen stimmen „mit den Füßen“ ab
und trotzen den oft noch widrigen Zuständen. Verpasste Anschluss
züge, überfüllte Busse und Straßenbahnen sind genauso wie trostlo
se Bahnhöfe und schlechte Fuß und Radwege häufig traurige Rea
lität. Gerade in ländlichen Regionen fehlt ein attraktiver und
flächendeckender Nahverkehr. Für viele heißt Verkehr 2017 deswe
gen immer noch in erster Linie Auto fahren, auch da es zu oft keine
Alternativen gibt. Gleichzeitig verfügen Teile unserer Gesellschaft,
wie zum Beispiel Frauen, ältere Bürger*innen und Menschen mit
Behinderung, aber auch Jugendliche viel seltener über ein eigenes
Auto und sind daher zwangsläufig auf einen guten ÖPNV angewie
sen. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass die Menschen in Zukunft
mit ÖPNV, mit der Bahn, auf sicheren Rad- und Fußwegen und mit
sauberen Autos ihre Ziele umweltfreundlich erreichen können. So
werden auch unsere Städte lebenswerter und grüner.
Verkehr 2017 heißt leider auch immer noch: 70 Prozent aller
klimaschädlichen Emissionen kommen in unseren Städten aus dem
Verkehr, zwei Drittel aller Bürger*innen fühlen sich durch Ver
kehrslärm belästigt. Stickoxide und Feinstaub verursachen Atem
wegserkrankungen. An vielen Kreuzungen in Großstädten über
steigt die Schadstoffbelastung die zulässigen Grenzwerte. Staus
addieren sich im Jahr auf eine Gesamtlänge von einer Million Kilo
meter. Der Bundesverkehrsminister versagt hier komplett: Statt
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Verkehr zu vermeiden oder zu verlagern, wird Landschaft zubeto
niert, werden Lärm und Abgase erzeugt und immer mehr Ressour
cen verbraucht. Auf jeden neuen vermeintlichen Engpass reagiert
der Verkehrsminister mit dem Aus- und Neubau von Straßen. Über
teuerte Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 graben gezielten Investi
tionen in eine verlässliche Alltagsmobilität das Wasser ab. Über
flüssige Regionalflughäfen werden durch Millionensubventionen
künstlich am Leben gehalten.
Wir GRÜNE denken Mobilität neu mit Lebensqualität, ohne Lärm,
Dreck und Stau. Und dort, wo wir regieren, setzen wir das gemeinsam
mit grünnahen Bewegungen um. So hat das Netzwerk Volksent
scheid Fahrrad in Berlin dafür gesorgt, dass sich bei der städtischen
Verkehrswende was dreht. In Berlin bringt die grüne Verkehrsver
waltung gemeinsam mit den Radfahrer*innen ein Radgesetz als Teil
eines Mobilitätsgesetzes auf den Weg. Baden-Württemberg prescht
voran beim Ausbau der Infrastruktur für die E-Mobilität. Wir laden
alle ein, an der Verkehrswende aktiv mitzuwirken. Während die
Große Koalition in den 1960er-Jahren stecken geblieben ist und ihre
Verkehrspolitik weiterhin nur auf das Auto ausrichtet, wollen wir in
ein neues, zukunftsfähiges und vielfältiges Mobilitätsangebot inves
tieren. Dazu gehört für uns ein dichtes und modernisiertes Bahnnetz,
das Pünktlichkeit und aufeinander abgestimmte Anschlüsse in ganz
Deutschland – und dort wo möglich auch grenzüberschreitend in
ganz Europa – garantiert. Ebenso gehören dazu sichere und schnelle
Wege für alle Fahrradfahrer*innen von jung bis alt, leise Autos ohne
Auspuff und mit Fahrspaß sowie die Stromtankstelle gleich um die
Ecke. Wir setzen uns dafür ein, dass auch der Fußverkehr endlich eine
angemessene Wertschätzung und finanzielle Förderung erfährt.
Unser Ziel sind nachhaltige und familienfreundliche Mobilität
statt immer mehr Verkehr. Das bedeutet: saubere Autos und mehr
Car- und Bikesharing, ein besseres Zug- und ÖPNV-Angebot für alle
in der Stadt und auf dem Land. Unser öffentlicher Personenverkehr
muss von allen genutzt werden können – deshalb streiten wir dafür,
dass er barrierfrei gestaltet wird. Wir wollen bessere Fußwege und
mehr Raum zum Spielen und Flanieren in unseren Städten, bessere
Luft zum Atmen. Alle sollen wieder ruhig schlafen können, auch in
der Nähe von Flughäfen, Bahnstrecken und viel befahrenen Stra
ßen. Gemeinsam mit den Bürger*innen wollen wir die Verkehrswen
de einleiten.
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1. Erhalt vor Neubau, Schiene vor Straße, mehr Geld
für Radwege und neue Mobilitätskonzepte
Die Bedingungen für den Verkehr in Deutschland sind derzeit ein
seitig auf das Auto ausgerichtet. Das wollen wir ändern, damit un
sere Mobilität zukunftsfähig wird. Mit einem Bundesnetzplan an
stelle des straßenlastigen Bundesverkehrswegeplans beenden wir
GRÜNE das derzeitige Chaos in der Verkehrsplanung. Wir setzen
auf: Erhalt vor Neubau, Schiene vor Straße, mehr Geld für Radwege.
An den Bundesverkehrswegen wollen wir eine Million neue Bäume
pflanzen. Verkehrsinfrastruktur als Daseinsfürsorge darf nicht pri
vatisiert werden, auch nicht indirekt durch ÖPP oder wie bei
der jetzt geplanten Bundesfernstraßengesellschaft. Wir lehnen die
europafeindliche und bürokratische Ausländermaut ab und wollen
sie schnellstmöglich wieder abschaffen.
Wir schaffen faire Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrs
träger. Während jeder Zug auf jedem Streckenkilometer Trassenge
bühren bezahlen muss, ist nur knapp ein Prozent des Straßennetzes
mautpflichtig. Wir wollen alle Lkw ab 3,5 Tonnen und schrittweise
das gesamte Straßennetz der Bundes- und Landesstraßen in die
Lkw-Maut einbeziehen. Das ist verursachergerecht, denn ein einzi
ger voll beladener 40-Tonner verschleißt Straßen und Brücken so
stark wie mehrere zehntausend Pkw. Sogenannte Gigaliner lehnen
wir ab. Die Emissionen des Flugverkehrs tragen erheblich zur CO2-
Belastung bei. Deshalb müssen Fluggesellschaften endlich gerecht
besteuert werden: Es ist nicht einzusehen, warum Airlines von der
Kerosinsteuer befreit sind. Das wollen wir beenden. Der Einsatz von
billigem Schweröl für Fracht- und Kreuzschiffe muss drastisch ein
gedämmt werden. Wir fordern und fördern die Umrüstung auf um
weltfreundlichere Energieträger.
Lärm macht krank! Wir wollen deswegen deutlich mehr in Lärm
schutz investieren. Dazu haben wir alle Lärmquellen – vom Schie
nen- bis zum Luftverkehr – im Blick. Wir setzen uns dafür ein, die
rechtliche Grundlage für ein Nachtflugverbot, das sich an der
Nachtruhe orientiert, zu schaffen, und fordern verbindliche Lärm
minderungspläne, um den gesundheitsschädlichen Fluglärm zu re
duzieren. Wir wollen, dass die Grenzwerte für Lärmschutz an militä
rischen und zivilen sowie alten und neuen Flughäfen gleichermaßen
gelten. Den Wildwuchs von Regionalflughäfen, finanziert durch
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Subventionen, wollen wir beenden. Wir GRÜNE fordern eine nach
haltige Bedarfsplanung für das Flughafennetz, die dafür sorgt,
Überkapazitäten abzubauen, und Lärm- und Klimaschutz endlich
konsequent berücksichtigt.
Damit man überall einfach von A nach B kommt, ist es unser Ziel,
die 130 Verkehrsverbünde in Deutschland miteinander zu verknüpfen.
Einfach einsteigen und losfahren, ohne sich im Tarifdschungel zu verir
ren und lange Fahrpläne zu studieren. Mit dem grünen MobilPass
schaffen wir die Möglichkeit, die eigene Reise durch ganz Deutschland
genau wie das Pendeln zur Arbeit mit einer einzigen Smartcard oder
App zu buchen und zu bezahlen – von Tür zu Tür. Gleichzeitig bleiben
anonym und analog verkaufte Fahrkarten erhältlich.
Die Fahrgäste sollen dann auch überall in Deutschland verschie
dene Verkehrsmittel vernetzt nutzen und kombinieren können: Bus
se, Bahnen, Fähren, Taxis, Carsharing und Leihräder. Wir wollen den
MobilPass so gestalten, dass andere Länder sich daran beteiligen
können. Wir setzen uns dafür ein, dass es möglich wird, europäische
Zugtickets über mehrere Länder hinweg einfach und bezahlbar on
line zu buchen.
Grüne Mobilität ist ökologisch und sozial. Um sie für alle bezahl
bar zu gestalten, wollen wir kostengünstige Tarife für Schüler*innen,
Bezieher*innen von Transferleistungen, Auszubildende und Senior*in
nen. Wir wollen, dass Regelsätze so ausgestaltet werden, dass sie die
Kosten von Sozialtickets decken. Auch alle, die wenig Geld haben,
sollen sich über Sozialtickets Mobilität ohne eigenes Auto leisten
können. In der entscheidenden Lebensphase der Familiengründung
wollen wir junge Eltern mit einem Elternzeit-Ticket unterstützen. Wir
wollen eine grüne Verkehrswende, die alle mitnimmt. Mobilität si
chert gesellschaftliche Teilhabe. Darum stehen wir einem umlage
finanzierten ÖPNV offen gegenüber. Wir wollen die rechtlichen Hür
den für Kommunen abbauen und mit Modellprojekten in der nächsten
Legislatur bundesweit zehn Kommunen fördern, die auf einen umla
gefinanzierten und kostenfreien ÖPNV umsteigen wollen.
2. Gute Bahn für alle
Entscheidend für die Verkehrswende sind gute Bahnen – im Fern-
und im Nahverkehr. Wir GRÜNE wollen den öffentlichen Verkehr
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stärken und die Fahrgastzahlen verdoppeln. Wir wollen mehr Gü
tertransport auf Schiene und Wasserstraße und so die Straßen ent
lasten. Dafür schaffen wir eine bessere Wettbewerbssituation für
die klimafreundlichen Verkehrsträger. Milliarden Euro werden der
zeit in Subventionen für Diesel, Dienstwagen und Flugverkehr oder
für überflüssige Straßen und Flugplätze verschwendet. Das ist öko
logisch enorm schädlich. Wir wollen stattdessen Schienennetze
und den Nahverkehr in Stadt und Land ausbauen und barrierefrei
gestalten. Mit dem „Zukunftsprogramm Nahverkehr“ wollen wir das
Angebot und die Qualität vor Ort mit jährlich einer Milliarde Euro
verbessern. Außerdem wollen wir mehr in den Lärmschutz investie
ren. Für uns GRÜNE ist klar: Ab 2020 sollen keine lauten Güterwa
gen mehr eingesetzt werden.
Mit dem Deutschland-Takt, einem bundesweit verknüpften Fahr
plan, wollen wir Fernverkehr und regionalen ÖPNV optimal aufei
nander abstimmen und den Güterverkehr von Anfang an mitdenken.
Dann sind lange Wartezeiten auf Anschlüsse Vergangenheit
Auch die Lücken im grenzüberschreitenden Bahnverkehr wollen
wir schließen. Weil Schnellbahn- wie auch Regionalbahnstrecken
grenzüberschreitend selten ausgebaut sind, entscheiden sich Men
schen im europäischen Verkehr viel zu häufig für das Flugzeug oder
das Auto. Das wollen wir ändern. Die Bahn soll zu einer attraktiven
Alternative im europäischen Verkehr werden. Wenn der Zugverkehr
zuverlässig und reibungslos funktioniert, ist das Zugfahren für viele
die erste Wahl.
Wir wollen, dass dabei mindestens alle Großstädte wieder im
Fernverkehr angefahren werden. Wir wollen eine Bahnreform in An
griff nehmen, die die Interessen der Fahrgäste in den Mittelpunkt
stellt und ein vielfältiges und attraktives Angebot auf der Schiene
entstehen lässt. Das Bahnfahren und der Güterverkehr sollen billi
ger werden, dafür wollen wir die Trassenentgelte senken. Durch die
Reform muss das Netz von den Transportgesellschaften der DB AG
sauber getrennt und in neutrale staatliche Verantwortung über
führt werden. So schaffen wir die Voraussetzung für mehr Verkehr
auf der Schiene. Auf dem Schienennetz ist Elektromobilität längst
bewährte Praxis. Allerdings nur auf etwa 60 Prozent des Netzes. Wir
wollen diesen Anteil mit einem Elektrifizierungsprogramm rasch er
höhen und den Einsatz alternativer Antriebe und sparsamere Fahr
zeuge im Schienenverkehr fördern. Wir wollen mehr Güter auf der
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Schiene transportieren und setzen uns für eine intelligente Kombi
nation der Transportmöglichkeiten ein.
3. Das Auto der Zukunft fährt ohne Abgase
Selbstverständlich werden wir auch morgen noch mit Autos unter
wegs sein – mit dem eigenen, mit dem gemieteten oder dem ge
teilten. Gerade im ländlichen Raum sind die Alternativen Carsha
ring und ÖPNV noch nicht ausreichend. Aber es werden insgesamt
weniger Autos sein und sie werden mit Strom aus Sonne und Wind
oder Wasserstoff statt mit Diesel und Benzin angetrieben. Mit
emissionsfreien Fahrzeugen machen wir den Autoverkehr klima-
und umweltfreundlicher. Ziel muss es sein, einen erfolgreichen
Technologiewandel einzuleiten. Nur mit innovativen Antrieben
werden unsere Automobilhersteller wettbewerbsfähig bleiben und
zugleich wertvolle Arbeitsplätze in der Automobilindustrie erhal
ten. Das wirksamste Instrument sind ambitionierte CO2-Grenzwer
te, also Verbrauchsgrenzen, die auch auf der Straße eingehalten
werden. Aus industrie- und klimaschutzpolitischen Gründen muss
die nächste Bundesregierung ein klares Ziel setzen: Ab 2030 sollen
nur noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden. Das Zeitalter
der fossilen Verbrennungsmotoren ist dann zu Ende. Elektromobi
lität als Chance für eine klimafreundliche Mobilität ist aber mehr,
als nur den Verbrennungsmotor in Autos durch einen Elektromotor
zu ersetzen. Dafür werden wir Elektromobilität im Straßenverkehr
gezielt stärken durch eine Förderung aller Kommunen, die ihren
innerstädtischen Logistikverkehr auf E-Fahrzeuge und Lastenfahr
räder umstellen, sowie durch zeitlich befristete finanzielle Zu
schüsse für Elektro-Nahverkehrsbusse, Elektroautos und Elektro
lastenräder. Wir wollen die Dieselbusflotte schnellstmöglich auf
Elektrobusse umrüsten. Außerdem werden wir die Forschung an
den Mobilitätstechnologien der Zukunft verstärkt unterstützen.
Für eine gerechte Finanzierung wollen wir die Kfz-Steuer reformie
ren und ein Bonus-Malus-System für Neuwagen einführen. Wer viel
CO2 , NO x und Feinstaub-Emissionen verursacht, zahlt dann mehr.
Wir GRÜNE wollen die Besteuerung von Dienstwagen künftig an
den CO2-Ausstoß koppeln und verbrauchsarme Pkw deutlich bes
serstellen.
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Unsere Autos sollen nicht nur im Labor die vorgeschriebenen
Grenzwerte einhalten. Was zählt, ist der Verbrauch auf der Straße.
Anders als die Große Koalition, die den Betrug der Autokonzerne an
Umwelt und Verbraucher*innen gedeckt und vertuscht hat, finden
wir GRÜNE uns nicht damit ab, dass Abgasvorschriften für Pkw nur
auf dem Prüfstand eingehalten werden. Wir werden diesen Schwin
del und die bewusst in Kauf genommene Verletzung unserer Ge
sundheit beenden. Abgas- und Verbrauchstests müssen realistisch
und ihre Ergebnisse nachvollziehbar werden. Die Autoindustrie
muss auf ihre Kosten Fahrzeuge nachbessern, sowohl die schon im
Betrieb befindlichen als auch entsprechende Neufahrzeuge wie
zum Beispiel die der Euro-6-Norm, die nicht ihre Grenzwerte auf der
Straße einhalten. Wir wollen, dass unabhängige Institutionen wirk
same Kontrollen schaffen. Kommunen brauchen zusätzlich Unter
stützung, um Grenzwerte für bessere Luft auch durchzusetzen. Wir
GRÜNE geben ihnen rechtliche Instrumente an die Hand, Umwelt
zonen zu stärken, zum Beispiel durch die Einführung einer blauen
Plakette. Städte und Kommunen sollen mehr verkehrsrechtliche
Möglichkeiten bekommen, innerstädtischen Verkehr zu lenken, zu
begrenzen und sicherer zu machen. Dazu sollen sie zum Beispiel das
Recht bekommen, innerorts eigenständig und unbürokratisch über
die Einführung von Tempobeschränkungen wie Tempo 30 zu ent
scheiden. Wir fordern, dass Kommunen leichtere Möglichkeiten be
kommen, bauliche Verkehrsberuhigung auf überregionalen Straßen
umzusetzen. Zudem wollen wir es Kommunen rechtlich ermögli
chen, neue Konzepte wie zum Beispiel in Stockholm oder London
anzuwenden, um den ÖPNV zu stärken. Wir wollen Verkehrssicher
heit für alle Nutzer*innen des öffentlichen Raumes. Deshalb stre
ben wir die Vision Zero an – das Ziel, die Zahl der Verkehrstoten auf
null zu reduzieren. Zu schnelles Fahren ist kein Kavaliersdelikt, son
dern eine tödliche Gefahr, gegen die wir mehr tun müssen. Dazu
fordern wir ein Tempolimit auf Autobahnen von 120.
Unser Straßenverkehr stößt an Grenzen. Viele Städte sind mit
Autos zugeparkt und leiden unter Luftbelastung und Verkehrslärm.
Wir nehmen uns Städte wie Paris, Oslo und Zürich zum Vorbild und
begrünen die Innenstädte. Denn ruhiger Verkehrsfluss, ausreichend
Platz für Spiel und Bewegung sowie Natur inmitten der Stadt spre
chen für eine hohe Lebensqualität. Dazu zählt auch, dass wir Ver
kehr durch sinnvolle Siedlungsentwicklung und Ansiedlungspolitik
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vermeiden möchten. Wir wollen Maßnahmen ausbauen, um die
Falschparkenden zurückzudrängen. Für unsere Mobilität im Alltag
gibt es gute Lösungen – und die Menschen wollen sie. Über 80 Pro
zent der Deutschen fordern eine Verkehrsplanung, die auf mehr Fuß-
und Radwege setzt, Carsharing-Angebote ausweitet und den öffent
lichen Nahverkehr ausbaut. Der nationale Radverkehrsplan muss
endlich umgesetzt und finanziell unterlegt werden. Bequem, bezahl
bar und ohne Parkplatzsuche von A nach B kommen können in einer
Stadt der kurzen Wege – das sind Ziele einer modernen Verkehrspo
litik. Teil davon ist die Errichtung von Radschnellwegen oder die Um
nutzung von Straßenraum etwa für temporäre Spielstraßen.
Wir müssen jetzt die Weichen für einen klugen Umgang mit au
tonomen Fahrzeugen stellen. Auf der einen Seite bestehen Gefah
ren – wie zusätzlicher Verkehr oder die Verdrängung von Schie
nenverkehr. Gleichzeitig sehen wir viele Vorteile in Bezug auf
Verkehrssicherheit, die Stärkung des ÖPNV durch autonome Busse
oder die Reduzierung von Lärm und Flächenverbrauch. Besonders
öffentliche Nahverkehrsbetriebe müssen sich aktiv mit dieser Ent
wicklung auseinandersetzen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Deutschlandweiter MobilPass – überallhin, alles drin
Wir wollen die grüne Mobilität voranbringen: Dafür führen wir
den MobilPass ein. Mit einer Smartcard oder App werden sämtli
che Angebote des öffentlichen Verkehrs wie auch Car- und
Bikesharing abrufbar sein. Urlaubsreisen genauso wie der Weg
zur Arbeit können so aus einer Hand gebucht und bezahlt wer
den – ohne langes Studium von Tarif- und Nutzungsbedingun
gen. Nahtlos, kinderleicht und günstig. Mobilität für alle heißt
für uns: Allen Menschen, die mit wenig Geld auskommen müs
sen, machen wir besonders günstige Angebote. Wir achten dabei
auf Barrierefreiheit und breite Zugangsmöglichkeiten für
Bürger*innen jeden Alters. Das Investitionsprogramm „Zukunfts
programm Nahverkehr“ schafft ein verbessertes Angebot im
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ÖPNV – auf dem Land und in der Stadt. Den Fernverkehr verknüp
fen wir optimal mit den Anschlüssen des Regional- und Nahver
kehrs – mit dem Deutschland-Takt. Dieser Taktfahrplan macht
deutschlandweit alle Ziele nahtlos und verlässlich erreichbar.
Ab 2030 sollen nur noch abgasfreie Autos zugelassen
werden.
Wir GRÜNE wollen, dass zukunftsfähige Fahrzeugtechnik wei
terhin in Deutschland entwickelt und produziert wird. Für uns
GRÜNE ist die Entscheidung deshalb klar: Ab 2030 sollen nur
noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden. Dafür sind jetzt
die steuerlichen, fiskalischen und infrastrukturellen Vorausset
zungen zu schaffen. So kann Deutschland die Klima- und Um
weltziele erfüllen und die Industrie ihre Entwicklungsarbeit ver
lässlich auf die gesamte Elektromobilität ausrichten. Wer an
Diesel- und Ottomotoren festhält, hemmt die Fahrzeugindustrie,
sich fit für das 21. Jahrhundert zu machen.
Radverkehr ausbauen – mehr Platz für das Fahrrad
Immer mehr Menschen nutzen das Rad, weil es schnell, preis
wert und bequem ist. Wir wollen die Infrastruktur für Fahrräder
deutlich verbessern. Der Bund muss dabei mehr Verantwortung
übernehmen. Gemeinsam mit Ländern und Kommunen bauen
wir Radschnellwege und ein bundesweites Netz von hochwerti
gen Radfernwegen. Wir wollen die Fahrradmitnahme in allen Zü
gen durchsetzen. Wir werden Kaufanreize für elektrisch unter
stützte Lastenräder einführen, denn sie haben im Lieferverkehr
großes Potenzial. In der Straßenverkehrsordnung schaffen wir
fahrradfreundliche Regeln wie zum Beispiel den „Grünpfeil“ für
Radfahrerinnen und Radfahrer.
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C. WELT IM BLICK
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Welt immer stärker zusam
mengerückt. In Europa erleben wir dank der zivilisierenden Kraft
der Europäischen Union eine sehr lange Phase des friedlichen Zu
sammenlebens – so lange wie nie zuvor. Auch weltweit wurden
Grenzen geöffnet, Wirtschaftsbeziehungen globalisiert, länder
übergreifende Kontakte selbstverständlich. Immer weniger Men
schen leben in extremer Armut. Eine prägende Erfahrung der ver
gangenen Jahre war, europäisch wie international, dass die Welt
durch Zusammenarbeit an vielen Stellen zu einem besseren Ort
gemacht wurde. Wir haben bei der Klimakonferenz in Paris erlebt,
was geschafft werden kann, wenn der Wille da ist, gemeinsam an
zupacken. Auch die Selbstverpflichtung der Vereinten Nationen,
bis 2030 globale Nachhaltigkeitsziele zu erfüllen, war ein Erfolg
internationaler Zusammenarbeit. Genauso gibt uns Hoffnung,
dass es mit beharrlicher Diplomatie gelungen ist, ein Abkommen
mit dem Iran zu schließen, das das Risiko einer atomaren Aufrüs
tung reduziert. Diese Erfahrungen zeigen: Echten globalen Wandel
und kollektive Sicherheit erreichen wir nur gemeinsam und ko
operativ.
Doch gleichzeitig steht diese Welt vor dramatischen Herausfor
derungen. Eine Vielzahl von Kriegen, Krisen und Konflikten be
droht den Frieden und betrifft auch Europa. Dies gilt nicht zuletzt
für den äußerst brutalen Krieg in Syrien und den globalen Terror
des „IS“ und anderer islamistischer Gruppen. Die Kriegsparteien
haben das humanitäre Völkerrecht de facto außer Kraft gesetzt,
wir stehen vor einer der schlimmsten humanitären Katastrophen
unserer Zeit. So viele Menschen wie nie zuvor sind dazu gezwun
gen, ihre Heimat zu verlassen. Auf dem afrikanischen Kontinent
fliehen Menschen vor Gewalt, wirtschaftlicher Perspektivlosig
keit, geschlechtsspezifischer Verfolgung und den aktuell sich ver
schärfenden Hungerkatastrophen, besonders in Somalia, Südsudan,
Nigeria, aber auch im Jemen. Die soziale Kluft vergrößert sich.
Gleichzeitig verschärft die Klimakrise bestehende weltweite Un
gleichheiten. Ressourcenkonflikte um Wasser und Rohstoffe erhö
hen die Spannungen in vielen Regionen der Welt. Wirtschaftlicher
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Prosperität und neuem Wohlstand stehen Ungleichheit und ökolo
gischer Raubbau gegenüber.
Viele Staaten haben eine Mitverantwortung für das Entstehen
gegenwärtiger Krisen und Konflikte. Unter Präsident Putin hat
Russland mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, dem
militärischen Vorgehen in der Ostukraine und mit dem brutalen
militärischen Eingreifen auf der Seite Assads zu einer erheblichen
Verschärfung der internationalen Spannungen beigetragen. Wir
sehen mit Sorge, dass die Abrüstungsbereitschaft sinkt, die Rüs
tungshaushalte und Rüstungsexporte steigen und die längst über
wunden geglaubte Logik der Abschreckung von allen Seiten wie
der in Gang gesetzt wird.
Die unberechenbare Präsidentschaft von Donald Trump in den
USA und seine Politik des „America First“ stellen die Politik
Deutschlands und der Europäischen Union vor erhebliche neue
Herausforderungen. Damit die transatlantische Wertegemein
schaft stark bleibt, wollen wir den Austausch mit der amerikani
schen Zivilgesellschaft und Bundesstaaten stärken. Die wirtschaft
liche, militärische und kulturelle Polarisierung ist das Gegenteil
einer auf Verständigung und Kooperation orientierten Weltord
nung. Pläne für nationalistische Abschottung und Handelskriege,
das Leugnen der Klimakrise, die Negierung der Genfer Konvention
in Bezug auf das Hilfsgebot für Geflüchtete und auf das Verbot von
Folter untergraben das dringend notwendige gemeinsame Han
deln. Die Herausforderungen für globales Engagement für demo
kratische Werte und eine Friedenspolitik könnten also kaum grö
ßer sein.
Wir GRÜNE wollen unseren Beitrag dazu leisten, das Leben in
den kommenden Dekaden des 21. Jahrhunderts politisch friedlich
und sicher, ökologisch nachhaltig, solidarisch und sozial gerecht
zu gestalten. Wir wollen die multilaterale Kooperation und vor al
lem die Vereinten Nationen stärken. Die Weltgemeinschaft muss
Verantwortung für die internationale Friedenssicherung, globalen
Entwicklungschancen und die Durchsetzung und Verwirklichung
der Menschenrechte übernehmen. Die EU soll nach innen wie nach
außen ein Friedensprojekt sein. Das können wir erreichen, wenn
wir Europa weiterentwickeln, internationale Institutionen stärken
und Gerechtigkeit als grenzübergreifende Aufgabe begreifen. Es
geht um Zusammenarbeit statt Nationalismus.
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Wir wollen, dass Deutschland mehr globale Verantwortung für
den Frieden und Gerechtigkeit in der Welt übernimmt. Das fängt zu
Hause an. Eine Erhöhung des Rüstungshaushalts auf zwei Prozent
der Wirtschaftsleistung lehnen wir ab. Wir wollen mehr Mittel für
Krisenprävention bereitstellen und darüber hinaus die international
versprochenen 0,7 Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die glo
bale Entwicklung dauerhaft zur Verfügung stellen, und zwar ohne
die Kosten für Flüchtlinge im Inland anzurechnen. Wir wollen damit
Schluss machen, in Krisenregionen und Diktaturen Waffen zu ex
portieren. Wir GRÜNE wollen, dass Deutschland mehr tut, um Kon
flikte und Krisen zu lösen oder besser noch, sie zu verhindern.
Unser Ansatz gegen Fluchtursachen kann ein wichtiger Baustein
sein, um Menschen eine Lebensperspektive in ihren Ländern zu er
möglichen. Das heißt, wir werden Fluchtursachen bekämpfen und
nicht Geflüchtete. Wir GRÜNE wollen die Globalisierung nicht zu
rückdrehen, sondern im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer
Gerechtigkeit und menschenrechtlicher Prinzipien gestalten. Wir
brauchen endlich ein kohärentes Handeln im Rahmen der globalen
Nachhaltigkeitsziele, deswegen müssen wir aufhören, mit Rüstungs
exporten, unfairem Handel oder Steuervermeidungen unsere eige
ne internationale Zusammenarbeit zu hintertreiben.
Wer vor Krieg, Gewalt oder Verfolgung nach Deutschland flieht,
dem wollen wir Schutz bieten. Aber auch mit Blick auf die Einwan
derung wollen wir das Staatsbürgerschaftsrecht endlich der Re
alität anpassen. Wir GRÜNE sind überzeugte Europäerinnen und
Europäer. Eine starke, demokratische und reformierte Europäische
Union ist genau das, was wir in einer Welt der Unsicherheiten brau
chen. Wir wollen die deutsche Euro- und Europapolitik solidarischer
ausrichten, damit Deutschland dazu beiträgt, Europa zu einen und
zu stärken. Wir GRÜNE sind die Europapartei und stehen gerade
angesichts von nationalistischen und rechtspopulistischen Bestre
bungen ein für ein besseres Europa für alle Bürgerinnen und Bürger.
Die Europäische Union ist bis heute das beste Beispiel, wie supra
nationale Partnerschaft und Zusammenarbeit zum Nutzen aller
funk tionieren kann. Und sie macht damit Hoffnung: Eine friedliche
re, eine solidarische, eine bessere Welt ist möglich.
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I. WIR KÄMPFEN UM EUROPAS
ZUSAMMENHALT
Die bisherige europäische Einigung ist eine wahrhaft große histori
sche Errungenschaft. Sie bedeutet: Zusammenarbeit statt Nationalis
mus und nie wieder Krieg. Diese Leistung einiger Generationen von
Europäerinnen und Europäern darf nicht gefährdet werden. Leider ist
sie heute wieder sehr umstritten, rechtsnationalistische Bewegun
gen und Parteien stellen sie ganz infrage. Es erfordert neues Engage
ment, um sie zu sichern und weiterzuentwickeln. Dafür stehen wir
GRÜNE. Wir sind die politische Kraft, die Europa gegen den Rechtsna
tionalismus verteidigt und weiter den Weg der europäischen Integra
tion geht. Denn die Europäische Union ist unser Zuhause.
Mit der europäischen Einigung wurde eine lange und schmerz
volle Geschichte von Kriegen, Feindseligkeiten und Zerstörungen
endlich weitgehend überwunden. Heute ist die Europäische Union
eine Garantin für den Frieden und für unsere universellen Werte.
Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Geschlech
tergerechtigkeit, Religionsfreiheit, Achtung der Menschenwürde,
Menschenrechte, Toleranz, soziale Marktwirtschaft – das sind die
Grundlagen der Europäischen Union. Heute können wir Unionsbür
gerinnen und Unionsbürger innerhalb der EU grenzenlos reisen, stu
dieren, arbeiten und leben, wir können glauben, was, und lieben,
wen wir wollen. Wir GRÜNE stehen für dieses Zusammenleben in
Einheit und Vielfalt und diesen European Way of Life. Wir wollen die
se Errungenschaften weiter ausbauen und für alle erfahrbar machen.
Bis heute ist die Art und Weise, wie die Menschen und Staaten in
der Europäischen Union zusammenarbeiten und Konflikte lösen,
einmalig auf der Welt. Für eine gute Zukunft brauchen wir die Euro
päische Union umso mehr. Die großen grenzüberschreitenden Pro
bleme unserer Zeit sind für Kleinstaaterei zu groß: Kampf gegen die
Klimakrise, Hunger, Armut, Krieg und Terrorismus, Korruption, die
gerechte Gestaltung der Globalisierung sowie der Einsatz für eine
humane Flüchtlingspolitik und die Teilhabe aller am gesellschaft
lichen Wohlstand und am Fortschritt. Wir können all das nur mit
einer funktionierenden EU bewältigen. Sie muss die demokratische
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Antwort auf die Globalisierung sein. Auch deshalb sind und bleiben
wir GRÜNE überzeugte Europäerinnen und Europäer. „Mehr Europa“,
das heißt für uns, die EU dort stärker zu machen und weiterzuent
wickeln, wo gemeinsames Handeln notwendig und sinnvoll ist ent
sprechend dem Subsidiäritätsprinzip.
Gerade weil wir die Europäische Union schätzen und brauchen,
wollen wir sie sozialer, solidarischer, ökologischer und demokrati
scher machen. Wir wollen ein Europa, das allen Menschen Chancen
eröffnet. Gesellschaftliche Spaltung, Ausgrenzung, Willfährigkeit
gegenüber starken Lobbys und autoritäre Tendenzen nehmen wir
nicht hin. Wir GRÜNE werden die EU weiterentwickeln, denn wir ha
ben noch viel mit ihr vor. Gerade jetzt.
1. Für ein starkes Europa gegen Spaltung
und autoritäre Tendenzen
Die Erfolge der GRÜNEN in den Niederlanden und die Präsident
schaftswahlen in Frankreich und Österreich mit dem Sieg der über
zeugten Europäer Alexander Van der Bellen und Emmanuel Macron
haben gezeigt, wie man mit einem klaren europäischen Kurs Men
schen überzeugen kann. Mit der neuen französischen Regierung
unter Präsident Emmanuel Macron steht ein kraftvoller Partner für
Reformen in Europa zur Verfügung. Uns eint mit ihm der feste Glau
be an offene Gesellschaften in Europa. Frankreich und Deutschland
müssen einander nun auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam ein
starkes sozial-ökologisches Europa verwirklichen. Präsident Macron
hat zu Recht ein Ende der Austeritätspolitik und eine große europä
ische Investitionsoffensive gefordert. Wir werden diesen Kurs unter
stützen und zusammen mit den EU-Institutionen beherzt notwendi
ge Reformen in der Eurozone und der gesamten EU vorantreiben.
Wir lassen uns vom Ausgang des Brexit-Referendums und den
Erfolgen der Rechtspopulist*innen nicht entmutigen und treten
weiter für unsere Werte ein. Oberste Priorität in den Brexit-Ver
handlungen mit Großbritannien muss eine starke Europäische Uni
on sein. Der Zusammenhalt der EU 27 und die Interessen ihrer Mit
gliedstaaten haben zweifelsfrei Priorität, deswegen darf es keinen
„Austritt à la carte“ geben. Ein freier Zugang zum EU-Binnenmarkt
darf wie bisher nur möglich sein, wenn die Einheitlichkeit des Euro
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parechts, die Rechtssetzung und Jurisdiktion der Gemeinschafts
organe und die Geltung aller vier Grundfreiheiten, insbesondere der
Personenfreizügigkeit, gewahrt bleiben. Europa zusammenzuhalten,
wird in den Verhandlungen die Aufgabe der neuen Bundesregierung
sein. Dazu gehört, dass auch Deutschland bereit sein muss, mehr
finanzielle Verantwortung zu übernehmen, um die EU auch nach
dem Brexit überhaupt handlungsfähig zu halten. Die Bürgerinnen
und Bürger Großbritanniens gehören für uns zu Europa. Dem
Wunsch der Schott*innen und Nordir*innen wie auch der vielen
Menschen im Vereinigten Königreich, die in der EU bleiben wollen,
begegnen wir mit Offenheit und Sympathie. Wir werden uns darum
auch in Zukunft für eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU
und dem Vereinigten Königreich einsetzen. Darüber hinaus stellen
wir klar: Unsere Tür bleibt offen. Die Europäische Union bleibt ein
Projekt des Friedens und Zusammenwachsens. Deshalb reichen wir
allen die Hand, die weiterhin unter dem Dach der EU gemeinsam die
Zukunft gestalten wollen. Allen schon länger in Deutschland leben
den Brit*innen wollen wir einen einfachen Weg in die deutsche und
damit einen Verbleib in der EU-Staatsbürgerschaft ermöglichen.
Wir wollen Europa zusammenhalten. Wir wissen, das wird nicht
einfach. Wir begrüßen Initiativen, die in diesen Zeiten Europa kon
struktiv und visionär weiterdenken und für die EU auf die Straße
gehen. Ein Europa der lebendigen solidarischen Zivilgesellschaft,
die der europäischen Idee neuen Schwung verleiht, ist ein wichtiges
Korrektiv zum Europa der Staaten und zum aufkeimenden natio
nalen Egoismus. Daher unterstützen wir die vielfältigen proeuro
päischen Bürger*innenbewegungen in ganz Europa.
Denn die Differenzen innerhalb der EU sind groß. Wir arbeiten da
rauf hin, dass alle europäischen Mitgliedstaaten eine solidarische
Flüchtlingspolitik unterstützen. Wir wollen wieder offene Grenzen im
Schengen-Raum. Auch wir sind empört, wie mitten in Europa, etwa in
Ungarn oder Polen, die Demokratie und der Rechtsstaat ausgehöhlt
werden. Dagegen stellen wir uns. Wir wollen deswegen, dass die EU-
Grundrechtecharta EU-weit für alle Gesetze gilt.
Wir GRÜNE machen uns stark für ein Europa, das zusammenhält,
das Minderheiten – wie Sinti und Roma – schützt, antiemanzipatori
schen Tendenzen – zum Beispiel gegen die sexuelle Selbstbestim
mung von LSBTIQ* – abwehrt und in dem die einzelnen Staaten und
Bewohner*innen gegenseitige Solidarität zeigen. Dazu braucht es
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auch und gerade ein Umdenken vieler nationaler Regierungen. Das
gilt ebenso für die deutsche Bundesregierung. Europa kommt nur
voran, wenn alle bereit sind, Kompromisse einzugehen. Deshalb
muss Deutschland bereit sein, zum Beispiel bei der Europolitik und
seinen Exportüberschüssen, bei der Bekämpfung der Jugendarbeits
losigkeit und Projekten wie Nord Stream 2 oder bei Fragen der inne
ren und äußeren Sicherheit, stärker auf die Bedürfnisse anderer
europäischer Staaten einzugehen.
Um Europa für die junge Generation erlebbar und erfahrbar zu
machen, wollen wir den direkten Austausch – zum Beispiel mit ei
nem kostenlosen Interrail-Ticket zum 18. Geburtstag – verbessern.
Aufgabe der EU ist es, das gemeinsame kulturelle Erbe Europas zu
bewahren und die offene, gemeinsame Kultur zu fördern. Daher
wollen wir einen europäischen Nachrichten- und Bildungssender
einführen. Der gemeinsame Sender soll einen Beitrag zur Herstel
lung einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit leisten. Dafür
ist ein Sendeformat in allen wichtigen europäischen Sprachen, ins
besondere auch Russisch und Türkisch, von zentraler Bedeutung.
Unser Ziel bleibt eine EU, in der alle zusammenhalten und die
sich einvernehmlich weiterentwickelt. Ein Kerneuropa oder eine
Spaltung der EU lehnen wir ab. Ein Europa der unterschiedlichen
Geschwindigkeiten darf nicht der Standardmodus, muss aber mög
lich sein. Diese verstärkte Zusammenarbeit muss stets für alle EU-
Staaten offen und im Rahmen der EU-Verträge organisiert sein. Die
Rechte des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission sind
dabei uneingeschränkt zu achten.
2. In ein ökologisches und soziales Europa investieren
Die Wirtschaftskrise in Europa ist noch lange nicht überwunden.
Besonders in Südeuropa sind immer noch Millionen von Jugendli
chen ohne Job und berufliche Perspektive. Die Große Koalition
knausert beim EU-Haushalt, beharrt auf einer einseitigen Sparpoli
tik, unterstützt falsche Privatisierungen, behindert Schuldener
leichterungen für Griechenland, Eurobonds und öffentliche Investi
tionen und vertieft damit die Spaltung Europas. Wir brauchen einen
Paradigmenwechsel und schlagen ein sozial-ökologisches Moder
nisierungsprojekt vor, weg von Austerität hin zu mehr Zukunftsin
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vestitionen. Der Europäische Fonds für strategische Investitionen
(EFSI) muss reformiert und aufgestockt werden. Der notwendige
Dreiklang von Investitionen, Reformen und haushaltspolitischer
Solidität erklingt nur, wenn die Priorität für Investitionen nicht von
Austeritätspolitik verunmöglicht wird. Wenn wir regieren, wird das
eine unserer Prioritäten.
Als ersten Teil unseres Green New Deal für Europa schlagen wir
GRÜNE einen Pakt für nachhaltige Investitionen vor. Damit inves
tieren wir in die soziale und ökologische Erneuerung der europä
ischen Wirtschaft. Wir bringen eine starke Klima- und Energieunion
voran, unterstützen Innovation und neue Produktionstechnologien
in der Industrie, nutzen Ressourcen und Energie effizient, setzen auf
Kreislaufwirtschaft und eine Digitalisierung, die allen etwas bringt.
Wir wollen einen funktionstüchtigen europäischen Emissionshan
del, an ökologische Kriterien gekoppelte Landwirtschaftssubven
tionen sowie strenge ökologische und soziale Mindeststandards für
auf den europäischen Markt gebrachte Produkte und Rohstoffe.
Unsere Projekte sind bürgernah und gesamteuropäisch: Natur
schutz, grenzüberschreitende Bahn-, Energie- und Datennetze, For
schung, Kulturaustausch und Jugendprogramme. Der Green New
Deal wird auch für junge Menschen Ausbildungsplätze und Jobs
schaffen. Hierbei soll Deutschland eine Vorbildrolle einnehmen und
die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) stärker in die Unterstüt
zung insbesondere von europäischen mittelständischen Unterneh
men einbinden, damit diese Jugendliche mehr ausbilden und in
Arbeit bringen. Junge Menschen überall in Europa sollen wieder
spüren, dass Europa sie nicht alleinlässt. Das wollen wir über einen
neuen Zukunftsfonds im EU Haushalt finanzieren, der durch Mittel
aus einem neu geschaffenen europäischen Steuerpakt gespeist
werden soll. Der Pakt schafft mehr Steuergerechtigkeit und verrin
gert Steuerausfälle.
Schweizer Steuer-CDs, Luxleaks oder die Panama Papers zeigen
beispielhaft, wie sich Superreiche und internationale Konzerne um
ihren Beitrag für das Gemeinwohl herumdrücken oder, wie im Falle
der Cum-Ex-Steuertricks, sich sogar auf Kosten der Gesellschaft
bereichern. Mit dem Vorschlag zur gemeinsamen, konsolidierten
Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage soll die Besteuerung für
EU-weit operierende Unternehmen vereinfacht und Steuervermei
dung ausgeschlossen werden. Um schädlichen Steuerwettbewerb
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effektiv zu verhindern, sollte die Körperschaftsteuerbemessungs
grundlage mit einem Mindeststeuersatz für alle in der EU ansässigen
Unternehmen verbunden und regelmäßig zum Beispiel vom Europä
ischen Parlament überprüft werden. Steuervermeidung und -hinter
ziehung müssen wirkungsvoller verhindert und bestraft werden. Uns
entgehen jedes Jahr viele Milliarden Euro durch die bisherige Untä
tigkeit. Wir werden bei dem Kampf gegen Steuerbetrug auch national
vorangehen.
Wir wollen dem Vertrag von Lissabon eine soziale Fortschritts
klausel an die Seite stellen. Außerdem setzen wir uns ein für Min
deststandards im Bereich der sozialen Sicherung und des Arbeits
marktes. Wir streiten für das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche
Arbeit am selben Arbeitsplatz“ für alle Arbeiternehmer*innen. Uns
ist wichtig, die grenzüberschreitende Freizügigkeit von Arbeitneh
mer*innen sozial besser abzusichern, damit sie nicht durch ein Ras
ter national fragmentierter Sozialsysteme fallen. Wir wollen die
wirtschaftspolitische Steuerung über das Europäische Semester
stärken. Wir wollen, wie von der EU-Kommission empfohlen und
den Gewerkschaften gefordert, eine Lohnentwicklung erreichen,
die langfristig ein größeres außenwirtschaftliches Gleichgewicht
ermöglicht. Wir wollen keinen unfairen Wettbewerb der europä
ischen Staaten, Löhne zu drücken. Als Ziel in diesem Bereich setzen
wir uns für die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversiche
rung ein.
3. Für mehr Transparenz, mehr Beteiligung
und ein starkes EU-Parlament
Europas Demokratie lebt vom Mitmachen, Mitentscheiden, Sichein
bringen und -einmischen. Die EU ist demokratisch legitimiert. Aber
wie jede Demokratie hat sie Schwächen, die wir abbauen wollen. Zu
oft wird europäische Demokratie zu einseitig über das Handeln na
tionaler Regierungen bestimmt, anstatt über das Europäische Par
lament. Wir wollen eine größere europäische Öffentlichkeit und Le
gitimation erreichen. Deswegen wollen wir weiterhin europäische
Spitzenkandidat*innen für das Amt des oder der Kommissionspräsi
dent*in. Parteien sollen auch mit transnationalen Listen für das EU-
Parlament antreten. Dafür können wir nach dem Brexit einen Teil
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der frei werdenden Sitze der britischen Europaabgeordneten nut
zen. Wir wollen, dass das direkt gewählte Europäische Parlament
der zentrale Ort aller europäischen Entscheidungen wird und das
Recht erhält, eigene Gesetzesvorschläge einzubringen. Auch im Be
reich der Wirtschafts- und Währungsunion soll es gleichberechtigt
mitentscheiden; um dies vorzubereiten, soll ein Ausschuss für Eu
rofragen mit besonderen Informationsrechten eingerichtet werden.
Wir wollen die aktuellen Euro-Rettungsmechanismen in einen Euro
päischen Währungsfonds umwandeln, der durch das EP kontrolliert
wird. Das EP muss die alleinige parlamentarische Vertretung für
alle Unionsbürger*innen bleiben. Jegliche Formen von Euro-Neben
parlamenten lehnen wir ab. Um die Rückbindung der Eurogruppe
zum Europäischen Parlament zu stärken, schlagen wir vor, den oder
die EU-Kommissar*in für Wirtschaft und Währung als nächste*n
Präsident*in der Eurogruppe zu wählen. Die Abwahl der EU-Kom
mission und ihrer Präsidentin oder ihres Präsidenten muss über ein
konstruktives Misstrauensvotum durch eine einfache statt bisher
Zweidrittelmehrheit der EP-Abgeordneten möglich sein. Zur Ver
besserung der Transparenz sollte der Minister*innenrat grundsätz
lich öffentlich tagen und jede*r soll wissen können, welches Land
wie abstimmt. Auch die nationalen Parlamente wollen wir durch
vertraglich gesicherte umfassende Informationsrechte stärken, da
mit das Handeln der eigenen Regierung in Brüssel stärker beein
flusst werden kann. Für Europäische Bürger*inneninitiativen gibt es
heute unnötig hohe Hürden, die wir abbauen wollen. Schließlich
sollten alle Unionsbürger*innen in den Staaten, in denen sie leben,
die vollen bürgerlichen, sozialen und politischen Rechte genießen.
Unionsbürger*innen sollten ein Landtagswahlrecht in Deutschland
erhalten. Perspektivisch sollte die Unionsbürger*innenschaft zu ei
ner europäischen Staatsbürger*innenschaft fortentwickelt werden.
Wir fordern mehr Transparenz durch ein verpflichtendes Lobby
register. Ein „legislativer Fußabdruck“ soll sichtbar machen, wer mit
welchem Budget in wessen Auftrag und zu welchem Thema Einfluss
auf die Politik nimmt. Für Kommissionsmitglieder und höchste Ent
scheidungsträger*innen sollen striktere Karenzzeiten gelten, bevor
sie in neue Positionen wechseln können.
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4. Die EU als handlungsfähige Akteurin in der
Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik
Die europäischen Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass
die EU bei der Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik mehr
leistet, öfter mit einer Stimme spricht, mehr für unsere innere und
äußere Sicherheit tut. Wir GRÜNE setzen uns für eine stärkere Euro
päisierung der Außen-, Entwicklungs-, Friedens- und Sicherheits
politik ein. Kein europäisches Land ist allein in der Lage, den inter
nationalen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Das gilt
umso mehr in einer Zeit, in der sich durch die aggressive Groß
machtpolitik Russlands unter Präsident Putin, die von Abschottung
und nationalistischem Denken geprägte Politik des amerikanischen
Präsidenten Trump und die vielen Krisenherde im Nahen Osten und
in Nordafrika die Rahmenbedingungen für die Sicherheit der EU
grundlegend ändern.
Das Zivile steht dabei für uns im Vordergrund. Die Mittel und das
Personal für zivile Krisenprävention und die zivilen EU-Polizei- und
Rechtsstaatsmissionen müssen bedarfsgerecht und damit deutlich
erhöht werden. Wir stellen uns gegen einen fatalen Paradigmen
wechsel, bislang zivile Gelder aus dem EU-Haushalt für Militär oder
zur Abwehr von Flüchtlingen umzuverteilen sowie die Investitions
bank und das Instrument für Stabilität und Frieden zu militärischen
Zwecken zu missbrauchen. Wir wollen die gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP), die gemeinsame Sicherheits- und Vertei
digungspolitik (GSVP) und den Europäischen Auswärtigen Dienst
weiter ausbauen. Die EU soll aktiv an einer globalen Friedens
ordnung im Rahmen der Vereinten Nationen und an der Schaffung
eines gesamteuropäischen Systems kooperativer Sicherheit, aus
gehend von der OSZE, mitarbeiten. Die neuen Sicherheitsbedenken
der osteuropäischen Länder nehmen wir dabei sehr ernst. Eine Lö
sung des Konfliktes in der Ukraine kann nur eine politische und di
plomatische sein. Daher halten wir am Minsk-Prozess fest. Wir hal
ten gezielte Sanktionen der EU gegen verantwortliche Individuen,
öffentliche und privatwirtschaftliche Institutionen für ein wirksames
Mittel der Außenpolitik und halten derzeit an der Aufrechterhaltung
der Sanktionen gegenüber der Russischen Föderation fest.
Wir halten konkrete Schritte für eine verstärkte Zusammenarbeit
und Integration der Streitkräfte in der Europäischen Union für sinn
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voll und für einen Teil der Antwort auf die internationalen Entwick
lungen. Eine Erhöhung der Militärausgaben ist nicht sinnvoll und
wir lehnen auch entsprechende Forderungen aus der NATO, die Mi
litärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu stei
gern, ab. Uns geht es darum, durch engere gemeinsame Planung,
Kooperation und Koordination Fähigkeiten auf europäischer Ebene
zu bündeln, statt die Verschwendung öffentlicher Gelder fortzuset
zen. Dies muss mit einer Stärkung der Mitspracherechte für das Eu
ropäische Parlament und mit einer gemeinsamen restriktiven Rüs
tungsexportpolitik einhergehen.
Die EU muss auch bei der Gestaltung ihrer Nachbarschaftspolitik
aktiver werden. Die Erweiterungspolitik der EU ist für uns eine Er
folgsgeschichte. Sie steht für Frieden und Stabilität in Europa. Der
Beitritt jedes einzelnen Landes muss aber weiter konsequent von
Fortschritten im Beitrittsprozess und der Erfüllung der Kopenhagen
Kriterien abhängig gemacht werden. Wir wollen alle Staaten des
westlichen Balkans ohne Änderung ihrer Grenzen in die EU integrie
ren und das Beitrittsversprechen durch eine tiefgreifendere Zusam
menarbeit mit möglichst vielen gesellschaftlichen Akteur*innen
des Westbalkans glaubwürdig machen.
Wir GRÜNE stehen auch weiterhin fest an der Seite derjenigen in
der Türkei, die für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffen
heit eintreten. Wir verurteilen die von Erdogan eingeschlagene Po
litik hin zu einem autoritären Präsidialsystem, die massiven Angrif
fe auf Oppositionelle, auf die Zivilgesellschaft, auf die Meinungs- und
Pressefreiheit. Der Krieg des türkischen Militärs und der Terror der
PKK im Südosten der Türkei werden auf dem Rücken der Zivilgesell
schaft ausgetragen. Auch die militärischen Interventionen in Syrien
und im Nordirak lassen die Gewalt in der Region weiter eskalieren.
Für die Zukunft der Kurd*innen kann es nur eine friedliche und po
litische Lösung geben. Es braucht nun eine grundlegende Neuver
messung der europäisch-türkischen Beziehungen. Mehr denn je
müssen Deutschland und Europa klare Kante für Demokratie und
Menschenrechte zeigen. Darum werden wir deutsche Rüstungs
exporte in die Türkei stoppen. Politisch Verfolgte sollen in der EU
Zuflucht finden und der Visumszwang abgeschafft werden. Ver
handlungen über eine Ausweitung der Zollunion kann es erst ge
ben, wenn die Türkei eine Kehrtwende zurück zu Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit vollzieht. Das gilt auch für die Fortführung der
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Beitrittsgespräche, die de facto bereits auf Eis liegen. Sie jetzt kom
plett abzubrechen, würde das falsche Signal an die proeuropäischen
und demokratischen Kräfte in der Türkei senden. Für eine demokra
tische und weltoffene Türkei müssen die Türen zur EU offen bleiben.
Europa hat auch eine besondere Verantwortung für Afrika. Wir
wollen unsere Partnerländer dabei unterstützen, lebenswerte Per
spektiven für die Menschen vor Ort zu schaffen und damit langfris
tig auch Fluchtursachen zu beseitigen. Deshalb schlagen wir einen
Zukunftspakt zwischen der EU und Afrika vor. Außerdem wollen wir
die Einreisebedingungen für Auszubildende und Studierende aus
afrikanischen Ländern in die EU erleichtern.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Zukunftsfonds für ökologische und soziale Modernisierung
Wir GRÜNE wollen einen Zukunftsfonds im EU-Haushalt für Eu
ropa einrichten, der mittels öffentlicher Investitionen die ökolo
gische und soziale Modernisierung vorantreibt, darüber hinaus
Mitgliedstaaten in Notsituationen unterstützt und Wirtschafts
krisen bekämpft. An diesem Fonds sollen sich alle EU-Staaten
beteiligen dürfen, die im Gegenzug stärkere Maßnahmen gegen
aggressive Steuervermeidung und Steuerhinterziehung ergrei
fen. Mit einem solchen Steuerpakt starten wir eine Investitions
offensive für ein modernes und gerechtes Europa. Die soziale
Spaltung Europas wollen wir so durch die Einführung von Min
deststandards abbauen und die europäische Jugendgarantie
wollen wir stärken. In der EU soll jeder junge Mensch spätestens
vier Monate nach dem Schulabschluss einen Ausbildungs- oder
Arbeitsplatz erhalten.
Demokratie in der EU stärken – Europa der Bürger*innen
schaffen
Wir wollen Europa gemeinsam mit seinen Bürger*innen wei
terentwickeln, transparenter, demokratischer und erfahrbarer
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machen. Wir wollen das direkt gewählte Europäische Parlament
als zentralen Ort der europäischen Demokratie stärken, unter
anderem durch die Möglichkeit, eigene Gesetzesvorschläge ein
zubringen. Der Minister*innenrat und seine vorbereitenden Gre
mien sollen in Zukunft öffentlich tagen. Wir wollen ein verbind
liches Lobbyregister und einen legislativen Fußabdruck, damit
erkennbar wird, wer wann an einem Gesetz gearbeitet hat. Wir
wollen Beteiligungsinstrumente wie die Europäischen Bürger*in
neninitiativen und europäische Bürger*innenforen ausbauen.
Wir stärken den gesellschaftlichen Austausch und öffnen den
europäischen Friedensdienst für alle.
Zukunftspakt zwischen EU und Afrika
Europa hat gegenüber Afrika eine historische Verantwortung
und wir sind vielfältig miteinander verbunden. Wir wollen einen
Grünen Zukunftspakt mit den Ländern in Afrika, der gemeinsam
erarbeitet wird und der die Agenda der Afrikanischen Union un
terstützt. Im Zentrum stehen zivile Krisenprävention und der
Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen sowie funktionierende
Steuersysteme. Wir wollen eine nachhaltige wirtschaftliche Ent
wicklung fördern durch den Ausbau erneuerbarer Energien so
wie sozial-ökologische Investitionen. Insbesondere verfolgen
wir hierbei eine gerechte Agrar- und Handelspolitik mit einer
fairen Zusammenarbeit mit afrikanischen Produzent*innen und
einer nachhaltigen Weiterentwicklung der afrikanischen klein
bäuerlichen Landschaft. So schaffen wir Perspektiven für die
Menschen in Afrika.
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II. WIR STEHEN EIN FÜR
FRIEDEN, GLOBALE
GERECHTIGKEIT UND
MENSCHENRECHTE
Wir leben 2017 in einer Zeit dramatischer Umbrüche in der Welt
politik. Die Hoffnung auf eine globale Friedensordnung droht zu
schwinden. Kriege und Konflikte in der Nachbarschaft der Europä
ischen Union haben sich in den vergangenen Jahren weiter ver
schärft. In einer solchen Lage sind Besonnenheit, eine multilaterale
Ausrichtung, die Stärkung des Völkerrechts sowie zivile Ansätze
dringender denn je. Unsere Orientierung sind die vielen positiven
Entwicklungen weltweit. Wir werden Länder partnerschaftlich da
bei unterstützen, Menschenrechte zu schützen, demokratische und
rechtsstaatliche Strukturen zu stärken, sich nachhaltig zu entwi
ckeln und den Menschen ein Leben in Freiheit und Würde zu ermög
lichen. Leitbild unseres außenpolitischen Engagements sind die
Menschenrechte. Deutschland und die EU müssen mehr Verant
wortung für die Gestaltung einer friedlichen, gerechten und koope
rativen Weltordnung übernehmen. Deutschland muss selbst alle
menschenrechtlichen Abkommen vorbehaltlos ratifizieren und um
setzen. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass durch globale
Partnerschaft, Solidarität und Zusammenarbeit die Welt an vielen
Stellen zu einem besseren Ort werden kann. Diesen Weg wollen wir
GRÜNE entschlossen weitergehen.
Im Zentrum unserer Außen-, Sicherheits-, Friedens- und Ent
wicklungspolitik steht eine Stärkung des internationalen Rechts,
der multilateralen Zusammenarbeit und der zivilen Krisenpräventi
on, vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen, EU und OSZE. Die
Welt wird nur sicherer werden, wenn wir international nicht weni
ger, sondern enger zusammenarbeiten. Die NATO ist ein wichtiges
transatlantisches Bindeglied und spielt für die gemeinsame Sicher
heit in Europa eine wichtige Rolle. Wir wollen sie so transformieren,
das sie auch mit Dritten verstärkt zu kooperativer Sicherheit beitra
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gen kann. Deshalb setzen wir auch auf den Dialog im NATO-Russ
land-Rat. Dies gilt gerade jetzt. Den Rahmen für unsere Politik der
globalen Verantwortung bilden die nachhaltigen Entwicklungsziele
der Vereinten Nationen. Sie nehmen auch Deutschland und andere
Industrieländer in die Pflicht, gesamtpolitisch umzusteuern, denn
eine nachhaltige Entwicklung und der Einsatz für Frieden fangen zu
Hause an. Wir kämpfen für eine global nachhaltige Entwicklung, für
soziale Gerechtigkeit und für demokratische Teilhabe. Dazu gehört
die Eindämmung von Geldwäsche und Korruption.
Im Mittelpunkt internationaler Politik steht für uns der Mensch
mit seiner Würde, seinen unveräußerlichen Rechten und seiner Frei
heit. Uns leiten die Durchsetzung und Wahrung von Menschenrech
ten, insbesondere der Rechte von Frauen.
1. Menschenrechte, Krisenprävention und die Entwicklung
in den Mittelpunkt
In der globalisierten Welt sind Außen- und Innenpolitik heute
kaum mehr voneinander zu trennen. Ressourcenkonflikte, Flucht
bewegungen und die gemeinsame Herausforderung der Klimakri
se zeigen, dass die Probleme der Welt nur grenzüberschreitend
gelöst werden können. Frieden, Freiheit, ein Leben in Würde und
der Schutz der globalen öffentlichen Güter stehen allen Menschen
gleichermaßen zu. Wir kritisieren scharf, dass autoritäre Regime in
vielen Ländern diese Werte mit Füßen treten. Sie dürfen nicht als
unsere „Verbündeten“ betrachtet und politisch und militärisch ge
stützt werden. Demokratische Gesellschaftsmodelle geraten zu
nehmend unter Druck. Nicht nur in Russland, China oder Ägypten,
auch in der Türkei ist die massive Einschränkung von Meinungs
freiheit und Rechtsstaatlichkeit mittlerweile bittere Realität.
Menschenrechts verteidiger*innen müssen weltweit besser ge
schützt werden und müssen Thema der bilateralen Regierungs
verhandlungen sein. Wir wollen Menschenrechtsreferent*innen in
allen deutschen Botschaften. Die Arbeit von Nichtregierungsorga
nisationen und demokratischen Bewegungen wird immer öfter
von staatlicher Seite behindert und kriminalisiert. Das betrifft
auch die politischen Stiftungen und ihre Förderung zivilgesell
schaftlicher Strukturen vor Ort.
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Wir wollen die strukturellen Gründe für Ungleichheit, für Armut
und Hunger, für Klima- und Ressourcenkrise und für gewaltsame
Konflikte angehen. Wichtig dafür sind Politikreformen in Deutsch
land und anderen Industriestaaten im Sinne der nachhaltigen Ent
wicklungsziele, die Schaffung entwicklungsförderlicher Rahmen
bedingungen in Partnerländern und ein Ausbau der multilateralen
Zusammenarbeit. Unsere Wirtschafts-, Finanz-, Handels-, Agrar-
oder Rüstungsexportpolitik darf nicht länger Nachhaltigkeitsziele
wie Frieden, Menschenrechte und globale Gerechtigkeit konterkarie
ren. Deshalb wollen wir einen Rat für Frieden, Nachhaltigkeit und
Menschenrechte schaffen, der das Regierungshandeln mit Blick auf
die Nachhaltigen Entwicklungsziele prüft und Anpassungen emp
fiehlt. Wir werden verstärkt die Zivilgesellschaft fördern und auch
den Privatsektor nach verbindlichen menschenrechtlichen und
sozial-ökologischen Kriterien einbeziehen. Eine Privatisierung der öf
fentlichen Daseinsvorsorge lehnen wir ab. Öffentlich-private Part
nerschaften dürfen nicht zu neuen Schuldenkrisen führen und müs
sen dem Gemeinwohl und einer nachhaltigen Entwicklung dienen.
Mit unserer internationalen Zusammenarbeit wollen wir rechts
staatliche Strukturen stärken, soziale Sicherungs- und Gesund
heitssysteme ausbauen, Ernährungssouveränität herstellen, Klima
schutz fördern, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von
Mädchen und Frauen durchsetzen und den Zugang zu Bildung vo
ranbringen. Dafür reformieren wir die Instrumente unserer interna
tionalen Zusammenarbeit für mehr Effizienz und Wirksamkeit.
Vereinbarungen mit Partnerländern gründen wir auf beidseitige
Verpflichtungen – etwa bei der Steuerkooperation und klugen Ka
pitalverkehrskontrollen. Wir setzen uns für ein geordnetes Staaten
insolvenzverfahren bei den Vereinten Nationen und für eine Finanz
transaktionsteuer ein, deren Erlöse in großen Teilen für Maßnahmen
der Entwicklungs und Klimafinanzierung eingesetzt werden sollen.
Die Kopplung von Entwicklungszusammenarbeit an Rückübernah
meabkommen ist keine Grundlage für eine menschenrechtsbasierte
Entwicklungspolitik.
Die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Durchsetzung
der Frauenrechte sind wichtige Faktoren für eine menschenrechts
basierte Außen- und Entwicklungspolitik. Wir treten dabei auch ge
gen die Diskriminierung und für den Schutz der Menschenrechte
von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*, inter* und queeren
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(LSBTIQ*) Menschen ein. 2007 wurden in Yogyakarta Prinzipien zur
Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orien
tierung und die geschlechtliche Identität verabschiedet. Diese wol
len wir im Rahmen der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik
weiter fördern und umsetzen.
Das inzwischen fast 50-jährige und oft wiederholte Versprechen,
0,7 Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die weltweite Entwick
lung bereitzustellen, lösen wir endlich ein, ohne Kosten für Ge
flüchtete in Deutschland anzurechnen. Wir stehen für eine verläss
liche Entwicklungsfinanzierung und humanitäre Hilfe für Menschen
in Not sowie ein stärkeres finanzielles und personelles Engagement
im Rahmen der VN, der EU und der OSZE. Die Auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik spielt eine wichtige Rolle. Wir wollen deshalb
die Arbeit der Goethe-Institute, der Deutschen Welle, der politi
schen Stiftungen, des DAAD und anderer Akteure für den Dialog der
Kulturen stärken.
Der humanitäre Bedarf der Vereinten Nationen zur Vermeidung
von Hungersnöten oder schlimmsten Katastrophen wird von der
Staatengemeinschaft immer wieder nicht erfüllt und wenn, dann
häufig erst nach wiederholten Appellen und Sondergipfeln. Wir set
zen uns für ein humanitäres Versprechen der internationalen Ge
meinschaft ein, um flächendeckende Hungersnöte und schlimmste
Katastrophen rechtzeitig zu verhindern. Wir verteidigen das huma
nitäre Völkerrecht. Mit uns wird die Bundesregierung eine humani
täre Führungsrolle einnehmen und ihren Anteil am aktuellen Bedarf
zu jedem Jahresanfang finanzieren. Mit der Schaffung eines Insti
tuts für humanitäre Angelegenheiten wollen wir Deutschland in die
Lage versetzen, die humanitäre Hilfe wirksamer zu machen.
Trotz der akuten Krisen im Nahen und Mittleren Osten dürfen
Deutschland und die EU auch eine Friedenslösung im Nahostkon
flikt nicht aus dem Blick verlieren.
Wir GRÜNE setzen uns weiterhin für eine Zwei-Staaten-Rege
lung ein, um den Fortbestand des Staates Israel als nationale Heim
stätte des jüdischen Volkes und zum Wohle aller seiner Bewoh
ner*innen sowie die Schaffung eines souveränen, lebensfähigen
und demokratischen Staates Palästina auf der Grundlage der Gren
zen von 1967 zu gewährleisten. Es kann nur eine gewaltfreie Lö
sung geben. Wir wenden uns gegen Terror. Wir lehnen illegalen
Siedlungsbau ab. Wir bekennen uns zu der besonderen Verantwor
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tung Deutschlands gegenüber dem Staat Israel sowie seinem Exis
tenzrecht und seiner Sicherheit in gesicherten Grenzen als Eck
pfeiler deutscher Außenpolitik. Zugleich setzen wir uns ein für das
Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser in Selbstbestim
mung, Frieden und Sicherheit frei von Besatzung unter Wahrung
ihrer Menschenrechte in ihrem eigenen, demokratischen Staat zu
leben. Wir sind für die demokratische Stärkung des palästinensi
schen Staates, die Anerkennung durch Europa und die Aufnahme in
die VN.
Während wir der palästinensischen Zivilgesellschaft nicht ab
sprechen, selbst über gewaltfreie Strategien zur Beendigung der
Besatzung zu entscheiden, lehnen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen
Boykott Israels als Instrument deutscher und europäischer Außen
politik ab. Wir wollen weiterhin mit allen Kräften in Israel zusam
menarbeiten, die sich gegen eine Fortdauer der Besatzung und für
eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen.
2. Rüstungsexporte in Krisenregionen stoppen, Abrüstung
und Rüstungskontrolle voranbringen
Der Verkauf von Waffen und Rüstungsgütern in Regionen mit Krisen
und Konflikten verschärft diese, statt sie einzudämmen und zu lö
sen. So nähren Rüstungsexporte an Saudi-Arabien und andere Krieg
führende Parteien die Kriege im Nahen Osten, aber auch die Mili
tärdiktatur in Ägypten und den sogenannten Drogenkrieg in Mexi
ko. Besonders viele Opfer fordert der Einsatz von Kleinwaffen. Das
wirtschaftliche Interesse einzelner Unternehmen übertrumpft in
der Abwägungsentscheidung der Bundesregierung das Interesse an
Krisenprävention und Konfliktlösung. Damit muss endlich Schluss
sein. Deshalb werden wir mit einem Rüstungsexportgesetz gesetz
lich verbindlich und restriktiv neu regeln, dass der Handel mit allen
Rüstungsgütern an strenge Kriterien geknüpft und massiv begrenzt
wird. Der Endverbleib muss gesichert sein. Der Export in Staaten
außerhalb der EU, der NATO und an NATO-gleichgestellte Länder
darf nur in ganz wenigen und zu begründenden Fällen und nur im
Rahmen der VN Charta erfolgen. Rüstungsverkäufe in Konflikt
gebiete und Länder, in denen schwere Menschenrechtsver
letzungen stattfinden, müssen endlich ausnahmslos gesetzlich
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verboten werden. Die Rüstungsexportkontrolle muss vom Wirt
schaftsministerium ans Auswärtige Amt übertragen und durch um
fassende parlamentarische Kontrolle reguliert werden. In beson
ders heiklen Fällen soll der Bundestag vorab über anstehende
Genehmigungen informiert werden. Auf EU-Ebene kämpfen wir für
eine restriktive und parlamentarisch kontrollierte Rüstungsexport
politik. Wir wenden uns gegen die weitere Erosion bestehender
Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen. Wir wollen die Ver
trauensbildung, Abrüstung und Rüstungskontrolle wiederbeleben
und dabei mit eigenem Beispiel vorangehen.
Weltweite Abrüstung muss ein Grundpfeiler der deutschen und
europäischen Außenpolitik werden – gerade in unruhigen Zeiten.
Wir kämpfen für eine Welt ohne Atomwaffen und dafür, sie völker
rechtlich durch eine internationale Konvention zu ächten. Es ist un
verantwortlich, dass die schwarz-rote Bundesregierung im August
2016 gegen einen VN-Resolutionsentwurf zum Verbot von Atom
waffen gestimmt hat. Wir werden weiter für die vollkommene ato
mare Abrüstung kämpfen. Wir GRÜNE fordern den Abzug der letzten
Atomwaffen aus Büchel und die endgültige Aufgabe der völker
rechtswidrigen „nuklearen Teilhabe“. Wir sind strikt gegen eine ei
genständige atomare Bewaffnung der EU.
Wir setzen uns auch für eine internationale Konvention für das
Verbot autonomer Waffen und Kampfroboter ein und sind gegen die
Beschaffung oder Entwicklung bewaffnungsfähiger Drohnen für die
Bundeswehr. Wir fordern einen internationalen Verhaltenskodex
zur Cybersicherheit, der unter anderem eine Selbstverpflichtung
enthält, zivile (Netz-)Infrastruktur nicht zum Ziel oder Instrument
militärischer Angriffe zu machen. Wir wollen nicht, dass die USA
ihre Basen in Deutschland für völkerrechtswidrige Angriffe nutzen.
Die Überflugrechte und Militärbasen ausländischer Streitkräfte in
Deutschland dürfen ausschließlich im Sinne des Völkerrechts ge
nutzt werden.
3. Stärke des Rechts statt Recht des Stärkeren
Wir GRÜNE setzen auf die Stärke des Rechts statt auf das Recht des
Stärkeren. Die Anerkennung des Gewaltmonopols der Vereinten Na
tionen ist eine Voraussetzung dafür. Die VN sind aber nur so stark,
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wie ihre Mitgliedstaaten es erlauben. Deshalb setzen wir uns dafür
ein, dass Deutschland sich im Rahmen der VN, ihrer Unterorganisa
tionen sowie regionaler Organisationen wie der OSZE stärker finan
ziell und personell engagiert.
Wir sind davon überzeugt, dass dauerhafter Frieden nur poli
tisch, nicht militärisch erreicht werden kann. Deswegen sind zivile
Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung zentrale Anliegen
grüner internationaler Politik. Sie sind heute wichtiger denn je und
gehören ins Zentrum der deutschen Außenpolitik. Wir wollen au
ßerdem eine konsequente Friedenserziehung fördern.
Wir setzen uns dafür ein, die zivile Krisenprävention finanziell
und strukturell zu stärken. Dazu fordern wir ein strategisches und
kohärentes Handeln in allen Ressorts und Politikbereichen, das von
einem Nationalen Rat für Frieden, Nachhaltigkeit und Menschen
rechte überprüft wird. Wir wollen die Verbesserung von Frühwar
nungs-, politischen Analyse- und Mediationskapazitäten. Die Ar
beitsfähigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wollen
wir stärken und das Kapital der Deutschen Stiftung Friedens
forschung erhöhen. Notwendig ist auch der planmäßige Ausbau
schnell verfügbarer Polizei-, Rechtsstaats- und Verwaltungsexper
t*innen. Der Aktionsplan zur Umsetzung der VN-Resolution 1325
zum Schutz von Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten
und zur gleichberechtigten Einbindung von Frauen in die Krisenprä
vention, Konfliktbewältigung und Friedenskonsolidierung muss
finanziell unterfüttert und wirkungsorientiert ausgerichtet werden.
Wir wollen, dass Deutschland Mitglied im Europäischen Friedens
institut wird und bei den Vereinten Nationen und in der EU einen
Freundeskreis für Krisenprävention initiiert. Friedensmissionen der
Vereinten Nationen, der EU und der OSZE leisten weltweit einen
wichtigen Beitrag zur Konfliktbearbeitung und Friedenssicherung.
Wir wollen die deutschen zivilen und militärischen Beiträge in die
sen Missionen erhöhen.
Die Anwendung militärischer Gewalt ist immer ein Übel. Wir er
kennen jedoch an, dass es Situationen gibt, in denen militärische
Gewalt unter eng begrenzten Bedingungen als äußerstes Mittel ge
rechtfertigt sein kann. Das Konzept der Schutzverantwortung der
VN besagt, dass es Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist,
aktiv zu werden, wenn nationale Regierungen nicht in der Lage oder
willens sind, Menschen vor schweren Menschenrechtsverbrechen
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zu schützen. An erster Stelle muss immer die Prävention stehen,
also das Verhindern gewaltsamer Entwicklungen. Wir GRÜNE ste
hen zu einer Kultur der militärischen Zurückhaltung und für den
Primat des Zivilen. Wir machen uns die Entscheidung über Militär
einsätze niemals einfach, sondern prüfen mögliche Mandate kri
tisch und sorgfältig. Für uns gilt die VN-Charta. Wir werden Einsät
zen der Bundeswehr nur mit einem Mandat der Vereinten Nationen
zustimmen. Einsätze müssen grundgesetzkonform sein, das heißt
nicht in verfassungswidrigen Koalitionen der Willigen, sondern im
Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit wie den Vereinten Na
tionen, der Europäischen Union oder der NATO stattfinden. Es be
darf eines präzisen und umfassenden Mandates durch den Bundes
tag und einer sorgfältigen Abwägung der Gefahren, Chancen und
Risiken. Ein militärischer Einsatz der Bundeswehr muss in eine um
fassende zivile Gesamtstrategie und in klare Konzepte für die Zu
kunft des betroffenen Staates eingebettet sein.
Um strategische oder politische Fehler, wie beim Afghanistan
Einsatz, zu vermeiden, müssen komplexe internationale Friedens
einsätze permanent auf ihre Ziele, Wirksamkeit und Mittel hin über
prüft und angepasst werden. Deshalb fordern wir klare Prüfkriterien
für Auslandseinsätze und eine unabhängige Evaluierung.
Unrecht muss aufgearbeitet werden, deshalb unterstützen wir
Anstrengungen zur Aussöhnung und die Arbeit des internationalen
Strafgerichtshofs. Die Kapazitäten deutscher Behörden, Kriegsver
brechen nach dem Weltrechtsprinzip konsequent zu verfolgen, sol
len gestärkt werden.
Eine Blockade des VN-Sicherheitsrats bei zentralen Entschei
dungen droht das Völkerrecht und die VN zu schwächen und muss
überwunden werden. Die Vereinten Nationen müssen wieder hand
lungsfähiger werden. Im Falle einer anhaltenden Blockade des VN-
Sicherheitsrats sollte die Generalversammlung der VN das Recht
beanspruchen, mit qualifizierter Mehrheit den Sicherheitsrat für
blockiert zu erklären und an seiner Stelle friedenserzwingende
Maßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta zu beschließen. Gleich
zeitig sollte der Sicherheitsrat so reformiert werden, dass sich das
Gleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten verbessert.
Wir wollen auch in diesem Zusammenhang die Vereinten Natio
nen politisch und materiell stärken und unterstützen. Die Unter
stützung der Ziele und Missionen der Vereinten Nationen ist eine
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wichtige Aufgabe der Bundeswehr. Die Bundeswehr muss VN-fähi
ger und europatauglicher werden. Für diese Herausforderungen
muss die Bundeswehr gut ausgestattet sein. Dafür braucht es aber
keine Erhöhung des Verteidigungsetats, sondern klare sicherheits
politische Prioritäten, mehr europäische Zusammenarbeit und ein
Ende der ineffizienten Beschaffungspolitik der letzten Jahre. Es
muss endlich Schluss damit sein, dass mit industriepolitisch moti
vierten Prestigerüstungsprojekten und Wahlkreiswünschen einzel
ner Abgeordneter Steuergelder verbrannt werden.
Es hat sich bewährt, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee
ist. Wir lehnen alle Pläne zur Einschränkung des Parlamentsvorbe
haltes ab und wollen die Kontroll- und Mitwirkungsrechte des Bun
destages ausbauen. Wir wollen die innere Führung und den Aufklä
rungswillen bei Missständen in der Bundeswehr stärken und setzen
auf mehr staatsbürgerliche und politische Bildung. Es ist uns wich
tig, dass die Soldat*innen gute Rahmenbedingungen haben: eine an
gemessene Entlohnung, Führungskultur und Personalmanagement,
Vereinbarkeit von Familie und Dienst sowie eine Für- und Nachsorge,
die den schwierigen Anforderungen der Einsätze gerecht werden.
Die Anwerbung von minderjährigen Rekrut*innen lehnen wir ab.
An der Vision, den VN unter Beachtung der Parlamentsbeteiligung
eigene ständige Truppen zu unterstellen, halten wir fest.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
0,7 Prozent für globale Entwicklung statt zwei Prozent
für Aufrüstung
Wir lehnen eine Erhöhung der Militärausgaben auf zwei Prozent
der Wirtschaftsleistung klar ab. Stattdessen wollen wir, dass
Deutschland endlich sein Versprechen für mehr globale Gerech
tigkeit einlöst. Darum werden wir bis 2021 das Ziel erreichen,
0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für globale Entwicklung
auszugeben, indem wir die Ausgaben für Entwicklungszusam
menarbeit und internationalen Klimaschutz jährlich um zwei
Milliarden Euro erhöhen und auch danach die Klimagelder weiter
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anwachsen lassen. Ausgaben für Geflüchtete in Deutschland wer
den wir nicht anrechnen. Wir richten diese Gelder strikt an den
nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen aus.
Dies ist auch ein Beitrag zur zivilen Krisenprävention und langfris
tig zur Fluchtursachenbekämpfung. Der Kampf für eine nachhalti
ge Entwicklung und einen wirksamen Klimaschutz muss Hand in
Hand gehen.
Für ein Rüstungsexportgesetz – keine Waffen
in Krisenregionen
Wir wollen Rüstungsexporte in Krisenregionen und an Staaten
mit einer problematischen Menschenrechtslage mit einem res
triktiven und verbindlichen Rüstungsexportgesetz stoppen und
die bisherige Gesetzeslage verschärfen. Die Federführung bei
Rüstungsexportgenehmigungen wollen wir auf das Auswärtige
Amt übertragen. Über die Exportgenehmigungen soll künftig die
gesamte Bundesregierung im Konsensprinzip entscheiden. In vor
her klar definierten, besonders heiklen Fällen soll der Bundestag
vorab über anstehende Genehmigungen informiert werden. Wir
wollen Nichtregierungsorganisationen ein Verbandsklagerecht
einräumen, um die Rechtmäßigkeit genehmigter Rüstungsexpor
te durch eine Klage überprüfen zu lassen. Auf europäischer Ebene
kämpfen wir darum, eine EU-weite gemeinsame Rüstungsexport
kontrolle deutlich restriktiver zu gestalten.
Für starke Vereinte Nationen – internationaler Schutz
verantwortung gerecht werden
Wir setzen auf eine Politik, die an den Menschenrechten und am
Völkerrecht ausgerichtet ist. Der zentrale Akteur auf globaler
Ebene sind die Vereinten Nationen. In den bestehenden Struktu
ren und ihrer derzeitigen Ausstattung können sie den wachsen
den globalen Herausforderungen nicht mehr gerecht werden.
Deswegen möchten wir Deutschland und die EU zu Vorreite
r*innen für die zivile Krisenprävention machen – konzeptionell,
finanziell und strukturell. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten
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Nationen (UNHCR) muss angesichts der rasant wachsenden
Flüchtlingszahlen auf der Welt lebensrettende Aufgaben besser
wahrnehmen können. Und die internationale Gemeinschaft muss
aktiv werden, wenn nationale Regierungen nicht in der Lage oder
willens sind, ihre Bürgerinnen und Bürger vor Völkermord, Ver
brechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder ethni
scher Säuberung zu schützen. Wir wollen die Vereinten Nationen
deshalb stärken, die Schutzverantwortung auch wirklich wahr
nehmen zu können. Wir wollen Reformen in den Strukturen der
Vereinten Nationen anstoßen und sie besser ausstatten, perso
nell und materiell.
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III. WIR MACHEN DEN
WELTHANDEL FAIR
Die Globalisierung ist durch drastische Widersprüche geprägt. Sie
macht die Beziehungen und den Austausch zwischen Ländern en
ger. Nie war es so einfach, in ferne Länder zu reisen. Auch Wissen
schaft und Kultur befruchten sich durch internationalen Austausch.
Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen umgeben uns Produkte, die
es ohne weltweiten Handel nicht gäbe. Deutschland profitiert von
offenen Märkten. Die Globalisierung hat auch in den Ländern des
globalen Südens zu einem Anstieg des Wohlstands und hunderte
Millionen Menschen aus extremer Armut geführt.
Doch die Globalisierung hat eben auch eine anarchische, unge
rechte und brutale Seite. In vielen ärmeren wie reicheren Ländern
werden Menschen in einer globalen Wertschöpfungskette ausge
beutet oder gegeneinander ausgespielt. Wohlstandsgewinne sind
sehr ungleich und ungerecht verteilt – zwischen Staaten und inner
halb von Staaten. Die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrund
lagen hat sich durch die Globalisierung beschleunigt. Und die ent
fesselten internationalen Finanzmärkte und große Konzerne haben
einen zu starken Einfluss auf politisches Handeln gewonnen. Des
wegen ist es unser Ziel, die Globalisierung auch durch die Stärkung
globaler Institutionen gerechter zu gestalten; zum Beispiel, indem
wir die internationalen Finanzströme besser regulieren ( Kapitel:
Wir teilen den Wohlstand gerechter, S. 190) und auch indem wir den
internationalen Handel neu gestalten.
Hunderttausende Menschen in Deutschland und anderen Län
dern Europas haben in den letzten Jahren gegen TTIP, TiSA und
CETA, gegen eine Fortsetzung der neoliberalen Globalisierung von
oben demonstriert. Wir kämpfen an ihrer Seite dafür, dass diese Ab
kommen gestoppt und auf Grundlage sozialer, ökologischer und
menschenrechtlicher Kriterien neu verhandelt werden. Im Fall von
CETA wollen wir alles dafür tun, damit das Abkommen in dieser
Form nicht ratifiziert wird.
Sowohl der nationalistische Weg, den Schattenseiten der Globa
lisierung mit Abschottung zu begegnen, als auch der neoliberale
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Weg, Globalisierung ohne Regulation zu forcieren, führen in den
Abgrund. Wir stehen für einen anderen Weg – den Weg friedlicher
und offener Kooperation und globaler Solidarität. Gerechter globa
ler Handel kann dafür sorgen, dass die Vorteile der Globalisierung
mehr Menschen zugutekommen.
Als exportorientierte, große Volkswirtschaft hat Deutschland
eine besondere Verantwortung. Deutschland muss deshalb dazu
beitragen, dass die Europäische Union als der größte Binnenmarkt
selbstbewusst eine führende Rolle bei der Regulierung des Welt
handels einnimmt und zeigt, wie fairer Handel möglich ist. Den
brauchen wir für eine sozial-ökologische Transformation.
1. Gerechte Regeln für die Welt
Um Handel fair zu gestalten, müssen Regeln von allen Ländern ge
meinsam verhandelt werden, also multilateral. Das muss im Rah
men der Welthandelsorganisation (WTO) geschehen. Denn sonst
machen die mächtigen Länder die Spielregeln und die armen haben
das Nachsehen. So wollen wir den Zugang zu günstigen Generika
für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen stärken. Insbe
sondere sollte die EU Länder des globalen Südens unterstützen, die
Schutzklauseln und Ausnahmen des WTO-Patentschutzsystems
(TRIPS) zu nutzen. Gleichzeitig dürfen diese Länder nicht mittels
Freihandelsabkommen gedrängt werden, eine Ausweitung des Mo
nopolschutzes und eine Einschränkung des Medikamentenzugangs
über TRIPS-plus einzuführen. Außerdem braucht es einen globalen
Forschungsfonds, um Anreize zu schaffen, vernachlässigte und In
fektionskrankheiten besser zu behandeln. Damit das gelingt, muss
die WTO grundlegend reformiert und unter dem Dach der Vereinten
Nationen neu belebt werden.
Mit der Verabschiedung der globalen Nachhaltigkeitsziele der
Vereinten Nationen und dem Abschluss des Pariser Klimaschutzab
kommens hat die Weltgemeinschaft zentrale Zielmarken zur Be
kämpfung von Hunger und Armut, zur Reduzierung von globaler
Ungleichheit und für den Erhalt unserer ökologischen Lebensgrund
lagen gesetzt. Die Industriestaaten können und müssen dabei im
Sinne einer fairen Lastenteilung vorangehen.
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Diese Zielmarken müssen auch für die Gestaltung des Welthan
dels und eine Reform der WTO gelten. So sollen alle am Welthandel
Teilnehmenden die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeits
organisation (ILO) einhalten. Vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt
muss Arbeit menschenwürdig sein und der weltweite Wettbewerb
um die niedrigsten Löhne aufhören. Wir haben das Ziel, in Zukunft
sowohl mit entwickelten wie auch sich entwickelnden Staaten eine
neue Generation von fairen und nachhaltigen Handelsabkommen
auszuhandeln. Durch ein Race to the Top von immer höheren globa
len Standards werden wir gute Arbeit garantieren und lokale Wert
schöpfung erhalten. Wir setzen damit in den fairen Handelsabkom
men neben klassischen Handelsfragen auch soziale, ökologische
und menschenrechtliche Standards – also unter anderem Regeln
zur Vermeidung von Steuerhinterziehung, für Korruptionsbekämp
fung, für Biodiversität, für Ernährungssouveränität, die Implemen
tierung von internationalen Sozial-, Klima- und Umwelt- sowie
Menschenrechtsnormen und die freie Gewerkschaftsbildung. Alle
sind gleichwertig einklagbar und sanktionierbar. Wir wollen kein
neues Handelsabkommen zwischen der EU und den USA oder ande
ren Staaten, ohne dass von allen zukünftigen Vertragsparteien das
Pariser Klimaabkommen unterzeichnet wurde und das Handelsab
kommen die Einhaltung der Pariser Ziele garantiert.
Die „Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer“
(G 20) muss ebenfalls für eine faire Globalisierung eintreten. Auch
wenn sie langfristig an die Vereinten Nationen rückgebunden wer
den sollte, kann es doch hilfreich sein, wenn die wirtschaftlich star
ken Länder zusammenkommen, um über internationale Regeln zu
beraten. Den Impulsen der G 20 zur Trockenlegung von Steuer
sümpfen und zur Kontrolle internationaler Finanzmärkte müssen
aber auch Taten folgen. Dazu wollen wir ein effektives Regelwerk
zur Bekämpfung von Steuer und Kapitalflucht durchsetzen, damit
unkontrollierte Abflüsse vor allem auch aus armen Ländern ge
stoppt werden. Die nächste Bundesregierung muss nicht nur weiter
ambitionierte Ziele im Rahmen der G 20 vorantreiben, sondern auch
verbindliche Umsetzungsmechanismen über die multilateralen Or
ganisationen etablieren.
Noch immer hungern weltweit rund 800 Millionen Menschen.
Zwei Milliarden Menschen sind mangelernährt. Besonders für
Mütter und Kinder drohen bei Mangelernährung schwerwiegende
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bleibende Gesundheitsschäden. Dabei wären genügend Nahrungs
mittel verfügbar. Das Recht auf Nahrung muss endlich konsequent
umgesetzt werden. Dafür braucht es eine faire europäische Han
dels- und Agrarpolitik. Außerdem werden wir bäuerliche Strukturen
hier und weltweit intensiver fördern mit dem Ziel, die Ernährungs
souveränität zu stärken. Auch die konsequentere Regulierung der
Finanzmärkte – gegen die exzessive Spekulation mit Nahrungs
mitteln – spielt eine wichtige Rolle beim Kampf gegen den Hunger.
Zudem bedrohen die Interessen von Agrarkonzernen wie Bayer und
Monsanto mit ihrer enormen Marktmacht den traditionellen Handel
von bäuerlichem Saatgut.
Die Patentierung von Saatgut sowie Landgrabbing bekämpfen
wir, denn sie bedrohen Biodiversität und Ernährungssouveränität,
indem sie insbesondere Frauen die lokale Existenzgrundlage neh
men. Wir setzen uns vehement dafür ein, dass Deutschland durch
nationale Gesetze und internationale Vereinbarungen dazu beiträgt,
dass Investoren und staatliche Institutionen die freiwilligen Leitlini
en der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten
Nationen zu Landrechten, Fischgründen und Wäldern einhalten.
2. Neustart für faire Abkommen
TTIP, CETA, TiSA, JEFTA oder andere Abkommen dieser Art sind so
umstritten, weil hier die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zur
Verhandlungsmasse wurden. Wir GRÜNE lehnen diese Abkommen
ab. Einige wenige große, länderübergreifende Konzerne profitieren,
kleine und mittlere Unternehmen haben das Nachsehen. Deshalb
demonstrieren dagegen Kleinbauern und -bäuerinnen in Burkina
Faso genauso wie der bäuerliche Familienbetrieb in Baden-Würt
temberg. Dabei sollten faire Handelsabkommen Umwelt-, Verbrau
cher- und Datenschutz sowie Arbeitsnormen und Menschenrechte
nicht schwächen, sondern international sichern und ausbauen.
Viele Kommunen fürchten, dass die öffentliche Daseinsvorsorge
in Handelsabkommen nicht ausreichend geschützt wird. Hier geht
es um Krankenhäuser, die Wasserversorgung oder um die kulturelle
Vielfalt. Wenn Ausnahmen für öffentliche Dienstleistungen nicht
klar definiert sind, garantieren sie keinen ausreichenden Schutz. Vor
allem sind diese Dienstleistungen nicht vom Investitionsschutz
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ausgenommen – Klagen gegen die kommunale Daseinsvorsorge
vor einem Schiedsgericht würden so möglich.
Wir GRÜNE fordern, das Vorsorgeprinzip in allen Handelsverträ
gen zu verankern. Dieses Prinzip stellt sicher, dass Produkte bei uns
erst auf den Markt dürfen, wenn klar ist, dass sie unbedenklich sind.
Es sorgt dafür, dass in der EU zum Beispiel 1.300 Substanzen nicht
für den Einsatz in Kosmetika zugelassen sind. Gentechnisch verän
derte Lebensmittel, Asbest oder Hormonfleisch sind verboten. Die
Regelsetzung in diesen sensiblen Bereichen dürfen auch durch re
gulatorische Kooperation nicht unterlaufen werden. Sogenannte
Investor-Staat-Schiedsverfahren oder ein Investitionsgerichtssys
tem (ICS) sehen Klageprivilegien für Konzerne vor. Wir wollen nicht,
dass demokratisch beschlossene Gesetze wie etwa der Atomaus
stieg oder Regeln für Aufdrucke auf Zigarettenpackungen dadurch
unterlaufen werden. Für solche Verfahren gibt es keine Begrün
dung. Sonderklagerechte für Investoren und große Konzerne leh
nen wir entschieden ab.
Wir setzen uns stattdessen für einen ständigen Handelsgerichts
hof unter dem Dach der Vereinten Nationen ein, vor dem Betroffene
gegen die Verletzung menschenrechtlicher, sozialer und umweltre
levanter Verpflichtungen durch transnationale Unternehmen kla
gen können. Der Vorschlag der EU-Kommission für einen multilate
ralen Investitionsgerichtshof (MIC) erfüllt diese Voraussetzungen
nicht. Bestehende Investitionsschutzabkommen wollen wir nach
verhandeln mit dem Ziel, die Vereinbarungen zu Schiedsgerichten
aus den Verträgen zu entfernen. Wir unterstützen den Prozess
der Vereinten Nationen für ein verbindliches Abkommen über die
Pflichten internationaler Konzerne.
3. Fairer Handel bringt Chancen für ärmere Länder
Fairer Handel kann eine nachhaltige Entwicklung in Gang setzen.
Wenn wir Entwicklungsländern Raum lassen, durch Zölle und Quo
ten ihre Märkte zu schützen, können sie ihre heimische Wirtschaft
aufbauen. Im Moment aber stoßen wir dem globalen Süden die Lei
ter weg, auf der wir selbst unser heutiges Entwicklungsniveau er
klommen haben. Subventionierte Importe aus Europa können ganze
Branchen in Entwicklungsländern zerstören. So hat zum Beispiel
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der Export von Milchpulver, Tomaten oder Hähnchenteilen aus der
EU die heimische Produktion in Westafrika verdrängt. Die Wirt
schaftspartnerschaftsabkommen mit Afrika drohen eine eigenstän
dige und nachhaltige Entwicklung in den Partnerländern zu verhindern.
Wir wollen sie deshalb stoppen und fordern neue Verhandlungen
nach menschenrechtlichen, sozialen und Umweltstandards ohne
Druck und Fristen. Wir wollen Entwicklungsländern handelspoliti
sche Schutzmaßnahmen ermöglichen, damit sie ihre jungen Indus
trien entwickeln können. Die EU sollte für Entwicklungsländer Zölle
auf verarbeitete Produkte senken oder ganz abschaffen, damit diese
ihre Wirtschaften breiter aufstellen und mehr Gewinn im Land hal
ten können.
Auch Unternehmen sind verantwortlich für die gesellschaft
lichen Folgen ihres Handelns. Wir wollen sie verpflichten, die Ein
haltung von Menschenrechten, Umwelt- und Sozialstandards in
ihrer gesamten Lieferkette nachzuweisen. Beim Verstoß gegen die
se Sorgfaltspflichten drohen den Unternehmen Sanktionen, denn
Selbst verpflichtungen wie im „Textilbündnis“ der Großen Koalition
reichen bei Weitem nicht aus. Opfer sollen zivilrechtliche Entschä
digungsansprüche erhalten.
Fair gehandelte Produkte müssen raus aus der Nische. Bessere
Kennzeichnung muss Konsument*innen in die Lage versetzen, mit
ihrem Einkauf an der Ladentheke über den Herstellungsprozess von
Produkten abzustimmen.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Neustart für faire Handelsabkommen
Handelsabkommen, die anders als TTIP, CETA und TiSA trans
parent verhandelt wurden und an sozialen, ökologischen und
menschenrechtlichen Kriterien ausgerichtet sind, können eine
gerechte Globalisierung fördern. Sie sollten Umwelt-, Verbrau
cher*innen- und Datenschutz sowie Arbeitsnormen und Men
schenrechte international sichern. Wir fordern, das Vorsor
geprinzip in allen Handelsverträgen zu verankern und dabei
kommunale Daseinsvorsorge, öffentliche und soziale Dienstleis
tungen sowie Kultur auszunehmen. Statt Klageprivilegien für
Konzerne fordern wir einen ständigen Handelsgerichtshof unter
dem Dach der Vereinten Nationen, vor dem auch Betroffene
gegen Investoren klagen können. Er soll auf völkerrechtliche
Verpflichtungen sowie die ILO Kernarbeitsnormen achten. Wir
wollen multilaterale Verhandlungen im Rahmen der Welthan
delsorganisation (WTO) wieder stärken.
Lieferketten offenlegen für mehr Transparenz
Auch Unternehmen sind verantwortlich für die gesellschaftli
chen Folgen ihres Handelns. Wir wollen menschenrechtliche
Sorgfaltspflichten im deutschen Recht gesetzlich verbindlich
verankern, die entlang der Lieferkette einzuhalten sind. Zudem
braucht es mehr Transparenz, wirksame Sanktionen bei Men
schenrechtsverstößen und zivilrechtliche Klagemöglichkeiten
für Betroffene. Diese Maßnahmen schaffen Rechtssicherheit.
Davon profitieren Betroffene und Unternehmen gleichermaßen.
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Hunger bekämpfen – Nahrungsmittelspekulation
verhindern und Saatgut sichern
Noch immer hungern weltweit etwa 800 Millionen Menschen.
Für die Ärmsten der Armen wird der Preis von Nahrungsmitteln
schnell zur Überlebensfrage. Doch Spekulationen mit Nahrungs
mitteln führen zu Hunger und Leid. Das wollen wir eindämmen.
Dazu begrenzen wir die Menge, die einzelne Akteur*innen von
einem Produkt am Markt kaufen dürfen. Doch nicht nur Markt
monopole bei Nahrungsmitteln sind ein Problem: Die Interessen
von Agrarkonzernen bedrohen den traditionellen Handel von
bäuerlichem Saatgut und damit das Recht auf Nahrung. Das
schafft riskante Abhängigkeiten und zerstört die Artenvielfalt.
Deshalb wollen wir die Rechte der Kleinbäuerinnen und -bauern
auf freien Austausch und kostenlose Wiederaussaat von Saatgut
sowie lokale Saatgutbanken fördern. Um dem Hunger in der
Welt wirksam zu begegnen, setzen wir uns weiterhin ein für
Landrechte und eine dezentrale Landwirtschaft, die agraröko
logische Prinzipien in den Vordergrund stellt. Sie gewährleistet
die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Bäuerinnen und Bauern,
schützt die Biodiversität und unterstützt die regionalen Wirt
schaftskreisläufe.
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IV. WIR SCHÜTZEN GEFLÜCH
TETE UND BEKÄMPFEN
FLUCHTURSACHEN
Die Zahl der Menschen auf der Flucht wächst. Weltweit sind über
65 Millionen Menschen auf der Suche nach Schutz für sich und ihre
Familien. Flucht kennen viele Deutsche aus ihrer Familiengeschichte
von ihren Eltern und Großeltern, manche haben selbst noch Flucht
und Vertreibung als Folge des Zweiten Weltkriegs erlebt. Viele sind
aus der DDR in den demokratischen Westen geflohen. Menschen flie
hen vor Krieg, politischer Vertreibung und Verfolgung, immer häufi
ger auch vor den Folgen der Klimakrise und Umweltzerstörung. Wir
erleben die große Herausforderung der Fluchtbewegung an den
Grenzen Europas genauso wie hierzulande. Doch die meisten Men
schen fliehen in Regionen nahe ihrer Heimat, fast zwei Drittel inner
halb der Grenzen des eigenen Heimatlandes, in der Hoffnung, zurück
kehren zu können.
Unser Land hat in einer Zeit, wo andere Staaten sich weggeduckt
haben, vielen Menschen Zuflucht geboten. Wo einige Tausende ge
gen Geflüchtete gehetzt haben, haben Millionen Menschen gehol
fen und dadurch gezeigt, wie stark die Zivilgesellschaft in Deutsch
land ist. Auch die Mitarbeitenden in Verwaltungen und Institutionen
sind über sich hinausgewachsen. Die deutsche Bundesregierung hat
zuerst mit Humanität reagiert. Dafür hatte sie unsere Unterstüt
zung. Doch leider hat sie sich von dieser Politik schnell abgewen
det. Das Asylrecht hat sie massiv verschärft und zusammen mit
anderen europäischen Regierungen betreibt sie die Abschottung
der EU. Während Trump plant, eine Mauer zu bauen, versteckt sich
Europa mittlerweile hinter Zäunen und Stacheldraht. Diese Ab
schottung ist unmenschlich und verschärft auf Dauer die Probleme.
Wir wollen, dass Deutschland besser als 2015 auf humanitäre
Herausforderungen vorbereitet ist. Die Mitarbeiterinnen und Mitar
beiter der Kommunen, anderer Behörden, Organisationen und viele
Freiwillige waren an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, tausen
de Flüchtlinge wussten nicht, ob sie Schutz finden können, mancher
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Flüchtling wurde fünfmal und andere gar nicht registriert. Wir wol
len wissen, wer nach Europa kommt, wir wollen geregelte Verfahren
und eine Kontrolle der europäischen Außengrenze. Nicht jeder, der
zu uns kommt, kann bleiben, aber jeder hat Anspruch auf ein rechts
staatliches Verfahren und den Schutz seiner Menschenrechte auch
nach einer Ablehnung. Jede Abschiebung ist mit großen menschli
chen Härten verbunden. Deshalb möchten wir für all jene, die kei
nen Anspruch auf Asyl haben, die freiwillige Rückkehr stärken.
Nicht jeder abgelehnte Asylantrag führt zu einer Abschiebung. In
vielen Fällen wird aus rechtlich verbrieften humanitären Gründen
ein Aufenthaltstitel vergeben und nicht abgeschoben. Wir finden
das richtig, halten an dieser Politik fest und stellen uns gegen
den an Zahlen ausgerichteten Abschiebepopulismus der Großen
Koalition.
1949 hatte die Bundesrepublik im Grundgesetz eines der libe
ralsten Asylrechte verankert – auch als Lehre aus der deutschen
Geschichte. Wir kämpfen entschlossen für das individuelle Grund
recht auf Asyl. Der uneingeschränkte Zugang zu einem fairen Asyl
rechtsverfahren muss garantiert sein. Die inhumanen Asylrechts
verschärfungen der letzten Jahre lehnen wir ab. Sie behindern
vielfach die Integration. Unfaire und fehlerhafte Asylverfahren füh
ren zu Rekordzahlen von Klagen bei den Verwaltungsgerichten.
Das wollen wir ändern.
Das Mittelmeer darf nicht weiter zum Massengrab werden. Wir
lassen nicht zu, dass sich die EU ihrer Probleme entledigt, indem sie
Flüchtlinge in den Lagern Nordafrikas verelenden lässt. Denn für
uns ist eines klar: Flüchtlinge sind keine Ströme, Lawinen oder Wel
len, es sind Menschen. Menschen wie wir, mit Hoffnungen und Sor
gen, mit Kindern und Familien, aber einem Schicksal, das es weniger
gut mit ihnen meinte als mit uns. Wir wollen eine aktive Flücht
lingspolitik betreiben, die die Dauer der Asylverfahren deutlich ver
kürzt, damit lange Wartezeiten für Asylsuchende ein Ende haben
und diese gut integriert und ihnen eine gleichberechtigte Teilnah
me ermöglicht wird.
Menschen sind schon immer gewandert. Menschen auf der
Flucht brauchen Sicherheit und unsere Hilfe. Für Menschen, die aus
freien Stücken in Deutschland leben und arbeiten möchten, braucht
es Regeln wie ein Einwanderungsgesetz ( Kapitel: Wir gestalten
unser Einwanderungsland, S. 111).
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1. Unser Plan für eine aktive Flüchtlingspolitik
Für uns besteht eine Flüchtlingspolitik aus vier Schritten. Erstens
machen wir ernst mit der Bekämpfung von Fluchtursachen. Die bes
te Flüchtlingspolitik ist eine, die Flucht unnötig macht.
Zweitens sorgen wir durch legale Wege dafür, dass Flüchtende
nicht länger ihr Leben auf gefährlichen Fluchtrouten riskieren müs
sen. Wir werden Kontingente einrichten, wie beispielsweise ein groß
zügig angelegtes Resettlementprogramm, das Menschen einen si
cheren Weg eröffnet und unter der Leitung des UNHCR ein fester
Bestandteil der Flüchtlingspolitik in Deutschland wird. Der faire An
teil Deutschlands wird sich an dem vom UNHCR errechneten Bedarf
ausrichten. Das ist unsere Untergrenze für eine humanitäre Politik.
Auch humanitäre Visa, die Schutzbedürftigen ermöglichen, sicher
nach Europa zu kommen und hier Asyl zu beantragen, können legale
Fluchtmöglichkeiten schaffen. Resettlement ist eine Ergänzung zum
bestehenden Flüchtlingsschutz der Genfer Flüchtlingskonvention.
Das individuelle Asylrecht wird dadurch nicht angetastet.
Der dritte Punkt sind schnelle, faire und rechtsstaatlich ein
wandfreie Verfahren. Es muss schnell Klarheit darüber geschaffen
werden, ob ein Asylantrag zur Anerkennung führt. Erstver sorgung
und Unterbringung bis zur Verteilung sowie die Identifizierung, die
Registrierung und die Weiterverteilung der Schutzsuchenden auf
die Mitgliedstaaten sollten nach Möglichkeit bereits in den Ein
trittsländern innerhalb der EU organisiert werden. Das darf aber
nicht zu unmenschlichen Flüchtlingslagern wie in den gegenwärti
gen Hotspots führen. Die Erstaufnahme muss eine menschenwürdi
ge Unterbringung gewährleisten, die insbesondere Rücksicht nimmt
auf die Bedürfnisse von Frauen, Kindern, Kranken und besonders
verletzliche Gruppen. Nach der Identifizierung und Registrierung
muss die rasche Verteilung in andere Mitgliedstaaten erfolgen.
Die De-facto-Isolierung in großen Erstaufnahmeeinrichtungen über
Monate hinweg lehnen wir GRÜNE ab. Schnelle Verfahren führen zu
schneller Klarheit für die Betroffenen. Dazu gehört eine freiwillige
und möglichst zügige Rückkehr derjenigen, die nach dem Abschluss
rechtsstaatlicher Verfahren kein Bleiberecht in Deutschland erhal
ten. Wir werden neben unserer vollen Unterstützung für anerkannt
schutzbedürftige Menschen auch verantwortungsvoll mit denjeni
gen umgehen, die kein Bleiberecht in Deutschland erhalten und
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rückgeführt werden müssen. Dabei muss auch darauf geachtet wer
den, dass Geflüchtete nicht von staatlicher Stelle zur freiwilligen
Rückkehr gedrängt werden. Sammelabschiebungen sind für uns in
akzeptabel. Mit uns in der Bundesregierung wird es keine Abschie
bungen in Krisenregionen geben, die so unsicher sind wie zum Bei
spiel Afghanistan momentan. Für uns steht das Schicksal des
einzelnen Menschen im Mittelpunkt.
Viertens werden wir diejenigen, die bleiben, gut aufnehmen
und tatkräftig dabei unterstützen, unsere Sprache zu lernen, eine
Wohnung und eine Arbeit zu finden, um schließlich hier eine neue
Heimat finden zu können.
2. Fluchtursachen bekämpfen
Die beste Flüchtlingspolitik ist und bleibt diejenige, die Menschen
davor bewahrt, ihre Heimat verlassen zu müssen. Eine Politik, die
daran arbeitet, die strukturellen Ursachen der Zerstörung von Le
bensgrundlagen langfristig zu beheben. In der globalisierten Welt
hilft es dabei wenig, wenn alle mit dem Finger auf die anderen zei
gen. Fluchtursachenbekämpfung heißt deshalb für uns GRÜNE zu
nächst, nach der eigenen Verantwortung zu fragen.
Wir in Europa exportieren Rüstungsgüter in Krisengebiete, über
fischen die Weltmeere und nehmen in Kauf, dass unsere Agrarex
porte andernorts die Existenzgrundlage von Bäuerinnen und Bau
ern zerstören. Die Ursachen von Flucht und Vertreibung lassen sich
weder mit höheren Zäunen noch mit Patrouillenbooten oder durch
Pakte mit Autokraten lösen. Wir GRÜNE setzen uns deshalb für eine
kohärente internationale Politik ein und fordern strukturelle Refor
men in Bereichen wie Handel, Landwirtschaft, Energie, Fischerei,
Außenpolitik und Klimaschutz, wie sie die nachhaltigen Entwick
lungsziele vorgeben. Wir werden die ärmsten Staaten bei der An
passung an Klimaveränderungen entschieden unterstützen. Und
wir brauchen eine faire Handelspolitik. Rüstungsexporte in Krisen
gebiete und an Staaten mit hochproblematischer Menschenrechts
lage werden wir stoppen.
Die EU muss mehr zur Bewältigung der Krisen und Kriege beitra
gen, vorrangig im Rahmen der Vereinten Nationen. Zivile Krisenprä
vention wird daher ein zentrales Feld grüner internationaler Politik
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bleiben. Um Menschen zu helfen, die sich bereits auf den Weg ge
macht haben, muss die deutsche humanitäre Hilfe in einer krisen
haften Zeit wie dieser auf weit über eine Milliarde Euro stabilisiert
werden und UN-Hilfsorganisationen wie das World Food Pro
gramme brauchen zudem eine dem Bedarf entsprechende stabile
Finanzierung. Länder wie Jordanien, Türkei, Pakistan, Libanon,
Äthiopien oder Kenia nehmen weltweit die meisten Flüchtlinge auf.
Die internationale Gemeinschaft darf diese Länder aus humanitären
Gründen nicht im Stich lassen.
3. Für eine menschenrechtliche und solidarische
europäische Flüchtlingspolitik
Alle europäischen Staaten müssen ihrer Verantwortung in Europa
und der EU gerecht werden. Eine menschenrechtliche Flüchtlings
politik muss die Beseitigung von Fluchtursachen, die Schaffung
sicherer und legaler Fluchtwege nach Europa und die Seenotret
tung im Fokus haben.
Wir kämpfen für eine menschenrechtskonforme und rechtsstaat
liche EU-Flüchtlingspolitik, die sich durch einen fairen Zugang zum
Asylverfahren auszeichnet und die Gewährleistungen der Genfer
Flüchtlingskonvention umsetzt. Die Mitgliedstaaten der EU müssen
sich die Verantwortung für schutzsuchende Menschen fair und soli
darisch teilen, damit Staaten an den EU-Außengrenzen wie Italien
und Griechenland entlastet werden. Im Rahmen eines europäischen
Verteilungsmechanismus müssen die familiären Bindungen von
Flüchtlingen, Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikation und Chan
cen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. Wir halten das für
den richtigen Weg für eine schnelle Integration und werden darum
mit den EU-Partnerinnen und Partnern ringen, auch in dem Wissen,
dass das noch ein weiter Weg ist. Dazu gehört, europaweit einheit
liche Asylverfahren mit hohem Schutzstandard zu implementieren.
Der drohenden Aushöhlung menschenrechtlicher Standards bei der
Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems stellen wir
uns entgegen. Das Dublin-System hat von Anfang an nicht richtig
funktioniert. Wir wollen ein neues, solidarisches System, das auf
einer gerechten Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten
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Nach unserem Verständnis der europäischen Werte und der Soli
darität ist es Aufgabe aller 27 Mitgliedstaaten, Geflüchteten Schutz
zu gewähren. Bisher ist es ein großes Problem der Flüchtlingspoli
tik, dass sich einige EU-Staaten dieser Solidarität verweigern. Für
dieses Dilemma gibt es kein Patentrezept. Eine vorübergehende
Lösung kann deshalb auch bedeuten, dass sich nur einzelne Staaten
innerhalb der EU im Sinne einer offenen Flüchtlingspolitik koordi
nieren – aber eine dauerhafte Lösung ist das nicht.
Die gegenwärtige Abschottungspolitik der EU und vieler natio
naler Regierungen gegenüber Geflüchteten ist menschenrechtlich
verheerend, beschädigt die europäische Wertegemeinschaft, ver
stärkt nationale Egoismen und bietet in keiner Weise Lösungen für
die Fluchtursachen. EU-Länder, die sich einer aktiven Aufnahme
und den Standards für die Versorgung und die Verfahren der Ge
flüchteten verweigern, müssen die finanziellen Aufwendungen der
anderen Mitgliedstaaten mittragen.
Der Türkei-Deal schirmt Europa nicht nur vor Verantwortung,
sondern Präsident Erdogan auch vor Kritik ab. Die EU hat sich da
durch gegenüber der Türkei erpressbar gemacht und nimmt damit
billigend die dramatische Situation geflüchteter Menschen in der
Türkei in Kauf. Auch wird mit der EU-Türkei-Vereinbarung davon ab
gelenkt, dass Staaten wie Griechenland und Italien nach wie vor
Unterstützung bei der Aufnahme und Versorgung von Asylsuchen
den benötigen. Diesen Türkei-Deal wollen wir beenden. Es ist eine
gesamteuropäische Aufgabe, die Kontrolle an den Außengrenzen si
cherzustellen und damit zu gewährleisten, dass wir wissen, wer im
Land ist. Dabei setzen wir auf eine europäische Grenzkontrolle, die
den gemeinsamen Schutz der Menschenrechte zur Grundlage hat
sowie das Vertrauen in das Schengen-System stärkt. Statt Grenzen
dichtzumachen oder auszulagern, setzen wir auf legale und sichere
Zugangswege, etwa durch Kontingente der EU bei der Aufnahme
von Geflüchteten. Wir werden auf die zügige und bereits beschlos
sene Umverteilung innerhalb Europas drängen. Hier müssen vor
allem die vielen auf der Flucht getrennten Familien im Fokus des
politischen Handelns stehen. Zudem werden wir die humanitäre
Hilfe und finanzielle Unterstützung für Geflüchtete in der Türkei
ausbauen. Dabei werden wir sicherstellen, dass diese Gelder auch
wirklich den flüchtlingssolidarischen NGOs und zivilgesellschaftli
chen Akteur*innen zugutekommen.
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Zudem dürfen durch Aufnahmeprogramme von Flüchtlingen in
Europa das Grundrecht auf Asyl und die Gewährleistungen der Gen
fer Flüchtlingskonvention nicht ausgehöhlt werden. Die Aufnahme
darf nicht auf Flüchtlinge aus bestimmten Weltgegenden be
schränkt werden.
Die falsche Politik des EU-Türkei-Deals darf keine Blaupause für
neue Abkommen mit Staaten in Afrika und dem Nahen Osten sein.
Derzeit bemühen sich die europäischen Regierungen darum, eine
Reihe weiterer solcher Abkommen zu schließen und die Grenzen
damit schon weit vor Europa in Afrika und im Nahen Osten zu schlie
ßen. Die De-facto-Auslagerung der europäischen Außengrenzen
durch Migrationspartnerschaften mit Staaten, in denen Menschen-
und Flüchtlingsrechte nicht gewahrt sind, lehnen wir ebenso ab wie
die Umwidmung entwicklungspolitischer Gelder für menschenrecht
lich problematische Grenzschutzprojekte. Menschenrechtswidrige
Rücknahmeabkommen werden wir zurücknehmen, denn sie sind mit
einer humanitären und modernen Asylpolitik nicht vereinbar.
Wir GRÜNE sind der Überzeugung, dass faire Wirtschaftsbezie
hungen, wirksame Entwicklungszusammenarbeit, Austauschpro
gramme oder zivilgesellschaftliches Engagement ein besseres Mo
dell sind, um mit nordafrikanischen Staaten in Dialogpartnerschaften
zu treten. Auch bei der Rückkehrpolitik gegenüber abgelehnten
Asylbewerber*innen werden wir gemeinsame Lösungen finden.
4. Verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik für Deutschland
Deutschland muss sich weiterhin seiner Verantwortung in der
Flüchtlingspolitik stellen. Die Bundesregierung hat die Entwicklung
hoher Flüchtlingszahlen, insbesondere aus Syrien, viel zu lange
ignoriert und war insbesondere im Jahr 2015 an vielen Stellen über
fordert. Ohne das starke Engagement der Bürgerinnen und Bürger,
von Kommunen und Vereinen wäre die Aufnahme der vielen Ge
flüchteten nicht möglich gewesen.
In den letzten zwei Jahren hat die Regierung das Asylrecht mas
siv verschärft. Dazu gehört neben der Beschneidung sozialer Rechte
zum Beispiel auch, dass nun kranke Menschen leichter abgeschoben
werden können und Abschiebungen ohne Ankündigung möglich
sind. Das führt dazu, dass junge Menschen selbst aus der Schule zur
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Abschiebung abgeholt werden. Wir lehnen diese Asylrechtsver
schärfungen ab und wollen sie im Sinne einer humanen und men
schenrechtlichen Flüchtlingspolitik korrigieren. Der Regierungspo
litik liegt der Irrglaube zugrunde, dass ein unattraktives Asylrecht
Flucht verhindert.
Wir GRÜNE halten die betriebene Ausweitung der angeblich „si
cheren Herkunftsstaaten“ für falsch. Mit der Bestimmung „sicherer
Herkunftsstaaten“ gehen für die Betroffenen erhebliche Beschrän
kungen von Verfahrensrechten, sozialen und wirtschaftlichen Rech
ten einher. Wir lehnen das Konzept „sichere Herkunftsstaaten“
deshalb ab und werden im Bund an unserer Position gegen eine
weitere Ausweitung festhalten. Wir wenden uns auch gegen die
Ausweitung und Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats.
Unsichere Staaten lassen sich nicht per Gesetz für „sicher“ erklären.
Gerade für Minderheiten wie Roma, LSBTIQ*, aber auch Frauen,
Oppositionelle, Journalist*innen oder die Verteidiger*innen von
Menschenrechten sind viele Länder oft nicht sicher.
Wir GRÜNE stehen für die uneingeschränkte Bewahrung des
individuellen Grund- und Menschenrechts auf Asyl, das entspricht
unserer Verantwortung in einer globalisierten Welt und ist für uns
ein Gebot des Völkerrechts und der Menschlichkeit. Mit uns wird es
deshalb keine Obergrenze geben.
5. Faire und rasche Verfahren
Die schnelle, qualitativ hochwertige Bearbeitung von Asylanträgen
durch das BAMF ist und bleibt von zentraler Bedeutung. Alle Schutz
suchenden müssen möglichst schnell wissen, ob sie in Deutschland
bleiben, ihre Familien zu sich holen und sich ein Leben aufbauen
können. Wir wollen Asylverfahren künftig zügiger binnen weniger
Wochen durchführen, damit lange Wartezeiten für Asylsuchende
ein Ende haben. Dafür haben wir ein Fast-&-Fair-Verfahren vorge
schlagen. Um die Verfahren qualitativ weiterzuentwickeln, setzen
wir darauf, dass verpflichtend unabhängige Rechtsberatung von An
fang an stattfindet.
Asylbewerberinnen und Asylbewerber, deren Anträge im Bun
desamt für Migration und Flucht länger als ein Jahr im Verfahren
sind, sogenannte Altfälle, sollen künftig eine Aufenthaltserlaubnis
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bekommen. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass in asyl- und
aufenthaltsrechtlichen Verfahren das Kindeswohl vorrangig be
rücksichtigt und kinderbezogene Fluchtgründe stärker anerkannt
werden. Familientrennungen im Rahmen von Abschiebungen wol
len wir verhindern. Denn gerade die Lebenssituation der Kinder ist
es, die Familien oftmals veranlasst, ihrer Heimat den Rücken zu
kehren.
Auch geschlechtsspezifische Fluchtgründe, wie zum Beispiel Ge
nitalverstümmelung, geschlechtliche Identität oder sexuelle Orien
tierung, müssen im Asylverfahren stärker berücksichtigt werden.
Zentral ist für uns auch die sichere Unterbringung für Frauen, Kin
der und LSBTIQ*, deren unbedingter Schutz vor jeder Form von Ge
walt sichergestellt werden muss.
6. Die Integration von Geflüchteten braucht gute Strukturen
Für die Menschen, die hier Zuflucht finden, wollen wir ein Integrati
onsgesetz, das diesen Namen auch verdient. Wir wollen, dass Inte
gration als partizipativer Prozess auf Grundlage der Werte unseres
Grundgesetzes erfolgt und ermöglicht wird. Derzeit entscheidet der
Aufenthaltsstaus beziehungsweise die sogenannte Bleibeperspek
tive über die Integration. Das schließt viele Geflüchtete aus und es
geht wertvolle Zeit verloren. Wir wollen Integrationsangebote von
Anfang an allen Schutzsuchenden öffnen. Dazu braucht es einen
Anspruch auf Teilnahme an gut ausgestatteten Integrationskursen,
angemessen bezahlte Kursleiter*innen, eine möglichst dezentrale
Unterbringung und den Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe,
Bildung und Ausbildung sowie arbeitsmarktpolitischen Maßnah
men. Ausländerbehörde, Jobcenter respektive die Bundesagentur
für Arbeit und das Sozialamt sollen die Neuankommenden aus einer
Hand beraten.
Menschen – insbesondere mit Kriegs- und Gewalterfahrungen –
aufzunehmen, ist eine Herausforderung für Neuankommende und
Einheimische. Jeden Tag leisten viele Haupt- und Ehrenamtliche in
unseren Kommunen Großartiges. Dieses Engagement muss flan
kiert werden von mehr professioneller Hilfe im Bereich psychosozi
aler Betreuung von Flüchtlingen. Wir wollen den Menschen das An
kommen erleichtern und ihnen unabhängig von Nationalität und
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vermeintlicher Bleibeperspektive das Recht auf einen Integrations
kurs geben. Eine wichtige Bedingung für gelingende Integration ist
zudem, anerkannten Flüchtlingen wie auch subsidiär Schutzberech
tigten unbürokratisch den Familiennachzug zu ermöglichen. Der Fa
miliennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten muss sofort wieder
ermöglicht werden, die Visumsverfahren müssen beschleunigt und
entbürokratisiert werden. Denn nur wer seine Familie in Sicherheit
und in seiner Nähe weiß, kann sich auf die neue Heimat mit aller
Kraft einlassen. Wir setzen uns für eine Erleichterung des Nachzugs
minderjähriger Geschwister von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen ein, da diese ebenfalls zur Kernfamilie gehören.
Der grundgesetzlich garantierte, besondere Schutz gilt nicht nur
für deutsche Familien. Geflüchtete werden oft schon allein durch
ihre Wohnsituation ausgegrenzt. Deswegen brauchen wir einen
schnellen Wechsel von Massenunterkünften in Wohnungen und da
für ausreichend bezahlbaren Wohnraum. Der kommt allen zugute,
genauso wie eine Bildungsoffensive für mehr gute Kindertages
stätten und Schulen. Menschen bringen nicht nur ihre Not, sondern
auch ihre Fähigkeiten und ihre Motivation mit, wenn sie bei uns Zu
flucht suchen. Deswegen wollen wir ihre Bildungs- und Berufsab
schlüsse schneller anerkennen und die bürokratischen Hürden bei
der Anerkennung abbauen. Wir wollen einen rechtmäßigen Aufent
halt während und nach der Ausbildung garantieren und die Vor
rangprüfung abschaffen, nach der deutsche Bewerberinnen und Be
werber bei Ausschreibungen bevorzugt werden müssen. Außerdem
wollen wir die Beschränkungen aussetzen, die für Geflüchtete bei
der Leiharbeit gelten. Geflüchtete Frauen können bisher zu wenig an
den Angeboten der Arbeitsmarktintegration teilhaben. Dafür wollen
wir niedrigschwellige Angebote schaffen – sowohl im Bereich der
Sprach- und Integrationskurse als auch bei den Arbeitsagenturen.
Dabei muss ausreichend Kinderbetreuung angeboten werden.
Wir setzen uns zudem für eine realitätstaugliche Bleiberechts
regelung und eine sichere Zukunftsperspektive für geduldete Men
schen ein. Viele geduldete Menschen leben mittlerweile über fünf,
manche sogar über zehn Jahre hier, viele haben eine Familie ge
gründet. Wir werden für diese Menschen endlich eine sichere Pers
pektive schaffen. Dafür brauchen wir neue Bleiberechtsregelungen,
die langjährig in Deutschland lebenden, beispielsweise gedulde
ten Menschen eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis
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ohne Einschränkungen ermöglichen. Bestehende Bleiberechtsrege
lungen müssen realitätstauglich gestaltet und angewendet wer
den. Die Ausschlussgründe müssen enger gefasst werden. Zählen
muss das aktuelle Verhalten. Jahrelange Benachteiligungen bei In
tegrationsmaßnahmen und erteilte Arbeitsverbote dürfen sich
nicht negativ auswirken. Wir wollen die Voraufenthaltszeiten für
ein Bleiberecht verkürzen und auch die Altersgrenze für gut inte
grierte Jugendliche und Heranwachsende auf 27 Jahre heraufset
zen. Menschen ohne Aufenthaltsstatus sollen Zugang zu Gesund
heit und Bildung erhalten. Wohnsitzauflage und Residenzpflicht
für Geflüchtete müssen wieder fallen. Das integrationsfeindliche
Asylbewerber*innenleistungsgesetz wollen wir abschaffen, die Ge
sundheitskarte für alle Geflüchteten einführen und die Dolmet
scher*innenleistungen bei Gesundheitsbehandlungen sicherstellen.
Die Standards der Kinder- und Jugendhilfe müssen ohne Abstriche
auch für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge gelten. Dafür muss
der Bund den Ländern und Kommunen ausreichend Geld zur Ver
fügung stellen. In den grün regierten Ländern haben wir die Kom
munen nicht alleingelassen, sondern massiv unterstützt. Frauen
und Männer, die sich einer Zwangsverheiratung entziehen wollen,
müssen ein eigenständiges und dauerhaftes Rückkehrrecht nach
Deutschland erhalten.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Leben retten, sichere und legale Fluchtwege schaffen
Es muss sichere und legale Wege für Menschen auf der Flucht vor
Verfolgung, Krieg und Not geben. Menschen sollen nicht länger
auf unsicheren Booten ihr Leben riskieren oder an den Grenzen
Europas in schlecht ausgestatteten Lagern ausharren müssen.
Deswegen treten wir auf europäischer Ebene für ein Seenotret
tungsprogramm ein und werden unterdessen die zivilen, gemein
nützigen Rettungsorganisationen stärken. Zudem wollen wir
großzügige Aufnahmeprogramme schaffen, die Schutzbedür fti
gen nicht nur aus den Anrainerstaaten Syriens die legale Einreise
ermöglichen, sondern auch anderen Geflüchteten, die sich in
lang andauernden prekären Lagen befinden. Baden Württem
berg ist hier mit einem Kontingent für vom IS verfolgte Frauen
und Kinder vorangegangen. Das individuelle Grundrecht auf Asyl
darf nicht angetastet werden. Wir wenden uns gegen seine Aus
höhlung. Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete lehnen
wir ab. Unser Ziel ist ein bundesweiter Abschiebungsstopp nach
Afghanistan.
Familien zusammenführen
Sorge und Angst um die Liebsten sowie jahrelange Trennung
von Familienangehörigen sind oftmals das größte Hindernis, in
einer neuen Heimat anzukommen. Wir wollen deshalb die grau
same und für die Integration hinderliche Aussetzung des Famili
ennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte wieder rückgängig
machen. Außerdem werden wir mehr Personal an den deutschen
Botschaften einsetzen, um die Wartezeiten für Familienange
hörigen-Visa zu verkürzen.
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Integration von Geflüchteten anpacken,
Kommunen besser ausstatten
Viele der Menschen, die bei uns Schutz vor Krieg und Vertrei
bung suchen, können in absehbarer Zeit nicht in ihre Heimat zu
rückkehren. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, ihnen Perspekti
ven zu eröffnen. Die Grundlage dafür sind der schnellstmögliche
Zugang zu Integrations- und Sprachkursen ohne Einschränkung
durch den Aufenthaltsstatus, die Anerkennung von Abschlüssen
und mitgebrachten Kenntnissen sowie eine gute Beratungs
struktur zu Arbeitsmarktzugang und Wohnungssuche. Um Fehler
der Vergangenheit zu vermeiden, wollen wir Ländern und Kom
munen ausreichend Ressourcen zur Verfügung stellen, damit sie
diese Herausforderungen gut bewältigen können. Nur wenn In
tegration von allen Ebenen gleichermaßen getragen wird, kann
sie gelingen. Dieser Verantwortung wollen wir gerecht werden.
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V. WIR GESTALTEN UNSER
EINWANDERUNGSLAND
Schon immer hat Ein- und Auswanderung Deutschland geprägt und
verändert, vor Herausforderungen gestellt und uns als Gesellschaft
weitergebracht. In einem Europa der offenen Grenzen und in einer
Welt, die durch Handel und Digitalisierung noch enger zusammen
gerückt ist, ist die Migration ein Teil unserer Realität. Wir wollen
diese Einwanderung vernünftig regeln und die Integration fördern,
um das friedliche Zusammenleben von Menschen mit unterschied
licher Herkunft und Religion zu sichern. Wir empfinden es als Reich
tum, wenn wir in uns selbst, unseren Familien, Nachbarschaften und
den Freundeskreisen unserer Kinder unterschiedlichen Kulturen be
gegnen. Für uns zählt nicht, woher ein Mensch kommt, es zählt, wo
sie oder er hin will. Wir kennen die Vorteile vielfältiger Gesellschaf
ten: Sie entwickeln sich dynamischer und kreativer als solche in Ab
schottung.
Deutschland ist im Wettbewerb um den Zuzug von Fachkräften.
Unser Aufenthaltsrecht ist nicht darauf eingestellt, die Folgen des
demografischen Wandels durch die Einwanderung von Arbeitskräf
ten zumindest abzumildern. Unser Einwanderungsrecht ist kompli
ziert, unübersichtlich und überholt.
1. Ein modernes Einwanderungsrecht für ein modernes
Einwanderungsland
Wir GRÜNE haben einen Vorschlag vorgelegt, um das Einwande
rungsrecht zu liberalisieren und zu entbürokratisieren, ohne die
nachhaltige Entwicklung in anderen Ländern zu gefährden. Fachkräf
te, deren Ideen und Motivation unser Land dringend braucht, sollen
einfacher als bisher einen Arbeitsplatz in Deutschland suchen kön
nen. Wir werden Deutschland attraktiv machen für ausländische
Studierende und Menschen, die in Deutschland eine berufliche Aus
bildung absolvieren oder sich bei uns beruflich nachqualifizieren
möchten.
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Grüne Migrationspolitik ist emanzipatorisch. Wir sehen Migrati
on als Chance an, wenn sie richtig gestaltet wird. Darum müssen wir
die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Migrant*innen bei
uns erworbene Fähigkeiten auch wieder in ihren Herkunftsländern
anwenden können, sodass es nicht zu einem Braindrain kommt. Hier
lebenden Migrantinnen und Migranten soll es möglich sein, sich
länger im Ausland aufzuhalten, etwa aus beruflichen Gründen oder
um sich im Herkunftsland zu engagieren, ohne ihren deutschen Auf
enthaltstitel zu verlieren. Asylsuchende und Geduldete sollen ihren
aufenthaltsrechtlichen Status ändern können, wenn sie die entspre
chenden Voraussetzungen erfüllen (Statuswechsel). Es macht keinen
Sinn, von ihnen – wie es heute der Fall ist – zu verlangen, dass sie
dafür zunächst im Herkunftsstaat ein Visumverfahren nachholen. Das
ist eine zeitgemäße Einwanderungspolitik.
Wir wollen, dass ein Einwanderungsgesetz durch die Einrichtung
eines eigenständigen Einwanderungs- und Integrationsministeriums
flankiert wird, in dem alle migrations , flüchtlings , integrations und
staatsangehörigkeitsrechtlichen Abteilungen zusammengefasst wer
den. Dies hat sich in grün mitregierten Bundesländern bewährt.
2. Mehr Integration wagen
Integration stellt sowohl Anforderungen an die, die zu uns kommen,
als auch an alle, die schon länger hier leben. Integration ist ein
wechselseitiger Prozess, der von allen Beteiligten die Bereitschaft,
in unserer Gesellschaft zusammenzuleben, abverlangt. Dabei sind
die Werte des Grundgesetzes Grundlage für das Zusammenleben in
unserem Land, nicht eine diffuse „Leitkultur“. Für die, die zu uns
kommen, bedeutet Integration den Erwerb der deutschen Sprache,
einen Zugang zu guter Bildung, zum Arbeitsmarkt, zum Wohnungs
markt, zum politischen Leben, perspektivisch den Erwerb der deut
schen Staatsangehörigkeit sowie die Teilhabe an der demokrati
schen Wertegemeinschaft. Dies kann nur gelingen, wenn wir
strukturelle Hürden und Diskriminierung abbauen und Akzeptanz
fördern.
Wir GRÜNE setzen uns dafür ein, dass alle Menschen, die nach
Deutschland kommen, Anspruch auf Teilnahme an Integrations
angeboten erhalten, und wollen dafür auch zivilgesellschaftliche
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Initiativen besser unterstützen. Wir wollen Einwanderinnen und
Einwanderern attraktive Rahmenbedingungen anbieten, denn nur
dann werden sie und ihre Familien sich für eine Zukunft in Deutsch
land entscheiden. Nur wer einen sicheren Aufenthaltsstatus hat,
findet die nötige Sicherheit, sich bei uns niederzulassen und sich ins
politische und soziale Leben einzubringen. Wir werden für eine qua
litativ hochwertige Sprachförderung sorgen, die das Ziel einer zeit
nahen Eingliederung in den Arbeitsmarkt verfolgt.
Um gerade Frauen eine eigenständige Existenzsicherung zu
ermöglichen, wollen wir ihren Anforderungen zum Beispiel durch
eine gesicherte Betreuung ihrer Kinder Rechnung tragen. Wir wollen
unbürokratische Möglichkeiten für den Mit- beziehungsweise den
Nachzug von Familienangehörigen einführen sowie den Nachweis
von Deutschkenntnissen vor der Einreise abschaffen.
Das Bildungssystem werden wir so durchlässig gestalten, dass wir
auch gegenüber Migrantinnen und Migranten das Versprechen eines
sozialen Aufstiegs über gute Bildung einhalten können. Wir werden
die Bildungs- und Berufsabschlüsse schneller und großzügiger aner
kennen und ein verlässliches Bleiberecht während und nach der Aus
bildung schaffen.
Menschen, die sich ohne Papiere in Deutschland aufhalten, wol
len wir den Zugang zu den sozialen Rechten verschaffen. Verstöße
gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften wollen wir entkriminali
sieren, da das Strafrecht zur Sanktionierung von administrativem
Fehlverhalten nicht geeignet ist.
Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Re
ligion und Kultur verlangt allen Anpassungsleistungen ab. Das Band,
das eine Gesellschaft der Vielfalt eint und zusammenhält, sind un
ser Grundgesetz und die Akzeptanz von Grund- und Menschenrech
ten. In unserem gemeinsamen Land gilt das für alle, egal ob sie aus
Dresden oder aus Damaskus kommen.
3. Mehr Demokratie für die Einwanderungsgesellschaft
Wir wollen, dass aus Ausländern möglichst bald Inländer mit glei
chen Rechten und Pflichten werden. Wir setzen uns für ein liberales
Staatsbürgerschaftsrecht ein, das nicht nur schnelle Einbürgerun
gen, sondern auch das sogenannte Geburtsrecht sowie die Mehr
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staatigkeit ermöglicht. Wer in Deutschland geboren wird, ist für uns
deutsch, wenn ein Elternteil einen legalen Aufenthaltstitel besitzt.
Wir wollen die willkürliche Regelung, sich zwischen zwei Pässen
entscheiden zu müssen, gänzlich abschaffen und das Verbot der
Mehrstaatigkeit aus dem Staatsangehörigkeitengesetz streichen.
Einwanderinnen und Einwanderer sollen möglichst schnell und
möglichst gleichberechtigt am wirtschaftlichen, am kulturellen, am
gesellschaftlichen und am politischen Leben teilhaben können. Wir
halten es daher für sinnvoll, dass auch Staatsangehörige eines Lan
des außerhalb der Europäischen Union (Drittstaat) mit ständigem
Wohnsitz in Deutschland an kommunalen Wahlen teilnehmen kön
nen. Darüber hinaus setzen wir uns für weitere demokratische Par
tizipationsmöglichkeiten für Menschen mit ständigem Wohnsitz in
Deutschland ein.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Ein Einwanderungsland braucht ein Einwanderungsgesetz
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deshalb werden wir ein
Einwanderungsgesetz vorlegen. Fachkräften ermöglichen wir
ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche und schaffen dafür eine
Einwanderungsquote mit Punktesystem. Auch ein möglicher
Spurwechsel zwischen Asyl- und Einwanderungsrecht hilft da
bei, Fachkräfte zu gewinnen. So können Asylbewerber*innen
bei entsprechender Qualifikation eine Arbeitserlaubnis erhalten.
Wir wollen bestehende Berufsabschlüsse besser anerkennen
und die Arbeitsaufnahme in Deutschland erleichtern.
Hier geboren, hier zu Hause – für ein modernes Staats
bürgerschaftsrecht
Ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht muss den Realitäten
einer globalisierten Welt gerecht werden. Deshalb wollen wir
den Erwerb der Staatsangehörigkeit nach dem Geburtsortprin
zip verwirklichen. Wer in Deutschland geboren wird, ist deutsch,
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wenn sich ein Elternteil hier legal aufhält. Alle, die auch eine an
dere Staatsangehörigkeit besitzen, müssen sich nicht mehr zwi
schen der einen oder der anderen entscheiden. Wir wollen Ein
bürgerungen erleichtern. Alle Menschen, die ein dauerhaftes
Aufenthaltsrecht und ausreichende Deutschkenntnisse haben,
sollen schneller einen Anspruch auf die deutsche Staatsangehö
rigkeit haben.
Einwanderinnen und Einwanderern eine Stimme geben
Demokratie und Beteiligung müssen in einem Einwanderungs
land entlang der Vielfalt der Menschen organisiert werden. Mehr
Demokratie heißt für uns auch, dass mehr Menschen mitmachen
und sich beteiligen dürfen. So wollen wir das kommunale Wahl
recht nach dem Wohnortprinzip regeln und nicht nach der
Staatsbürger*innenschaft. Dann können auch diejenigen an
kommunalen Wahlen teilnehmen, die keinen deutschen oder EU-
Pass, aber ihren ständigen Wohnsitz hier haben. Menschen, die
hier leben, sollen auch mitbestimmen, wie wir zusammenleben.
Freiheit im Herzen
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D. FREIHEIT
IM HERZEN
In den letzten Jahrzehnten wurde unsere Gesellschaft offener und
vielfältiger. Das hat ihr gutgetan. Die Vielfalt ist ein Reichtum, der un
ser Land lebendig macht und wachsen lässt. Gerade aus der Zivilge
sellschaft heraus wurden wichtige Fortschritte erkämpft. Trotzdem
gibt es noch viel zu tun auf dem Weg hin zu einer modernen und of
fenen Gesellschaft, die allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben
ermöglicht. Dafür ist Freiheit eine wesentliche Voraussetzung für
eine lebenswerte wie sichere Gesellschaft. Denn weil die Menschen
auf einen Rechtsstaat vertrauen können, der ihre Grundrechte vertei
digt und Schutz bietet, können sie sich tatsächlich auch frei und si
cher fühlen in dem, was sie tagtäglich sagen oder tun.
Leider werden gerade auch die bisher erreichten Errungenschaf
ten infrage gestellt. Islamist*innen und Rechtsextremist*innen grei
fen sie mit terroristischen Anschlägen an. Rechtsnationale spalten
die Menschen in ein völkisches „die“ und „wir“. Sie wollen zurück ins
gesellschaftliche Vorgestern. Durch die sozialen Medien rollen Wel
len von Hass und Hetze. Dagegen setzen wir GRÜNE: keine Toleranz
gegenüber der Intoleranz! Wir kämpfen für Vielfalt, Offenheit und ein
friedliches Zusammenleben. Wir setzen uns für Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit ein. Denn nur ein starker, demokratischer Rechts
staat gewährt Sicherheit und schützt die Freiheit.
Deutschland 2017 gründet auf Vielfalt und Gleichberechtigung.
Mit uns gibt es keinen Rückfall in eine Gesellschaft, in der Richterin
nen oder Automechanikerinnen nicht vorgesehen waren und allein
erziehende Eltern schief angeschaut wurden. Kein Zurück in eine Zeit,
in der Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, zu
einem öffentlichen Skandal wurden. Wir wollen, dass allen Mitglie
dern unserer Gesellschaft, egal welchen Geschlechts, die Wahrneh
mung ihrer Freiheits- und Bürger*innenrechte möglich ist. Wir vertei
digen unsere Demokratie und die offene Gesellschaft gegen ihre
Feind*innen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit reicht bis in
die Mitte der Gesellschaft. Ihr sagen wir weiterhin den Kampf an.
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Wir dulden keinen Hass, keine LSBTIQ*-Feindlichkeit, keinen Se
xismus, keinen Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischen Rassis
mus, oder Antiziganismus. Wir kämpfen weiter gegen Diskriminie
rung und werden Freiheiten weiter ausbauen und die Gleichstellung
vorantreiben. Denn immer noch wird heute einigen Menschen
das Recht abgesprochen, gleichberechtigt dazuzugehören. Freiheit,
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung für alle Menschen sind
die Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Jede*r Einzelne sollte
sich nach eigenen Wünschen und Fähigkeiten entfalten und an der
Gesellschaft teilhaben können – dieser Anspruch ist in unserer urgrü
nen DNA verankert.
Deutschland ist ein sicheres Land. Wir wollen, dass das so bleibt.
Wo Bedrohungslagen sich wandeln, reagieren wir mit einer Sicher
heitspolitik, die wirksam neue Bedrohungen abwehrt, indem sie gel
tendes Recht effizient anwendet – statt mit Symbolpolitik. Wir stat
ten Gerichte, Polizei und Sicherheitsbehörden besser aus – mit mehr
Personal, einer guten Aus- und Weiterbildung und zeitgemäßer Tech
nik. Fehlerquellen und unverhältnismäßige Einschränkungen von
Bürger*innenrechten werden wir identifizieren und abstellen, Geset
ze ändern wir dort, wo sie lückenhaft sind, nicht auf Verdacht. Unser
Ziel ist ein öffentlicher Raum, in dem sich alle unbefangen und ohne
Angst bewegen können. Wir sind überzeugt, dass ein starker, demo
kratischer Rechtsstaat gleichzeitig Bedrohungen effektiv abwehren,
Grundrechte schützen und unsere Freiheit bewahren kann.
Wir wollen Humanität und Zusammenhalt stärken im Wissen, dass
zu einer Demokratie der Kompromiss genauso gehört wie der Res
pekt voreinander. Unser Leitbild sind das Grundgesetz, die EU-Charta
der Grundrechte und die Charta der Vereinten Nationen. Menschen
würde und die persönliche Freiheit des anderen zu achten, gleiche
Rechte für alle, unabhängig vom Geschlecht, sowie Religionsfreiheit
inklusive Religionskritik sind Fundamente unserer Demokratie. Die
Rechte unseres Grundgesetzes gelten für alle gleichermaßen, ohne
Einschränkung oder Relativierung. Sie zu schützen, ist unsere Ver
pflichtung und eine Lehre aus den dunkelsten Kapiteln der deutschen
Geschichte.
Demokratie lebt von Vertrauen. Vertrauen in diejenigen, die die
Bürgerinnen und Bürger im Parlament vertreten, sowie Vertrauen in
die demokratischen Institutionen. Wir wollen das Vertrauen in die
politische Kultur in Deutschland, Europa und der Welt stärken und
Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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-zurückgewinnen. Wir stehen ein für faire Debatten, einen respektvol
len Wettstreit um die besten Wege und eine erfolgreiche Suche nach
Kompromissen.
Freiheit im Herzen
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 119
I. WIR STREITEN FÜR
AKZEPTANZ UND RESPEKT,
FÜR VIELFALT UND
SELBSTBESTIMMUNG
Unsere Gesellschaft ist in stetigem Wandel. In unseren Dörfern und
Städten, am Arbeitsplatz, in Schule und Sportvereinen begegnen
sich Menschen mit und ohne Glauben, verschiedenen Geschlech
tern, sozialen Herkünften und Hautfarben, sexuellen Orientierun
gen, mit und ohne Zuwanderungsgeschichten. Diese Vielfalt berei
chert unser Land. Wir GRÜNE schauen auch hin, wenn echte oder
vermeintliche Unterschiede zu Spannungen und Problemen führen.
Ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt funktioniert nur mit
Rechten und Pflichten, die für alle gleichermaßen gelten, und einer
klaren Positionierung gegen jede Form von Diskriminierung und
Menschenfeindlichkeit. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, die uns
allen etwas abverlangt und von der wir alle profitieren.
Menschenfeindliche Ideologien verhindern Integration und
gefährden den gesellschaftlichen Frieden – egal ob sie Rassismus,
Sexismus, Islamismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Islam
feindlichkeit, Antiziganismus oder LSBTIQ*-Feindlichkeit heißen.
Solchen Angriffen stellen wir GRÜNE uns mit aller Entschlossenheit
entgegen. Die gesellschaftliche Vielfalt ist Fakt, sie zu leugnen, ist
Ideologie. Im Wissen um die Verbrechen der Nazizeit stehen wir
GRÜNE für eine Gesellschaft, in der jede*r sicher und selbstbe
stimmt leben kann und die individuelle Freiheit sowie die persönli
che Identität geschützt sind, online wie offline. Sie erfahren erst
dort eine Grenze, wo die individuelle Freiheit anderer eingeschränkt
wird. Unser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft, die in ihrer Vielfalt
zusammenhält und die Menschen vor Diskriminierung schützt. In
der alle Menschen die gleichen Rechte und Pflichten haben, in der
alle am sozialen und demokratischen Leben gleichberechtigt teil
haben können.
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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In einer offenen Gesellschaft müssen Konflikte friedlich und de
mokratisch ausgetragen werden. Deshalb wollen wir das Wissen
über Demokratie in unseren Bildungseinrichtungen stärken. Wir för
dern, dass sich in Sportvereinen, Museen, Theatern oder Behörden
gesellschaftliche Vielfalt abbildet. Im Alltag kommt es immer noch
oft zu Benachteiligungen gegenüber einzelnen Gruppen und Perso
nen. Wir wollen daher das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
(AGG) reformieren und ein Verbandsklagerecht einführen. Außer
dem muss Deutschland endlich die Blockadehaltung zur 5. Antidis
kriminierungsrichtlinie der EU aufgeben. Roma und Sinti sind seit
Jahrhunderten in vielen Ländern Europas ganz besonders rassisti
schen Anfeindungen und Ausgrenzungen ausgesetzt – auch bei uns
in Deutschland. Es wird Zeit, dass wir uns als Gesellschaft mit der
Situation von Sinti und Roma ehrlich und institutionell auseinan
dersetzen. Wir werden die Diskriminierung von Roma in der deut
schen Asylverfahrenspraxis beenden. Der Antiziganismus in den
Herkunftsländern wird in den Verfahren nicht angemessen berück
sichtigt. Auf deutscher wie europäischer Ebene setzen wir uns dafür
ein, die Situation der Roma nachhaltig zu verbessern. Wir wollen die
Beteiligung der Sinti und Roma an der Politikgestaltung in Deutsch
land sicherstellen. Wie das funktionieren kann, hat das grün re
gie rte Baden-Württemberg mit dem Rat für die Angelegenheiten
der Sinti und Roma gezeigt. Um die über Jahrzehnte andauernde
Bildungsbenachteiligung zu überwinden, wollen wir eine gezielte
Bildungsförderung. Dazu gehört auch ein neues Museum der Ge
schichte und Kulturen der Sinti und Roma in Deutschland.
1. Ein klarer Rahmen für das friedliche Zusammenleben
von Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen
und Religionen
Eine vielfältige, offene Gesellschaft baut auf die Grundrechte des
Grundgesetzes. Sie halten unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt zu
sammen und sichern das friedliche Zusammenleben. Dazu gehört,
dass Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, Kultur, Religion und
Weltanschauung selbstbestimmt leben und sich gegenseitig res
pektieren. Das gilt sowohl für diejenigen, die neu dazukommen, als
auch für diejenigen, die schon lange hier leben.
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Alle Menschen müssen die Freiheit haben, ihren Glauben zu le
ben oder abzulegen, keinen Glauben zu haben oder gemeinsam ei
nen Glauben zu pflegen – seien sie jüdisch oder christlich, musli
misch oder alevitisch, Humanist*innen, Atheist*innen oder frei von
religiös-weltanschaulichem Bekenntnis. Die Diskriminierung von
Andersgläubigen dulden wir genauso wenig wie die von vermeint
lich liberaleren Anhänger*innen der eigenen Religion. Wir wollen
den Dialog zwischen den Religionen und auch denen, die religions
frei sind, fördern und damit das gegenseitige Verständnis füreinan
der voranbringen. Religiöse Lehren, Praktiken und Traditionen dür
fen kritisiert werden, auch in der Kunst. Die Zahl der Menschen
ohne organisierte religiöse Bindung ist gestiegen. Nicht nur ihnen,
auch der wachsenden Vielfalt der Bekenntnisse in Deutschland
wollen wir gerecht werden, etwa in der Wohlfahrtspflege oder der
öffentlichen Gedenk- und Trauerkultur. Die historischen Staatsleis
tungen an die beiden großen christlichen Kirchen wollen wir end
lich ablösen. Die Kirchenfinanzen sollen transparenter werden und
den aktuellen Kirchensteuereinzug wollen wir so reformieren, dass
Gleichbehandlung und Datenschutz gewährleistet sind.
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften können eine
wichtige Stütze einer lebendigen Demokratie sein. Viele Menschen
engagieren sich aus ihrem Glauben oder ihrer Überzeugung heraus
gemeinsam mit uns für Geflüchtete, eine saubere Umwelt, weltwei
te Gerechtigkeit oder gegen Armut in ihrer Nachbarschaft. Sie leis
ten damit einen wichtigen Beitrag für den gesellschaftlichen Zu
sammenhalt.
Zu Pluralität und Demokratie gehört, dass sie sich Kritik und
dem öffentlichen Diskurs stellen, eigene Ansichten nicht verabso
lutieren und insofern nicht fundamentalistisch agieren. Der „öffent
liche Friede“ wird nicht durch kritische Kunst bedroht, sondern
durch religiöse und politische Fanatiker*innen, denen es an Kri
tikfähigkeit oder Respekt vor Anderen fehlt. Deswegen wollen wir
§ 166 Strafgesetzbuch (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religi
onsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen) streichen.
Egal wie wichtig es dem Einzelnen ist und um welches religiöse Be
kenntnis es geht: Kein heiliges Buch steht über dem Grundgesetz
und den Menschenrechten. Das bedeutet: Bürger*innen können
selbstverständlich ihre Wertüberzeugungen aus eigenen Quellen
ableiten. Auch religiöse Haltungen können Basis demokratischen
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Bewusstseins und politischen Handelns sein. Für uns ist wichtig, dass
das Grundgesetz uneingeschränkt gilt. Antidemokratischen Einstellun
gen und Fanatismus stellen wir uns entschieden entgegen.
Für uns GRÜNE gehört auch der Islam zu Deutschland, wie alle
anderen Religionen und Weltanschauungen. Wir verteidigen die
Religionsfreiheit der Muslime, und wir gehen nicht leichtfertig mit
islamischen politischen Organisationen um. Wir wollen islamische
Gemeinschaften, die ihren Glauben als Teil der offenen Gesellschaft
leben, mit Imam*innen und islamischen Religionslehrer*innen, die
an deutschen Hochschulen unter Wahrung der Freiheit der Wissen
schaft, wie bei anderen Theologien auch, ausgebildet worden sind
und die auch auf Deutsch predigen können. Islamische Gemein
schaften können und sollen als Religionsgemeinschaften im Sinne
des Grundgesetzes anerkannt werden, wenn sie die rechtlichen
Voraussetzungen dafür erfüllen. Sie können dann auch den Körper
schaftsstatus erlangen und gegenüber den Kirchen gleichbe
rechtigt werden. Die vier großen muslimischen Verbände DİTİB,
Islamrat, Zentralrat der Muslime, VIKZ erfüllen aus grüner Sicht
derzeit nicht die vom Grundgesetz geforderten Voraussetzungen.
Sie sind religiöse Vereine. Ihre Identität und Abgrenzung unterei
nander ist nicht durch Unterschiede im religiösen Bekenntnis be
gründet, sondern politischen und sprachlichen Identitäten aus den
Herkunftsländern und der Migrationsgeschichte geschuldet. Wenn
Muslim*innen sich bekenntnisförmig neu organisieren, würde das
aus ihren Organisationen keine Kirchen, aber islamische Glaubens
gemeinschaften in Deutschland machen, mit Anspruch auf recht
liche Gleichstellung. Dann wäre der Islam in Deutschland auch an
gekommen. Inakzeptabel ist es jedoch, dass Verbände aus dem
Ausland gesteuert und zu politischen Zwecken bis hin zu Spitzel-
tätigkeiten genutzt werden. Vor diesem Hintergrund ist besonders
wichtig, dass die Kooperationen zwischen Verbänden, muslimi
schen Gemeinschaften und dem Staat einen regelmäßigen Aus
tausch vorsehen – mit dem Ziel, dass die Verbände unabhängige,
inländische Strukturen entwickeln, die sich langfristig selbst tragen
können.
Der säkulare Staat muss den Religions- und Weltanschauungs
gemeinschaften gegenüber neutral sein und darf sich keine Reli
gion oder Weltanschauung zu eigen machen. Jede*r muss sich auf
diese Neutralität verlassen können.
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2. Endlich gleiche Rechte für Lesben, Schwule, Bisexuelle,
trans*, inter* und queere Menschen (LSBTIQ*)
Die eingetragene Lebenspartnerschaft hat die Akzeptanz von Les
ben und Schwulen deutlich gestärkt, sie aber rechtlich nicht gleich
gestellt. Deutschland ist hier der Zeit hinterher. Wir GRÜNE wollen
die Ehe endlich für alle öffnen und gleichgeschlechtlichen Paaren
die Adoption ermöglichen. Mit uns wird es keinen Koalitionsvertrag
ohne die Ehe für Alle geben. Zu einer modernen und innovativen
Familienpolitik gehört für uns aber auch, Menschen zu unterstüt
zen, die jenseits von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft
verbindlich und solidarisch zusammenleben. Kinder aus allen Fami
lienformen wollen wir gleichbehandeln und unterstützen. Wir wol
len den Schutz vor Diskriminierung im Artikel 3 des Grundgesetzes
um die Merkmale der sexuellen und geschlechtlichen Identität er
gänzen.
Wir wollen das Transsexuellengesetz durch ein Gesetz zur An
erkennung der selbst bestimmten Geschlechtsidentität mit ein
fachen Verfahren zur Änderung des Vornamens und Berichtigung
des Geschlechtseintrags ersetzen. Operationen zur sogenannten
„Geschlechtsanpassung und -zuweisung“ an intergeschlechtlichen
Säuglingen und Kindern wollen wir grundsätzlich verbieten.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN plädieren für eine dritte Option im
Personenstandsrecht. Trans* Menschen dürfen nicht pathologisiert
werden. Deshalb setzen wir uns national wie international dafür
ein, dass sie nicht mehr als psychisch krank klassifiziert werden.
Vielmehr muss ihre Gesundheitsversorgung besser gesichert wer
den. Mit einem bundesweiten Aktionsplan für Vielfalt und gegen
Homo-, Bi- und Transfeindlichkeit wollen wir Forschung, Aus- und
Fortbildung bei Polizei, Justiz und anderen staatlichen Akteur*innen
verstärken – insbesondere im Blick auf trans* Kinder und Jugend
liche, auf Prävention und eine sensible Opferhilfe. Bildungs- und
Jugendpolitik soll Menschenrechte und die Vielfalt sexueller Iden
titäten stärker berücksichtigen. Auch für bisexuelle junge Men
schen wollen wir Angebote schaffen, die ihre gesellschaftliche
Situation und persönliche Entwicklung stärken. In den Landesre
gierungen haben wir hier auch gegen Widerstände klare Akzente
gesetzt, zum Beispiel mit den Bildungs- und Aktionsplänen in vie
len Bundesländern.
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In vielen Staaten wird LSBTIQ* das Leben zur Hölle gemacht:
Verfolgung, Unterdrückung, Gewalt und Zensur. Hier muss Deutsch
land klar Position beziehen, Menschenrechtsverteidiger*innen aktiv
stärken und die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen für
die Stärkung der Rechte sexueller Minderheiten weltweit nutzen.
Wir setzen uns für einen zeitgemäßen Umgang mit HIV ein. Das
heißt für uns umfassende Aufklärung und passgenaue Prävention
sowie frühe Diagnose, Therapie und Unterstützung statt Stigmati
sierung und Ausgrenzung. Dazu gehört auch, das Potenzial der
medikamentösen Prophylaxe vor HIV zu nutzen, allgemein PrEP
(Präexpositionsprophylaxe) genannt. Studien über unter anderem
die Folgen des Langzeitgebrauchs, die Resistenzentwicklung und
weitere gesundheitliche Auswirkungen sind notwendig. Wir wollen
den zielgruppengenauen Einsatz und die entsprechende Finanzie
rung prüfen.
Wir werden die Aufarbeitung der Verfolgung und Diskriminierung
von LSBTIQ* in der deutschen Rechts- und Gesellschaftsgeschichte
vorantreiben. Jenseits des Strafrechts wurden auch lesbische Frauen,
Transsexuelle und Transgender im Nationalsozialismus verfolgt und
diskriminiert. Über die derzeitige beschlossene Rehabilitierung und
Entschädigung hinaus fordern wir eine angemessene und ausrei
chende Kollektiventschädigung, die jährlich für Projekte zum Beispiel
im Bereich der LSBTIQ*-Senior*innen zur Verfügung gestellt wird.
Wir wollen zudem die Entschädigung sowie die Wiederherstellung
der Würde aller Opfer erreichen, bevor auch hier der Zeitablauf eine
persönliche Entschuldigung unmöglich macht. Dazu wollen wir einen
Härtefonds einrichten.
3. Selbstbestimmung für alle: Barrierefrei und
gleichberechtigt leben
Wir GRÜNE streiten für eine inklusive Gesellschaft, in der alle Men
schen frei und selbstbestimmt leben und teilhaben können. Wir
wollen eine bunte, vielfältige Gesellschaft, in der es normal ist, ver
schieden zu sein, in der niemand ausgegrenzt wird und alle das Ge
fühl haben: Ich gehöre dazu. Jede*r soll die Unterstützung erhalten,
die jeweils benötigt wird. Uns geht es um Selbstentfaltung und die
Möglichkeit individueller Lebensentwürfe ebenso wie um die gesell
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schaftlichen Voraussetzungen für individuelle Freiheit. Unser Ziel ist
eine inklusive Gesellschaft, die frei von Barrieren sowie frei von Vor
urteilen und Diskriminierung ist. Eine inklusive Gesellschaft trifft
Vorkehrungen und schafft Rahmenbedingungen, damit alle teilhaben
können. Dazu gehört eine barrierefreie Infrastruktur ebenso wie uni
verselle Sicherungssysteme, die effektiv vor Armut schützen.
Für Menschen mit Behinderung ist Inklusion ein Menschenrecht.
Das Bundesteilhabegesetz der Großen Koalition erfüllt diesen An
spruch bislang nicht. Außerdem muss die Bundesregierung ihre
Blockade der horizontalen EU-Gleichbehandlungsrichtlinie endlich
beenden. Menschen mit Behinderungen erleben immer wieder Be
nachteiligungen: Auf dem Bahnhof, wenn Fahrstühle fehlen, wenn
die Kosten für Gebärdensprachdolmetschung nicht übernommen
werden oder bei der Wahl des Wohnortes. Wir wollen das Wunsch
und Wahlrecht durchsetzen und die Bedingungen für den Ausbau
des selbstbestimmten Wohnens mit Assistenz weiter verbessern.
Integrationsunternehmen sollen ausgebaut werden als echte Alter
nativen zu den Werkstätten. Wer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
arbeiten möchte, muss die dafür notwendige Unterstützung erhal
ten. Wir setzen uns für einen barrierefreien öffentlichen Raum ein,
in dem Gebäude, Medien, Produkte, Dienstleistungen und Veran-
staltungen besser zugänglich und nutzbar sind. Hierzu ist es unum-
gänglich, auch für die Privatwirtschaft verbindliche Vorgaben für
die Barrierefreiheit zu formulieren. Die von Bundesrat und Bundes
tag ratifizierte Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen muss endlich auch in Deutsch
land vollständig umgesetzt werden. Dazu gehört auch, die derzeit
noch bestehenden Einschränkungen beim Wahlrecht abzuschaffen.
4. Für eine Drogenpolitik, die auf Prävention, Jugendschutz
und Selbstbestimmung setzt
Der Krieg gegen Drogen ist gescheitert. Kriminalisierung und Re
pression sind keine erfolgreichen Mittel gegen den Missbrauch von
Drogen. Viele Menschen leiden unter den Folgen dieser Politik. Wir
wollen einen Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik und setzen
dabei auf Prävention, Hilfe, Schadensminderung, Entkriminalisie
rung und Forschung. Ziel ist es, das Selbstbestimmungsrecht der
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Menschen zu achten und gesundheitliche Risiken zu minimieren.
Wir fordern langfristig eine an den tatsächlichen gesundheitlichen
Risiken orientierte Regulierung von Drogen. Zudem soll intensiver
auf die Gefahren von Tabak und Alkohol hingewiesen werden. Wer
bung für Nikotin lehnen wir ab. Die Kriminalisierung von Drogen
konsument*innen muss beendet werden. Wer abhängig ist, braucht
Hilfe und keine Strafverfolgung. Wir wollen die zielgruppen
spezifischen und niederschwelligen Angebote in der Drogen und
Suchthilfe stärken. Gefährdungen wollen wir durch risikominimie
rende Maßnahmen, wie Spritzentauschprogramme, Drogenkon
sumräume und Substanzanalysen (Drug Checking), entgegentreten.
Dazu gehört auch die menschenwürdige Behandlung von Schwerstab
hängigen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die ideologiegeleitete Verbotstradition des Konsums von Can
nabis verursacht mehr Probleme, als sie bekämpft. Statt sinnfreier
Strafverfolgung, die zudem viele Millionen Euro kostet, setzen wir
auf Prävention für Kinder und Jugendliche, eine Stärkung der Sucht
hilfe für Abhängige und eine strenge Regulierung von Cannabis für
Erwachsene. Unser Cannabiskontrollgesetz weist den Weg, wie in
dividuelle Freiheit für Erwachsene und strikter Jugendschutz in eine
ausgewogene Balance gebracht werden können. Wir wollen einen
Jugendschutz mit strengen Kontrollen, mehr Prävention und die
Vermeidung von Gesundheitsrisiken für erwachsene Konsumenten
durch Regulierung und Kontrolle der Qualität.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Gleiche Rechte für gleiche Liebe – jetzt Ehe für Alle öffnen!
Ohne die volle Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren
bleibt jedes Reden über Akzeptanz heiße Luft. Für uns GRÜNE war
es ein großer Erfolg, die eingetragene Lebenspartnerschaft einzu
führen, aber noch sind wir nicht am Ziel. Noch immer bestehen
Diskriminierungen. Wir wollen diese Ungleichbehandlung gleich
geschlechtlicher Partnerschaften beenden und – längst über
fällig – die Ehe für Alle öffnen und auch gleichgeschlechtlichen
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Paaren die gemeinschaftliche Adoption ermöglichen. Gleiche
Liebe verdient gleichen Respekt und gleiche Rechte.
Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes
Leben ermöglichen
Wir wollen die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde
rung stärken. Dafür werden wir die VN-Behindertenrechtskon
vention konsequent umsetzen. Wir wollen, dass es keine Sonder
welten gibt, sondern Menschen mit Behinderung uneingeschränkt
teilhaben können am Leben in der Gesellschaft. Menschen mit
Behinderung sollen frei darüber entscheiden können, wo und
wie sie wohnen. Auch darüber, welche Assistenz, Pflege oder pä
dagogische Unterstützung sie möchten. Wir unterstützen Men
schen mit Behinderung entschieden bei Bildung, Ausbildung und
Arbeit. Statt Werkstätten für Menschen mit Behinderung auszu
bauen, werden wir ihre Öffnung zum allgemeinen Arbeitsmarkt
über das Budget für Arbeit, Unterstützte Beschäftigung und In
tegrationsbetriebe fördern.
Klare Regeln schaffen statt kriminalisieren –
Cannabiskontrollgesetz einführen
Für Anbau, Handel und Abgabe von Cannabis wollen wir ein klar
geregeltes und kontrolliertes System schaffen. Dabei greifen –
im Gegensatz zu heute – Verbraucher*innen- und Jugendschutz
sowie Suchtprävention. Inhaltsstoffe sollen zukünftig über
wacht und Altersbeschränkungen eingehalten werden. Der Ver
kauf von Cannabis soll unter strenger Wahrung des Jugendschut
zes durch lizenzierte und geschulte private Verkäufer*innen
erfolgen. So trocknen wir den Schwarzmarkt aus. Das entlastet
Strafverfolgungsbehörden von zeitraubenden, kostspieligen
und ineffektiven Massenverfahren. Therapie-, Präventions- und
Hilfsangebote wollen wir bedarfsgerecht ausbauen. Auch dafür
wollen wir Erträge aus der Cannabissteuer einsetzen.
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II. WIR STEHEN EIN FÜR
SELBSTBESTIMMUNG UND
GLEICHBERECHTIGUNG
Die Hälfte der Macht den Frauen, das ist seit unserer Gründung un
ser Anspruch. Unsere Parteigeschichte ist geprägt vom Feminismus
und von Frauen, die ihre Rechte durchsetzen – mit den Männern
wenn möglich, gegen sie wenn nötig. Wir haben Themen in den
Bundestag getragen, die zunächst verlacht und dann Jahrzehnte
später doch umgesetzt wurden. Vergewaltigung in der Ehe ist heute
strafbar. Diskriminierung ist verboten. Wir machen immer und über
all feministische Politik. Wir verstehen feministische Politik konse
quent als eigenständiges Politikfeld mit einer Querschnittsaufgabe,
die alle anderen Gesellschaftsbereiche durchdringt. Frauen sind
heute oft sehr gut ausgebildet und beanspruchen selbstbewusst
und selbstverständlich ihren Platz in vielen Bereichen unseres Zu
sammenlebens. Sie haben im Schnitt gleiche oder höhere Bildungs
abschlüsse und Qualifikationen. Wir haben Gesetze, die Hürden ab
bauen und Gleichberechtigung fördern.
Und dennoch glauben wir, dass es heute einen neuen feministi
schen Aufbruch braucht. Die Welle des Rechtsnationalismus, die
über die USA und Europa rollt, richtet sich auch gegen die Freiheit,
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung von Frauen: In den USA
regiert ein Präsident, der aus seiner Frauenverachtung keinen Hehl
macht. In Polen konnte eine weitere Verschärfung des bereits stren
gen Gesetzes gegen Schwangerschaftsabbrüche nur knapp verhin
dert werden. In Deutschland machen Rechtspopulist*innen gegen
Gleichstellung und Gender Mainstreaming mobil und wollen Frauen
wie Männer am liebsten wieder in traditioneller Rollenaufteilung
sehen.
Wir wollen diesen alten und neuen Frauenfeind*innen keinen
Millimeter nachgeben. Wir wollen nicht zurück in eine Gesellschaft,
in der alleinerziehende Mütter schief angeschaut wurden und ande
re über das Leben von Frauen glaubten bestimmen zu können. Wir
wollen stattdessen die noch bestehenden Ungerechtigkeiten besei
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tigen. Wir wollen mehr. Und unsere Gesellschaft kann mehr. Chan
cen, Macht, Geld und Zeit wollen wir endlich gerecht zwischen
Frauen und Männern teilen. Pfleger*innen und Erzieher*innen wer
den schlecht bezahlt, vor allem schlechter als vergleichbare „Män
nerberufe“. Das Dienstleistungsprekariat ist überwiegend weiblich.
Das werden wir ändern, auch wenn es Zeit braucht. Anfangen müs
sen wir jetzt.
Wir wollen, dass Frauen endlich genauso entlohnt werden wie
Männer. Wir wollen Mädchen und Jungen die gleichen Chancen er
öffnen – jenseits von Klischees und starren Geschlechterrollen. Wir
wollen, dass niemand Frauen vorschreibt, wie sie zu leben haben,
was sie werden wollen, wie sie sich kleiden – keine religiösen
Ideolog*innen, kein Staat, keine Patriarchen. Wir treten Gewalt ge
gen Frauen entgegen. Sexistische Bemerkungen, anzügliche Sprü
che, körperliche Belästigung hat fast jede Frau schon erlebt. Das
wollen wir nicht länger akzeptieren.
Wir kämpfen dabei für die Selbstbestimmung von allen Frauen.
Wir wissen, dass es mehrfache Diskriminierungen gibt. Eine Frau
Özlem hat größere Probleme auf dem Arbeitsmarkt als Frau Müller.
Das Verfahren der anonymisierten Bewerbung wollen wir auswei
ten, um solche Diskriminierungen zu vermeiden. Wir wollen, dass es
jeder Frau möglich ist, so zu leben, wie sie es möchte. Wir wenden
uns gegen alle Versuche, Frauenrechte zu missbrauchen, um die
Angst vor zugewanderten Menschen zu schüren oder für rassisti
sche Argumentationen zu instrumentalisieren.
1. Für faire und gerechte Löhne
Uns GRÜNEN geht es darum, dass Frauen und Männer so leben kön
nen, wie sie es wollen. Zu den Voraussetzungen gehört, dass Frauen
am gesellschaftlichen Wohlstand, am Einkommen und Vermögen
gleichberechtigt teilhaben. Es geht um ihre wirtschaftliche Unab
hängigkeit in allen Lebensphasen. Da gibt es in Deutschland noch
einiges zu tun. Mehr Frauen denn je sind berufstätig. Aber viel zu
oft arbeiten sie in Minijobs oder prekärer Beschäftigung. Sie werden
schlechter entlohnt als Männer. Soziale Berufe, in denen über
wiegend Frauen arbeiten, werden nicht angemessen bezahlt. Sie
verdienen mehr Wertschätzung und bessere Arbeitsbedingungen,
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insbesondere durch einen Tarifvertrag „Soziale Dienste“, der dann
für alle gelten soll. Die Renten vieler Frauen sind jetzt schon niedrig
und das wird sich in Zukunft eher noch verschlechtern. Das ist un
gerecht. Und es schadet uns allen. Grüne Frauenpolitik unterstützt
Frauen darin, wirtschaftlich unabhängig zu sein und sich im Job
zu verwirklichen. Denn wer eigenes Geld verdient, kann sein Leben
selbst gestalten.
Wir wollen ein effektives Entgeltgleichheitsgesetz, das auch für
kleine Betriebe gilt. So können Tarifverträge und Vereinbarungen
auf Diskriminierung überprüft werden. Unser Ziel ist es, Minijobs in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umzuwandeln und da
für zu sorgen, dass die Beiträge durch Steuern und Abgaben sowie
soziale Leistungen so aufeinander abgestimmt werden, dass sich
Erwerbsarbeit immer rechnet. Dabei darf die Belastung mit Steuern
und Abgaben nicht sprunghaft steigen. Und wir streiten dafür, Beru
fe, die heute noch meist von Frauen ergriffen werden, beispielswei
se in der Erziehung, in der Pflege oder im Gesundheitssystem, auf
zuwerten und besser zu bezahlen.
Eine große Hürde für die Erwerbstätigkeit von Frauen ist das
Ehegattensplitting. Wir wollen weiterhin anerkennen, dass Paare, sei
es in der Ehe, in einer Lebenspartnerschaft oder einfach zu zweit, in
vielfältiger Weise Verantwortung füreinander übernehmen. Aber das
Ehegattensplitting ist unmodern und bildet die vielen Formen part
nerschaftlichen Zusammenlebens nicht ab. Es ist auch das Ehe
gattensplitting, das finanzielle Anreize setzt für keine oder nur ge
ringfügige Beschäftigung, für kleine Teilzeitjobs mit nur wenigen
Arbeitsstunden; es birgt erhebliche Armutsrisiken in sich. Aus diesen
Gründen werden wir zur individuellen Besteuerung übergehen und
das Ehegattensplitting durch eine gezielte Förderung von Familien
mit Kindern ersetzen. Dabei soll das neue Recht nur für Paare, die
nach der Reform heiraten oder sich verpartnern, gelten. Für Paare,
die bereits verheiratet oder verpartnert sind, ändert sich nichts. Sie
können sich für eine Individualbesteuerung entscheiden, wenn sie
vom grünen Familien Budget profitieren wollen. Die Reform des
Ehegattensplittings werden wir mit Verbesserungen bei den Leis
tungen für Familien verknüpfen, damit Ehen mit Kindern nicht
schlechter dastehen.
Frauen und Männer wünschen sich, Aufgaben im Beruf und zu
Hause partnerschaftlich zu teilen. Diesen Wunsch zu verwirklichen,
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wird im Alltag für viele Paare deutlich schwieriger, wenn Kinder
kommen. Das gilt vor allem für die Frauen. Denn sie übernehmen
nach wie vor den Großteil der Arbeit im Haushalt und der Fürsorge
für Kinder und Pflegebedürftige. Grüne Zeitpolitik unterstützt Men
schen dabei, die Sorge für andere und die Anforderungen im Job
unter einen Hut zu bringen und diese Arbeit zwischen Männern und
Frauen fair zu verteilen. Für Kinderbetreuung, Pflege und Weiterbil
dung soll es möglich sein, finanziell abgesichert die Arbeitszeit
zu reduzieren. Mit der „flexiblen Vollzeit“ können Beschäftigte ihre
Arbeitszeit um bis zu zehn Wochenstunden reduzieren und wieder
erhöhen. Nach der Familienphase braucht es Unterstützung beim
Wiedereinstieg in den Beruf: Wir wollen deshalb endlich das Rück
kehrrecht auf Vollzeit einführen.
Aber wir führen auch den Kampf weiter, in den Führungsgremien
endlich Gleichberechtigung zu schaffen. Diese sind in Deutschland
weitgehend Männerrunden. Daran ändert das bisherige Quotenge
setz nur wenig: Es gilt für ganze 101 Unternehmen. Wir wollen das
ändern, mit einer 50-Prozent-Frauenquote für die 3.500 börsenno
tierten und mitbestimmten Unternehmen. Die Potenziale und Qua
lifikationen von Frauen zu verpassen, kann sich dieses Land nicht
weiter leisten. Darum wollen wir Maßnahmen für Führungspositio
nen auf allen betrieblichen Ebenen, in denen Frauen unterrepräsen
tiert sind. Denn nur so zieht Geschlechtergerechtigkeit in die Füh
rungsetagen ein.
2. Gewaltfrei leben
Gewalt gegen Frauen ist immer noch ein großes Problem in unserer
Gesellschaft. Bedrohungen, sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen
Frauen sind widerliche Taten. Sie müssen konsequent verfolgt und
bestraft werden.
Frauen sind oft gerade im eigenen Zuhause von Gewalt betrof
fen. Die meisten Übergriffe geschehen in der Partnerschaft, durch
Verwandte und Freund*innen. Vielen Frauen und ihren Kindern
bleibt trotz der Hilfe durch das Gewaltschutzgesetz keine andere
Wahl als der Weg in ein Frauenhaus. Aber weder die Zahl der Plätze
in Frauenhäusern noch die Hilfs- und Beratungsangebote sind der
zeit ausreichend. Das wollen wir ändern. Wir wollen für eine sichere
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Finanzierung von Frauenhäusern unter Beteiligung des Bundes sor
gen und damit sicherstellen, dass keine Frau in Not abgewiesen
werden muss.
Wir akzeptieren es nirgendwo, wenn ein Klima der Bedrohung
für Frauen entsteht. Die Unbefangenheit und Angstfreiheit im öf
fentlichen Raum, der sichere nächtliche Bummel durch die Stadt –
das ist gelebte Freiheit, die wir GRÜNEN mit allen rechtsstaatlichen
Mitteln verteidigen. Der öffentliche Raum gehört allen, alle müssen
sich dort selbstbestimmt und ohne Angst aufhalten können. Schon
kleine stadtplanerische Maßnahmen, wie eine bessere Beleuch
tung, können Angsträume reduzieren. Mehr Polizei vor Ort kann die
Sicherheit erhöhen.
Der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung muss ohne Wenn
und Aber gelten. „Nein heißt nein“ ist endlich Gesetz. Betroffene
von sexualisierter Gewalt brauchen Unterstützung von Polizei,
Ärzt*innen und Justiz und keine Mythen, die ihnen, ihrer Kleidung
oder ihrem Auftreten die Schuld zuweisen. Darum müssen Polizei
und Justiz umfassend geschult und sensibilisiert sein im Umgang
mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Wir wollen, dass für
Opfer von Vergewaltigungen eine qualifizierte Notfallversorgung
einschließlich anonymer Spurensicherung und der Pille danach si
chergestellt und die Finanzierung gewährleistet wird, ebenso die
therapeutische Begleitung durch Beratungsstellen und Ärzt*innen.
Frauen und Männer, die sich einer Zwangsverheiratung entziehen
wollen, müssen ein eigenständiges und dauerhaftes Rückkehrrecht
erhalten.
Die Rechte und den Schutz von Frauen und Männern, die in der
Prostitution arbeiten, wollen wir durchsetzen und stärken. Dazu
wollen wir freiwillige Beratungsangebote stärken und finanziell
unterstützen. Die Auswirkungen des Prostituiertenschutzgesetzes
werden wir evaluieren. Menschenhandel, zum Beispiel zum Zweck
der sexuellen Ausbeutung, ist ein abscheuliches Verbrechen und
muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Das heißt mithilfe des
Strafrechts, durch Information und Beratung sowie durch Schutz
und Hilfe für die Opfer. Opfer von Menschenhandel dürfen nicht
einfach abgeschoben werden. Ein dauerhaftes Bleiberecht würde
ihre Anzeige- und Aussagebereitschaft deutlich erhöhen.
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Bundestagswahlprogramm 2017
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3. Über den Körper selbst bestimmen
Über den Körper selbst zu bestimmen, ist nicht leicht, wenn alle
eine Meinung dazu haben. Wir setzen uns für das Selbstbestim
mungsrecht von Frauen und Mädchen über ihren Körper ein. Bei un
gewollter Schwangerschaft brauchen Frauen wohnortnahe Unter
stützung und Hilfe, keine Bevormundung und keine Strafe. Erst
recht brauchen sie keinen Rückschritt bei bereits erkämpften Rech
ten und keine Einschränkungen erreichter Freiheiten. Wir wollen
das Recht einer selbstbestimmten Familienplanung stärken. Für
Menschen mit geringem Einkommen soll der kostenfreie und un
komplizierte Zugang zu Verhütungsmitteln sichergestellt werden.
Schönheitsideale und Körpernormen, wie sie beispielsweise in
der Werbung vermittelt werden, haben Auswirkungen auf unser Le
ben. Jungen und Mädchen, Frauen und Männer sollen möglichst frei
von solchen Vorgaben leben können und nicht aufgrund ihres Äu
ßeren Diskriminierung erfahren. Wir wollen den Respekt vor körper
licher Vielfalt fördern. Nicht die Werbewirtschaft allein sollte defi
nieren, was sexistisch ist und was nicht, sondern eine unabhängige
Kommission, die anhand konkreter Kriterien Empfehlungen für die
Werbewirtschaft abgibt.
Zur Selbstbestimmung gehört auch, dass Frauen die Wahl haben
zu entscheiden, wie und wo sie entbinden, dass die Qualität der
Versorgung überall gesichert ist und dass Hebammen nicht wegen
unzumutbaren Versicherungskosten, schlechter Bezahlung oder
schlechten Arbeitsbedingungen ihren Beruf aufgeben müssen.
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Für ein echtes Entgeltgleichheitsgesetz – Frauen verdienen
gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit
Wir wollen endlich Lohngerechtigkeit zwischen Männern und
Frauen herstellen. Berufe mit hohem Frauenanteil wollen wir
gesellschaftlich und finanziell aufwerten – sei es in der Pflege,
in der Kindertagesstätte oder in sozialen Projekten. Wir wollen
ein Entgeltgleichheitsgesetz, das möglichst viele erwerbstätige
Frauen erreicht, nicht nur wenige. Dabei soll ein Lohncheck auf
decken, ob Frauen ungleich bezahlt werden. Tarifpartner*innen
und Arbeitgeber*innen sollen verpflichtet sein, tarifliche und
nicht tarifliche Lohnstrukturen auf Diskriminierung zu überprü
fen. Vor allem aber muss dieses Gesetz auch ein wirksames Ver
bandsklagerecht enthalten. Dann sind Frauen nicht auf den
schwierigen individuellen Klageweg angewiesen, weil Verbände
bei strukturellen Benachteiligungen klagen können.
Für eine gute Geburtshilfe – Hebammenarbeit sichern
Nur mit Hebammen gibt es gute Geburtshilfe. Nur mit ihnen kann
das Recht von Frauen auf freie Wahl des Geburtsortes und eine
selbstbestimmte Geburt verwirklicht werden. Wir wollen daher si
cherstellen, dass Hebammen nicht wegen unzumutbaren Versi
cherungskosten, schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbe
dingungen ihren Beruf aufgeben müssen. Krankenhäuser mit
Geburtsstationen sollen in allen Regionen gut erreichbar sein. Wir
wollen, dass neue Anreize gesetzt werden, damit Hebammen und
Geburtshelfer*innen auch in unterversorgten Regionen tätig sind.
Wir streben eine 1:1-Betreuung durch Hebammen in wesentlichen
Phasen der Geburt an. Für Geburten in und außerhalb von Kran
kenhäusern brauchen wir verbindliche Qualitätsvorgaben.
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Konsequent gegen Gewalt an Frauen
Wir wollen Gewalt gegen Frauen überall bekämpfen, denn die
physische und psychische Unversehrtheit ist ein zentrales Gut.
Ob zu Hause, im öffentlichen Raum oder bei Cybergewalt. Um
Schutz zu gewährleisten, brauchen Frauenhäuser genügend
Plätze. Wir wollen die Finanzierung von Frauenhäusern und Be
ratungsstellen sicherstellen und den Bund dabei in die Pflicht
nehmen. Für mehr Sicherheit und Schutz im öffentlichen Raum
setzen wir auf wirksame Sicherheitskonzepte und eine gute Zu
sammenarbeit von Sicherheitsbehörden mit Fachberatungsstel
len. Wir fordern Ansätze wie Security-Anlaufstellen für Frauen
bei Großveranstaltungen. Wir wollen, dass Präventionskonzepte
gegen sexualisierte Gewalt und Cybermobbing entwickelt und
die Anlaufstellen für Betroffene ausgebaut werden.
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III. WIR SICHERN FREIHEIT
Deutschland ist ein sicheres Land und es soll sicher bleiben.
Grundlage dafür sind unsere freie Gesellschaft und ein liberaler
Rechtsstaat – beide wollen wir stärken. Nur demokratisch kon
trollierte Institutionen, die den Menschen- und Bürger*innen
rechten verpflichtet sind, genießen das Vertrauen der Bürger*innen.
Nur ein freiheitlicher und damit starker Rechtsstaat garantiert den
nötigen Schutz wie auch Freiraum für die Selbstbestimmung und
die vielf ältigen Lebensweisen jeder und jedes Einzelnen in unse
rer Gesellschaft. Eine maßlose Politik immer weitreichenderer
Grundrechtseingriffe schwächt hingegen unsere Freiheit und
sorgt nicht für mehr Sicherheit. Stattdessen braucht es eine Politik
der inneren Sicherheit, die auf wirksame Prävention und effektive
Strafver folgung setzt, um die Menschen vor Kriminalität, Gewalt
und Diskriminierung zu schützen. Aufgabe der Sicherheitsinstitu
tionen ist es dabei, für die Rechte der Bürger*innen einzutreten
und neue wie alte Gefahren für Freiheit und Sicherheit wirksam zu
bekämpfen.
Unsere freie Gesellschaft und ihre Werte sind heute ganz unter
schiedlichen Angriffen ausgesetzt. Gewalt kann nie ein Mittel sein,
Überzeugungen durchsetzen zu wollen. Der menschenverachtende
Terror des Dschihadismus will unsere Demokratie destabilisieren,
wie das auch Rechtsextreme und Reichsbürger*innen versuchen.
Diesen Gefahren stellen wir uns entschlossen entgegen. Wir tun
dies mit rechtsstaatlichen Mitteln und zielgerichteten Maßnahmen.
Pauschale Verdächtigungen und anlasslose Datensammlungen sind
hier nur kontraproduktiv. Es ist viel wirksamer, gezielt mit verhält
nismäßigen Mitteln einige hundert Personen zu überwachen, die
hierfür auch einen hinreichenden Anlass geboten haben, als 80 Mil
lionen Bürgerinnen und Bürger anlasslos mit der Vorratsdatenspei
cherung, flächendeckender Videoüberwachung oder automatisier
ter Gesichtserkennung zu erfassen. Wir lehnen diese jeweils ab. Die
Sicherheitsbehörden benötigen vielmehr die Befugnisse, die erfor
derlich sind, um zielgerichtet Gefahren abwehren zu können. Poli
zeiliches Handeln braucht dabei ein gutes rechtsstaatliches Funda
ment – genau formuliert und kontrolliert.
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Die terroristischen Anschläge der jüngsten Vergangenheit wie
am Breitscheidplatz in Berlin, die zahllosen Angriffe auf hier schutz
suchende Menschen, aber auch die Erkenntnisse aus den NSU-Un
tersuchungsausschüssen offenbaren die Notwendigkeit, die Sicher
heitsbehörden für die aktuellen Bedrohungen besser aufzustellen.
Zudem ist das Vertrauen in den Staat angesichts rechtswidriger
Massenüberwachung durch deutsche wie internationale Geheim
dienste und das Eigenleben beim Verfassungsschutz beschädigt.
Die gegenwärtige Regierung versucht mit dem verzerrten Droh
bild eines gegen Terror und Kriminalität hilflosen Staates nur von
den eigentlichen Fehlentwicklungen in der Sicherheitspolitik abzu
lenken. Anstatt Fehler zu beheben, forciert die Bundesregierung
Gesetzesverschärfungen im Hauruckverfahren, ohne die Folgen ab
zuschätzen. Im besten Fall sind sie sicherheitspolitische Placebos,
im schlechtesten Fall weitreichende Grundrechtsverletzungen. Wir
sperren uns nicht gegen jede Gesetzesänderung, sind aber nicht be
reit, unwirksame Verschärfungen auf Kosten unserer Grundrechte
zu akzeptieren – erst einmal müssen die bestehenden Gesetze
wirksam angewendet werden. Viele der aktuellen Maßnahmen sor
gen für weniger Sicherheit, weniger Freiheit und eine weniger le
benswerte Gesellschaft. Sie gehören nach wissenschaftlichen Kri
terien auf den Prüfstand und im Zweifel korrigiert. Stattdessen
bedarf es einer wirksamen Anwendung der bestehenden Gesetze
und eines effektiven Grundrechtsschutzes.
Wir setzen auf das Konzept einer bürgernahen Polizei, die wie
auch die Justizbehörden über genug und gut ausgebildetes Personal
mit moderner Technik verfügen muss, sowie auf eine Zusammenar
beit der europäischen Sicherheitsbehörden, die auf klaren rechts
staatlichen Regelungen basiert.
1. Sicherheit in einem starken, weil freiheitlichen Rechtsstaat
Unsere rechtsstaatliche Sicherheitspolitik braucht eine Polizei, die
in der Gesellschaft anerkannt wird. Eine Polizei, die gut ausgestat
tet, fachkundig und bürgernah arbeiten kann. Die früheren Ein
sparungen waren ein schwerer Fehler. Für motivierte Polizeiarbeit
braucht es neben moderner Technik vor allem mehr Personal mit
guten Qualifikations und Karrierechancen sowie familienfreundli
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che Arbeitsbedingungen. Dafür setzen wir GRÜNE uns auch in den
Landesregierungen ein. Bund und Länder müssen kontinuierlich
ausbilden, einstellen sowie für Entlastung bei administrativen Auf
gaben sorgen. Wir brauchen Behörden, die an der Seite der Men
schen für Sicherheit sorgen und für unseren Rechtsstaat eintreten.
Deswegen unterstützen wir eine vielfältige und bürgernahe Polizei.
Immer mehr Frauen und Menschen mit sogenanntem Migrations
hintergrund im Polizeidienst helfen beim Bürgerkontakt und bei der
Verbrechensbekämpfung. Eine vielfältige Polizei, die unverhältnis
mäßigen Gewalteinsätzen oder sexistischen und rassistischen Dis
kriminierungen keinen Platz bietet, ist im Interesse von uns allen
und gerade auch der Beamt*innen selbst. Wir setzen uns daher für
eine Weiterentwicklung der Fehlerkultur, interkulturelle Kompe
tenz und Fortbildungen ein, fördern die anonymisierte Kennzeich
nung sowie unabhängige Polizeibeauftragte – als Ansprechpart
ner*innen für Bürger*innen wie Polizeibeamt*innen. Außerdem
brauchen wir gut ausgestattete Gerichte und Staatsanwaltschaften
sowie eine selbstverwaltete Anwaltschaft als unabhängiges Organ
der Rechtspflege. Der Zugang zum Recht muss für alle Menschen
gleichermaßen gewährleistet sein. Das Strafrecht darf immer nur
letztes Mittel sein.
Videoüberwachung kann an Gefahrenschwerpunkten eine un
terstützende Maßnahme sein – wenn sie anlassbezogen, verhältnis
mäßig, von ausreichend Personal begleitet erfolgt und regelmäßig
evaluiert und neu genehmigt werden muss. Denn Kameratechnik
kann gute Polizeiarbeit ergänzen, nicht aber ersetzen. Eine flächen
deckende Kameraüberwachung ist hingegen ein unverhältnismäßi
ger Grundrechtseingriff, der kein Mehr an Sicherheit schafft und
keine Straftaten verhindert oder diese nur verdrängt – anders als
präventive Konzepte wie beispielsweise durch bauliche Maßnah
men. Zudem müssen die Standorte von Kameras in der Öffentlich
keit für die Bürger*innen transparent sein.
Kriminalitätsfelder wandeln sich. Während die Kriminalität ins
gesamt sinkt, verunsichern andere Phänomene wie die hohen Ein
bruchszahlen viele Menschen, da sie hier konkret in ihrer Lebens
wirklichkeit getroffen werden. Daher wollen wir Schutzmaßnahmen
fördern und im Mietrecht Sicherheitseinbauten erleichtern – denn
wir setzen auf wirksame Maßnahmen zur Einbruchsprävention an
statt auf symbolische Strafverschärfungen.
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Organisierte Kriminalität ist vielfältig und, wie im Banden- und
Rockerbereich, international verflochten und stark nach außen ab
geschottet. Das erfordert besondere Bekämpfungskonzepte. Ein Fo
kus ist dabei auf die Abschöpfung illegaler Gewinne sowie auf eine
länderübergreifende Polizeizusammenarbeit zu legen. So lässt sich
auf künftige Bedrohungen zielgerichteter und flexibler als durch
Gesetzesänderungen reagieren.
So vielfältig die Probleme, so vielfältig sind auch die Ursachen:
Wir müssen den Blick auf die Sicherheitslage schärfen – anstatt ihn
auf die bloße Kriminalitätsstatistik zu verkürzen. Im Sinne periodi
scher Sicherheitsberichte sind kriminologische und praxisbezogene
Erkenntnisse zusammen zu denken. Nur so finden wir wirksame
Antworten auf diese Phänomene. Denn innere Sicherheit verstehen
wir als Querschnittsaufgabe: in vielen Politikbereichen, von der
Kommune über Bund und Länder bis Europa. Das erfordert Anstren
gungen von der Sozial- bis zur Bildungspolitik, vom Städtebau bis
zur Wirtschaftspolitik.
Internetkriminalität fordert die Strafverfolgungsbehörden be
sonders heraus. Die entsprechenden Befugnisse in der Strafpro
zessordnung sind hier effektiv wie rechtsstaatskonform auszuge
stalten. Und es braucht qualifiziertes Personal mit der nötigen
Technik. Um sich auf diese eigentlichen Herausforderungen kon
zentrieren zu können, wollen wir Justiz und Polizei von sachfrem
den Verwaltungsaufgaben und der Verfolgung von Bagatelldelikten
entlasten. So ist es beispielsweise unsinnig, dass Menschen im Ge
fängnis sitzen, nur weil sie ihre Strafe fürs Schwarzfahren nicht be
zahlen können.
Mehr Personal mit guter Ausstattung und eine optimierte inter
nationale Zusammenarbeit der Polizei, die nicht zwei Millionen
Überstunden vor sich herschieben, sind zwar nicht so billig wie Ge
setzesverschärfungen, verbessern aber direkt die Sicherheitslage.
Die gezielte und länderübergreifende Überwachung von Terrorver
dächtigen muss im Zentrum der polizeilichen Arbeit stehen – wo es
nötig ist, auch mit den gebotenen Mitteln rund um die Uhr, um sie
bei konkreter Gefahr auch kurzzeitig festzusetzen. Gefahrenabwehr
ist Aufgabe der Polizei. Zudem muss das System der Zusammenar
beit zwischen Bundeskriminalamt und den Staatsschutzdienststel
len der Bundesländer analysiert und verbessert werden. Es gilt hier,
klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu schaffen.
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Den regelmäßigen Rufen nach einem Einsatz der Bundeswehr im
Inneren erteilen wir eine klare Absage. Weil Terror und internatio
nale Kriminalität keine Grenzen kennen, brauchen wir Sicherheits
behörden, die in der Europäischen Union und international nach
klaren rechtsstaatlichen Kriterien, gemeinsamen Grundrechtsstan
dards und von den Parlamenten kontrolliert zusammenarbeiten.
Wir setzen uns für EU-weit hohe Standards für die Rechte von
Verdächtigen und Beschuldigten ein. Außerdem unterstützten wir
einen angemessenen Informationsaustausch zwischen den euro
päischen Sicherheitsbehörden sowie gemeinsame Europol-Ermitt
lungsteams – als wirksamen Ansatz gegen grenzübergreifende Kri
minalität und Terrorismus. Europa hat mit dem Schengen-Abkommen
eine gemeinsame Verantwortung für seine Außengrenzen – diese gilt
es durch ein Gesamtkonzept zu stärken, das den Schutz der Men
schenrechte zur Grundlage hat und Rechtssicherheit garantiert.
Einen wichtigen Beitrag zu unserer Sicherheitsarchitektur leis
ten die vielen freiwilligen Mitglieder der Feuerwehr, des Techni
schen Hilfswerks sowie der Rettungs- und Sanitätsdienste. Im Rah
men des Bevölkerungsschutzes möchten wir das ehrenamtliche
Engagement nachhaltig stärken und für moderne und zuverlässige
Ausrüstung sorgen.
2. Nazis, nein danke!
Rechtsextreme Fanatiker*innen, Reichsbürger*innen, Nazis und so
genannte Identitäre formieren sich. Es gibt eine zunehmend laute
rechte und rechtspopulistische Szene in Deutschland, die sich im
Internet oder bei den Pegida-Demos mit ihrer Hetzerei Gehör ver
schafft. Die Zahl rechter Straftaten hat ein Rekordniveau erreicht.
Wir stellen uns dem Rechtsruck und der zunehmenden Gewalt ent
schieden entgegen. Polizei und Justiz müssen rassistische und
rechtsextreme Straftaten konsequent verfolgen und ahnden. Wir
wollen den Schutz für Opfer rechter Gewalt verbessern. So müssen
Opfer von rechter Gewalt aussagen können und besser unterstützt
werden – in solch begründeten Fällen dürfen Menschen nicht ein
fach abgeschoben werden.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Anti
semitismus, Antiziganismus, antimuslimischer Rassismus, Homo
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und Transfeindlichkeit, Sexismus sowie die Abwertung von Obdach
losen, Langzeitarbeitslosen und Menschen mit Behinderung gilt es
überall dort zu bekämpfen, wo sie vorkommt – in rechtsextremen
Strukturen und rechtspopulistischen Bewegungen wie im Alltag,
bei Migrant*innen und Geflüchteten wie in der alteingesessenen
Bevölkerung. Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass sich
alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht,
ihrer sexuellen Identität, Weltanschauung, Religion oder ihres sozi
alen Status – frei und sicher bewegen und entfalten können – egal
ob etwa in Berlin, Sachsen oder Baden-Württemberg.
Wo immer Bürgerinnen und Bürger sich gegen Nazis engagieren,
sichern wir ihnen unsere volle Unterstützung und Solidarität zu: sei
es in Vereinen, Initiativen, Religionsgemeinschaften oder in der an
tifaschistischen Einhornaktion – ob durch Bildungs- und Beratungs
arbeit oder durch Demos und friedliche Blockaden von Nazi-Auf
märschen. Das wollen wir besser anerkennen und ihre finanzielle
Ausstattung sicherstellen.
Zum zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechts gehören
für uns auch Demonstrationen. Symbolische Strafverschärfungen
auf Kosten der Demonstrationsfreiheit lehnen wir ab. Sie machen
keine Versammlung friedlicher. Eine deeskalierende Einsatzstrate
gie sowie gut ausgebildete und ausgeruhte Einsatzkräfte sind hier
für alle Seiten viel sinnvoller.
3. Zäsur beim Verfassungsschutz
Der Staat muss Rechtsextremismus, alltäglichen und institutionell
verankerten Rassismus mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämp
fen. Sicherheitsbehörden müssen den Blick nach rechts außen
schärfen und dazu das breite Wissen zivilgesellschaftlicher Initiati
ven besser würdigen und als Expert*innenwissen in ihre Analysen
einbeziehen. Das Versagen gegenüber dem rechtsterroristischen
NSU hat deutlich gemacht: Das Bundesamt für Verfassungsschutz
ist dauerhaft auf dem rechten Auge blind und nicht in der Lage, für
die Demokratie gefährliche Entwicklungen zu erkennen. Auch die
zweifelhafte Rolle des Verfassungsschutzes im Fall Amri und beim
Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz weist auf Fehleinschät
zungen hin. Wir wollen daher die Verfassungsschutzbehörden
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grundlegend reformieren. Es braucht beim Verfassungsschutz einen
Neustart und ein sehr gründliches Überdenken des V-Leute-Wesens.
Wir wollen nicht, dass die zu beobachtenden Milieus querfinanziert
und schwere Straftaten aus diesen Szenen gedeckt werden.
Statt des Bundesamtes für Verfassungsschutz in seiner ineffektiven
aktuellen Form wollen wir ein personell und strukturell völlig neues
Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr gründen, das
mit nachrichtendienstlichen Mitteln klar abgegrenzt von polizeilichen
Aufgaben arbeitet. Die allgemeine Beobachtung demokratie- und
menschenfeindlicher Bestrebungen soll ein unabhängiges Institut zum
Schutz der Verfassung übernehmen, das ausschließlich öffentliche
Quellen nutzt. Schließlich sind Wissenschaft und engagierte Zivilge
sellschaft hier immer wieder ähnlich gut, wenn nicht manchmal bes
ser informiert als das Bundesamt für Verfassungsschutz.
4. Prävention ausbauen – für eine Kultur des Hinschauens
Wir wollen Prävention und Partizipation ausbauen. Wir müssen alles
unternehmen, damit junge Menschen erst gar nicht in menschenver
achtende und gewaltverherrlichende Ideologien abgleiten, gleich
wie sie politisch oder fundamentalistisch motiviert sind. Das ge
lingt durch eine Kultur des Hinschauens. Wir wollen Radikalisierung
von Anfang an verhindern: Deshalb müssen wir deutlicher und frü
her als bisher den Blick auf die elementare Bedeutung und positi
ven Effekte von parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaat und
Gewaltenteilung lenken. Dazu fordern wir eine Bildungsoffensive
in Kindertagesstätten und Schulen, Menschenrechtsbildung sowie
die Förderung von Demokratie- und Medienkompetenz junger Men
schen und eine Stärkung von Beratungsstellen, Jugendverbänden
und aufsuchender Jugendarbeit. Dazu gehören auch Justizvollzugs
anstalten, denn sie waren in der Vergangenheit ebenfalls Stationen
der Radikalisierung. Ein liberaler Strafvollzug kann diesen Kreislauf
mit gezielter Präventionsarbeit, besseren Haftbedingungen und der
Perspektive auf Resozialisierung durchbrechen. Prävention ist eine
Querschnittsaufgabe. Gerade an sozialen Brennpunkten müssen wir
auch mit städtebaulichen und wirtschaftlichen Maßnahmen für
Perspektiven sorgen, um Gewalt und No-go-Areas schon im Ansatz
entgegenzuwirken.
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Wir wollen Präventionsprogramme sowohl gegen Rechtsextre
mismus als auch gegen gewaltbereiten Islamismus und Salafismus
massiv ausbauen und zivilgesellschaftliche Ansätze stärken. Hier
gilt es, die Präventionsarbeit in und mit den Moscheegemeinden zu
unterstützen. Dabei ist eine breite Vernetzung wie etwa mit Polizei,
Schule und Jugendhilfe vor Ort besonders wichtig.
Wir wollen Straftaten vorbeugen. Deshalb sollen Bund, Länder,
Kommunen und zivilgesellschaftliche Institutionen gemeinsam in
einem bundesweiten Präventionszentrum arbeiten. Programme zur
Deradikalisierung und für Aussteiger aus der rechtsextremen und
islamistischen Szene wollen wir stärken. Um Terrorakte und Amok
taten zu verhindern, muss der Zugang zu Waffen erschwert werden.
Es ist immer noch viel zu einfach, an illegale Schusswaffen und um
gebaute Dekorationswaffen zu gelangen. Alle gefährlichen Waffen
müssen lückenlos registriert und die Eignung und Zuverlässigkeit
der Besitzer*innen regelmäßig geprüft werden. Wir wollen eine eu
ropaweite einheitliche Kennzeichnung und gemeinsame Standards
für die Deaktivierung von Feuerwaffen einführen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Kampf gegen rechts stärken
Wir sagen rechten und rechtspopulistischen Kräften in unserer Ge
sellschaft den Kampf an. Viele Initiativen, Vereine oder Kirchen ma
chen sich gegen Nazis und für eine weltoffene Demokratie stark.
Diese zivilgesellschaftlichen Institutionen verdienen staatliche und
politische Unterstützung und Anerkennung. Damit solche Struktu
ren unabhängig von politischen Mehrheiten und ohne bürokra
tischen Mehraufwand arbeiten können, wollen wir GRÜNE sie dau
erhaft mit einem Demokratiefördergesetz stärken, das ihnen ver
lässlich die nötigen finanziellen Grundlagen garantiert. Jeglichen
staatlichen Generalverdacht und Druck gegen zivilgesellschaftliche
Akteure, etwa anlasslose Überwachungen durch den Verfassungs
schutz, lehnen wir ab. Außerdem müssen auch staatliche Bildungs
und Beratungsangebote gegen rechte Gewalt ausgebaut werden.
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Der Radikalisierung von Jugendlichen vorbeugen
Wir müssen alles unternehmen, damit junge Menschen nicht in
menschenverachtende, gewaltpropagierende Ideologien abglei
ten. Dazu wollen wir eine umfassende und wirkungsvolle Prä
ventionsstrategie gegen gewaltbereiten Islamismus anwenden.
Ein bundesweites Präventionszentrum soll die Aufgaben koordi
nieren und alle relevanten staatlichen und zivilgesellschaftli
chen Akteur*innen vernetzen. Dazu gehören: verschiedene Res
sorts der Bundesregierung, die Sicherheitsbehörden, Länder und
Kommunen sowie Jugendhilfe, Jugendverbände, Demokratieini
tiativen, islamische Organisationen, Wissenschaft und Medien.
Auch regionale Netzwerke für die konkrete Präventionsarbeit
vor Ort wollen wir fördern.
Neustart beim Verfassungsschutz, aus Fehlern lernen
Wir wollen das Leben in Deutschland für alle Menschen sicherer
machen. Das geht nur geleitet von dem Grundsatz konsequenter
Rechtsstaatlichkeit, mit starkem Schutz für unsere Menschen-,
Grund- und Bürger*innenrechte. Dafür braucht es grundlegende
Reformen und den Willen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu
lernen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in den letzten
Jahren mehrfach bewiesen, dass es nicht Teil der Lösung, son
dern Teil des Problems in der Sicherheitsarchitektur in Deutsch
land ist. Es braucht einen strukturellen Neustart beim Verfas
sungsschutz. Wir wollen die Aufgaben trennen. Ein neues
Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr soll
mit nachrichtendienstlichen Mitteln, klar abgegrenzt von der
Polizei, Terror und Spionage aufdecken. Es soll dabei helfen,
dass sich alle in diesem Land, von Punkerin bis Bankerin, von
Sachse bis Syrer, sicher fühlen. Dazu braucht es starke parlamen
tarische Kontrolle. Gleichzeitig soll ein unabhängiges Institut
demokratie- und menschenfeindliche Bestrebungen mit wissen
schaftlichen Methoden unter der ausschließlichen Nutzung von
öffentlichen Quellen beobachten, sodass die Zivilgesellschaft in
der Lage ist, darauf zu reagieren. Zudem ist das V-Leute-Wesen
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sehr gründlich zu überdenken. Wir wollen nicht, dass die zu be
obachtenden Milieus querfinanziert und schwere Straftaten aus
diesen Szenen gedeckt werden.
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IV. WIR STÄRKEN DIE
DEMOKRATIE UND
VERTEIDIGEN DEN
FREIHEITLICHEN
RECHTSSTAAT
Demokratie ist weder selbstverständlich noch unveränderlich. Sie
muss immer wieder neu erklärt und erkämpft werden, um die Men
schen zu überzeugen und sie als Wähler*innen zurückzugewinnen.
Sie braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich einmischen, egal ob
sie hier geboren oder eingewandert sind – die für ihre Werte, für
ihre Rechte und die der Anderen einstehen. Sie braucht demokrati
sche Institutionen, die für Beteiligung offen sind. Sie braucht ein
starkes Parlament, eine unabhängige Justiz und freie und unabhän
gige Medien. Und lebendige Organisationen, die sich vielfältig ein
bringen, von Parteien über Gewerkschaften, Religionsgemein
schaften bis hin zu NGOs, Stiftungen, Vereinen und Initiativen. Wir
setzen auf einen starken, demokratischen Rechtsstaat, der unsere
Freiheit sichert.
Demokratie braucht eine vernünftige Debatte, die auf Fakten
baut, auf gegenseitigen Respekt und den Austausch von Argumen
ten – statt auf Hass, Hetze und dumpfe Parolen. Der Erfolg autori
tärer und antidemokratischer Kräfte in Europa und den USA macht
deutlich, dass wir uns an einem historischen Scheideweg befinden:
Wir müssen als Gesellschaft für die im Laufe der europäischen Ge
schichte, auch jüngst wieder in der friedlichen Revolution in Osteu
ropa und der DDR erkämpften Grund- und Freiheitsrechte sowie die
Demokratie und die Prinzipien der offenen Gesellschaft einstehen.
Diese Errungenschaften machen uns aus und machen uns stark.
Wir werden deshalb mit aller Entschlossenheit verhindern, dass die
Uhr wieder zurückgedreht wird. Nationalismus, Rassismus und die
Feindschaft zwischen den Religionen und Bevölkerungsgruppen
haben bei uns keine Chance.
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1. Demokratie stärken durch mehr Transparenz
und Beteiligung
Demokratie lebt vom Vertrauen der Bürger*innen in ihre Repräsen
tant*innen, in ihre Institutionen und Entscheidungsprozesse. Mit
großer Sorge sehen wir GRÜNE, dass dieses Vertrauen in Deutsch
land und Europa geringer wird. Wir wollen deshalb die Demokratie
stärken – auch indem wir für mehr Transparenz und bessere Betei
ligung sorgen. Das Parlament ist für uns als zentrale Vertretung der
Bürger*innen Deutschlands die Herzkammer unserer Demokratie.
Doch wir haben gesehen: In Zeiten einer erdrückenden Mehrheit ei
ner Großen Koalition sind die Möglichkeiten der parlamentarischen
Kontrolle und Mitwirkung empfindlich eingeschränkt. Deshalb wol
len wir sie ausbauen. Die Arbeit des Bundestages muss transparen
ter werden, die Ausschüsse grundsätzlich öffentlich tagen. Um den
Einfluss von Lobbyist*innen und Interessengruppen offenzulegen,
wollen wir ein verpflichtendes öffentliches Lobbyregister einrich
ten. Um Lobbyeinflüsse im Entstehungsprozess von Gesetzen transpa
rent zu machen, sollen Abgeordnete zum einen mindestens zeitgleich
mit Verbänden Diskussions-, Referent*innen- und Kabinettsentwürfe
erhalten und zeitgleich mit den Ministerien beziehungsweise der
Bundesregierung die Eingaben der Verbände. Zum anderen wollen
wir zu diesem Zweck einen „legislativen Fußabdruck“ einführen.
Wenn Lobbyist*innen an Gesetzestexten mitwirken, muss das als
Quellennachweis kenntlich gemacht werden.
Bei Spenden an Parteien brauchen wir mehr Transparenz, damit
Bürger*innen erkennen können, ob eine Einflussnahme auf politi
sche Entscheidungen erfolgt. Um sichtbar zu machen, wer an Par
teien spendet oder diese mit Sponsoring unterstützt, wollen wir die
Veröffentlichungsgrenzen für Parteispenden herabsetzen und ent
sprechende Regeln auch für das Parteisponsoring einführen. Wir wol
len Spenden an Parteien auf natürliche Personen mit einer jährlichen
Obergrenze pro Person beschränken. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wen
den bis zu einer entsprechenden Änderung das geltende Recht an.
Höhe und Herkunft von Nebeneinkünften der Mitglieder des Deut
schen Bundestages sollen offengelegt werden.
Wir wollen Open Government voranbringen, eine Verwaltung,
die transparent und auf Augenhöhe mit Bürgerinnen und Bürgern
kommuniziert. Für die Öffentlichkeit relevante Informationen wer
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den dann nach den Kriterien von Open Data im Internet veröffent
licht. Den Einsatz von offenen und diskriminierungsfreien Stan
dards in Behörden und bei der Behördenkommunikation wollen wir
ausbauen. Wir wollen das bestehende Informationsfreiheitsgesetz
zu einem umfassenden Transparenzgesetz weiterentwickeln. In
Kommunen, Ländern und auf Bundes- wie europäischer Ebene bau
en wir die Bürger*innenbeteiligung aus. In den Ländern zeigen wir
dies zum Beispiel mit unseren Initiativen für Transparenzgesetze:
Wir stehen für eine Politik des Gehörtwerdens und der Bürger*innen
beteiligung. Wir beziehen Bürger*innen bei Planungs- und Bauvor
haben früher und besser ein. Dazu wollen wir die Gesetze und Vor
schriften weiterentwickeln, gerade auch für Großprojekte.
Das Petitionsrecht wollen wir zu einem wirksamen Mittel der
Bürger*innenbeteiligung ausbauen. Die Stärkung der Demokratie
hört für uns jedoch nicht bei den Parlamenten auf, sondern umfasst
auch die Demokratisierung verschiedener Lebensbereiche, wie zum
Beispiel Schule, Hochschule, Ausbildung oder Arbeitsplatz.
Demokratie lebt auch vom Vertrauen in die Wähler*innen, des
halb wollen wir GRÜNE Elemente direkter Demokratie auch in der
Bundespolitik stärken. Wir wollen Volksinitiativen, Volksbegehren
und Volksentscheide in die Verfassung einführen. Für eine offene
Gesellschaft spielt eine lebendige Zivilgesellschaft eine zentrale
Rolle. Wir setzen uns deshalb für mehr Rechtssicherheit im Gemein
nützigkeitssektor ein, insbesondere um die steuerliche Gleichbe
handlung verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteur*innen sicher
zustellen. Hierzu soll auch der Katalog von gemeinnützigen Zwecken
angepasst und erweitert werden um die Förderung von Frieden,
Menschenrechten und Demokratie, aber auch um Beiträge wie die
Einrichtung und Unterhaltung des Freifunks. Die Förderung gemein
nütziger Organisationen soll mit verbesserten, klareren und einheit
lichen Publikations- und Transparenzvorschriften einhergehen.
Die Rechte von Minderheiten sowie Grundrechte und wesentliche
Verfassungsprinzipien dürfen durch Volksentscheide nicht zur Dispo
sition gestellt werden. Zum Kern der Demokratie gehört die Mehr
heitsentscheidung genauso wie der Minderheitenschutz. Bislang
werden Menschen, die unter ständiger gesetzlicher Betreuung ste
hen, vom Wahlrecht ausgeschlossen. Dies ist mit dem Grundgesetz
und der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar. Wir setzen
uns dafür ein, dass dieser Wahlrechtsausschluss aufgehoben wird.
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 149
Das Demonstrationsrecht darf nicht vom Geldbeutel abhängen und
durch illegitime Abmahnpraktiken ausgehöhlt werden. Überhöhte
Gebühren für Unterlassungsklagen unterbinden wir durch die Präzi
sierung eines gesetzlichen Streitwerts.
Damit möglichst viele Menschen am demokratischen Prozess teil
nehmen können, wollen wir Kommunalwahlen auch für Menschen
öffnen, die hier mit Aufenthaltsrecht, aber ohne deutschen oder EU-
Pass leben. Die Teilnahme an Wahlen ist ein wesentlicher Schritt für
eine gelungene Integration. Deswegen und damit möglichst viele
Menschen partizipieren, wollen wir Menschen, die dauerhaft in
Deutschland leben, die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen er
leichtern. Damit sich gerade junge Menschen früh einbringen kön
nen, wollen wir das Wahlalter bei allen Wahlen auf 16 Jahre absen
ken. Damit junge Menschen auch wirklich mitentscheiden und
mitbestimmen können, wollen wir die Institutionalisierung von poli
tischen Jugendgremien und deren Finanzierung voranbringen. Der
zeit sind Frauen in den Parlamenten massiv unterrepräsentiert. Wir
werden deshalb konkrete Schritte prüfen, ob beispielsweise ein Pari
tätsgesetz helfen kann, diesen unsäglichen Zustand abzustellen.
Damit die Wahlbeteiligung und daraus folgend auch die Reprä
sentanz in den Parlamenten nicht vom sozialen Milieu abhängig blei
ben, müssen die politischen Parteien direkter auf die Wähler*innen
zugehen und eine verständlichere Sprache verwenden.
2. Gesellschaftliches Engagement fördern,
Whistleblower*innen schützen
Millionen Menschen mischen mit und bringen sich ein. Sie tragen
im Kleinen zum großen Ganzen, zum Zusammenhalt unserer Gesell
schaft bei. Ihr Engagement ist vielfältig und bunt: Es reicht von
der Feuerwehr bis zur Geflüchteten und Nachbarschaftshilfe, vom
Chor über den Sportverein bis zum Engagement in Kirche, Synagoge
und Moschee. Es erstreckt sich vom Einsatz für Umwelt, Men
schenrechte bis zum Kampf für globale Gerechtigkeit. Engagement
braucht Unterstützung, zum Beispiel durch die Übernahme von Ver
sicherungen, Qualifizierung und zertifizierte Weiterbildungsmög
lichkeiten. Gleichzeitig wollen wir mehr Geld im Bundeshaushalt für
Fortbildungen und Supervision bereitstellen – damit Engagement
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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150
nicht in Überforderung mündet! Wir wollen mit gezielter Informa
tion und Ansprache dafür sorgen, dass Angebote zum freiwilligen
Engagement allen gesellschaftlichen Gruppen offenstehen.
Freiwilligendienste eröffnen jungen Menschen neue Horizonte.
Wir wollen die Zahl der Freiwilligendienstplätze auf 200.000 erhö
hen, um mehr jungen Menschen diese Möglichkeit zu eröffnen. Den
Freiwilligen wollen wir ein persönliches Coaching mit Angeboten
zur Berufsfindung, Ausbildung und Studienplanung anbieten. Im
Dienst erworbene Kompetenzen sollen als Ausbildungs- oder Studi
enleistungen anerkannt werden können. Wer sich in hohem Maße
neben der Schule ehrenamtlich für unsere Gesellschaft engagiert
oder nach dem Schulabschluss ein Lebensjahr in den Freiwilligen
dienst steckt, dem möchten wir Danke sagen und eine Starthilfe von
1.500 Euro für den weiteren Weg ins Leben mitgeben.
Manchmal ist Engagement auch unbequem und stellt kritische
Fragen, aber es zeugt von einer lebendigen und verantwortungs
bewussten Zivilgesellschaft. Wer mitmischt und sich engagiert,
trägt zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft bei. Das wollen wir
GRÜNE fördern und für mehr gesellschaftliche Anerkennung dieses
Engagements sorgen, auch für staatliche Förderung, etwa durch die
Möglichkeit des Spendenabzugs. Zivilgesellschaftliche Organisati-
onen brauchen einen passenden und sicheren Rechtsrahmen. Auch
Bürger*innen, die – oft unter großen Risiken – Informationen über
Missstände der Öffentlichkeit zugänglich machen, müssen unter
stützt und mit einem Whistleblower*innen-Schutzgesetz geschützt
werden. Sie decken Unrecht und Ungerechtigkeiten auf und leisten
einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Es ist widersinnig, sie in
solch begründeten Fällen strafrechtlich zu verfolgen oder sie nicht
vor dienst- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen, wie Kündigung,
zu schützen. Wir wollen Edward Snowden politisches Asyl geben,
wie es das Europäische Parlament seit zwei Jahren fordert.
3. Freie Medien stärken
Freie und unabhängige Medien und der allgemeine Zugang zu vielfäl
tigen Informationen sind ein „Grundnahrungsmittel“ der Demokratie.
Doch sie stehen heute enorm unter Druck, die Medienwelt hat sich
in den vergangenen Jahren drastisch gewandelt. Wir GRÜNE wollen
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 151
eine vielfältige und unabhängige Medienlandschaft verteidigen,
auch gegen die Angriffe von Populist*innen und Het zer*innen, die
ihrerseits mit Falschmeldungen und Meinungsrobotern objektive In
formation durch Propaganda ersetzen. Journalist*innen dürfen nicht
unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung überwacht und
kriminalisiert werden. Auch der Informantenschutz muss gesichert
sein. Unser Ziel ist eine Medienlandschaft, die vielfältig und innova
tiv ist und auch die kleinen Player ernst nimmt. Nicht-kommerzielle
Bürger*innenmedien sollen ihre Arbeit als gemeinnützig anerken
nen lassen können. Eine Voraussetzung für Qualitätsjournalismus
sind faire Arbeitsbedingungen für Journalist*innen, die ein unabhän
giges und anspruchsvolles Recherchieren und Berichten erlauben.
Das muss sich auch lohnen: Journalist*innen und Verleger*innen
sind an der langfristigen Wertschöpfung ihrer Werke, besonders im
digitalen Zeitalter, angemessen zu beteiligen. Dafür gibt es klüge
re Lösungen als das kontraproduktive Leistungsschutzrecht für
Presseverleger*innen, das wenigen nützt und vielen schadet – wir
wollen es daher so bald wie möglich wieder abschaffen. Stattdes
sen brauchen wir eine sinnvolle Förderung der Vielfalt von Medien.
Für eine unabhängige und qualitätsvolle Berichterstattung kommt
dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine wichtige Rolle zu. Jedoch
spiegeln die Rundfunk- und Fernsehräte sowie die Landesmedien
anstalten oft nicht die gesellschaftliche, religiöse, kulturelle und
weltanschauliche Pluralität Deutschlands wider. Das wollen wir
ändern. Wir brauchen einen glaubhaften und unabhängigen öffent
lich-rechtlichen Rundfunk. Dafür wollen wir seinen Auftrag stärken
und ihn vor Einflussnahme aus Politik und Lobbyverbänden schüt
zen. Deshalb muss er ohne staatliche oder kommerzielle Einfluss
nahme arbeiten können. Das geht nur, wenn der öffentlich-recht
liche Rundfunk auch weiterhin über Beiträge der Allgemeinheit
finanziert wird und frei von wirtschaftlichen Interessen bleibt.
Daher setzen wir GRÜNE uns dafür ein, dass er in Zukunft möglichst
ohne Werbung auskommt. Dafür können unsere Bürger*innen auch
erwarten, dass sie die von ihnen finanzierten Inhalte dauerhaft
im Netz abrufen können und die Kreativen angemessen vergütet
werden.
Und wir setzen uns ein für eine Vereinheitlichung des Jugend
medienschutzes über die verschiedenen Medien hinweg und für eine
aktive Stärkung der Medienkompetenz aller Altersgruppen. Millionen
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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152
Menschen in unserem Land spielen Computerspiele, allein oder zu
sammen, spontan oder auch auf immer organisiertere Weise. Wir wol
len die Computerspielekultur in ihrer Vielfalt und als E-Sport weiter
stärken und prüfen, inwiefern sie als Sportart anerkannt werden kann.
4. Kultur in ihrer Vielfalt fördern
Kunst und Kultur sind in ihrer Vielfalt für eine lebendige Demokra
tie unverzichtbar. Kultur ist weit mehr als das, was die Kulturschaf
fenden hervorbringen. In einer offenen Gesellschaft ist Kultur in
ständiger Bewegung und Veränderung. Wir GRÜNE widersetzen uns
deswegen allen Versuchen, eine nationale „Leitkultur“ durchzuset
zen. In der Kultur darf es keine Grenzen geben, die im Namen einer
angeblichen „kulturellen Identität“ darüber bestimmen, wer dazu
gehört und wer nicht. Eine demokratische Gesellschaft lebt vom
lebendigen Austausch der Kulturen – und sie eröffnet und schützt
künstlerische Freiräume. Kunst ist oft provozierend, hält der Gesell
schaft den Spiegel vor und schafft neue Ideen und Visionen. Wir
GRÜNE werden Kulturorte schaffen, bewahren und fördern. Die
Unabhängigkeit der Kultur von staatlicher und kommerzieller Be
vormundung ist für uns selbstverständlich. Denn Kunst hat weder
einen moralischen noch einen kommerziellen Auftrag zu erfüllen.
Kultur ist gemeinsames Gut. Um es zu bewahren und zu berei
chern, bedarf es der Aktivitäten öffentlicher Institutionen genauso
wie des privaten Engagements. Das heißt, dass wir das Schaffen von
Kultur fördern, die Kulturschaffenden unterstützen und die Rechte an
geschaffenen kulturellen Werken schützen wollen. Eine partizipato
rische und transparente öffentliche Kulturförderung ist für uns ein
entscheidender Träger kultureller Entwicklungsmöglichkeiten. Sie
eröffnet die Freiräume jenseits einer reinen Ökonomisierung von
Kulturproduktion und -vermarktung. So wollen wir etwa mit neuen
Finanzierungsstrukturen den deutschen Film auch abseits der Fern
sehbeteiligung stärker fördern – ebenso wie innovative Projekte vom
Filmstudio über das Stadttheater bis zur freien Szene.
Künstler*innen und Kulturschaffende brauchen eine stabile so
ziale Absicherung und verbesserte Verdienstmöglichkeiten durch
Mindestlöhne und Honoraruntergrenzen, die unter anderem in
öffentlichen Förderprogrammen verankert werden müssen. Wir
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 153
wollen sicherstellen, dass Urheber*innen und Verwerter*innen zum
beiderseitigen Nutzen zusammenwirken und dass öffentlich finan
zierte Kunst und Forschung nicht zuvörderst von privaten Unter
nehmen kommerzialisiert werden.
Wir treten dafür ein, dass kulturelle Teilhabe und Bildung ge
stärkt werden. Kultur muss für alle Menschen zugänglich sein. Des
halb sollen Menschen schon von jung auf die Möglichkeit zur kriti
schen Auseinandersetzung mit Medien und Kultur bekommen. Die
kulturelle Bildung in Schulen und anderen Einrichtungen wollen wir
stärken. In diesem Kontext müssen wir insbesondere auch die Ar
beitsbedingungen für freie Kulturschaffende verbessern. Auch un
ser Kulturerbe soll zugänglicher werden. Dafür müssen wir es erhal
ten. Diese Sicherung wie durch die Digitalisierung und Konservierung
beim Film ist eine zentrale Aufgabe unserer Kulturpolitik und muss
finanziell und institutionell gefördert werden.
Unsere Auseinandersetzung mit Geschichte, insbesondere der
Shoa und des Nationalsozialismus, prägt auch unsere gemeinsame
Gegenwart und Zukunft. Eine kritische Perspektive auf die Wirkungs
geschichte und den Umgang mit dieser Vergangenheit bietet für uns
die Grundlage für unseren heutigen Einsatz gegen rechtes Gedan
kengut. Die aktuellen rechtsautoritären Tendenzen verdeutlichen
diese Notwendigkeit. Mit der Unterstützung von Kulturprojekten so
wie einer ausreichenden Finanzierung von Gedenkstätten zum Aus
bau multiperspektivischer Bildungsangebote wollen wir Erinne
rungskultur auch in der Einwanderungsgesellschaft fördern. Wir
brauchen neue Formen der Erinnerungskultur, um über Trennendes in
den Dialog zu treten und uns über gemeinsame Werte zu verständi
gen. Deutschlands kultureller Reichtum hat sich schon immer durch
Austausch und Öffnung entwickelt. Abschottung lässt jede kulturelle
Entwicklung verkümmern.
Die NS-Aufarbeitung ist auch auf dem Feld der Raubkunst nicht
abgeschlossen. Wir wollen mit umfassenden Aufarbeitungs- und Re
cherchemaßnahmen dafür sorgen, dass alle Raubkunstgüter zurück
gegeben werden können und den vielen betroffenen NS-Überleben
den und ihren Angehörigen wenigstens in dieser Frage – wenn auch
spät – ein Stück weit Gerechtigkeit wiederfährt. Die gesellschaftliche
und wissenschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie Hilfe für
deren Opfer und Benachteiligte sind für uns weiterhin ein großes
Anliegen.
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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Lebenslange Teilhabe ist die Grundlage einer gemeinsamen
Kultur. Dafür braucht es auch aktive und barrierefreie Angebote.
Zudem müssen Förderentscheidungen in der Kulturpolitik nachvoll
ziehbar sein. Kriterien wollen wir daher vorab kommunizieren und
Förderentscheidungen transparent begründen. Es gilt, neue Förder
wege zusammen mit den Kulturschaffenden zu entwickeln und
auszuprobieren, um insbesondere kleinere Vorhaben gezielt zu för
dern. Bundeskulturpolitik darf sich hier nicht auf Schaufenster- und
Großprojekte beschränken. Kultur lässt sich nicht an Metropolen
festmachen, wir unterstützen und fördern Kultur gerade auch im
ländlichen Raum. Kulturelle Kooperation ist zumal in politisch ange
spannten Zeiten geeignet, den Zusammenhalt in Europa und der
Welt zu stärken. Um deutschen Kulturakteur*innen die Teilnahme an
Förderprogrammen der EU zu ermöglichen, gibt es bewährte Mo
delle, zum Beispiel Anschubfinanzierung als Hilfe zur internationa
len Projektentwicklung („seed money“) und Kofinanzierungsfonds
(„matching funds“). Wir GRÜNE werden die Förderung der Geschlech-
tergerechtigkeit im Kultur- und im Medienbereich, immer noch keine
Selbstverständlichkeit, weiter voranbringen. Kultur muss für alle zu
gänglich und erlebbar sein – unabhängig von Wohnort, Geldbeutel,
Herkunft, Alter, körperlichen Voraussetzungen oder Identität.
5. Wir gestalten eine nachhaltige Sportentwicklung
Sport tut gut. Unserer Gesundheit und unserer Gesellschaft. Sport
ermöglicht Integration und Inklusion. Deswegen wollen wir, dass
alle Menschen nach ihren Wünschen und Bedürfnissen Sport trei
ben können. Sport findet überall statt: in Vereinen, Fitnessstudios
oder privat im Park. Dazu brauchen wir bewegungsfreundliche
Städte, intakte Sportstätten sowie ausreichend Freiwillige. Breiten-
und Spitzensport müssen zusammen gedacht werden, denn beide
profitieren voneinander.
Fehlentwicklungen im Spitzensport, wie Doping, Korruption und
gigantomane Sportgroßveranstaltungen dürfen wir nicht zulassen.
Doping ist gesundheitsschädlich, unfair und gefährdet die Integri
tät des Sports. Auf nationaler und internationaler Ebene brauchen
wir wirksame Prävention, funktionierende Kontrollmechanismen
und eindeutige Konsequenzen bei Dopingverstößen. Spitzensport
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förderung darf sich nicht nur an Medaillen, sondern muss sich vor
allem an Athlet*innen orientieren. Die Dopingvergangenheit in Ost
und West gilt es lückenlos aufzuklären. Dopingopfer müssen wir an
gemessen unterstützen.
Korruptionsskandale auf höchster Ebene der Sportfunktionär*innen
und die zunehmende Kommerzialisierung bedrohen den Sport. Wir
machen weiter Druck und fordern Transparenz und Good Governance
auch im Sport. Bei Sportgroßveranstaltungen muss die Bevölkerung
einbezogen werden. Hier müssen Menschen- und Bürger*innenrechte
sowie soziale und ökologische Standards eingehalten werden.
Für Gewalt und Diskriminierung gib es im Sport keinen Platz.
Wir setzen hier besonders auf Prävention und wollen sozialpädago
gische Fanprojekte stärker unterstützen. Programme gegen Rechts
extremismus im Sport wollen wir bündeln und eine weltoffene und
vielfältige Fankultur fördern. Gleichzeitig schützen wir die Bürger*in
nenrechte von Fußballfans und diese vor ausufernden Datensam
mlungen und Kollektivstrafen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Freier Eintritt ins Museum, Zugänge verbessern,
Kultur fördern
Wir wollen sowohl die Teilhabe an Kultur ermöglichen, unab
hängig von Einkommen, Alter und Bildung, als auch die Entste
hung von Kultur in allen Branchen fördern. In unseren Museen
liegt das kulturelle Erbe in seiner ganzen Vielfalt. Allen Men
schen freien Zugang zu den Dauerausstellungen der Bundes
museen zu gewähren, ist für uns Teil der kulturellen Daseinsvor
sorge. Wir stärken partizipative Projekte kultureller Bildung und
öffnen darüber hinaus viele Wege zu kleinen wie großen Kul
turorten. Wir wollen Modellprojekte umsetzen, um neue Zugän
ge zu Kunst und Kultur zu erschließen und mehr Teilhabe zu
ermöglichen. Mit den Kulturförderprogrammen des Bundes för
dern wir eine breit gefächerte Kulturlandschaft, insbesondere
jenseits des ökonomisierten Mainstreams.
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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Whistleblower*innen gesetzlich schützen –
Transparenz stärken
Wir wollen, dass Edward Snowden frei und sicher in einem de
mokratischen Land leben kann, wir wollen ihm Asyl in Deutsch
land anbieten. Wir haben ihm viel zu verdanken. Nur durch sei
nen Mut, mit Informationen an die Öffentlichkeit zu gehen,
wurde die skandalöse Ausspähung und Massenüberwachung
von Bürger*innen durch die NSA bekannt. Auch die Offenlegung
von massenhafter und organisierter Steuerhinterziehung durch
die Panama-Papiere, Luxleaks und bei Cum-Ex-Geschäften ver
danken wir Whistleblower*innen. Bürger*innen, die sich dafür
einsetzen, Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu ma
chen, die dem öffentlichen Interesse und dem Allgemeinwohl
dienen, müssen dabei unterstützt und geschützt werden. Des
halb wollen wir GRÜNE sowohl ein europäisches wie ein natio
nales Gesetz zum Schutz von Whistleblower*innen, das diese
Menschen vor Strafverfolgung und Kündigung schützt. Mehr
Transparenz wollen wir auch durch die Einführung eines öffent
lichen Lobbyregisters erreichen.
Mehr Beteiligung für eine lebhafte Demokratie
Direkte Demokratie ist für uns GRÜNE ein zentrales Anliegen.
Deshalb wollen wir Volksentscheide im Grundgesetz verankern
und direktdemokratische Beteiligung auf allen Ebenen stärken.
Das gilt auch für Jugendliche. Damit sie mitbestimmen können,
setzen wir uns dafür ein, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken.
Denn das Recht auf frühe Mitbestimmung und die entsprechen
de demokratische Bildung motiviert junge Menschen, sich in die
Gesellschaft einzubringen. Wer früh lernt, wählen zu gehen,
setzt dies auch später fort und motiviert andere, auch zu wählen.
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Freiheit im Herzen
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V. WIR MACHEN
VERBRAUCHERINNEN UND
VERBRAUCHER STARK
Täuschung, Tricksereien und Betrug – viele Menschen werden auch
im Jahr 2017 noch zu oft über den Tisch gezogen. Während US-ame
rikanische VW-Kund*innen angemessene Entschädigungen für ma
nipulierte Autos bekommen, gehen deutsche Kund*innen leer aus.
Datengiganten und mächtige Internetkonzerne sammeln und ver
werten unsere Daten nahezu unkontrolliert. Hinter bunten Verpa
ckungen und Fake-Siegeln verbirgt die Lebensmittelindustrie unge
sundes Essen von teils minderer Qualität. Baustoffe dürfen bisher
ungeprüft und undeklariert gesundheitsschädliche Substanzen ent
halten.
Verbraucher*innenschutz betrifft alle Menschen – in nahezu allen
Lebensbereichen. Von der ersten Kontoeröffnung über den täglichen
Einkauf bis zur Altersvorsorge. Als GRÜNE schützen wir Verbrauche
rinnen und Verbraucher vor Täuschung, Vertrags-Tricksereien und
Missbrauch von Daten. Wir kämpfen für mehr Transparenz, mehr ge
setzlichen Schutz und faire Klagerechte: So sieht grüner Verbrau
cher*innenschutz aus.
1. Nachhaltige Konsumentscheidungen ermöglichen
Ob T-Shirt, Steak oder Smartphone: Woher ein Produkt kommt, was
es enthält und wie es produziert wurde, bleibt viel zu oft im Dun
keln. Wer will schon mit seinem Einkauf für Kinderarbeit und andere
Menschenrechtsverletzungen, verseuchte Flüsse oder Tierleid ver
antwortlich sein? Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben
auch ein Recht auf Transparenz über die Herkunft von Produkten
und die Arbeits- und Produktionsbedingungen, unter denen sie her
gestellt wurden. Deshalb wollen wir transparente Lieferketten mit
sozialen und ökologischen Mindeststandards durch entsprechende
Offenlegungs und Sorgfaltspflichten erreichen. Es muss klar sein,
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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was in einer Verpackung steckt. Nur wenn draufsteht, was drin ist,
hat nachhaltiger Konsum eine Chance.
Für Fleisch und Milch wollen wir eine einfache Kennzeichnung
einführen, die klar und deutlich zeigt, wie das Tier gehalten wurde –
so wie bei Eiern längst etabliert. Diese muss auch für verarbeitete
Produkte gelten. Dann können Konsument*innen Tierleid und Um
weltzerstörung die Rote Karte zeigen.
Für mehr Ernährungsvielfalt ist die Gemeinschaftsverpflegung
in Schulen, Kitas und Kantinen ein wichtiger Schlüssel: Gutes vege
tarisches und veganes Essen sollte zum alltäglichen Angebot gehö
ren. Menschen, die sich pflanzlich ernähren wollen, müssen dazu
auch die Möglichkeit haben – abseits vom trockenen Brötchen oder
einseitigen Beilagen.
Gutes Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Fehlernährung
und Übergewicht verursachen massive Gesundheitsprobleme bei
Kindern. Unser Ziel ist es, dass jedes Kind ein gesundes Mittagessen
bekommt. Wir wollen die Schulverpflegung ausbauen und durch
verbindliche Qualitätsstandards verbessern. Dem aggressiven Mar
keting für ungesunde Kinderlebensmittel wollen wir durch klare
Regeln für Werbung einen Riegel vorschieben. Kitas und Schulen
sollen frei von PR-Aktionen sein.
Kundinnen und Kunden werden entmündigt, wenn unverständli
che Nährwertangaben Dickmacher verschleiern oder vegetarische
und vegane Lebensmittel unklar gekennzeichnet sind. Wir wollen,
dass die Lebensmittelpackung die Wahrheit sagt, beispielsweise
durch eine Nährwertampel.
Transparenz muss auch bei der Lebensmittelhygiene gelten. Wir
wollen ein Hygienebarometer für Gaststätten einführen. So können
Verbraucherinnen und Verbraucher erkennen, wie ein Betrieb bei
der Lebensmittelüberwachung abgeschnitten hat.
Ob Lebensmittel, Kleidung, Möbel oder Baustoffe: Derzeit
herrscht ein undurchsichtiger Siegel-Dschungel. Zwischen nichts
sagender Industriewerbung und einem kontrollierten Qualitäts
siegel lässt sich schwer unterscheiden. Man muss teils Miss Marple
oder Sherlock Holmes spielen, um herauszufinden, wo und wie et
was produziert wurde und was enthalten ist. Darunter leidet die
Glaubwürdigkeit ganzer Branchen. Wir wollen mit dem Siegel
Dschungel aufräumen. Deshalb engagieren wir GRÜNE uns für Min
destanforderungen für die wichtigsten Branchen und klare Kriterien
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Freiheit im Herzen
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für beispielsweise „fair“ oder „regional“. So schaffen wir die Voraus
setzungen dafür, dass es echte Orientierung gibt.
Gesundheitliche Risiken durch Schadstoffe oder Rückstände in
Produkten und Lebensmitteln müssen ausgeschlossen werden. Das
gilt beispielsweise für hormonelle Schadstoffe wie Phthalate, die
in unzähligen Alltagsprodukten wie Verpackungen, Spielzeug oder
Kosmetik zu finden sind, oder für Mineralölrückstände in Lebens
mittelverpackungen.
Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wollen die Wegwerfge
sellschaft hinter sich lassen und ressourcenschonend konsumieren.
Hierfür wollen wir die Unternehmen dazu bewegen, zugunsten von
Verbraucherinnen und Verbrauchern zu nachhaltigen Lebensdauern
zurückzukehren. Außerdem müssen Produkte so gebaut sein, dass
sie bei einem Defekt repariert werden können, anstatt weggewor
fen zu werden. Das wird aber unmöglich gemacht, wenn Akkus fest
verschweißt werden, Updates nicht mehr zur Verfügung gestellt
werden, Kabel nicht mehr passen oder die Reparatur teurer ist als
der Neukauf. So wird technologischer Fortschritt zum ökologischen
und verbraucherpolitischen Rückschritt und es entstehen Müll
berge aus Elektronikschrott. In Zukunft müssen Produkte so gebaut
sein, dass sie länger halten, einfach zu reparieren sind und Akkus
und Batterien sich austauschen lassen. Das wollen wir über Vorga
ben für ein ökologisch sinnvolles Design und eine deutliche Verlän
gerung der gesetzlichen Mindestgewährleistungsfristen erreichen.
Es ist absurd, wie stark diese von den technisch möglichen Lebens
dauern der Geräte abweichen. Verbraucher*innen sollen zudem erst
nach zwei Jahren statt bisher sechs Monaten in der Beweispflicht
stehen. Wir fordern, dass bei Produkten künftig die zu erwartende
Lebensdauer angegeben wird, und wir setzen uns dafür ein, nach
schwedischem Vorbild den reduzierten Mehrwertsteuersatz auf Re
paraturdienstleistungen zu erheben.
2. Verbraucher*innenrechte gelten im Netz wie auf der Straße
Bisher gibt es in Deutschland und Europa anders als in den USA kei
ne finanziellen Entschädigungen für die vom Dieselskandal Betrof
fenen. Für Einzelne ist es oft viel zu schwer, das geltende Recht
auch zur Geltung zu bringen. So weigern sich etwa Fluggesellschaf
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ten, Entschädigungsansprüchen nachzukommen. Wir wollen end
lich Gruppenklagen ermöglichen, die das Prozessrisiko auf viele
Schultern verteilen.
Der Dieselskandal hat gezeigt, dass Verbraucher*innen- und Ge
sundheitsschutz für die Bundesregierung allenfalls zweitrangig
gegenüber der Diesel-Lobby sind. Wir brauchen eine Kehrtwende.
Staatliche Aufsichtsbehörden müssen endlich auch den Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem Ziel machen. Sie müs
sen sich dafür starkmachen, dass Verbraucherinnen und Verbrau
cher voll entschädigt werden, wenn sie über den Tisch gezogen
wurden. Unrechtmäßig erzielte Gewinne, beispielsweise durch Kar
tellverstöße, sollen den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu
rückgegeben werden, indem aus diesen Mitteln die unabhängige
Verbraucher*innenberatung gestärkt wird.
Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher auch im Netz
stärken und schützen. Wir akzeptieren nicht, dass Google, Face
book, WhatsApp und Co unsere persönlichsten Informationen hor
ten und exakte Persönlichkeitsprofile von uns anlegen. Wer im In
ternet unterwegs ist, hat das Recht zu wissen, an wen seine oder
ihre Daten weitergegeben werden, und muss dagegen widerspre
chen können. Gesundheitsdaten müssen auch digital geschützt
werden. Auch in Zeiten von Big Data müssen die Grundsätze des
Datenschutzes – Gesetzesvorbehalt, Erforderlichkeit und Zweck
bindung – konsequent durchgesetzt werden. Personenbezogene In
formationen sind hochsensibel und vom Grundgesetz besonders
geschützt. Die Debatte ums „Dateneigentum“ führt in die Irre. Statt
die Nutzung von Daten und den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen
und Bürger gegeneinander auszuspielen, setzen wir uns für einen
effektiven Persönlichkeitsschutz und die Ermöglichung innovativer
Angebote ein.
Die Menschen müssen sich auf ihr Recht auf kostenfreie Aus
kunft, Korrektur und Löschung ihrer Daten verlassen können. Die
sen Pflichten dürfen sich Unternehmen auch nicht dadurch entzie
hen, dass ihre Zentralen sich außerhalb Europas befinden. Dafür
fordern wir Ansprechpartner*innen dieser Unternehmen in Deutsch
land, an die man sich wenden kann.
Algorithmen bestimmen heute, wer wie viel zahlt, welche Wer
bung angezeigt wird und welche Kreditbedingungen wir bekom
men. Je nach Wohnort oder Endgerät sind manche Produkte unter
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BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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schiedlich teuer. Gegen Ausspähung und Diskriminierungseffekte
braucht es klare Regeln – für Transparenz und Verbraucher*innen
schutz im Digitalen. Dazu gehört auch die Wahlfreiheit im Netz. Was
heute bei Telefon, SMS und Mail selbstverständlich ist, muss auch
bei Messenger-Diensten oder sozialen Netzwerken möglich sein:
unkompliziert zwischen Anbietern und Plattformen wechseln und
kommunizieren zu können. Dazu wollen wir Interoperabilität unter
stützen und deren Umsetzung von großen Anbietern fordern.
3. Besserer Schutz vor Abzocke durch Banken und Versicherer
Fünf Euro fürs Geldabheben an fremden Automaten, überhöhte Ge
bühren für Basiskonten, unverhältnismäßige Dispozinsen und un
zureichende Beratung bei Vermögensanlagen und Versicherungen.
Finanzieller Verbraucher*innenschutz ist dringend notwendig,
schützt vor Abzocke und steht für eine bessere Beratung: vom ers
ten Konto über Anlageberatung bis zur Altersvorsorge.
Die finanziellen Verluste durch falsche Anlageberatung werden
für die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher auf circa
50 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Das ist nicht nur volks wirt
schaftlicher Irrsinn, sondern beraubt Sparer*innen und Versicherte
und zerstört im schlimmsten Fall Existenzen. Doch trotz aller Ver
sprechungen der Großen Koalition stehen dabei immer noch nicht
die Bedürfnisse und Wünsche der Kundinnen und Kunden im Vor
dergrund, sondern Verkaufsvorgaben und Provisionsversprechen
für die „Berater*innen“. Deshalb werden wir Provisionen und Gebüh
ren deckeln und transparent machen. Unser Ziel, eine wirklich un
abhängige Finanzberatung auf Honorarbasis für alle, wollen wir
nach einer angemessenen Übergangszeit erreichen. Aber auch da,
wo es nicht um die großen finanziellen Fragen des Lebens geht, sind
Verbraucherinnen und Verbraucher den Instituten oft schutzlos
ausgeliefert. Dispozinsen von zwölf Prozent und mehr sind keine
Ausnahme. Wir GRÜNE wollen, dass kein Bankkunde in die Dispofal
le läuft. Deshalb werden wir den Dispozins deckeln und ihn deutlich
unterhalb des jetzigen Niveaus und in Abhängigkeit von einem Leit
zins gesetzlich begrenzen. Ebenso muss der Zugang zu einem güns
tigen Basiskonto sichergestellt sein, denn gesellschaftliche Teilha
be hängt heute auch von der eigenen EC-Karte ab. In der Alters vorsorge
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
162
wollen wir mit einem staatlichen Basisprodukt eine transparente
Alternative zum Dschungel der Altersvorsorgeprodukte schaffen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Wissen, was drin ist – Tierprodukte kennzeichnen
Kein Ei mit der 3! So lautet der Spruch der wohl erfolgreichsten
Tierschutzinitiative aller Zeiten. Seit die Haltungsform der Lege
hennen gekennzeichnet werden muss, ist nämlich Schluss mit
der Käfighaltung. Die Käufer*innen haben „mit dem Einkaufs-
beutel“ abgestimmt. Wir sind sicher: Das wird auch bei anderen
Produkten funktionieren. Deshalb fordern wir eine klare und ein
fache Kennzeichnung der Art der Tierhaltung auf sämtlichen
Tierprodukten – wie beim Ei. Auch bei verarbeiteten Produkten
soll die Packung besagen, was in ihr steckt. Künftig muss daher
auf der Packung gut sichtbar sein, wo und wie die Tiere gehalten
wurden.
Datenschutz ausweiten – Privatsphäre wahren
Datenhungrige Unternehmen speichern individuelles Verhalten
ihrer Kund*innen und nutzen diese Daten zur Profilerstellung.
Die bestehenden Schutzmechanismen wie das Prinzip der Ein
willigung laufen dabei ins Leere. Alle Verbraucherinnen und Ver
braucher haben das Recht zu wissen, wer was wann und wo über
sie speichert. Nur sie selbst – kein*e Arbeitgeber*in, kein Inter
netanbieter, keine Krankenkasse und auch nicht der Staat – dür
fen bestimmen, wer Zugriff auf ihre Daten hat und was damit
geschehen soll. Wir werden darauf drängen, dass bei der Anpas
sung der deutschen Datenschutzgesetze an die EU-Datenschutz
reform die hohen EU-Standards für klare Grenzen von Sammlung
und Verwertung persönlicher Daten und Informationen nicht
aufgeweicht werden.
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 163
Gruppenklagen für Verbraucherinnen und Verbraucher
ermöglichen
Der Fall VW hat einmal mehr deutlich gemacht: Es ist für Ver
braucherinnen und Verbraucher zu schwer, ihre Rechte wirksam
durchzusetzen. Viele überlegen zweimal, ob sie den Aufwand
auf sich nehmen, ihre Rechte gerichtlich gegen einen Großkon
zern durchzusetzen. Wir wollen das einfacher machen. Verbrau
cherinnen und Verbraucher sollen sich zu Gruppenklagen zu
sammenschließen und gemeinsam durch Gruppenklagen ihre
Ansprüche klären können.
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
164
VI. WIR MACHEN DAS
INTERNET FREI UND SICHER
Smartphone-App, soziale Netzwerke oder vernetzte Dienste in un
serem Zuhause: Der digitale Wandel verändert unsere Gesellschaft
immens. Innovationen können unsere Lebensqualität erhöhen, sei
es der erleichterte Zugang zu Informationen und onlinebasierter
Bürger*innenbeteiligung, seien es der intelligent gesteuerte Ener
gieverbrauch oder neue Formen von Teilen und Mobilität. Zugleich
treibt immer mehr Menschen der Schutz und die Sicherheit ihrer
individuellen Rechte und Daten im Internet um, angesichts der
Macht einzelner Konzerne, staatlicher Überwachung, ständiger
Erreichbarkeit oder zunehmenden Hasses und Hetze im Netz.
Wir wollen den digitalen Wandel politisch gestalten. Wir richten
unsere Politik an den Interessen der Menschen aus, nicht der Kon
zerne. Unsere leitenden Werte sind dabei: Freiheit, Gerechtigkeit,
Nachhaltigkeit und Demokratie. Für diese treten wir im Netz ein –
und gegen Hetze, Hass und Gewalt. Digitale Selbstbestimmung
treibt uns an und daher setzen wir uns ein für modernen Ver
braucher*innen- und Datenschutz, höchste Standards bei der
IT-Sicherheit, fairen Wettbewerb und Innovationsfähigkeit. Selbst
bestimmung im digitalen Zeitalter bedeutet auch, dass Verbrau
cher*innen die Kontrolle über ihre Geräte haben. Sie müssen bei
Bedarf die Software unabhängig vom Hersteller verändern können,
sodass Hersteller Geräte nicht durch ausbleibende Updates in Elek
troschrott verwandeln.
Wir wollen die Potenziale des digitalen Wandels für Bildung
und Forschung, gleichberechtigte Teilhabe, sozialen Fortschritt
und eine nachhaltige Wirtschaft nutzen. Für Innovationen im digi
talen Zeitalter, bessere (digitale) Infrastruktur und für mehr IT-
Sicherheit für alle Menschen und Unternehmen ist Regulierung
erforderlich. Gemeinsam mit einer engagierten Zivilgesellschaft
streiten wir für schnelles, neutrales Internet und starke Ver
braucher*innenrechte, mehr E-Government und offene Daten,
freie und offene Software sowie Vertrauen durch Sicherheit in der
digitalen Welt und gegen Massenüberwachung und uferloses Auf
rüsten der Geheimdienste.
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 165
1. Schnelles und offenes Internet für alle
Schnelles Internet ist Teil der Daseinsvorsorge und Voraussetzung
für Teilhabe in der digitalen Gesellschaft. Eine zukunftsfähige und
nachhaltige Breitbandversorgung soll mittels Glasfaser überall in
Deutschland bis zu jeder Haustür (FTTB) sichergestellt werden. Mit
einer öffentlichen Netzgesellschaft wollen wir den flächendecken
den Glasfaserausbau voranbringen, dafür bringt der Bund min
destens den Erlös des Verkaufs seiner Telekom-Aktien (circa zehn
Milliarden Euro) ein. Damit gründen wir öffentliche Breitband
gesellschaften für den Glasfaserausbau im ländlichen Raum, um die
Versorgung mit schnellem Internet im ganzen Land sicherzustellen.
Zusammen mit Kommunen und weiteren Partner*innen können so
vor Ort Gesellschaften für den Glasfaserausbau gegründet werden.
Den schnellen und umfassenden Ausbau des zukünftigen 5G-Mobil
funknetzes werden wir aktiv unterstützen und uns dabei auch für
ein flächendeckendes freies und offenes WLANNetz einsetzen.
Wir setzen uns für echte Netzneutralität für alle ein, auch im
Mobilfunk, und kämpfen gegen ein „Zwei-Klassen-Internet“. Echte
Netzneutralität ist die Voraussetzung für einen fairen digitalen
Wettbewerb und einen offenen, barrierefreien Zugang für alle Men
schen. Mit der endgültigen Abschaffung der Störerhaftung schaffen
wir offene und rechtssichere WLAN-Zugänge. Die Freifunk-Bewe
gung wollen wir besser fördern. Wir setzen uns beim Mobilfunk für
eine konsequente Minimierung der Strahlenbelastung ein.
Wir wollen ein Urheber*innenrecht, das der Nutzungs- und Ver
wertungsrealität im Digitalen Rechnung trägt. Es muss bürger
rechtskonform sein und die Interessen von Verbraucher*innen,
Verwerter*innen und Urheber*innen fair ausgleichen. Wir müssen
mit Reformen des Urheber*innenvertragsrechts die angemessene
Vergütung von Kreativen stärken. Sie müssen ihre Ansprüche natio
nal und international besser durchsetzen können. Nutzer*innen
digitaler Inhalte sollen bei Ausleihe und Weiterveräußerung nicht
schlechtergestellt werden als bei analogen Gütern. Wissenschaftli
che Erkenntnisse bedeuten gesellschaftliche Teilhabe. Deswegen
unterstützen wir Open Access ebenso wie freie und nicht-kommer-
zialisierte Zugänge zu Lehr- und Lernmaterialien und setzen uns für
eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke ein. Gleichzeitig müssen
Urheber*innen angemessen und fair vergütet werden. Inhalte sol
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
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166
len auf unterschiedlichen Endgeräten nutzbar und mitnehmbar
sein. Bei der Digitalisierung des kulturellen Erbes wollen wir die
Gemeinfreiheit erhalten.
2. Gemeinsam gegen Hass im Netz
Mit Sorge beobachten wir die Verbreitung von Hass und Hetze im
Netz. Die Strafverfolgung hingegen hinkt diesen Auswüchsen weit
hinterher. Wir GRÜNE wollen dafür sorgen, dass Menschen, die sich
volksverhetzend äußern oder andere mit Mord- und Vergewalti
gungsfantasien bedrohen, konsequent zur Rechenschaft gezogen
werden. Große Anbieter sozialer Netzwerke gehören hier in die
Pflicht genommen, dürfen aber nicht in eine Richter*innenrolle
gedrängt werden. Sie müssen offensichtlich strafrechtswidrige In
halte umgehend löschen. Gerichte und Strafverfolgungsbehörden
müssen sie bei der Dokumentation und Verfolgung solcher Fälle un
terstützen. Dafür ist rund um die Uhr eine inländische Kontaktstelle
für Anfragen von Strafverfolgungsbehörden vorzuhalten und sind
entsprechende Reaktionsfristen einzuhalten, ansonsten drohen
Bußgelder.
Einer Aushebelung der anonymen und pseudonymen Nutzung
von Online-Diensten und damit der Meinungsfreiheit und -vielfalt
stellen wir uns klar entgegen. Auskunft über Bestandsdaten von
Nutzer*innen an private Dritte auf Entscheidung der Anbieter leh
nen wir ab. Strafverfolgungsbehörden und Gerichte müssen tech
nisch und personell so ausgestattet werden, dass sie Rechtsverstö
ße im Netz in angemessener Zeit bearbeiten können. Hasspostings
und Falschmeldungen sind oft auch ein Fall für die medienrecht
liche Aufsicht, die wir entsprechend ausstatten wollen. Im Netz
muss erkennbar sein, ob Mensch oder Maschine kommunizieren. Wir
fordern deshalb eine Kennzeichnungspflicht für Computerprogram
me (Social Bots), die eine menschliche Identität vortäuschen und zu
Zwecken der Manipulation und Desinformation eingesetzt werden
können.
Nicht alles, was hetzerisch im Netz geäußert wird, ist rechtswid
rig. Meinungsfreiheit gilt auch für abseitige, oftmals schwer erträg
liche Positionen. Wir fordern Internet-Unternehmen auf, intensiv
mit Organisationen zusammenzuarbeiten, die sich für Opfer von
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Freiheit im Herzen
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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Hass und Hetze, Rassismus und Diskriminierung im Internet einset
zen, und diesen auch direktere Meldewege zur Verfügung zu stel
len. Ein demokratisches Netz braucht Nutzer*innen, die Hass und
Hetze eine klare, ethisch begründete Haltung entgegensetzen, die
Inhalte kritisch hinterfragen, um Falschmeldungen keine Chance zu
geben, und die sich aktiv in Diskussionen mit Gegenrede einbringen,
um Betroffene von Rassismus und Mobbing zu unterstützen. Ein
freies, offenes und inklusives Netz lebt von der Einbindung und dem
Engagement der Zivilgesellschaft.
Digitale Kompetenz ist heute eine Grundvoraussetzung für
gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben. Wir wollen daher
mehr Programme für digitale Bildung und Medienkompetenz –
altersgerecht für Jung und Alt. Auch Polizei und Staatsanwaltschaf
ten müssen hier ihre Fähigkeiten erweitern. Wir benötigen mehr Be
ratungs- und Anlaufstellen für Opfer von Cybermobbing und Gewalt
im Netz sowie gut geschultes Personal der Strafverfolgungsbe
hörden, insbesondere zur Unterstützung von Frauen und Mädchen,
die besonders oft davon betroffen sind.
3. Vertrauen im Netz sichern
Wer ständig überwacht wird, ist nicht frei. Selbst wer glaubt, „nichts
zu verbergen zu haben“, ist angreifbar. Effektiver Grundrechte
schutz ist das Fundament einer freien Gesellschaft. Dies gilt auch
im digitalen Zeitalter. Menschen müssen wissen, wer wann was
über sie weiß. Datenschutz ist aber mehr als nur informationelle
Selbstbestimmung. Die Wahrung von Grundrechten im Digitalen
darf keinesfalls auf den oder die Einzelne*n abgewälzt werden.
Vielmehr bleibt der Staat in der Pflicht, private Kommunikation,
persönliche Daten, Beschäftigtendaten und digitale Infrastrukturen
effektiv zu schützen.
Je mehr hochsensible Informationen sich auf unseren digitalen
Geräten befinden, desto wichtiger wird, dass der grundrechtliche
Schutz für den Kernbereich unserer persönlichen Lebensgestaltung
konsequent beachtet und ausgebaut wird – gerade auch bei der
Strafverfolgung.
Auch im Digitalen bietet Prävention den effektivsten Schutz vor
Angriffen. Die bestehenden Aufsichtsstrukturen werden wir perso
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
168
nell und rechtlich deutlich stärken, um den Verbraucher*innen- und
Datenschutz konsequent zu gewährleisten. Das Bundesamt für Si
cherheit in der Informationstechnik (BSI) werden wir unabhängig
stellen. Ob private Kommunikation, öffentliche Stellen, die Wirt
schaft oder digitale Infrastrukturen – als GRÜNE setzen wir uns für
die Sicherheit aller im Digitalen ein. Hier muss der Staat endlich mit
effektiven wie rechtsstaatlichen Maßnahmen seiner Schutzpflicht
nachkommen. Daher lehnen wir es ab, dass staatliche oder private
Akteur*innen IT-Sicherheitslücken für den eigenen Nutzen und zum
Schaden der Allgemeinheit geheim halten. Vielmehr müssen sie
diese Lücken melden, damit sie rasch geschlossen werden können.
Die Bundeswehr muss sich auf neue Bedrohungslagen einstellen
und der Bund muss seine IT-Infrastrukturen besser schützen. Offen
sive Operationen in andere Systeme lehnen wir jedoch klar ab. Jeg
licher Einsatz digitaler Einsatzkapazitäten muss der parlamentari
schen Kontrolle unterliegen.
Mit der immer stärkeren Vernetzung unseres Alltags, wie etwa
beim „Internet der Dinge“, wachsen die Anforderungen für eine ver
lässliche IT-Sicherheit an die Wirtschaft. Wir setzen auf klare recht
liche Vorgaben, wollen aber auch Anreize für Unternehmen schaf
fen, in gute und sichere IT-Lösungen zu investieren. Wir fordern,
dass der Zeitraum, in dem Produkte mit zeitnahen Sicherheitsup
dates versorgt werden, für Verbraucher*innen einheitlich und gut
sichtbar gekennzeichnet ist und für eine typabhängige Mindestfrist
garantiert werden muss. Unternehmen wollen wir dazu anhalten,
IT-Sicherheit noch stärker bereits im Produkt- und Softwareent
wicklungsprozess zu berücksichtigen.
Freie, quelloffene Software und freie Formate und Standards
sind für uns einer der Eckpfeiler für sichere und zukunftsfähige IT-
Systeme. Wir wollen diese deshalb bei öffentlichen IT-Beschaffun
gen bevorzugen, insbesondere dann, wenn Bürger*innen diese ein
setzen sollen. So senken wir die Abhängigkeit von einzelnen
Herstellern, erhöhen die Transparenz und sichern die Nachnutzung.
Die öffentliche Förderung für die Entwicklung von freier Standard
software wollen wir mit Blick auf IT-Sicherheit ausbauen. Ebenso
wollen wir im Sinne eines nachhaltigen IT-Einsatzes die Rechte von
Nutzer*innen stärken, auf ihren Geräten freie und offene Software
und Firmware einzusetzen.
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Freiheit im Herzen
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4. Für einen modernen Datenschutz
Datenschutz ist wesentliche Bedingung für eine freiheitliche Demo
kratie. Er ermöglicht freie individuelle und gesellschaftliche Entfal
tung und schützt vor Eingriffen des Staates und von Konzernen. Die
etablierten Datenschutzziele müssen in der Entwicklung und als
Voreinstellung von Technologie verankert werden. Personenbezo
gene Daten sind unveräußerlich und daher kein Handelsgut. Auto
matisierte Diskriminierung wollen wir unterbinden, sei es beim in
dividuellen Preis Profiling, beim KreditScoring oder auch bei der
inneren Sicherheit. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich alle Un
ternehmen an die rechtlichen Vorgaben wie das neue EU-Daten
schutzrecht halten. Wir sehen einen starken Datenschutz als inter
nationalen Wettbewerbsvorteil, den wir verteidigen und ausbauen
wollen. Den Mittelstand wollen wir aktiv im Bereich Datenschutz-
und IT-Sicherheit unterstützen und Anreize für datenschutzfreund
liche Lösungen setzen. Der Staat muss seine Verantwortung für
eine zukunftsfähige Regulierung endlich annehmen. Wir wollen für
die Bestandsdatenauskunft von IPAdressen eine Berichtspflicht
der Internetzugangsanbieter einführen und die Hürde für die Ab
frage erhöhen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Schnelles Internet für alle – Glasfaser ausbauen
Wir wollen, dass schnelles Internet mittels Glasfaser von der
Banken-City bis zu jedem Bauernhof direkt bis zur Haustür ver
fügbar ist. Eine öffentliche Netzgesellschaft soll den flächen
deckenden Glasfaserausbau unterstützen, der Bund bringt min
destens den Verkaufserlös seiner Telekom-Aktien ein, Kommunen
und weitere Partner*innen sollen auch mitmachen können. Den
schnellen Ausbau des zukünftigen 5G-Mobilfunknetzes werden
wir aktiv unterstützen. Wo 5G ausgebaut wird, muss auch WLAN
angeboten werden, damit wir einen offenen, freien und flächen
deckenden Zugang zu WLAN erhalten. Halten Unternehmen die
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Freiheit im Herzen
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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vertraglich zugesicherten Mindestbandbreiten nicht ein, werden
zukünftig Bußgelder und Schadenersatzzahlungen an die Kun
den fällig.
Sichere Infrastrukturen
Digitale Angriffe auf IT-Infrastrukturen vom Heimcomputer über
Bundestagsserver bis zu Energie- und Industrieanlagen sind an
der Tagesordnung. Wir GRÜNE wollen diese Systeme effektiv
schützen, uns aber auch der digitalen Aufrüstung in diesem
Bereich entgegenstellen. Der beste Schutz vor Angriffen sind si
chere und überprüfbare Systeme. Staatliche Stellen müssen ver
pflichtet werden, IT Sicherheit zu stärken. Bewusstes Offenhal
ten von Sicherheitslücken ist rechtsstaatlich mit der Schutzpflicht
gegenüber den Bürger*innen nicht zu verantworten, birgt un
kontrollierbare Risiken und gehört daher verboten. Um staatli
che und andere kritische Infrastrukturen zu schützen, werden
wir die Entwicklung von umfassenden Sicherheitskonzepten
vorantreiben und fördern. Eine durchgehende Ende-zu-Ende-
Verschlüsselung werden wir zum Standard machen.
Moderne Verwaltung mit E-Government
Mit mehr Mut zu Open Data, barrierefreien E-Government
Dienstleistungen und Open Government werden wir einen ent
scheidenden Beitrag leisten, um unsere Verwaltung zu moderni
sieren, Bürokratie abzubauen und unsere Demokratie zu beleben.
Wir setzen uns für Open-Data-Regeln ein, die Behörden ver
pflichten, vorhandene Daten von sich aus leicht auffindbar,
maschinenlesbar und kostenfrei und unter freier Lizenz für die
Öffentlichkeit bereitzustellen.
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
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E. GERECHTIGKEIT
IM SINN
Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Diesen Wohlstand verdan
ken wir vielen engagierten Beschäftigten, innovativen Unterneh
men und einer langen Tradition sozialer Sicherungssysteme. Doch
längst nicht alle können an diesem gemeinsam erwirtschafteten
Wohlstand teilhaben. Auch in unserem reichen Land gibt es Armut
und Perspektivlosigkeit, die sich noch dazu über Generationen ver
festigt. Deshalb setzen wir uns seit unserer Gründung für mehr so
ziale Gerechtigkeit in unserem Land ein.
Während es in vielen Regionen seit Jahren nahezu Vollbeschäfti
gung mit gut bezahlten Jobs gibt, gibt es zugleich Gebiete, in denen
viele junge und ältere Menschen arbeitslos sind und keine Chancen
sehen. Andere haben Jobs mit Zukunft, reiben sich aber auf, um Fa
milie, eigene Interessen und Arbeit in Einklang zu bringen. Zu viele
arbeiten unter schlechten Bedingungen und hangeln sich von einer
befristeten Beschäftigung zur nächsten. Während viele von Globali
sierung und Digitalisierung profitieren, fürchten andere, ihre Jobs
an Roboter oder ans Ausland zu verlieren. Insbesondere Beschäftig
te, die einfache Dienstleistungen erbringen, leben mit stagnieren
den Löhnen und teilweise schlechten Arbeitsbedingungen. Pfle
ger*innen, Erzieher*innen und Polizist*innen müssen trotz ihrer
gesellschaftlich enorm wichtigen Arbeit mit vergleichsweise niedri
gen Einkommen über die Runden kommen. Die hohe Vermögens
konzentration bei einigen wenigen schadet auch laut OECD der
Wirtschaft und Gesellschaft, während viele mit geringem Einkom
men Schulden haben, kaum in die Zukunft ihrer Kinder investieren,
geschweige denn etwas zur Seite legen können. Diese Probleme
löst man nicht, indem man nur über die Erfolge redet.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Politik ist es, Bedingungen zu
schaffen, damit alle Menschen ihre Fähigkeiten einbringen und ein
gutes, selbstbestimmtes Leben führen können. Deshalb streiten wir
für eine inklusive Gesellschaft, an der alle Menschen teilhaben kön
nen. Wir wollen neue Chancen und bessere Arbeitsbedingungen
schaffen. Uns geht es um eine Gesellschaft, in der alle an dem ge
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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meinsam erwirtschafteten Wohlstand teilhaben können und die al
len gleiche Chancen und Möglichkeiten bietet. Die Sprossen der ge
sellschaftlichen Leiter dürfen nicht so weit auseinanderliegen, dass
Aufstieg kaum möglich ist. Gleichzeitig darf in unserer Gesellschaft
Armut keinen Platz haben, denn sie grenzt aus. Armut schadet aber
auch uns allen: nicht nur den Menschen, die ihrer Zukunftschancen
und der Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben beraubt werden,
sondern auch der Gesellschaft, die auf die Talente und Fähigkeiten
aller angewiesen ist.
Wir nehmen es nicht hin, dass in unserem Land 2,5 Millionen
Kinder in Armut leben. Wir wollen, dass jede und jeder mit eigener
Anstrengung und der solidarischen Unterstützung der Gesellschaft
ein gutes Leben führen und ihr Recht auf Selbstbestimmung und
Teilhabe verwirklichen kann. Bildung spielt für uns dabei eine ent
scheidende Rolle. Unser Bildungssystem ist durch die Reformen vie
ler grün mitregierter Länder besser, gerechter und durchlässiger ge
worden. Doch für echte Gerechtigkeit sorgt es noch nicht. Immer
noch entscheidet zu oft die soziale Herkunft über Bildungs- und
Aufstiegschancen. Das liegt insbesondere auch daran, dass in vielen
Schulen sortiert statt individuell gefördert wird.
Wir wollen Schulen, die auf die individuellen Bedürfnisse von
Schüler*innen eingehen und sie ermutigen, nicht blockieren und
bremsen. Um das zu erreichen, treten wir konsequent für den Aus
bau des möglichst langen gemeinsamen Lernens ein. Wir wollen
das Kooperationsverbot aufheben. Um Chancengerechtigkeit zu
schaffen, müssen Bund, Länder und Kommunen ohne Hindernisse
zusammenarbeiten können. Auch offene und inklusive Hochschulen
sind dafür ein wichtiger Schlüssel.
Wir werden ein großes Reformpaket auf den Weg bringen, um
Kinderarmut zu bekämpfen, Familien finanziell zu entlasten und
die Unterstützung von Alleinerziehenden deutlich zu verbessern.
Wir werden Steuersümpfe trockenlegen und dafür sorgen, dass
auch Superreiche endlich ihren fairen Beitrag zum Gemeinwohl
leisten. Wir wollen damit in die Entwicklung lebenswerter Quar
tiere, in Kindertagesstätten, Schulen, Stadtbüchereien, Jugend
zentren und in bezahlbare Wohnungen investieren – all das sind
Orte, auf die Menschen mit wenig Geld besonders angewiesen
sind, von deren guter Ausstattung aber die gesamte Gesellschaft
profitiert.
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 173
Wir werden die Zwei-Klassen-Medizin abschaffen und stattdes
sen mit einer Bürger*innenversicherung eine gute Gesundheitsver
sorgung für alle ermöglichen. Wir streiten für auskömmliche Renten
und eine gute Pflege im Alter. Wir wollen verhindern, dass Men
schen sich von einem unsicheren Arbeitsplatz zum nächsten han
geln müssen. Wir wollen den Menschen wieder mehr Souveränität
über ihre eigene Zeit geben, damit sie Beruf, Familie und Engage
ment besser miteinander verbinden können.
Ein solidarisches Sicherungssystem und eine starke Wirtschaft
bedingen sich gegenseitig. Wir setzen auf eine Wirtschaft, die fair
und stabil, innovativ und voller Gründergeist ist. Die Chancen der
Digitalisierung wollen wir ergreifen und diese Umwälzung so ge
stalten, dass sie allen nutzt. So stärken wir den gesellschaftlichen
Zusammenhalt und die Akzeptanz unserer Demokratie, die durch
Ungerechtigkeiten und Abstiegsängste gefährdet sind. Wir wollen,
dass alle an die Möglichkeiten in unserem Land glauben – und sie
auch tatsächlich nutzen können.
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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I. WIR INVESTIEREN IN
KINDERTAGESSTÄTTEN,
SCHULEN UND
HOCHSCHULEN
Alle, die hier leben, sollen sich verwirklichen und selbstbestimmt
leben können. Wenn das Kind aus einer Arbeiterfamilie später
Unternehmer*in wird und gute Arbeitsplätze schafft, wenn der al
leinerziehende Krankenpfleger es sich leisten kann, Pflegemanage
ment zu studieren, wenn die seit Längerem arbeitslose Lageristin
nach einer Weiterbildung einen neuen Job findet, wenn der schwer
hörige Junge zusammen mit den Nachbarskindern in der Schule um
die Ecke lernt und seinen Traum einer Ausbildung als Altenpfleger
erfüllen kann und die aus Syrien nach Deutschland geflüchtete Frau
Medizin studiert, dann haben wir viel erreicht. Dann sind wir unse-
rem Ziel, allen Menschen in Deutschland eine Chance auf ein gutes
Leben zu ermöglichen, ein gutes Stück näher gekommen. An man
chen Orten klappt das schon, da haben sich Menschen längst auf
den Weg gemacht: etwa an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln.
Einst als „Deutschlands schlimmste Schule“ bezeichnet, lernen in
dieser Gemeinschaftsschule nun Schüler*innen mit unterschiedli
cher Herkunft zusammen und alle profitieren. Viele von ihnen ma
chen als Erste ihrer Familie das Abitur. Oder an der Universität Duis
burg-Essen, die gezielt Jugendliche aus Familien ohne akademische
Erfahrung bis zum Bachelor begleitet. Davon brauchen wir mehr. Zu
oft bestimmt immer noch die Herkunft über die eigene Zukunft und
nicht etwa Talent oder Fleiß.
Es ist ein Skandal, dass es für Kinder aus Arbeiterfamilien bei uns
so schwierig ist aufzusteigen. Das wollen wir GRÜNE ändern. Jede
und jeder soll die Chance auf ein gutes Leben bekommen. Unsere
Gesellschaft braucht die Ideen, die umfassende Teilhabe und die
Kraft aller Menschen. Wir können und wollen es uns nicht leisten,
Menschen perspektivlos und abgehängt zurückzulassen. Dabei ist
uns wichtig, dass in dieser Gesellschaft nicht nur diejenigen geför
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 175
dert oder geschätzt werden, die ein Studium abgeschlossen haben,
sondern alle. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der nicht soziale
Herkunft, Geschlecht, ethnische Wurzeln oder körperliche Voraus
setzungen über die Zukunft von Menschen entscheiden, sondern
deren Wünsche und Talente. Wir stemmen uns gegen die Spaltung
in drinnen und draußen, wollen die Gesellschaft zusammenhalten
und Chancen gerechter verteilen. Deshalb wollen wir den Bür
ger*innen Steuerüberschüsse gerade auch in Form von besserer
Bildung zurückgeben. Wir wollen keine Steuersenkungen, die vor
allem Gutverdienenden zugutekommen, sondern mehr Investitio
nen in Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen unterstützen.
1. Mit guter, inklusiver Bildung Türen öffnen
Kindertagesstätten, Schulen, Jobcenter, Stadtbüchereien, Jugend
zentren und Volkshochschulen – all das sind Orte, die grundlegend
für eine chancengerechte Gesellschaft sind. Dort werden Chancen
verteilt – oder eben nicht. Deshalb ist die öffentliche Infrastruktur
vor Ort so wichtig. Doch ausgerechnet hier hat Deutschland drin
gend Nachholbedarf. Investitionen fallen seit Jahrzehnten dem
Rotstift zum Opfer. Öffentliche Stellen werden gestrichen. Schulen
verwahrlosen, Jugendzentren werden geschlossen und Stadtbüche
reien zusammengelegt. Diese falsche Schwerpunktsetzung werden
wir beenden. Wir werden der allgemeinen Bildung und der For
schung und Entwicklung wieder Vorrang einräumen. Es muss unser
Ziel bleiben, mindestens sieben Prozent (statt derzeit circa 4,2 Pro
zent) der Wirtschaftsleistung in die allgemeine Bildung und min
destens 3,5 Prozent (statt derzeit circa 2,9 Prozent) in Forschung
und Entwicklung zu investieren. Wir GRÜNE wollen Länder und
Kommunen dabei unterstützen, Kindertagesstätten, Schulen, Be
rufsschulen und Hochschulen besser zu bauen und auszustatten.
Diese Investitionen in die Zukunft zahlen sich aus. Denn sie schaf
fen für jede und jeden die Chance, von der eigenen Arbeit zu leben
und der Gesellschaft etwas zurückgeben zu können. In vielen Län
dern wurde unter grüner Beteiligung deshalb so viel Geld in Bildung
investiert wie noch nie zuvor.
Für den weiteren Ausbau des Angebots und zur Verbesserung
der Qualität soll der Bund mit mindestens drei Milliarden Euro pro
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
176
Jahr eine größere Verantwortung für die frühkindliche Förderung
übernehmen. Konkret heißt das: Alle Kinder bekommen einen An
spruch auf einen Ganztagsplatz in einer guten Kita, die mehr als nur
eine Betreuungseinrichtung ist und in der Kinder von null bis zur
Einschulung ganzheitlich und interkulturell gefördert werden, in
dem Erzieher*innen Zeit haben, jedes einzelne Kind zu unterstüt
zen. Als das Land, in dem das international verbreitete Erfolgs
konzept des Kindergartens erfunden wurde, wollen wir den ganz
heitlichen Gedanken nach vorne stellen und Qualität sichern.
Mindeststandards für die Qualität sollen das bundesweit sicherstel
len. Für ganzheitliche Bildung, Erziehung und Betreuung soll die
Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen unter
stützt werden. Das gut ausgebildete Personal muss deshalb Zeit ha
ben, Kindertageseinrichtungen als Orte für die ganze Familie und
vor allem frühkindlicher Bildung zu gestalten. Außerdem wollen wir
die Erzieher*innenausbildung neu gestalten und attraktiver ma
chen. Grundsätzlich ist unser Ziel die beitragsfreie Bildung von An
fang an – auch in Kitas. Zunächst muss in den Ausbau und in die
starke Verbesserung der Qualität investiert werden. Klar ist, dass
kein Kind von einer Kita ausgeschlossen sein darf, weil sich die El
tern diese nicht leisten können. Auch für einen Rechtsanspruch auf
Ganztagsbetreuung in der Grundschule bis zum Ende der vierten
Klasse für alle Grundschulkinder streiten wir. Schulen haben in den
vergangenen Jahren zahlreiche neue Aufgaben bekommen, die viele
Lehrer*innen, Erzieher*innen und andere Pädagog*innen unter teils
schwierigen Bedingungen bereits mit großem Engagement über
nehmen: Dazu zählen inklusiver Unterricht von Kindern mit und
ohne Behinderung, längeres gemeinsames Lernen, digitale und kul
turelle Bildung, Willkommensklassen oder auch Schulsozialarbeit.
Bildung soll vielfältige Möglichkeiten bieten. Dazu gehört auch, an
demokratischen Prozessen teilzuhaben. Wir setzen uns deshalb für
die Stärkung von demokratisch organisierten Schulen ein. Schulen,
an denen junge Menschen fürs Leben lernen und die auf eine gute
Zukunft vorbereiten, müssen selbst Orte der Zukunft sein. Um die
Ziele einer nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen zu er
reichen, ist es erforderlich, entlang der Bildungskette von der Kita
bis zur Erwachsenenbildung die Voraussetzungen dafür zu schaf
fen. Dies erfordert die Umsetzung der Maßnahmen eines Nationa
len Aktionsplans Bildung für nachhaltige Entwicklung.
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Gerechtigkeit im Sinn
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Bundestagswahlprogramm 2017
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Der Bund sollte seine neuen Möglichkeiten, finanzschwache
Kommunen im Bildungsbereich zu unterstützen, nun rasch nutzen
und ein Förderprogramm zur Sanierung von maroden Schulen auf
legen, das auch die baulichen Grundlagen für den Auf- und Ausbau
von Ganztagsschulen legt und an eine umfassende Beteiligung und
ein Konzept für eine moderne, zeitgemäße pädagogische Architek
tur geknüpft wird. Auch um einen Ausbau des längeren gemeinsa
men Lernens umsetzen zu können. Denn in unseren Schulen gelingt
es zu selten, ungleiche Startchancen auszugleichen. Dafür werden
wir in den nächsten fünf Jahren zehn Milliarden Euro bereitstellen
und so 10.000 Schulen fit für die Zukunft machen. Damit Schulen
den Kindern Chancen eröffnen, die unter schwierigen Bedingungen
aufwachsen, und auch jene fordern, die viel leisten können. Diese
schmale Öffnung der Verfassung war ein erster Schritt. Wir GRÜNE
streiten weiter dafür, das Kooperationsverbot komplett aufzuhe
ben. Bund und Länder müssen ihre gemeinsame Verantwortung
auch gemeinsam übernehmen können. Wir wollen auch vergleich
bare Schulabschlüsse in ganz Deutschland erreichen. Dafür muss
der Bildungsföderalismus entkrustet werden.
Wir schlagen den Ländern eine gemeinsame Bildungsoffensive
vor. Denn die Qualität in Kita und Schule ist entscheidend. Gute in
klusive Bildung setzt nicht nur eine intakte Bildungsinfrastruktur
voraus, sondern auch gut ausgebildete Lehrer*innen, Erzieher*innen,
Sozialarbeiter*innen, Künstler*innen oder Handwerker*innen in
Schulen. Deshalb wollen wir mit einem Bundesprogramm Schulen
in benachteiligten Stadtquartieren oder Regionen mit mehr päda
gogischem Personal und mehr Mitteln ausstatten. Dann wäre es
auch möglich, den dringend nötigen Ausbau der Ganztagsbetreu
ung finanziell zu unterstützen. Der Bund könnte mithelfen, dass es
für alle, die das wünschen, einen Platz an einer Ganztagsschule
oder in der Hortbetreuung gibt.
Uns GRÜNEN geht es darum, allen Menschen zu ermöglichen, ihr
Leben selbstbestimmt zu gestalten. Im Moment aber spaltet sich
die Gesellschaft immer mehr in Gewinner*innen und Verlierer*innen.
Erwerbstätige mit Berufsausbildung verdienen im Laufe ihres Be
rufslebens eine Viertel Million Euro mehr als diejenigen ohne Aus
bildung. Deshalb fordern wir GRÜNE eine Ausbildungsgarantie, die
an die Stelle des unübersichtlichen Durcheinanders von Förder
maßnahmen tritt. Alle Jugendlichen sollen direkt nach der Schule
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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178
eine anerkannte Berufsausbildung beginnen können, anstatt ziellos
von Maßnahme zu Maßnahme geschoben zu werden.
Die Ausbildung junger Menschen ist eine gesamtgesellschaft
liche Aufgabe, an der insbesondere die Wirtschaft ein überge
ordnetes Interesse haben muss. Um die Ausbildungsbeteiligung
dauerhaft zu erhöhen und damit Betrieben wie Jugendlichen gute
Perspektiven zu sichern, befürworten wir branchen- und regions
spezifische Umlagen zur solidarischen Finanzierung der Berufs
ausbildung. Wir wollen allen Auszubildenden ein eigenständiges
Leben ermöglichen. Deshalb fordern wir eine Stärkung der Tarif
autonomie und ergänzend zu den einzelnen Tarifverträgen eine
Mindestausbildungsvergütung. Gleichzeitig setzen wir uns dafür
ein, dass die Berufsausbildungsbeihilfe einfacher in Anspruch ge
nommen werden kann und sich die Höhe realistisch an den Lebens
haltungskosten orientiert. Um Mobilität während der Ausbildung
zu garantieren, setzen wir uns für ein kostengünstiges Auszu
bildendenticket ein. Dadurch entstehen endlich bessere Bedingun
gen für den Fachkräftenachwuchs und gesellschaftlich zentrale
Branchen wie Handwerks-, Sozial- und Pflegeberufe werden auf
gewertet.
Auch das Thema Analphabetismus und mangelnde Grundbil
dung wollen wir gemeinsam mit der Wirtschaft stärker in den Fokus
nehmen und flächendeckend passende Angebote machen. Hoch
schulen müssen offen sein für alle – ob Arbeiter*innen- oder Akade
miker*innenkind, ob Mann oder Frau, jung oder alt, ob einheimisch,
eingewandert oder hierher geflüchtet.
Es liegt nicht am Können, dass heute nur ein Viertel der Kinder
von Nichtakademiker*innen studiert, gleichzeitig aber drei Viertel
der Kinder aus Akademiker*innenfamilien. Daher muss die Studien
finanzierung grundlegend verändert werden: Das BAföG muss wie
der zum Leben reichen und für Studierende jeden Alters und in Teil
zeit geöffnet werden. Wir wollen ein BAföG, das Sicherheit schafft
und nicht durch eine starre zeitliche Begrenzung Druck aufbaut.
Mittelfristig soll die Studienfinanzierung aus einem Studierenden
zuschuss für alle und einem Bedarfszuschuss für Studierende aus
ärmeren Elternhäusern bestehen. Die Alters- und Semestergrenzen
der studentischen Krankenversicherung müssen angepasst werden.
Studiengebühren lehnen wir ab. Auch die FernUniversität in Hagen
wollen wir weiter stärken.
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Gerechtigkeit im Sinn
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 179
Doch der Zugang zum Studium allein reicht noch nicht aus. Auch
die Vereinbarkeit von Familie und Studium beispielsweise durch die
Möglichkeit des Teilzeitstudiums und bessere Studienbedingungen
sind wichtig, also gute Lehre, ausreichend Beratungsangebote und
mehr Lehrende zur Unterstützung der Studierenden. Dafür wollen
wir die Bundesprogramme und Bund-Länder-Pakte endlich zu ei
nem stimmigen Gesamtpaket weiterentwickeln und verstetigen.
Dabei wollen wir auch Standards wie zum Beispiel Gleichstellung
verankern, um Frauen auf allen Ebenen unseres Wissenschaftssys
tems zu fördern.
Wir werden demokratische und partizipative Strukturen an
Hochschulen stärken. Wir setzen uns für mehr Kooperationen zwi
schen Bund und Ländern und zwischen den Hochschulen ein, weil
wir wollen, dass nicht nur an einzelnen Leuchtturmstandorten, son
dern überall gut studiert und geforscht werden kann. Wir wollen
einen Bund-Länder-Aktionsplan „Studentisches Wohnen“ auflegen.
Der Zugang zur Wissenschaft als Beruf muss gerecht sein. Wir
werden das Wissenschaftszeitvertragsgesetz überarbeiten und ei
nen Aufbruch für zusätzliche Stellen vorantreiben, um so die Situa
tion für Wissenschaftler*innen zu verbessern. Wissenschaftler*innen
brauchen faire Arbeitsverträge, weniger Abhängigkeiten und weni
ger Befristungen, damit sie ohne Existenzangst gut und frei for
schen können.
2. Bildung für eine digitalisierte und vernetzte Welt
Unser Leben wird immer stärker durch Software, Algorithmen und
digitale Endgeräte geprägt. Selbstbestimmung und gesellschaftli
che Teilhabe in allen Lebensbereichen werden so auch immer mehr
davon abhängig, ob wir digital mündig sind und welche digitalen
Kompetenzen wir haben. Dies stellt eine enorme Herausforderung
für unser gesamtes Bildungssystem dar.
Die Kulturtechniken der Digitalisierung – vom Programmieren
bis zum kritischen Umgang mit digitalen Geräten und Prozessen –
sollen allen Schülerinnen und Schülern vermittelt werden. Didakti
sche Konzepte und Modellerfahrungen dazu liegen bereits vor; wir
wollen uns dafür einsetzen, diese endlich in den Regelbetrieb zu
übertragen. Dafür sollen in einer gemeinsamen Anstrengung mit
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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allen Bundesländern Basiskompetenzen im Bereich Informatik, Me
dienanwendung und kritische Medienkunde als weiterer Baustein
naturwissenschaftlicher Bildung verbindlich eingebracht werden.
Auch im Bereich der Weiterbildung wollen wir dafür sorgen, dass
unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft digitale Kompeten
zen zum Teil der Allgemeinbildung werden.
3. Zugänge in Arbeit schaffen
Chancengerechtigkeit ist nicht nur eine Frage für junge Menschen.
Es muss auch darum gehen, dass Menschen, die mitten im Leben
stehen oder deren Lebensweg nicht gradlinig verläuft, ihre Zukunft
selbst in die Hand nehmen können. Den Grundgedanken des le
benslangen Lernens gilt es zu stärken. Das heißt für uns, dass es
auch später im Leben möglich sein muss, etwas dazuzulernen, sich
weiterzubilden oder auch beruflich zu verändern. Gute Bildung kos
tet Zeit und Geld. Beides ist für viele Menschen Mangelware. Die
grüne BildungsZeit Plus sorgt mit einem Mix aus Zuschuss und Dar
lehen dafür, dass gerade die Menschen, die heute noch viel zu
selten an Weiterbildungen oder dem Nachholen von Schul- oder
Berufsabschlüssen teilnehmen, die Zeit und die Kosten dafür auf
bringen können. Für vielfältige und hochwertige Bildungsangebote
braucht es weiterhin gute Arbeitsbedingungen und eine faire Be
zahlung für Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung.
Aber auch Menschen mit Behinderung, Jugendliche ohne Aus
bildung, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose oder ältere Be
schäftigte brauchen passgenaue Integrationsstrategien und Wei
terbildungsangebote. Die Arbeitslosenversicherung muss zu einer
Arbeitsversicherung werden, die alle Menschen unterstützt – und
zwar schon, bevor sie arbeitslos werden.
Erfolgreiche Integration fußt auf Chancen und Perspektiven. Wer
neu in Deutschland ankommt, soll seinen Alltag möglichst schnell
selbständig meistern können. Alle Asylsuchenden sollen sofort
nach ihrer Ankunft damit beginnen können, Deutsch zu lernen, und
einen Anspruch auf Teilhabe an den Integrationskursen erhalten.
Deshalb wollen wir, dass Geflüchteten der Weg in die Arbeitswelt
rasch offensteht. Dort lernen sie den deutschen Arbeitsalltag, ein
heimische Gepflogenheiten und hiesige Berufe kennen. Wir legen
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Wert auf frühzeitige Bildungsangebote und passende Sprachförde
rung. Um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration zu
verbessern und dafür zu sorgen, dass eine Ausbildung nicht länger
an einer unsicheren Bleibeperspektive scheitert, wollen wir, dass
Asylsuchende und Geduldete rechtssichere Aufenthaltstitel für die
Ausbildung und die anschließende Beschäftigung erhalten. Eine
Differenzierung nach Bleiberechtsperspektiven lehnen wir ab. Wir
wollen auch, dass Bildungs- und Berufsabschlüsse, genauso wie be
rufliche Kenntnisse, schneller und großzügiger anerkannt werden.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Qualität in Kindertagesstätten sichern –
mehr Erzieher*innen für unsere Kleinsten
Die Zukunft beginnt in der Kindertagesstätte. Kindertagesstätten
bieten Raum zum Spielen, Lernen und Sprechen – und Kindern
die Chance auf Bildungserfolg. Die Zeit, die eine Fachkraft für die
unmittelbare pädagogische Arbeit mit den Kindern hat, ist häufig
zu knapp bemessen. Deswegen wollen wir bundesweit in einem
Gesetz Qualitätsstandards festlegen und endlich die Vorausset
zung dafür schaffen, dass auch Kindern mit Behinderung ihr
Recht – wie jedes andere Kind in eine Kita gehen zu können –
nicht verwehrt wird. Ein*e Erzieher*in soll künftig höchstens drei
Kinder unter drei Jahren beziehungsweise höchstens zehn älte
re Kinder betreuen. Wir wollen in Aus- und Weiterbildung von
Erzieher*innen investieren und Rahmenbedingungen schaffen,
dass sie besser bezahlt werden. Der Bund soll sich mit mindestens
drei Milliarden Euro pro Jahr an den zusätzlichen Kosten beteili
gen. Außerdem sollen Elternbeiträge in der Kindertagesbetreu
ung sozial gestaffelt sein.
10.000 Schulen fit für die Zukunft machen
Wir wollen dafür sorgen, dass der Schulerfolg endlich nicht mehr
durch die soziale Herkunft vorbestimmt wird. Individuelle Förde
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rung braucht Zeit und Raum. In inklusiven Ganztagsschulen
können alle Schüler*innen ihre Begabungen und Interessen in
Kunst, Kultur und Sport gut entwickeln. Längeres gemeinsames
Lernen hilft allen Schüler*innen. Wir fördern deshalb gezielt den
Auf- und Ausbau von Gesamt- beziehungsweise Gemeinschafts
schulen. Wir arbeiten weiter daran, das Kooperationsverbot auf
zuheben, sodass der Bund sich finanziell beteiligen kann, den
Aufbau von weiteren Ganztagsschulplätzen überall im Land an
zustoßen. Mit vier Milliarden Euro soll sich der Bund beteiligen.
Wir wollen finanzschwache Kommunen gezielt entlasten und den
enormen Sanierungsstau auflösen. Um Schulen zu sanieren, stel
len wir in den nächsten fünf Jahren zehn Milliarden Euro bereit
und machen damit 10.000 Schulen fit für die Zukunft. Wir wollen
Schulen auch für die digitale Zukunft fit machen. Schulen sollen
dann finanziell unterstützt werden, wenn sie stimmige pädagogi
sche Konzepte für digitales Lernen vorlegen. Wir unterstützen
Kommunen dabei, Raum für die vielen neuen Schüler*innen zu
schaffen. Der Bildungsföderalismus darf nicht vorgeschoben
werden, um wichtige Zukunftsinvestitionen zu verhindern.
Studieren besser finanzieren
Bildungsgerechtigkeit bedeutet für uns, allen Studienchancen zu
eröffnen. Jede*r muss unabhängig vom Geldbeutel der Eltern
und von der Herkunft studieren können. Wir wollen in einem ers
ten Schritt dafür sorgen, dass das BAföG künftig automatisch
und regelmäßig erhöht wird und eine ortsabhängige Wohnpau
schale enthält. So können Studierende steigende Lebenshal
tungskosten und Mieten schultern. Im zweiten Schritt wollen
wir die Studienfinanzierung zum Zwei Säulen Modell weiterent
wickeln. In der ersten Säule erhalten alle Studierenden einen
Studierendenzuschuss – einen gleich hohen Basisbetrag für alle.
Mit der zweiten Säule kommt ein individuell bemessener Be
darfszuschuss hinzu. Beides soll, anders als das jetzige BAföG,
nicht zurückgezahlt werden müssen.
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II. WIR KÄMPFEN FÜR BEZAHL
BARE WOHNUNGEN UND
LEBENSWERTE KOMMUNEN
Zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit, in Kindertagesstätten und
der Schule verbringen wir zusammen unser Leben. Vor Ort werden
unsere Alltagsfragen beantwortet. Ist der Weg zum Job schnell er
reichbar und die Miete bezahlbar? Ist die Ärztin, der Arzt nur einen
Katzensprung entfernt? Fährt der Bus alle fünf Minuten oder exis
tiert gar keine Haltestelle? Gibt es fußläufig eine Lieblingskneipe,
Kinos und ausreichend Sportstätten? Ist der Dorfladen ein naher
und beliebter Treffpunkt oder längst geschlossen? Kann man ein
fach mal losradeln, ohne Slalom durch Schlaglöcher fahren zu müs
sen? Diese Grundlagen des Alltags sorgen für Wohlbefinden oder
Frust. Sie prägen unser Zusammenleben und bestimmen, ob ein Ar
beitsplatz erreichbar und die Balance zwischen Familie und Arbeit
möglich ist und ob alle Menschen leben können, wie und wo sie
wollen. Sie entscheiden mit, ob Kinder gut aufwachsen, ob ein gu
tes Leben im Alter möglich ist und die Pflege reibungslos funktio
niert. Die Lebensqualität wird vom Angebot vor Ort entschieden,
egal ob auf dem Land oder in der Stadt. Unsere Wohnorte sollen
Teilhabe und Chancen im Alltag unabhängig vom eigenen Geldbeu
tel ermöglichen. Ein umfangreiches und hochwertiges öffentliches
Angebot vor Ort ist ein Sprungbrett ins gesellschaftliche Leben, ge
rade für Menschen ohne großen finanziellen Spielraum.
1. Heft des Handelns in die Hände vor Ort
Kein Ort gleicht dem anderen. Während viele Städte und Ballungs
räume sich neuer Bevölkerungszunahme und wachsendem Wirt
schaftsdruck stellen müssen, leiden viele Klein- und Mittelstädte
unter struktureller wirtschaftlicher Schwäche. Dadurch verstärken
sich nicht nur soziale Ungerechtigkeiten, sondern ebenso regionale
Ungleichheiten. Es gibt wohlhabende und finanzschwache, wach
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sende und halb verlassene, alte und junge Städte und Gemeinden –
oft in direkter Nachbarschaft. Bei aller Vielfalt vor Ort und der ge
meinsamen Aufgabe, einen eigenen Weg einzuschlagen, ist eines für
alle gleich: Städte und Gemeinden müssen das Heft des Handelns in
der Hand behalten. Nur so können sie autonom handeln und passend
entscheiden, wer das Busangebot stellt, bezahlbares Wohnen schafft
oder das Wasserwerk und das Stromnetz betreibt.
Öffentliche Museen und Theater, sanierte Schulen, gute Sport
plätze und intakte Quartiere sorgen an vielen Orten für eine hohe
Lebensqualität. Marode Turnhallen, geschlossene Büchereien und
Kultureinrichtungen sowie schimmelige Schwimmbäder konzen
trieren sich in anderen. Die Schere zwischen armen und reichen
Städten, Gemeinden, Kreisen und Nachbarschaften geht immer wei
ter auseinander. Wir GRÜNE wollen deshalb struktur und finanz
schwachen Kommunen unabhängig von der Himmelsrichtung unter
die Arme greifen. Unser Ziel ist eine angemessene finanzielle Aus
stattung für alle. Mit einem Altschuldenfonds ermöglichen wir hoch
verschuldeten Städten und Gemeinden einen Neustart. Spürbare
Entlastungen von Sozialausgaben erleichtern gerade struktur
schwachen Kommunen das tägliche Geschäft. Die Einnahmen wer
den wir mit der kommunalen Wirtschaftssteuer verlässlicher und
die Grundsteuer gerechter machen, um auch so flächensparendes
Bauen zu begünstigen und gegen Flächenverbrauch und Bauland
spekulationen vorzugehen. Der Bund und die Länder dürfen unsere
Städte und Gemeinden nicht mehr mit immer neuen Aufgaben be
lasten, ohne das nötige Geld dafür zur Verfügung zu stellen. Unser
Grundsatz lautet: Wer bestellt, bezahlt. Außerdem brauchen wir
viel mehr nachhaltige Investitionen. Seit Jahrzehnten fallen immer
wieder Sanierungen und Instandsetzungen von öffentlicher Infra
struktur dem Rotstift zum Opfer oder werden ohne ökologischen
und nachhaltigen Nutzen realisiert. Dieser Investitionsstau konzen
triert sich ausgerechnet auf die ohnehin finanziell gebeutelten
Kommunen. Mit unserem grünen Investitionsprogramm im zwei
stelligen Milliardenbereich wollen wir in einem ersten Schritt bei
der Sanierung von Schulen helfen, da hier in vielen Orten die Not
am größten ist. Außerdem wollen wir die Kommunen bei fairer Be
schaffung durch mehr Beratungsangebote unterstützen.
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2. Bezahlbares Wohnen für alle
Die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung mitten in der Stadt ist
vielerorts vergleichbar mit der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Wohnungen sind heiß begehrt und häufig entscheidet die Zahlkraft
über die oder den neue*n Mieter*in. Das ist heute in vielen Städten
zu einer der großen sozialen Herausforderungen geworden, die fast
jede*n betrifft. Gerade lebendige, bunte Stadtteile sind hip und
durch starke Nachfrage auf frei werdende Wohnungen von Gentrifi
zierung bedroht. Doch der Geldbeutel darf nicht darüber entschei
den, ob Freund*innen, Kindertagesstätte, Jobs und Familie von der
eigenen Wohnungstür aus schnell zu erreichen sind. Bezahlbares
Wohnen in angemessenen Wohnungen ist für uns alle existenziell.
Unsere Wohnungen dürfen keine Spekulationsobjekte sein. Wir
wollen vielfältige und lebendige Stadtteile. Wir wollen verhindern,
dass immer mehr Finanzinvestor*innen den Wohnraum in unseren
Städten kontrollieren und missbrauchen. Deshalb sind Immobilien
spekulationen uneingeschränkt zu besteuern.
Wir GRÜNE setzen uns für eine gemeinwohlorientierte Woh
nungspolitik ein. Dafür wollen wir eine Million Wohnungen bauen
und sozial binden, dauerhaft günstig, lebenswert und mittendrin.
Wir stecken wieder Geld in preiswerten Wohnraum, statt den Bau
von Luxusobjekten zu unterstützen. Wir fördern Wohnungen für
junge Familien und Menschen mit weniger Einkommen. Wir schaf
fen mehr barrierefreie Wohnungen, um alten Bürger*innen und
Menschen mit Behinderung den Weg ins Heim zu ersparen. Wir wol
len mit einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit faires, gutes und
günstiges Wohnen schaffen, Genossenschaften wiederbeleben und
den sozialen Wohnungsbau viel stärker fördern.
Außerdem werden wir GRÜNE auch Menschen mit kleinen und
mittleren Einkommen helfen, Anteile an Genossenschaften zu er
werben. Der Bund darf sich nicht länger als Immobilienspekulant
betätigen, sondern soll Liegenschaften vergünstigt an Kommunen
abgeben, auch zum Beispiel zur Weitergabe an gemeinwohlorien
tierte Träger, wenn das städtebaulich oder wohnungspolitisch er
forderlich ist. Denn Wohnen ist für uns ein Teil der öffentlichen Da
seinsvorsorge.
All das reicht aber noch lange nicht aus. Wir werden Mietsteige
rung begrenzen, die Praxis des Raussanierens bekämpfen und Ver
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drängung beenden. Daher werden wir Mietsteigerungen, dort, wo
Wohnraummangel herrscht, in bestehenden Mietverträgen und in
Milieuschutzgebieten stärker begrenzen. Eine richtige Mietpreis
bremse ohne Hintertür muss her. Wir wollen ein ökologisches und
soziales Mietrecht einführen, damit in guter Lage die klimafreundli
che, warme Wohnung bezahlbar bleibt. Wir wollen es Städten er
leichtern, ihr kommunales Vorkaufsrecht wahrzunehmen. Wir wer
den durch die Anhebung des Wohngeldes bedürftigen Menschen
zusätzlich unter die Arme greifen, den Kündigungsschutz wieder zu
einem Schutzinstrument machen und Mieter*innenschutzverbände
stärken. Wir wollen den Kommunen mit Wohnraummangel ermögli
chen, selbst zu entscheiden, wo sie die Umwandlung von Miet- in
Eigentumswohnungen unterbinden. Wir wollen kurze Wege, mehr
Grün in der Stadt und mehr Treffpunkte und Leben in den Quartie
ren durch Stadtteilzentren fördern. Wir wollen gemischte Quartiere
stärken und der Verdrängung von kleinteiligem Gewerbe vorbeugen
und dazu Gewerbemietspiegel ermöglichen. Wir wollen die Zusam
menarbeit zwischen den Städten und Gemeinden stärken. Die The
men Wohnen und Mobilität wollen wir zusammen denken und eine
verbesserte Anbindung des städtischen Umlandes erreichen. Wir
unterstützen urbane Gärten, Wohnprojekte, Baugemeinschaften,
Bürger*innenenergie und generationengerechtes Wohnen. Flächen
sparendes Bauen und kompakte Raumkonzepte wollen wir stärken,
den Flächenverbrauch auf der grünen Wiese eindämmen und mehr
nachwachsende und gesunde Baustoffe einsetzen. Das Baurecht
werden wir modernisieren und ein faires grünes Wärmepaket aufle
gen, um Ressourcen und das Klima zu schonen – und zwar für alle
bezahlbar. Für lebenswerte Städte und Dörfer mit Identität, für öf
fentliche Plätze, Straßen und Gebäude zum Wohlfühlen unterstüt
zen wir die Entwicklung der Baukultur in den Metropolen wie in den
ländlichen Räumen.
3. Ländliche Räume – lebenswert und zukunftsfähig
Günstiger Wohnraum, ein eigener Garten und der Badesee gleich
um die Ecke, wer erträumt sich das nicht? Keine gute Schule,
Einkaufsmöglichkeiten, Busanbindungen, Ausbildungsmöglichkei
ten oder Jobs, eine schlechtere soziale und ärztliche Versorgung
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sind leider allzu oft die Kehrseite der Medaille, wenn man auf dem
Land lebt. Doch auch die Orte, die nicht so sehr im Fokus stehen,
wollen wir erhalten, pflegen und gedeihen lassen.
Dabei stehen wir vor großen Herausforderungen, denn die Alte
rung der Gesellschaft ist im ländlichen Raum besonders stark zu
spüren. Es sind vor allem die Jüngeren, die nach der Schule ihr Dorf
oder ihre Kleinstadt verlassen. Ein Nebeneinander von wachsenden
Städten sowie Dörfern und Gemeinden, in denen immer weniger
Menschen leben, entsteht. Wir wollen die Möglichkeiten suchen
und nutzen, die sich aus den Umbrüchen und dem Wandel vor Ort
ergeben.
Wir wollen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Erholen von Be
ginn an in der gesamten Region zusammen denken und planen,
barrierefrei und generationengerecht. Wir wissen, wie das auch mit
knappen Ressourcen gelingen kann. Hierfür wollen wir einiges um
krempeln. Die Frage, wie ein Lebensweg verläuft, darf nicht der
geografische Zufall entscheiden. Das ist auch eine Frage von Ge
rechtigkeit. Viele Regionen treten trotz Fördergeldern auf der Stel
le oder drohen, abgekoppelt zu werden. Deshalb braucht es einen
Neustart in der Förderpolitik. Neben der bisherigen wirtschaftsbe
zogenen Strukturförderung durch EU, Bund und Länder brauchen
wir mehr Investitionen in unsere allgemeine Infrastruktur. Dazu
wollen wir die Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern auf
die Förderung der regionalen Daseinsvorsorge in strukturschwa
chen Regionen unabhängig von der Himmelsrichtung im Grundge
setz ausweiten.
Wir machen uns stark für lebendige Ortskerne, damit Innenstäd
te und Dorfkerne weiter Wohnorte bleiben. Wir wollen schnelles
Netz – überall; wie wir das machen, beschreiben wir im Kapitel „Wir
gestalten die Digitalisierung“. Ärzt*innen und Krankenhäuser müs
sen erreichbar sein. Deshalb wollen wir die „Gesundheitsversor
gung aus einer Hand“ stärken. Wir unterstützen auch auf dem Land
das Prinzip „kurze Beine, kurze Wege“. In ländlichen Zwergschulen
können Kinder gemeinsam in kleinen Klassen jahrgangsübergrei
fend lernen und werden ganztägig gut betreut. Wir wollen Vereine
und Jugendarbeit stärken und Angebote für Jugendliche, wie Ju
gendzentren, ausbauen und so in den Zusammenhalt investieren.
Kleinstbetriebe sollen zusammenarbeiten können, um auszubilden.
Damit der Fachkräftenachwuchs auf hochwertige Arbeits- und Aus
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bildungsplätze trifft, wollen wir regionale Wirtschaftskreisläufe in
Schwung bringen. Mit einer gezielten Förderung wollen wir insbe
sondere für Frauen neue Perspektiven schaffen. So bleibt die Wert
schöpfung vor Ort und wir können Regionen beleben, die heute
mehr und mehr verwaisen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Kommunen finanziell entlasten und strukturschwache
Regionen gezielt fördern
Die Schere zwischen armen und reichen Städten, Gemeinden
und Kreisen geht immer weiter auseinander. Wir wollen struktur-
und finanzschwachen Kommunen unter die Arme greifen. Wir
werden die Kommunen spürbar von den Sozialausgaben entlas
ten, indem wir insbesondere die Kosten der Unterkunft und Hei
zung schrittweise übernehmen und den Kommunen so das tägli
che Geschäft erleichtern. Wir ermöglichen hoch verschuldeten
Städten einen Neustart, indem wir übermäßig hohe Schulden in
einen gemeinsamen Fonds (Altschuldentilgungsfonds) überfüh
ren. Das entlastet sie von drückenden Zinsen. Die Einnahmen
wollen wir mit der kommunalen Wirtschaftssteuer verlässlicher
machen. Strukturschwache Regionen brauchen unsere Unter
stützung. Deshalb wollen wir einen Neustart in der Förderpolitik
durch die Schaffung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe Regio
nale Daseinsvorsorge.
Eine Million dauerhaft günstige Wohnungen
Wir brauchen einen Aufbruch für bezahlbares Wohnen. Die Zeit
des Verkaufs und der Spekulation mit Sozialwohnungen muss en
den. Wir wollen eine Million zusätzliche preiswerte Wohnungen.
Im Neubau wie im Bestand, dauerhaft günstig und lebenswert,
möglichst nicht auf der grünen Wiese, sondern innerhalb unserer
Städte und Dörfer. Mit dem Konzept der Neuen Wohnungsge
meinnützigkeit werden wir wieder Genossenschaften, kommunale
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Wohnungsunternehmen und private Investor*innen für den sozia
len Wohnungsbau gewinnen. Das Prinzip dabei ist: Zulagen und
Steuerförderung im Tausch gegen günstigen Wohnraum.
Mietpreise bremsen – für ein Mietrecht ohne Schlupflöcher
Die Mieten explodieren seit Jahren. Damit muss jetzt Schluss
sein. Die Mietpreisbremse ziehen wir endlich richtig an und
schaffen unnötige Ausnahmen ab. Niemand darf wegen Luxus
modernisierungen verdrängt werden. Die Modernisierungsumla
ge in ihrer jetzigen Form ist schädlich. Daher kappen und senken
wir sie deutlich ab und schaffen eine neue, faire Kostenvertei
lung. Der Mietspiegel soll die ökologische Gebäudequalität be
rücksichtigen und die Miethöhen über einen längeren Zeitraum
abbilden. Wir werden die Zeitspanne ohne Mieterhöhungen aus
weiten und Mieter*innenschutzverbände stärken. Wir verdop
peln das Wohngeld, passen es dynamisch an und berücksichti
gen die Heizkosten wieder. Zudem führen wir beim Wohngeld
einen Klimazuschuss für energetisch modernisierte Wohnungen
ein, damit auch Wohngeldempfänger*innen energieeffizient
wohnen können.
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III. WIR TEILEN DEN
WOHLSTAND GERECHTER
Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, wenn das Wohl
standsgefälle in der Bevölkerung zu hoch ist. Die Schere zwischen
Arm und Reich hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahr
zehnten zu weit geöffnet. Obwohl die Wirtschaft stets gewachsen
ist, sank das reale Einkommen von Geringverdiener*innen und
Teilen der Mittelschicht, die Einkommen und Vermögen der Top
verdiener*innen wuchsen dagegen deutlich. Wir GRÜNE wollen das
ändern und alle fair an Wohlstand und Lebensqualität beteiligen.
Niemand soll in Armut leben. Wohlhabende sollen einen fairen Bei
trag zum Gemeinwesen leisten.
Das Auseinanderdriften von Arm und Reich schafft wirtschaftli
che Probleme. Wenn Wohlstandsgewinne bei der Mehrheit der
Menschen nicht ankommen, ist das nicht nur ungerecht – es fehlen
auch kaufkräftige Kunden. Stattdessen fließt zu viel Geld auf den
globalen Finanzmarkt, wo schon zu oft durch spekulative Blasen,
überhitzte Immobilienmärkte und Finanzkrisen Wohlstand vernich
tet wurde.
Zu große Ungleichheit schadet einer demokratischen Gesell
schaft. Denn sie gibt wenigen Menschen zu viel Macht. Und sie ist
ungerecht, denn der Bezug von großem Reichtum zu gesellschaft-
lich anerkannter Leistung geht verloren, während viele Menschen
trotz harter Arbeit kaum über die Runden kommen. Hohe Einkom
men können sich durch besondere Leistung, Anstrengung und Ver
antwortung rechtfertigen. Aber wenn das Dividendeneinkommen
einzelner Großerb*innen höher ist als das Jahreseinkommen aller
Vorstandsvorsitzenden von DAX-Unternehmen zusammen, wenn
Manager*innen das Hundertfache ihrer Angestellten verdienen und
Pflegekräfte, Polizist*innen oder Erzieher*innen unterbezahlt sind,
dann läuft etwas falsch.
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Gerechtigkeit im Sinn
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1. Für eine Wende am Finanzmarkt
Entfesselte und aufgeblähte Finanzmärkte haben keinen Nutzen für
die Gesellschaft und verschärfen die Ungleichheit. Der Anteil der
Finanzgeschäfte an der Volkswirtschaft ist in den vergangenen drei
Jahrzehnten stark gestiegen. Viele davon haben keine sinnvolle
Funktion für die reale Wirtschaft, weil Beschäftigte, Unternehmen
oder Verbraucher*innen nichts davon haben. Doch wenn Spekulati
onsblasen platzen, zahlen sie die Zeche.
Seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 sind in Europa noch immer
Millionen Menschen ohne Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit in
einigen südeuropäischen Staaten beträgt über 40 Prozent. Mit Mil
liarden Euro wurden Banken gerettet, Staaten ächzen unter den
Schulden, Geld für öffentliche Investitionen fehlt. Die europäischen
Regierungen haben daraufhin leider viel zu zaghaft reagiert. Der
Finanzsektor bläht sich wieder auf, Immobilienpreise und Mieten
steigen, dem Staat entgehen weiterhin wichtige Mittel durch Steu
ertricks und Betrug. Europäische Banken sind weiter instabil, auch
Bausparkassen, Lebensversicherer oder Pensionskassen haben Pro
bleme.
Wir müssen die Finanzmärkte nach der Finanzkrise noch besser
regulieren, damit sie wieder der Gesellschaft und der Realwirt
schaft dienen, sinnvoll die Investitionen in einer Volkswirtschaft
lenken und den Menschen vernünftige Geldanlagen ermöglichen.
Auch für die ökologische Modernisierung sind starke Finanzmärkte
von großer Bedeutung. Statt der derzeit sehr komplexen wollen wir
einfachere, aber härtere Regeln. Große Banken werden so gehin
dert, diese durch findige Tricks zu umgehen. Für kleine, regional
agierende Kreditinstitute wollen wir den bürokratischen Aufwand
reduzieren. Wir GRÜNE fordern außerdem eine Schuldenbremse für
Banken, damit sie selbst für ihre Verluste einstehen können. Auch
Versicherungen brauchen mehr Eigenkapital und für ihre Stabili
sierung sollen nicht nur Kund*innen, sondern auch ihre Eigen
tümer*innen herangezogen werden. Für Schattenbanken sind viel
strengere Regeln nötig. Den Hochfrequenzhandel werden wir mit
einer Finanztransaktionssteuer und geeigneten Marktregeln aus-
bremsen, damit langfristig orientierte Akteur*innen am Finanz
markt nicht geschädigt werden. Der Staat muss auch den Vertrieb
von schädlichen oder intransparenten Anlageprodukten verbieten.
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Zu große Banken sind eine Gefahr für die Realwirtschaft, da wir
sie nicht ohne Schaden für alle abwickeln können. Deshalb brau
chen wir eine stärkere Fusionskontrolle, die auch das sogenannte
„Too big to fail“-Kriterium berücksichtigt. Für Banken, die bereits zu
groß sind, wollen wir ein Trennbankensystem einführen, sodass das
Einlagengeschäft vom krisenanfälligen Handelsgeschäft getrennt
wird. Als Ultima Ratio muss für solche Banken auch eine Entflech
tung möglich sein. Verbraucher*innen müssen besser vor undurch
sichtigen und gefährlichen Finanzprodukten geschützt werden. Die
provisionsgetriebene Beratung wollen wir verbieten und einen
Umstieg zur Honorarberatung organisieren ( K Kapitel: Wir machen
Verbraucherinnen und Verbraucher stark, S. 157).
2. Für faire Löhne – Arbeit soll sich für alle lohnen
Die Kapitaleinkommen sind in den vergangenen Jahren stark gestie
gen, während die Arbeitseinkommen über viele Jahre weitgehend
stagnierten. Zuletzt sind die Reallöhne zwar wieder gestiegen, aber
es muss jetzt darum gehen, diese Tendenz zu verstetigen. Dafür
wollen wir das Tarifsystem wieder stärken. Tarifverträge sollten
einfacher allgemein verbindlich für alle Betriebe einer Branche gel
ten. Davon profitieren Beschäftigte und Arbeitgeber*innen glei
chermaßen.
Vorstände in großen Unternehmen konnten in den vergan
genen Jahren sehr hohe Gehaltssteigerungen durchsetzen. Das
Verhältnis zwischen ihren Einkommen und normalen Löhnen ist
inzwischen oft unverhältnismäßig zur Leistung. Diesem Trend
wollen wir entgegenwirken, indem wir die Rechte der Aktio
när*innen stärken. So wollen wir, dass Unternehmen verpflichtend
die Vorstandsvergütung in Relation zur Normalbelegschaft veröf
fentlichen müssen.
Die Mitfinanzierung von überhöhten Gehältern, Abfindungen
und Versorgungszusagen durch die Bürgerinnen und Bürger wollen
wir begrenzen. Die steuerliche Abzugsfähigkeit von Abfindungen
wollen wir daher bei einer Million Euro pro Kopf deckeln, jene von
Gehältern bei 500.000 Euro pro Jahr und Kopf. Das ist etwa das
30-Fache des Mindestlohns. Erfolgsbeteiligungen sollen grund
sätzlich an den langfristigen Erfolg des Unternehmens anknüpfen.
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Gleichzeitig sind bei Geringverdiener*innen die Löhne in den
vergangenen Jahrzehnten real gesunken. Der eingeführte Mindest
lohn war ein wichtiger Etappensieg. Er muss ausnahmslos für alle
Angestellten gelten. Damit Geringverdienende mehr im Geldbeutel
haben, wollen wir sie bei den Sozialabgaben entlasten. Viele Milli
onen Menschen arbeiten in Leiharbeit oder befristet. Was im Sinne
der Flexibilität gelegentlich sinnvoll sein kann, wird oft miss
braucht, um Löhne dauerhaft zu senken. Den Trend zu immer mehr
unsicheren Jobs wollen wir GRÜNE umkehren. Ohne guten sachli
chen Grund sollten Jobs nicht mehr befristet werden können und
Leiharbeit ab dem ersten Tag gleich bezahlt werden – plus Flexibi
litätsprämie.
Ein selbstbestimmtes Leben darf auch keine Frage des Ge
schlechts sein. Wir GRÜNE wollen, dass Frauen und Männer endlich
die gleichen Karrierechancen haben und gleiche Löhne für gleiche
und gleichwertige Arbeit erhalten. Wir setzen uns für ein echtes
Entgeltgleichheitsgesetz, die bessere Bezahlung von typischen
Frauenberufen sowie eine funktionierende Frauenquote ein.
Minijobs wollen wir in sozialversicherungspflichtige Jobs um
wandeln und dafür sorgen, dass die Beiträge durch Steuern, Abga
ben und soziale Leistungen so aufeinander abgestimmt werden,
dass sich Erwerbsarbeit immer rechnet. Dabei darf die Belastung
mit Steuern und Abgaben nicht sprunghaft steigen. So wird es at
traktiver, mehr als nur geringfügig zu arbeiten.
3. Für eine faire und ausgleichende Steuerpolitik
Steuern finanzieren unser Gemeinwesen. Sicherheit, Infrastruktur
und Bildung sind Voraussetzungen für eine funktionierende Gesell
schaft. Von ihnen profitiert auch unsere Wirtschaft. Die aktuell ent
spannte gesamtstaatliche Haushaltssituation ist bedingt durch his
torisch niedrige Zinsen und den hohen Beschäftigungsstand. Sie
darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass strukturelle Risiken weiter
bestehen. Um den Investitionsstau in unserem Land aufzulösen,
braucht es deshalb größere finanzielle Spielräume – insbesondere
für die Kommunen.
Ein gerechtes Steuersystem sorgt dafür, dass alle nach ihrer
Leistungskraft zu einer intakten und funktionierenden Gesellschaft
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beitragen. Hier liegt in Deutschland jedoch einiges im Argen. Arbeit
wird bei uns häufig höher besteuert als Zinsen und Renditen. Das
wollen wir GRÜNE ändern. Die ungleiche Besteuerung von Kapital
erträgen zu allen übrigen Einkünften wollen wir beseitigen, indem
diese Erträge wieder dem normalen, persönlichen Einkommens
steuersatz unterliegen.
Noch immer gehen uns hohe Steuereinnahmen verloren. Mit ag
gressiven Steuertricks, dem Bankgeheimnis und den Steuerdum
pingländern gibt es gerade für Superreiche zu viele Möglichkeiten,
sich der Steuerverantwortung zu entziehen. Dieser Praxis sagen wir
den Kampf an. Es darf keine anonymen Briefkastenfirmen mehr ge
ben. Geschäfte in Steuersümpfen, die Steuerbetrug systematisch
unterstützen, werden wir sanktionieren. Steuerliche Vorteile durch
Wohnsitzverlagerungen ins Ausland wollen wir beenden.
Auch Steuervermeidung wollen wir angehen. Alle international
tätigen Unternehmen sollen ab einer gewissen Größe ihre Gewinne
und Steuerzahlungen nach Staaten offenlegen, damit sichtbar wird,
wenn Konzerne wie Starbucks, Apple oder Google ihre Gewinne so
verschieben, dass sie in den Ländern, in denen sie gute Geschäfte
machen, keine Steuern zahlen. Tricksereien mit Lizenzgebühren und
Zinsen wollen wir unterbinden. Banken tragen in diesem Zusam
menhang eine besondere Verantwortung und dürfen weder direkt
noch indirekt durch entsprechende Beratung an der Steuerumge
hung beteiligt sein. So stärken wir auch unseren Mittelstand. Es
herrscht kein fairer Wettbewerb, wenn Amazon weniger Steuern
zahlt als der oder die Buchhändler*in um die Ecke.
Auch Vermögende können mehr zu unserem Gemeinwesen bei
tragen. Wir GRÜNE wollen eine verfassungsfeste, ergiebige und um
setzbare Vermögenssteuer für Superreiche. Selbstverständlich le
gen wir dabei besonderen Wert auf den Erhalt von Arbeitsplätzen
und die Innovationskraft von Unternehmen. Die Große Koalition hat
die Erbschaftssteuer komplizierter und nicht gerechter gemacht.
Sollte sie abermals vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern,
werden wir ein einfaches und gerechtes Erbschaftssteuermodell
entwickeln, das mit dem Grundgesetz übereinstimmt.
Wir wollen kleine und mittlere Einkommen durch eine Erhöhung
des Grundfreibetrags entlasten und zur Gegenfinanzierung den
Spitzensteuersatz oberhalb von 100.000 Euro an zu versteuerndem
Single-Einkommen erhöhen. Für Mittelstand, Selbständige und
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Arbeitnehmer*innen wollen wir das Steuersystem gleichzeitig ver
einfachen, um sie dadurch zu entlasten. Der Aufwand durch die
Buchführungs und Steuererklärungspflichten ist in den letzten
Jahren kontinuierlich gestiegen. Gerade Klein- und Jungunterneh
mer*innen wollen wir entlasten, damit sie im Wettbewerb bessere
Chancen haben. Dazu gehören erhöhte Abschreibungsgrenzen für
geringwertige Wirtschaftsgüter sowie eine Vereinfachung bei der
Umsatzsteuer mit Blick auf die aufwendigen Verfahren beim Handel
innerhalb der EU. Zusätzlich wollen wir prüfen, ob die Kleinunter
nehmer*innengrenze bei der Umsatzsteuer und der Gewerbesteuer
freibetrag angemessen angehoben werden sollten.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Schuldenbremse für Banken – Schattenbanken regulieren
Wenn eine Bank in Schieflage gerät, dann dürfen nicht länger die
Steuerzahler*innen die Last tragen. Wir wollen eine einfache,
aber harte Eigenkapitalquote, die Banken verpflichtet, ihre Ge
schäfte mit mehr Eigenkapital zu finanzieren. Diese soll schritt
weise angehoben werden und mittelfristig 10 Prozent des ge
samten Geschäftsvolumens umfassen. So können sie für ihre
Risiken besser selbst einstehen. Damit risikoreiche Anlagen
nicht länger aus dem regulierten Bereich ausgelagert werden
können, muss der Schattenbankensektor analog zum regulären
Bankensektor klare Regeln erhalten. Alle Gesellschaften, die im
weiteren Sinne Bankgeschäfte betreiben, müssen den gleichen
Regeln unterliegen wie Kreditinstitute.
Steuersümpfe trockenlegen – weltweite Regeln gegen
Steuervermeidung
Panama Papers, Offshore- oder Luxemburg-Leaks – wir nehmen
nicht hin, dass Konzerne und Superreiche mithilfe von Bankge
heimnis, Steuerdumpingländern und anderen Steuerlücken ihren
Beitrag zum Gemeinwohl unterschlagen. Darum kämpfen wir für
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ein international verbindliches Regelwerk, das Mindeststan
dards für die Steuerpflichten von Unternehmen und Staaten
setzt. Auch zu Hause werden wir aktiv: Banken und Kanzleien
untersagen wir Geschäfte mit unkooperativen Ländern, interna
tionale Konzerne müssen ihre Gewinne nach Ländern aufschlüs
seln und Briefkastenfirmen entziehen wir durch ein Transparenz
register die Grundlage. So sorgen wir dafür, dass alle Unternehmen
ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahrnehmen und ihren
steuerlichen Beitrag leisten – der internationale Kaffeekonzern
ebenso, wie es heute schon der oder die Bäcker*in an der Ecke tut.
Mehr für das Gemeinwohl – Superreiche in die
Verantwortung nehmen
Wir wollen nicht, dass sich Superreiche und Spitzenmana
ger*innen von der Gesellschaft abkoppeln. Zu oft verliert die
Vergütung von Manager*innen den Bezug zum eigenen Beitrag
und zu den Durchschnittsverdiener*innen. Wir setzen ein klares
Stoppsignal: Zukünftig sollen Unternehmen nur noch maximal
500.000 Euro pro Kopf von der Steuer absetzen können. Auch
weil Manager*innengehälter zulasten der Allgemeinheit gehen,
wenn Unternehmen die Zahlungen als Betriebsausgaben abset
zen. Außerdem braucht es eine verfassungsfeste, ergiebige und
umsetzbare Vermögenssteuer für Superreiche, denn in wenigen
Ländern Europas sind die Vermögen so ungleich verteilt wie in
Deutschland. Selbstverständlich legen wir dabei besonderen
Wert auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Innovationskraft
von Unternehmen. Denn wir wollen, dass alle einen fairen Bei
trag leisten, wenn unser Gemeinwesen finanziert wird und Zu
kunftsinvestitionen getätigt werden.
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IV. WIR MACHEN DEN
SOZIALSTAAT SICHER
UND ZUKUNFTSFEST
Gesund bleiben, auch im Alter würdig und selbstbestimmt leben, bis
zuletzt. Einen Platz in der Gesellschaft finden: All das schaffen wir
nicht allein. Nur zusammen und solidarisch können wir einander
soziale Sicherheit geben, uns bei Krankheit, Armut oder Verlust
des Arbeitsplatzes gegenseitig zur Seite stehen. Unser Ziel: Alle
Bürgerinnen und Bürger sollen gegen die großen Risiken des Lebens
gut abgesichert sein – zu fairen und gerechten Bedingungen.
Unsere sozialen Sicherungssysteme leisten viel, gerade auch im
internationalen Vergleich. Aber wir müssen dafür sorgen, dass der
Sozialstaat sein Versprechen auf Sicherheit auch in Zukunft noch
einlösen kann und dass es dabei gerecht zugeht. Digitalisierung,
Globalisierung und demografischer Wandel sind und bleiben große
Herausforderungen. Viele Menschen machen sich zu Recht Gedan
ken darüber, ob die Rente für einen guten Ruhestand reicht oder ob
beim Jobverlust Armut droht. Wenn Menschen den Abstieg fürch
ten, ist das Gift für den sozialen Zusammenhalt. Deshalb ist soziale
Sicherheit eine Bedingung für den inneren Frieden. Sie ist auch eine
Voraussetzung für Kreativität und Lebensmut. Denn wer verunsi
chert ist, kann nicht frei aufspielen. Gerade weil wir außen-, gesell
schafts- und wirtschaftspolitisch in unruhigen Zeiten leben, ist
soziale Sicherheit wichtiger denn je. Solidarität ist das Rückgrat un
serer Gesellschaft. Doch es gibt Gruppen, die sind schlecht abgesi
chert: kleine Selbständige mit unsteten Lebensläufen, Frauen ohne
eigene Rentenansprüche, niedrig Entlohnte ohne Geld für die Al
tersvorsorge. Die Angleichung der Renten Ost an die Renten West
treiben wir weiter voran. Dabei werden wir auch die Interessen der
zukünftigen Rentnerinnen und Rentner in allen Teilen des Landes
im Blick behalten. Wir müssen den Sozialstaat verbessern, damit er
sein Sicherheitsversprechen für alle halten kann.
Wie soziale Sicherung auch im Zuge der Digitalisierung und
aufgrund des demografischen Wandels nachhaltig, solidarisch und
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armutsfest organisiert werden kann, ist eine der großen Herausfor
derungen der Zukunft. Wir wollen eine breite gesellschaftliche De
batte vorantreiben und Fragen von einer Einführung eines bedin
gungslosen Grundeinkommens, das gesellschaftliche Teilhabe er
möglicht, über die Frage einer Wertschöpfungsabgabe bis hin zu
institutionellen Reformen der Sicherungssysteme in den Blick neh
men. Viele von unseren Vorschlägen von der Kindergrundsicherung
bis zur Garantierente wurden auch von dem Vorschlag eines Grund
einkommens beeinflusst. Wir wollen diese Ideen weiterdiskutieren.
Wir brauchen Antworten auf bisher nicht geklärte Fragen. Dabei
wollen wir auch Erfahrungen aus anderen Ländern berücksichtigen
und das Grundeinkommen in einem Modellprojekt erproben.
1. Wie die Rente wirklich sicher wird
Um die Rente wieder sicher und verlässlich, nachhaltig und genera
tionengerecht zu machen, setzen wir uns dafür ein, das Drei-Säulen
System der Alterssicherung auf eine solide Basis zu stellen. In erster
Linie stärken wir die erste Säule, die gesetzliche Rentenversiche
rung. Denn sie ist und bleibt die wichtigste Säule, der Altersvorsor
ge. Durch die Rentenreformen der vergangenen Jahre ist das Ren
tenniveau gesunken. Eine Stabilisierung ist dringend notwendig.
Das heutige – gegenüber dem Jahr 1998 bereits erheblich abge
senkte – Rentenniveau sollte nicht weiter fallen. Dabei müssen
Rentenniveau und Beitragssatz in einem angemessenen Verhältnis
stehen, damit auch die junge Generation weiter in die gesetzliche
Rente vertrauen kann. Wer viele Jahre eingezahlt hat, soll von sei
ner Rente auch leben können. Mit der Garantierente wollen wir für
alle Menschen, die den größten Teil ihres Lebens rentenversichert
waren, gearbeitet, Kinder erzogen oder andere Menschen gepflegt
haben, ein Mindestniveau in der Rentenversicherung einführen. Die
Garantierente ist steuerfinanziert und die Höhe wird oberhalb der
Grundsicherung liegen. Es findet keine Bedürftigkeitsprüfung statt
und betriebliche und private Altersvorsorge wird nicht angerech
net. Um die gesetzliche Rente finanziell und solidarisch breiter auf
zustellen, wollen wir versicherungsfremde Leistungen aus Steuern
bezahlen und die Beschäftigungsbedingungen gerade für Frauen so
verbessern, dass sie öfter und gleichberechtigt erwerbstätig sind.
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Wir wollen den ersten Schritt zur Bürger*innenversicherung
gehen und hierfür die nicht anderweitig abgesicherten Selbständi
gen, Minijobber*innen und Abgeordnete in die gesetzliche Renten
versicherung einbeziehen. Auch Langzeitarbeitslose sollen wieder
versichert werden. Für die Selbständigen und insbesondere die
Existenzgründer*innen wird es Übergangsregelungen geben. Zu
dem wollen wir Selbständigen mit Beitragsrückständen bei der
Krankenversicherung helfen und Schulden erlassen. In einem spä
teren Schritt wollen wir auch Freiberufler*innen und Beamt*innen
in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Hierfür werden
wir mit den Ländern zusammenarbeiten. Bereits erworbene An
wartschaften auf Versorgung und bestehende Beamtenverhältnisse
bleiben dabei aus Gründen des Vertrauensschutzes unberührt.
Grundsätzlich halten wir an der Rente mit 67 fest. Wir wollen es
Menschen aber leichter machen, selbst darüber zu entscheiden,
wann sie in Rente gehen wollen. Dazu fördern wir eine echte Alters
teilzeit durch eine attraktive Teilrente ab 60 Jahren, die insbesonde
re Arbeitnehmer*innen in belastenden Berufen zugutekommt. Für
Menschen, die länger arbeiten wollen, soll sich das lohnen. Damit
sie eine höhere Rente erhalten, führen wir einfache Hinzuverdienst
regeln ein und erleichtern es, Teilrente und Erwerbseinkommen zu
kombinieren. So erleichtern wir es Menschen, selbst zu bestimmen,
wann sie in Rente gehen. Arbeitnehmer*innen, die nicht mehr arbei
ten können, sollen nicht länger auch noch dafür bestraft werden,
deshalb schaffen wir die Abschläge bei der Erwerbsminderungs
rente ab.
Neben der gesetzlichen Rente wollen wir auch die private und
betriebliche Altersvorsorge stärken. Kapitalgedeckte Altersvorsor
ge kann zu einem Bruchteil der Kosten und mit einer deutlich höhe
ren Rendite als in Deutschland durchgeführt werden. Wir wollen
deshalb einen Bürger*innenfonds in öffentlicher Verwaltung ein
führen und diesen sowohl für die betriebliche wie auch die private
Vorsorge öffnen. Bei hinreichender Größe kann die laufende Ver
waltungsgebühr sehr gering sein. Die Sparleistung der Menschen
kann so fast vollständig in die Altersvorsorge gehen. Der
Bürger*innenfonds soll nachhaltig investieren und dabei soziale
und ökologische Belange berücksichtigen.
Alle Arbeitgeber*innen sollen künftig ihren Beschäftigten eine
Betriebsrente anbieten und sie mit einem eigenen Arbeitge
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ber*innenbeitrag unterstützen. Kleinen Betrieben erleichtern wir
dies mit einer Änderung der Haftungsregeln. Wenn sie diese nicht
im eigenen Betrieb oder überbetrieblich organisieren, soll sie unbü
rokratisch über den Bürger*innenfonds durchgeführt werden kön
nen. Die Arbeitnehmer*innen sind nicht verpflichtet, das Angebot
ihrer Arbeitgeber*innen anzunehmen. Die öffentliche Förderung
der privaten Altersvorsorge soll in Zukunft vor allem Geringverdie
nenden zugutekommen. Die Entgeltumwandlung lehnen wir ab,
weil sie die gesetzliche Rente schwächt.
Viele Frauen sind von Armut im Alter bedroht. Sie leisten
mehr Erziehungs- und Pflegearbeit, arbeiten oft in Teilzeit oder in
schlecht bezahlten Branchen und erwerben weniger Rentenansprü
che. Für Frauen muss es einfacher werden, sich durch Erwerbsarbeit
selbst besser abzusichern. Mit guten Angeboten für die Kinderbe
treuung, einer Umwandlung der Minijobs in sozialversicherungs
pflichtige Beschäftigung, einem Rückkehrrecht auf Vollzeit, einer
echten Pflegezeit, einer fairen Abbildung von Pflegezeiten bei der
Rente und mit gleichem Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit
können wir die Rentenlücke für Frauen mittelfristig schließen. Auch
die Anrechnung von Aufwandsentschädigungen für Ehrenämter auf
die Rente werden wir neu ordnen.
Wir wollen die Benachteiligung der jüdischen Zuwanderinnen
und Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gegenüber Spät
aussiedlerinnen und Spätaussiedlern im Rentenrecht beenden.
2. Gesundheit solidarisch für alle – raus aus der
Zwei-Klassen-Medizin
Gesundheit und Pflege sind Teil der Daseinsvorsorge. Die Patientin
nen und Patienten gehören in den Mittelpunkt, an ihren Bedürfnissen
muss sich die Versorgung ausrichten. Wir wollen eine qualitativ
hochwertige, wohnortnahe Versorgung unabhängig von Alter, Ein
kommen, Geschlecht, Herkunft und Behinderung sicherstellen, re
gionale Über- und Unterversorgung gleichermaßen korrigieren. Um
zum Beispiel auch dünner besiedelte Regionen besser zu versorgen,
brauchen Kommunen und Regionen mehr Einfluss und sollten inno
vative Lösungen, wie die Gründung von lokalen Gesundheitszent
ren vorantreiben. Stationäre und ambulante Versorgung sind stark
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voneinander getrennt, was viele Nachteile für Patientinnen und Pati
enten hat. Wir wollen eine bessere Vernetzung, Koordination und
Zusammenarbeit aller im Gesundheitswesen und eine gemeinsame
Planung ambulanter und stationärer Leistungen.
Wir stärken die Patient*innenverbände und die Selbsthilfe. Wir
wollen eine Patient*innenstiftung, einen Härtefallfonds für Be
handlungsfehler und eine unabhängige Patient*innenberatung. Un
ser Ziel ist eine Primärversorgung, in der insbesondere Haus- und
Kinderärzt*innen sowie Angehörige weiterer Gesundheitsberufe
auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Deshalb setzen wir uns auch für
eine stärkere interdisziplinäre Ausbildung und eine Aufwertung der
Allgemeinmedizin ein.
Wir sollten aber nicht erst handeln, wenn die Krankheit schon da
ist. Das Gesundheitswesen muss Gesundheit besser fördern: Von
der Kindertagesstätte über die Schule bis zum Arbeitsleben und
dem Leben im Alter sollte ein gesundes Leben ermöglicht und un
terstützt werden. Geschlechtsspezifische Aspekte müssen in unse
rem Gesundheitswesen stärkere Beachtung finden.
Jedoch erleben wir heute in Deutschland eine Zwei-Klassen-Me
dizin. Gesetzlich Versicherte bekommen später einen Termin bei
Fachärztin oder Facharzt als privat Versicherte. Ärztinnen und Ärzte
lassen sich vor allem dort nieder, wo sie attraktive Lebens- und
Arbeitsbedingungen finden. In der privaten Krankenversicherung
(PKV) zahlen Alte und Kranke mehr als Junge und Gesunde. Oft sind
Versicherte durch die hohen Beiträge in der PKV schnell überfor
dert. Gleichzeitig werden viele Gutverdiener*innen in der PKV nicht
an der Solidarität mit den sozial Benachteiligten beteiligt. Das
übernehmen die gesetzlich Versicherten, also vor allem die mit ge
ringen und mittleren Einkommen. Ein solches System ist ungerecht
und nicht solidarisch.
Wir GRÜNE wollen die gesetzliche und private Krankenversiche
rung zu einer Bürger*innenversicherung weiterentwickeln. Alle
Bürger*innen, auch Beamt*innen, Selbständige und Gutverdienen
de, beteiligen sich. Auf Aktiengewinne und Kapitaleinkünfte wer
den ebenfalls Beiträge erhoben. Arbeitgeber*innen und Arbeitneh
mer*innen übernehmen wieder jeweils die Hälfte des Beitrags und
die bisher allein von den Arbeitnehmer*innen getragenen Zusatz
beiträge werden wieder abgeschafft. Bei den Arzthonoraren soll
nicht mehr zwischen gesetzlich und privat Versicherten unter
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schieden werden. Zuzahlungen für Medikamente und andere Selbst
beteiligungen wollen wir abschaffen. Mit der Bürger*innenversich
erung wäre Gesundheit stabil, zukunftsfest und fair finanziert und
alle Kassen würden auf Grundlage eines weniger manipulationsan
fälligen Risikoausgleichs um die beste Versorgung konkurrieren.
Wir wollen Menschen in psychischen Krisen möglichst frühzeitig
die passende Unterstützung und Therapie zukommen lassen, die
Hilfen vor Ort besser aufeinander abstimmen und die Prävention
ausbauen. Darüber hinaus ist die bessere Erforschung von alterna
tivmedizinischen Verfahren mit anerkannten Methoden erforder
lich. Wir wollen einen möglichst großen Infektionsschutz der Be
völkerung, auch im Interesse derjenigen, die nicht geimpft werden
können. Dafür setzen wir auf freiwillige Beratung und bessere In
formation.
Gute Versorgung erfordert ausreichendes Personal. Dazu setzen
wir uns für bundesweit verbindliche Bemessungsinstrumente bei
den Personalbesetzungen in der Pflege ein. Dadurch wird die Arbeit
wieder attraktiver. Ebensolche Regelungen braucht es in der Alten
pflege. Um die Qualität der Versorgung zu verbessern, streben
wir auch bei Berufsgruppen wie Hebammen und Entbindungs
pfleger*innen im Krankenhaus Regelungen für eine ausreichende
Personalbesetzung an. Die Geburtshilfe wollen wir stärken und
insbesondere bei angestellten und freiberuflichen Hebammen und
Entbindungspfleger*innen für eine bessere Vergütung sorgen. Wir
wollen darauf hinwirken, dass im Rahmen der Selbstverwaltung die
beteiligten Institutionen neue Vergütungsmodelle zur Stärkung der
physiologischen Geburt und Selbstbestimmung der Frauen sowie
zur Senkung der Kaiserschnittrate erarbeiten. Freiberufliche Heb
ammen brauchen eine dauerhafte Lösung für die hohen Beiträge
der Haftpflichtversicherung. Hierfür wollen wir eine gesetzliche
Haftpflichtversicherung für Hebammen und die anderen Gesund
heitsberufe.
Wir setzen uns ein für eine gute, zahlenmäßig ausreichende und
kostenlose Ausbildung aller Gesundheitsberufe, beispielsweise in
der Altenpflege, Physio oder Ergotherapie, Logopädie und für Heb
ammen. Zudem wollen wir die Psychotherapeut*innenausbildung
reformieren, auch um eine angemessene Ausbildungsvergütung zu
ermöglichen. Außerdem fordern wir bessere Mitspracherechte für
die Pflege und die anderen Gesundheitsberufe in den Gremien der
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Selbstverwaltung, damit sie mit ihren Erfahrungen und ihrem Wis
sen zu einer guten Weiterentwicklung des Pflege und Gesundheits
systems beitragen können.
Es bedarf zusätzlicher Ausbildungsplätze für die Gesundheits
berufe an Hochschulen und Universitäten, auch für Ärztinnen und
Ärzte. Zur Finanzierung müssen Bund und Länder zusammenarbei
ten. Viele Krankenhäuser leiden unter Finanzierungsproblemen.
Universitätskliniken benötigen aufgrund der spezialisierten Patien
t*innenversorgung eine solidere Vergütung. Wir wollen in allen Re
gionen eine bedarfsgerechte stationäre Versorgung sicherstellen.
Mit einer Reform wollen wir Qualität verbessern, Fehlanreizen zur
Leistungsausdehnung entgegenwirken und die Investitionsfinan
zierung auf die Schultern von Ländern und Krankenkassen verteilt
neu aufstellen. Die Notfallversorgung in Deutschland wollen wir
reformieren, damit Patient*innen adäquat versorgt werden. Die Di
gitalisierung kann im Gesundheitswesen vieles verbessern, etwa
für chronisch Kranke. Patient*innen brauchen dabei selbstbestimm
ten Zugang zu ihren Daten und einen höchstmöglichen Daten
schutz. Alle Patient*innen sollen einen Anspruch auf eine sichere
und vernetzte elektronische Patient*innenakte erhalten.
3. Gute Pflege – selbstbestimmt und würdig
Heute noch leisten pflegende Angehörige einen sehr hohen Anteil
an der Pflege und Sorgearbeit. Auch aufgrund des demografischen
Wandels wird dieses Potenzial zukünftig weniger werden. Ein ver
lässliches Wohn und Pflegeangebot, bei Bedarf auch „rund um die
Uhr“, ist immer stärker gefragt. Statt weiterer Großeinrichtungen
setzen wir dabei auf einen umfassenden Ausbau an ambulanten
Wohn und Pflegeformen. Notwendig sind auch Tages , Nacht und
Kurzzeitpflege sowie Einrichtungen wie Quartierstützpunkte oder
Nachbarschaftszentren, die auch „rund um die Uhr“ eine Pflege und
Unterstützung sichern. Dabei müssen die unterschiedlichen kultu
rellen, religiösen, sexuellen oder geschlechtsspezifischen Iden
titäten der Menschen Eingang in die Gestaltung der sozialen Infra
struktur und Pflegekonzepte vor Ort finden.
Ebenso wollen wir die Wohn und Pflegesituation für die Bewoh
nerinnen und Bewohner in den bestehenden Einrichtungen deutlich
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verbessern. Beim Aufbau von Hilfenetzen wollen wir die Kommu
nen unterstützen und ihnen mehr Rechte geben, selbst aktiv zu
werden. Wir wollen, dass die Angebote vor Ort Familien entlasten
und dass auch Menschen mit kleiner Rente die Hilfe bekommen, die
sie brauchen. Damit pflegebedürftige Menschen und ihre Angehöri
gen das für sie passende Angebot finden, schaffen wir einen Rechts
anspruch auf unabhängige Beratung durch Fallmanager*innen.
Menschen, die Verwandte oder Freundinnen und Freunde pfle
gen, wollen wir darüber hinaus besser unterstützen. Dafür schlagen
wir die dreimonatige PflegeZeit Plus und jährlich zehn Tage für aku
te Notsituationen vor. Pflegende erhalten eine Lohnersatzleistung
und werden von der Arbeit freigestellt.
Pflegerinnen und Pfleger müssen besser bezahlt werden. Durch
ausreichendes Personal wollen wir Überlastung vermeiden. Der
Pflegeberuf muss aufgewertet und die Arbeitsbedingungen verbes
sert werden. Eine gemeinsame Pflegeausbildung ist dabei ein wich
tiger Schritt. Dabei muss sichergestellt sein, dass das Ziel ohne Ver
lust bisher bestehender spezifischer Kompetenzen und ohne Verlust
von Ausbildungskapazitäten erreicht werden kann. Und wir treten
in den Dialog mit den Akteur*innen in der Pflege über neue Wege,
die Qualität in der Pflege zu sichern, zum Beispiel auch mit einem
unabhängigen Institut für Qualität in der Pflege. Schließlich wollen
wir auch die Pflegeversicherung zu einer Bürger*innenversicherung
machen und so langfristig ausreichend finanzieren.
Zu einer guten Pflege gehört auch, Sterbenden ein Lebensende
in Würde zu ermöglichen. Einen wichtigen Beitrag hierfür leisten
die Hospizbewegung und die Palliativversorgung, deren Rahmen
bedingungen wir verbessern wollen.
4. Schutz vor Armut, Unterstützung bei Arbeitslosigkeit
Die Grundsicherung muss das soziokulturelle Existenzminimum für
alle gewährleisten. Das verlangt die Würde des Menschen. Der Re
gelsatz des Arbeitslosengeldes II muss so berechnet und erhöht
werden, dass man menschenwürdig davon leben kann, soziale und
kulturelle Teilhabe möglich ist. Die Kinderregelsätze müssen sach
gerecht ermittelt werden, damit alle Kinder wirklich teilhaben
können. Für die Stromkosten wollen wir eine gesonderte Pauschale
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
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einführen und die Übernahme der angemessenen Wohnkosten si
cherstellen. Auch unvermeidlich nötige größere Anschaffungen,
wie Waschmaschinen, müssen möglich sein. Die Grundsicherung
werden wir zu einer individuellen Leistung weiterentwickeln, denn
das Prinzip der Bedarfsgemeinschaften benachteiligt Frauen und
zementiert ihre Abhängigkeit.
Wir wollen, dass das Grundrecht auf Existenzsicherung einfach
und zuverlässig wahrgenommen werden kann. Jobcenter sollen zu
Dienstleistern der Arbeitsuchenden werden und kooperativ mit ihnen
zusammenarbeiten. Wir stärken die Rechte der Leistungsberechtig
ten und setzen in der Grundsicherung nicht auf Sanktionen, sondern
auf Motivation, Anerkennung und Beratung. Daher wollen wir die
Sanktionen abschaffen. Dies gilt insbesondere für die Sonderregeln
für unter 25-Jährige und für die Kosten der Unterkunft und Heizung.
Gas- und Stromsperren müssen gesetzlich eingeschränkt werden.
Diskriminierende Regelungen nur für Grundsicherungsbeziehende
wollen wir streichen. Damit liegt der Fokus der Arbeitsvermittlung
wieder darauf, Arbeitslose passgenau dabei zu unterstützen, einen
neuen Job zu finden, etwa durch Weiterbildung, Sprachförderung, So
zialberatung, Eingliederungs- oder Gründungszuschüsse. Es braucht
zudem mehr Möglichkeiten, Konflikte ohne Prozess zu lösen. Dazu
wollen wir sicherstellen, dass Eingliederungsvereinbarungen nicht
durch einen Verwaltungsakt ersetzt werden.
Arbeit ist ein wichtiges Feld der sozialen Teilhabe, der Anerkennung
und der Sinngebung im Alltag. Deshalb wollen wir die Arbeitslosenver
sicherung zur Arbeitsversicherung weiterentwickeln, die Arbeitneh
mer*innen bereits im Job, aber auch bei Arbeitslosigkeit bei der Wei
terbildung unterstützt ( Kapitel: Wir kämpfen für gute Arbeit und
bessere Vereinbarkeit, S. 216). Wir geben auch Langzeitarbeitslose
nicht auf und fordern einen verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt. Da
bei soll der Grundsatz gelten: Wer Beiträge in die Arbeitslosenver
sicherung einzahlt, muss einen angemessenen Anspruch auf Arbeits
losengeld erhalten.
5. Sicherheit in der Selbständigkeit
Um die soziale und ökologische Modernisierung zu meistern, brau
chen wir auch die innovative Kraft von Gründer*innen. Wir wollen
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Gerechtigkeit im Sinn
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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alle, die den mutigen Schritt in die Selbständigkeit wagen, dabei un
terstützen, sich besser und einfacher abzusichern und Ungleich
behandlungen gegenüber Arbeitnehmer*innen zeitnah abzubauen.
Gesetzlich versicherte Selbständige wollen wir bei den Kranken- und
Pflegeversicherungsbeiträgen mit geringeren Mindestbeiträgen sehr
deutlich entlasten. Wir wollen eine freiwillige Arbeitsversicherung
für Selbständige, die erschwinglich, für alle Selbständigen geöffnet
und gerechter ausgestaltet ist. Wahltarife sollen dabei mehr Flexibi
lität für Selbständige ermöglichen. Wir wollen alle nicht ander weitig
abgesicherten Selbständigen in die gesetzliche Rente einbeziehen
und ihnen eine größere Beitragsflexibilität als heute ermögli chen.
Selbständige sollen in guten Zeiten höhere Beiträge vor- oder nach
zahlen können, damit sie in schlechten Zeiten entlastet werden. Wir
stehen ohne Wenn und Aber zur Künstlersozialkasse. Analog zu Min
destlöhnen, die nur abhängig Beschäftigten zustehen, wollen wir
auch branchenspezifische Mindesthonorare ermöglichen.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Gesetzliche Rente stärken, das Rentenniveau stabil halten,
Garantierente einführen
Für die meisten Menschen ist die gesetzliche Rente nach wie vor
die zentrale Säule der Altersvorsorge. Und sie ist viel besser als
ihr Ruf. Das Niveau der gesetzlichen Rente sollte nicht weiter
sinken. Wir können das schaffen und werden dabei darauf ach
ten, dass Rentenniveau und Beitragssatz in einem angemes
senen Verhältnis stehen, sodass auch die junge Generation
bedacht wird. Um die gesetzliche Rente finanziell besser aufzu
stellen und solidarischer zu finanzieren, wollen wir versiche
rungsfremde Leistungen aus Steuergeldern bezahlen und insbe
sondere Frauen bessere Beschäftigungsmöglichkeiten bieten
und gezielte Zuwanderung ermöglichen. Menschen, die den
größten Teil ihres Lebens gearbeitet, Kinder erzogen oder Ange
hörige gepflegt haben, garantieren wir eine echte Rente anstatt
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BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
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bedürftigkeitsgeprüfter Grundsicherung. Private und betriebli
che Vorsorge werden auf unsere Garantierente nicht angerech
net. Mittelfristig streben wir eine Rentenversicherung für alle
an. In einem ersten Schritt zur Bürger*innenversicherung wollen
wir Abgeordnete, Minijobber*innen und bisher nicht abgesicher
te Selbständige in die Rentenversicherung einbeziehen.
Die Bürger*innenversicherung im Gesundheitssystem –
erstklassig für alle!
Wir wollen eine gerecht finanzierte Bürger*innenversicherung
im Gesundheits- und Pflegesystem. Alle zahlen dort ein, auch
Beamt*innen, Selbständige, Unternehmer*innen und Abgeord
nete werden einbezogen. Alle werden bei Ärzt*innen auf dem
gleichen hohen Niveau behandelt. Das Zwei-Klassen-System,
in dem Privatpatient*innen bevorzugt werden, hat ein Ende.
Neben Löhnen und Gehältern werden auch auf Kapitaleinkünf
te Beiträge erhoben. Dabei werden wir Freibeträge auf Zinsein
künfte einführen. Bei den Löhnen zahlen Arbeitgeber*innen
und Ar beitnehmer*innen wieder jeweils die Hälfte des Beitra
ges und die Zusatzbeiträge werden abgeschafft. So werden Ge
sundheit und Pflege fair finanziert und die Finanzierungs
grundlage er weitert. Bürger*innen erhalten endlich echte
Wahlf reiheit: Alle Krankenversicherungen bieten künftig die
Bürger*innenver sicherung an und konkurrieren über die Höhe
des Beitrages, über den Service, das zusätzliche Leistungsan
gebot und vor allem die Qualität.
Zeit für gute Pflege – Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf fördern
Wenn nahestehende Menschen pflegebedürftig werden, müssen
viele Dinge geregelt werden. Dafür benötigt man Zeit, ebenso
um Angehörigen nahe zu sein und eine Zeit lang selbst die Pfle
ge zu übernehmen. Das wollen wir erleichtern: Mit der Pflege
Zeit Plus gibt es erstmals einen Lohnersatz für die Zeit der
Pflege. Für drei Monate ersetzen wir Menschen, die Angehörige
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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selbst pflegen, ihren Lohn, genauso wie für Eltern in der Eltern
zeit. Zudem sollen sich Pflegende zehn Tage im Jahr freinehmen
können, um sich besonders intensiv um eine zu pflegende Per
son zu kümmern. Ganz so, wie sich Eltern freinehmen können,
wenn ihr Kind krank ist. Wir finden, wer für einen pflegebedürf
tigen Menschen Verantwortung übernimmt, hat unsere Unter
stützung und Wertschätzung verdient. Die PflegeZeit Plus ist
unsere Antwort darauf. Das kombinieren wir mit mehr entlasten
den Angeboten wie Betreuung, einer umfassenden ambulanten
Pflege und Betreuung. Die Kommunen sind die richtige Ebene,
um ein passendes Umfeld für alle Generationen zu schaffen,
dazu gehören auch mehr alternative Wohnformen wie Pflege
WGs und Hausgemeinschaften.
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V. WIR HOLEN KINDER AUS
DER ARMUT UND FÖRDERN
FAMILIEN
Familien geben vielen Menschen Halt. In Familien stehen Menschen
sich nahe, sie lernen voneinander. Kinder können geborgen zu
selbstbewussten Persönlichkeiten heranwachsen. Familien beglei
ten alte Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. Für uns GRÜNE
ist Familie überall da, wo Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen. Familien leisten viel: füreinander, aber auch für die
Gesellschaft insgesamt. Doch viele tun das unter oft schwierigen
Bedingungen: In Alleinerziehendenfamilien muss eine Person die
Aufgaben allein schultern; in manch einer Familie reicht das Geld
hinten und vorne nicht. Immer noch übernehmen Frauen im Durch
schnitt fast doppelt so viele Stunden der unbezahlten häuslichen
Arbeit wie Männer. Doch immer mehr Paare wollen sich die Erzie
hung partnerschaftlich teilen, ohne dass dies zulasten der beruf
lichen Perspektiven geht. Wir GRÜNE stehen für eine zeitgemäße
Familienpolitik, die diese Lücke zwischen Wunsch und Wirklich
keit schließt. Fürsorge für andere kann das Leben bereichern. Und
gleichzeitig funktioniert auch unsere Gesellschaft nur, wenn Men
schen zusammenhalten.
Familien sind inzwischen so vielfältig wie das Leben selbst: Es
gibt verheiratete Paare mit Kindern, Alleinerziehende, Patchwork
familien, nichteheliche Familien, Regenbogenfamilien, Pflegefami
lien oder Familien ohne Kinder. Wir GRÜNE machen eine Politik, die
Familien in allen Formen und Modellen unterstützt. Deshalb sorgen
wir dafür, dass die finanzielle Absicherung von Kindern und Famili
en nicht länger vom Lebensmodell der Eltern abhängt. Den sozialen
Eltern, also Menschen, die wie in vielen Patchworkfamilien lang
fristig Verantwortung für ein Kind übernehmen, ohne dessen leibli
che Eltern zu sein, fehlt ein rechtlicher Rahmen für ihre Familien
form. Und das, obwohl sie feste Wegbegleiter*innen ihrer Kinder
sind. Wir wollen Pflegekinder und Pflegefamilien unterstützen und
ihre rechtliche Situation verbessern. Auch Pflegekinder haben ein
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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Bedürfnis nach und ein Recht auf dauerhafte und stabile Lebens
verhältnisse.
Darüber hinaus wollen wir mit dem Pakt für das Zusammenleben
eine neue Rechtsform schaffen, die das Zusammenleben zweier
Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen, unabhän
gig von der Ehe rechtlich absichert.
1. Mehr Unterstützung für Familien
Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist heute eine der größ
ten Herausforderungen für Familien, nach wie vor vor allem für
Frauen. Wir wollen dafür sorgen, dass Eltern nicht die Puste aus
geht. Beweglichkeit und ein Abschiednehmen von überholten Mus
tern sind gefragt, um die Anforderungen der Arbeitswelt mit den
Bedürfnissen der Beschäftigten mehr in Einklang zu bringen und
dafür zu sorgen, dass Arbeit, Aus- und Weiterbildung sowie Studium
besser ins Leben passen. Viele Unternehmen haben dies erkannt
und angefangen, Arbeitszeit neu zu denken und innovative Konzep
te für ihre Belegschaften zu entwickeln. Solche Wege wollen wir
unterstützen: mit einer flexiblen Vollzeit, die es Beschäftigten er
möglicht, freier zu entscheiden, wie innerhalb eines Korridors von
30 bis 40 Stunden ihre persönliche Vollzeit aussieht; mit einem
Rückkehrrecht auf die ursprüngliche Stundenzahl nach einer Phase
der Teilzeit; mit einem Recht auf Homeoffice als Ergänzung zum
festen Arbeitsplatz sowie mit einer Pflegezeit, die hilft, die Sorge
für einen nahestehenden Menschen mit dem Beruf besser zu verein
baren. Vor allem aber mit einer gezielten Förderung von Familien
durch unser Konzept KinderZeit Plus. Die KinderZeit Plus löst das
Elterngeld ab und macht es rechtlich möglich, auch nach dem ers
ten Geburtstag des Kindes phasenweise die Arbeitszeit zu reduzie
ren. Familien bekommen damit mehr Beweglichkeit.
Familien brauchen eine sie unterstützende Infrastruktur. Frauen
und Männer können ihre Arbeit und ihr Leben mit Kindern nur dann
gut verbinden, wenn es gute Betreuungsangebote gibt. Neben ei
nem Rechtsanspruch auf eine ganztägige Kinderbetreuung gehört
dazu ganz zentral der flächendeckende Ausbau von Ganztagsschu
len, mindestens aber ein Rechtsanspruch auf Hortbetreuung. An
dernfalls brechen in vielen Familien alle Arrangements zur Verein
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barkeit von Familie und Beruf mit der Einschulung des Kindes weg.
Zur Entlastung pflegender Angehöriger sollen ambulante Unter
stützungsangebote flächendeckend ausgebaut werden. So ist ein
selbstbestimmtes Leben in vertrauter Umgebung für Pflegebedürf
tige und ihre Angehörigen möglich. Ältere Menschen haben viel
beizutragen. Sie engagieren sich ehrenamtlich in Projekten. Sie tun
das freiwillig, selbstbestimmt und mutig. Sie bauen Netzwerke auf
und gründen Organisationen, mit denen sie wirkungsvoller handeln
können.
Die Kinder- und Jugendhilfe unterstützt junge Menschen auf
dem Weg ins Erwachsenenleben. Ob Kinderbetreuung, Jugendar
beit, Hortbetreuung oder Hilfen bei der Erziehung: Fast alle nutzen
im Laufe ihres Lebens einmal diese Angebote. Und die Aufgaben
wachsen. Junge Menschen und ihre Familien brauchen eine gut
ausgestattete Kinder- und Jugendhilfe und eine Jugendarbeit, wel
che die Jugendlichen – so verschieden sie auch sind – erreicht. Ent
scheidend für ein Ende der Hilfe darf nicht der 18. Geburtstag, son
dern muss der tatsächliche Bedarf sein. Notwendig sind auch eine
Zusammenführung der Leistungs- und Unterstützungssysteme für
Kinder mit und ohne Behinderung im Jugendhilferecht sowie der
Erhalt des individuellen Rechtsanspruchs auf Hilfen zur Erziehung.
Das Aufwachsen von Kindern muss bestmöglich unterstützt wer
den. Hier darf es auch keine unterschiedlichen Standards für einhei
mische und geflüchtete Kinder geben. Alle Kinder und Jugendlichen
sollen bestmöglich vor Vernachlässigung, emotionaler und körper
licher Misshandlung oder sexuellem Missbrauch geschützt werden.
Deshalb: Wir brauchen mehr Präventionsangebote, damit es erst gar
nicht so weit kommt, sowie ausreichend Hilfs-, Beratungs- und The
rapieangebote für Kinder, denen etwas zugestoßen ist.
Dafür muss die Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhil
fe und dem Gesundheitswesen verbindlich geregelt werden. Hierzu
gehören klare Qualitätsvorgaben und eine entsprechende Finan
zierung. Die ausreichende finanzielle Unterstützung des „Fonds Se
xueller Missbrauch im familiären Bereich“ wollen wir gewährleisten
sowie die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des
sexuellen Kindesmissbrauchs dauerhaft absichern.
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2. Familien entlasten und Kinder fördern – mit dem
grünen Familien-Budget
Kinder leben bei uns sehr unterschiedlich. Sie haben alle die glei
chen Rechte, kommen aber nicht alle gleichermaßen zu ihrem
Recht. Um viele Kinder muss sich die Gesellschaft glücklicherweise
keine Sorgen machen. Doch aktuell leben auch fast drei Millionen
Kinder in Deutschland in Armut oder sind von Armut bedroht. Be
sonders gefährdet sind Alleinerziehende und ihre Kinder sowie Fa
milien mit drei und mehr Kindern. Armut schmerzt und grenzt aus.
Mit dem grünen Familien-Budget schnüren wir ein großes Re
formpaket, das zahlreiche Schwachstellen bei der Familienförde
rung angeht. Mit zwölf Milliarden Euro wollen wir Familien entlas
ten. Für uns ist die Bekämpfung von Kinderarmut ein prioritäres
Ziel. Wir stärken Alleinerziehende durch eine echte Existenzsiche
rung für Kinder. Wir entlasten so Familien mit geringem und mittle
rem Einkommen und beenden endlich die ungleiche Unterstützung
von Kindern entlang des Einkommens ihrer Eltern.
Das Familien-Budget besteht aus drei Reformteilen. Die Regel
sätze für Kinder und Erwachsene in der Grundsicherung müssen so
ermittelt werden, dass sie das Existenzminimum verlässlich und in
ausreichender Höhe absichern. Die Bedarfe müssen tatsächlich ge
deckt werden, auch die zur Teilhabe am sozialen Leben, an Bildung,
Kultur und Mobilität, soweit diese nicht durch Infrastruktur-Ange
bote gedeckt werden.
Eltern mit geringen Einkommen erhalten einen einkommensab
hängigen KindergeldBonus, der ihren Bedarf (sächliches Existenz
minimum) unbürokratisch und ohne Antrag garantiert. Eltern mit
geringen Einkommen erhalten den KindergeldBonus in voller Höhe.
Bei höheren Einkommen der Eltern wird der Betrag abgeschmolzen.
Als Basis für alle wollen wir eine einkommensunabhängige Kin
dergrundsicherung einführen, die das Kindergeld und die Kinder
freibeträge ersetzt. Dadurch erhalten Eltern mit kleinen und mittle
ren Einkommen für ihre Kinder endlich die gleiche Unterstützung
wie Eltern mit hohen Einkommen. Diese neue Kindergrundsiche
rung soll mit der Einführung einer Individualbesteuerung mit einem
übertragbaren Grundfreibetrag verknüpft werden. Für bereits Ver
heiratete und Verpartnerte gilt: Sie können entscheiden, ob sie das
alte Recht mit Ehegattensplitting, Kindergeld und Kinderfreibeträ
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gen behalten oder in die neue Regelung mit Kindergrundsicherung
und Individualbesteuerung wechseln. So stellen wir sicher, dass von
unserer Reform alle profitieren.
Mit dem Familien-Budget werden Kinderfreibetrag, Kindergeld,
Kinderzuschlag und Kinderregelsatz zu einer unbürokratischen Leis
tung zusammengeführt. Außerdem braucht es neben guter Bildung
auch echte Teilhabe von Kindern an zentralen gesellschaftlichen Gü
tern wie Sport, Musik und Kultur. Das heutige Bildungs- und Teilha
bepaket erreicht dieses Ziel nicht und soll deswegen abgeschafft
werden. Wir wollen stattdessen die bisherigen Leistungen für die be
troffenen Kinder zum Teil durch einen vom Bund finanzierten kosten
freien Zugang zu den entsprechenden Angeboten und zum Teil im
Regelsatz gewähren.
Das beste Mittel gegen Kinderarmut bleibt nach wie vor die Er
werbstätigkeit der Eltern. Deshalb ist es besonders für Mütter ganz
zentral, dass sie endlich eine angemessene Bezahlung in Jobs, die
zum Leben reicht, eine bessere soziale Absicherung sowie gute Be
treuungsangebote für ihre Kinder erhalten. Es ist wichtig, dafür zu
sorgen, dass Beruf und Familie vereinbar sind.
3. Kinder und Jugendliche sollen mitbestimmen,
wie ihre Welt aussieht
Wir GRÜNE machen Politik für ein kinderfreundliches Land. Darin
kommen alle Kinder zu ihrem Recht, die aus den akademischen
Haushalten genauso wie die aus den Arbeiterfamilien; die, deren
Familien immer schon am gleichen Ort wohnen, genauso wie die,
deren Eltern nach Deutschland eingewandert oder erst vor Kurzem
zu uns gekommen sind; die mit Behinderung genauso wie die ohne;
Mädchen genauso wie Jungs. Ganz vorn steht deshalb für uns die
Festschreibung der Kinderrechte im Grundgesetz. Kinder und Ju
gendliche sollen mitbestimmen, wer ihre Welt gestaltet. Deshalb
wollen wir das Wahlalter bei allen Wahlen auf 16 Jahre senken. Wer
in der Kindheit ernst genommen wird und spürt, dass man Dinge
selbst verändern kann, geht als Erwachsener sicherer durchs Leben.
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Bundestagswahlprogramm 2017
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Für ein modernes Familienrecht – alle Familienformen
anerkennen und schützen
Familie ist da, wo Menschen füreinander Verantwortung über
nehmen. Über 30 Prozent aller Familien, in denen minderjährige
Kinder leben, sind keine Ehen, sondern: nichteheliche Familien,
Alleinerziehende mit Kind, Patchworkfamilien oder Regenbo
genfamilien. Für viele dieser heute selbstverständlichen Famili
enkonstellationen gibt es keinen klaren Rahmen, der ihre Rechte
benennt und ihre Familienform absichert. Wir wollen das Famili-
enrecht weiterentwickeln und für diese Familien ein Angebot
schaffen, das sie in ihrer Verantwortung als Eltern rechtlich
stärkt (Rechtsinstitut der elterlichen Mitverantwortung). Damit
wollen wir klar regeln, welche Rechte und Pflichten, beispiels
weise in der Schule, beim Arztbesuch oder im Alltag, aber auch
welche Verantwortung für das Kind die leiblichen und die nicht
leiblichen, aber miterziehenden Eltern haben.
KinderZeit Plus – damit Eltern mehr für ihre Kinder
da sein können
Eltern müssen vieles gleichzeitig schaffen: die Arbeit, den Haus
halt, Zeit für die Kinder, die Freunde – und sie wollen möglichst
auch ein wenig Zeit für sich selbst haben. Dabei ist es ihnen
wichtig, Erwerbsarbeit und Kindererziehung partnerschaftlich
untereinander aufzuteilen. Diese Ziele unterstützen wir durch
unsere grüne Zeitpolitik: Mit der KinderZeit Plus lösen wir das
Elterngeld ab. Denn es sind nicht nur die Kleinsten, die ihre
Eltern brauchen. Die grüne KinderZeit Plus ermöglicht es, die
Arbeitszeit für bestimmte Phasen zu reduzieren. Die KinderZeit
Plus kann genommen werden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind.
Damit unterstützen wir Eltern auch nach dem ersten Geburtstag
des Kindes. So bekommen auch Eltern mit geringem Einkommen
mehr Spielraum, um sich Zeit für ihre schon etwas größeren
Kinder zu nehmen. In der KinderZeit Plus erhält jeder Elternteil
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Gerechtigkeit im Sinn
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 215
acht Monate finanzielle Unterstützung – weitere acht Monate
können frei zwischen den Eltern aufgeteilt werden. Wir unter
stützen Eltern insgesamt also zwei Jahre lang.
Familien entlasten, Kinder fördern – mit dem grünen
Familien-Budget
Mit dem grünen Familien-Budget schnüren wir ein Zwölf-Milliar
den-Euro-Entlastungspaket, das zahlreiche Schwachstellen bei
der Familienförderung angeht. Denn derzeit ist die Kinder- und
Familienförderung trotz ihrer Vielzahl von Leistungen weder ge
recht noch wirksam. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in ei
ner Familie, die arm oder von Armut bedroht ist. Das wollen wir
ändern. Dazu wollen wir endlich die ungleiche Unterstützung
von Kindern entlang des Einkommens ihrer Eltern beenden.
Denn heute steht die Familienförderung kopf. Eltern mit hohem
Einkommen erhalten für ihre Kinder mehr Unterstützung vom
Staat als Eltern mit kleinem oder mittlerem Einkommen. Allein
erziehende werden durch dieses System besonders benachtei
ligt. Mit dem grünen Familien-Budget werden wir alle Kinder
gleich gut unterstützen und Familien in erheblichem Maße ent
lasten. Zukünftig werden Paare individuell besteuert und profi
tieren vom grünen Familien-Budget. Bereits Verheiratete und
Verpartnerte können entscheiden, ob sie das alte Recht mit Ehe
gattensplitting, Kinderfreibeträgen und Kindergeld behalten
wollen oder ob für sie die neue Regelung mit Individualbesteue
rung und grünem Familien-Budget günstiger ist. So stellen wir
sicher, dass von unserer Reform alle profitieren.
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ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
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VI. WIR KÄMPFEN FÜR GUTE
ARBEIT UND BESSERE
VEREINBARKEIT
Für die meisten Menschen ist Erwerbsarbeit ein ganz zentraler Teil
ihres Lebens. Sie stecken Energie, Lebenszeit, Können und Kreati
vität in ihre Aufgaben. Bei guter Arbeit wissen sie sich gebraucht
und finden Anerkennung bei Kolleg*innen, Mitarbeiter*innen und
Vorgesetzten. Fast jede*r wünscht sich eine gute Arbeit, die finanzi
ell absichert, erfüllt und Freude macht. Auch darin, nicht nur im
Lohn, liegt die große Bedeutung der Erwerbsarbeit für unsere Ge
sellschaft. Und auch deshalb sind Arbeitslosigkeit und ungerechte
Löhne großer Sprengstoff für den gesellschaftlichen Zusammen
halt.
Heute sind in Deutschland mehr Menschen erwerbstätig denn
je, in den letzten Jahren sind hunderttausende neue sozialversiche
rungspflichtige Arbeitsplätze entstanden und die Erwerbslosigkeit
ist relativ gering. Ein Viertel der Beschäftigten befindet sich jedoch
in kleinen Teilzeitjobs, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf, Minijobs oder
immer wieder in befristeten Jobs. Viele dieser Jobs sind unsicher,
schlecht bezahlt, erschweren die Lebens- und Familienplanung und
führen auf Dauer zu Armut im Alter. Nach wie vor sind Frauen am
Arbeitsmarkt benachteiligt. Überlastung, Stress und Zeitnot führen
zum Raubbau an der eigenen Gesundheit und Person. Das wollen
wir ändern.
Unsere Arbeitswelt wandelt sich sehr stark durch globalisierte
Unternehmen und digitalisierte Arbeitsplätze. Wir GRÜNE wollen
diese Entwicklungen fair für alle gestalten. jede*r soll unter guten
Bedingungen arbeiten können. Arbeitsplätze müssen alters- und al
ternsgerecht ausgestaltet werden. Soziale Berufe, in denen vor al
lem Frauen arbeiten, wollen wir aufwerten. Zudem sollen Frauen
und Männer endlich gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige
Arbeit bekommen. Wir unterstützen eine partnerschaftliche Auftei
lung von bezahlten und unbezahlten Aufgaben. Beide Partner*innen
sollen wirtschaftlich unabhängig sein, damit sie selbstbestimmt
leben können – auch im Alter.
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BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 217
1. Gute Arbeit statt prekärer Jobs
Arbeit muss gerecht bezahlt werden. Der allgemeine Mindestlohn ist
ein Meilenstein dorthin. Er muss aber für alle Angestellten gelten.
Eine Erhöhung des Mindestlohns begrüßen wir. Die Höhe des Min
destlohns sollte sich nicht nur an der Tarifentwicklung orientieren.
Sie soll ermöglichen, von der Arbeit in Würde leben zu können. Der
Schutz vor Lohndumping, fairer Wettbewerb und Beschäftigungssi
cherung müssen ebenfalls bei der Ermittlung der Höhe eine Rolle
spielen. Auch sollte die Wissenschaft in der Mindestlohnkommission
ein Stimmrecht bekommen. Außerdem brauchen wir mehr branchen
spezifische Lohnuntergrenzen oberhalb des Mindestlohns, damit der
unternehmerische Konkurrenzkampf nicht zulasten der Beschäftig
ten geht.
Durch die Digitalisierung unserer Gesellschaft und neue Ge
schäftsmodelle der Unternehmen arbeiten immer mehr Arbeitneh
mer*innen auch an Sonn- und Feiertagen, oft ohne für den Verzicht
auf arbeitsfreie Sonn- und Feiertage besonders entschädigt zu wer
den. Das wird dem hohen Wert des arbeitsfreien Sonn- und Feiertags
nicht gerecht. Für einen gerechteren Ausgleich wollen wir einen ver
bindlichen Flexibilitätszuschlag für alle, die an Sonn- oder Feierta
gen arbeiten müssen. Dieser soll im Rahmen der bestehenden Zu
schlagsregelungen steuer- und sozialabgabenfrei sein.
Gute Arbeit braucht gute Arbeitsbedingungen, insbesondere in
Bereichen, in denen Überlastung und prekäre Arbeit häufig vorkom
men. Flexibilität ist gut – es muss aber auf die richtige Balance mit
Blick auf die soziale Absicherung und die Mitsprachemöglichkeiten
der Arbeitnehmer*innen geachtet werden. Leiharbeiter*innen sol
len vom ersten Tag an mindestens die gleiche Entlohnung erhalten
wie Stammbeschäftigte – plus Flexibilitätsprämie. Von Werk- oder
Dienstverträgen muss die Leiharbeit klar abgegrenzt werden.
Scheinselbständigkeit wollen wir mit rechtssicheren Kriterien un-
terbinden. Arbeit auf Abruf soll dann nicht mehr möglich sein, wenn
die Tätigkeiten mit normalen Arbeitsverhältnissen erledigt werden
können, etwa über die Nutzung von Arbeitszeitkonten. Ohne sach
lichen Grund sollten Jobs nicht mehr befristet werden können. Gute
Arbeit darf nicht krank machen. Wir werden den Arbeitsschutz stär
ken, damit er wirksam vor Stress, Burn-out, Mobbing und Entgren
zung der Arbeit schützt.
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Immer weniger Jobs sind heute durch Tarifverträge abgedeckt.
Das muss sich wieder ändern. Tarifverträge sollen leichter allge
mein verbindlich gemacht werden können und für alle Betriebe ei
ner Branche gelten. Wir brauchen starke Betriebsräte. Wir wollen
sie besser schützen, ihre Mitbestimmungsrechte ausbauen und den
Schwellenwert für die paritätische Unternehmensmitbestimmung
auf 1.000 Beschäftigte absenken. Denn Partizipation und Demokra
tie sind auch im Wirtschaftsleben wichtig. Das soll ebenso für die
Kirchen, einen der größten Arbeitgeber im Land gelten: Auch für
ihre Beschäftigten wollen wir Koalitionsfreiheit und Streikrecht
gewährleisten. Zudem halten wir die persönlichen Loyalitätspflich
ten von Mitarbeiter*innen bei kirchlichen Trägern außerhalb des re
ligiösen Verkündigungsbereiches für unverhältnismäßig. Wir wollen
deshalb die Rechte der kirchlichen Arbeitnehmer*innen stärken und
Ausnahmeregelungen beschränken.
Minijobs scheinen eine gute Gelegenheit, etwas dazuzuverdie
nen. Aber sie haben zu keiner Zeit das Ziel erreicht, Brücken in regu
läre Beschäftigung zu bauen. Stattdessen haben sie sich als berufli
che Sackgasse und Armutsrisiko erwiesen, insbesondere für viele
Frauen. Minijobs wollen wir deshalb in sozialversicherungspflichti
ge Jobs umwandeln und dafür sorgen, dass die Beiträge durch Steu
ern und Abgaben und soziale Leistungen so aufeinander abge
stimmt werden, dass sich Erwerbsarbeit immer rechnet. Dabei darf
die Belastung mit Steuern und Abgaben nicht sprunghaft steigen.
So wird es attraktiver, mehr als geringfügig zu arbeiten.
2. Gute Weiterbildung für gute Jobs
Wir GRÜNE wollen alle Menschen in die Zukunft der Arbeit mitneh
men. Weiterbildung wird immer wichtiger – auch, weil die Menschen
immer älter werden und länger arbeiten. Mit der BildungsZeit Plus,
einem Mix aus Darlehen und Zuschuss, können wir Erwachsene, die
sich weiterbilden wollen, unterstützen. Damit es gar nicht erst zu
Arbeitslosigkeit kommt, wollen wir die Arbeitslosenversicherung zur
grünen Arbeitsversicherung weiterentwickeln, die für alle Beschäf
tigten und Selbständigen da ist. Sie wird, anders als bisher, nicht erst
im „Versicherungsfall Arbeitslosigkeit“ tätig, sondern unterstützt
unter Berücksichtigung der Veränderung von Branchen und Kompe
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tenzen vorbeugend mit Weiterbildungen und Qualifizierungen, um
Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Sie ist damit ein wirksames Instru
ment, um Menschen in Zeiten von technologischen Umbrüchen Si
cherheit zu gewähren und neue Perspektiven zu eröffnen. Sie bietet
soziale Sicherheit bei Arbeitslosigkeit und hilft beim erfolgreichen
Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.
3. Zugänge schaffen
Erwerbslose Menschen sollen in gut ausgestatteten Jobcentern und
Agenturen passgenau betreut werden, um sie dauerhaft in Arbeit zu
vermitteln. Auch Menschen mit Behinderung oder geflüchtete Men
schen brauchen genau auf sie zugeschnittene Angebote. Dazu ge
hören vor allem Qualifizierungen, Sprachförderung, JobCoaching
und unterstützte Beschäftigung, Eingliederungs- oder Gründungs
zuschüsse.
Teilhabe ist für viele mit Erwerbsarbeit verbunden. Allen muss
der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Es gibt aber Ar
beitslose, die absehbar keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt
haben. Darum ist der soziale Arbeitsmarkt unerlässlich. Wir wollen
Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, damit auch Arbeitslose mit
besonders vielfältigen Problemen wieder Zugang zum Arbeitsmarkt
bekommen – schrittweise und nachhaltig.
4. Zeit für mehr
Bisher forderten vor allem die Arbeitgeber*innen Flexibilität von
ihren Beschäftigten. Jetzt wird es Zeit, dass auch die Beschäftigten
mehr Zeitsouveränität bekommen, um Arbeit, Privat- und Familien
leben besser vereinbaren zu können. Dafür brauchen sie mehr Mit
spracherecht über den Umfang, die Lage und den Ort ihrer Arbeit.
Durch Wahlarbeitszeiten zwischen 30 und 40 Wochenstunden wol
len wir Vollzeit neu definieren und zu einem flexiblen Arbeitszeit
korridor umgestalten. Damit können Frauen leichter als bisher ihre
Beschäftigung ausweiten und Männer können in Teilzeit gehen,
ohne Karriereeinschnitte fürchten zu müssen. Auch ein Rückkehr
recht auf die ursprüngliche Stundenzahl muss endlich kommen. Für
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Betriebsräte soll es möglich werden, Betriebsvereinbarungen zu
Vereinbarkeitsfragen zu verhandeln. Zeitsouveränität darf nicht
dazu führen, dass unbezahlte Mehrarbeit entsteht und die Grenzen
von Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmen. Deshalb gehört
ein zeitgemäßer Arbeitsschutz unbedingt dazu sowie ein wirksamer
Beschäftigtendatenschutz. In den Unternehmen ist Kreativität ge
fragt, damit die Anforderungen der heutigen Arbeitswelt mit den
Bedürfnissen der Beschäftigten besser in Einklang gebracht wer
den. Immer mehr Arbeitgeber*innen haben dies bereits erkannt,
sich von überholten Mustern verabschiedet und innovative Konzep
te für ihre Belegschaften entwickelt. Alle anderen wollen wir davon
noch überzeugen.
Das Leben lässt sich nicht immer planen. Manchmal wird die
Pflege der Mutter wichtiger als der Beruf, manchmal wird ein Kind
krank. Wir wollen Menschen dabei unterstützen, das Verhältnis zwi
schen Arbeit und den Wechselfällen des Lebens neu auszubalancie
ren. Grüne Arbeitszeitpolitik will mehr Selbstbestimmung über die
eigene (Arbeits-)Zeit ermöglichen. Wir wollen anerkennen und un
terstützen, wenn jemand Verantwortung für andere übernimmt.
Denn die Unterstützung und Pflege alter und kranker Menschen ist
keine private Aufgabe. Sie ist gesellschaftlich wichtig und sie wird
derzeit überwiegend von Frauen geleistet. Wer Pflegebedürftige
unterstützt, für den schlagen wir eine dreimonatige PflegeZeit Plus
mit Lohnersatzleistung vor. Sie soll sich am Einkommen orientieren,
wie es beim Elterngeld der Fall ist.
Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Gute Arbeit für alle – auch für Menschen mit Behinderung
Wir wollen die Arbeitswelt gerechter gestalten. Leiharbeitskräf
te bekommen den gleichen Lohn wie die Stammbeschäftigten
und eine Flexibilitätsprämie. Zweifelhafte Dienst- und Werkver
träge, Scheinselbständigkeit und Befristungen ohne Grund er
setzen nicht mehr tariflich gut bezahlte Arbeit. Menschen mit
Behinderung haben das gleiche Recht, mit Arbeit ihren Lebens
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unterhalt zu verdienen. Dazu muss sich ihr Zugang zum allge
meinen Arbeitsmarkt verbessern. Die Ausgleichsabgabe werden
wir deutlich erhöhen und damit Betriebe fördern, die über ihre
Quote hinaus Menschen mit Behinderung ausbilden und beschäf
tigen. Die Schwerbehindertenvertretung werden wir stärken.
Das Budget für Arbeit, die unterstützte Beschäftigung und Inklu
sionsfirmen erleichtern den Einstieg in den allgemeinen Arbeits
markt. In den Werkstätten für Menschen mit Behinderung wird
allen, die den Einstieg nicht schaffen, ein fair entlohntes Ar
beitsangebot gemacht. Das „Mindestmaß wirtschaftlich verwert
barer Leistung“ als Voraussetzung für die Werkstätten schaffen
wir ab.
Flexible Vollzeit – Arbeitszeit freier gestalten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen mehr Mit
spracherechte über das Wieviel, Wann und Wo ihrer Er werbs
tätigkeit. Auch die Führung in Teilzeit sollte für Frauen und
Männer selbstverständlich möglich sein. Wir schlagen einen
Vollzeit-Arbeitszeitkorridor im Bereich von 30 bis 40 Stunden
vor. Innerhalb dieses Stundenkorridors sollen Beschäftigte ih
ren Arbeitszeitumfang frei bestimmen können. Um Beschäf
tigten wie Unternehmen Planungssicherheit zu geben, müssen
dabei Ankündigungsfristen eingehalten werden. Nur dringen
de betriebliche Gründe sollen die Anpassung der Stundenzahl
verhindern können. Der bestehende Rechtsanspruch auf Teil
zeit soll um ein Rückkehrrecht auf den früheren Stundenum
fang, um ein Recht auf Homeoffice als Ergänzung zum festen
Arbeitsplatz, sofern dem keine wichtigen betrieblichen Belan
ge entgegenstehen, und um eine Mitsprache bei der Lage der
Arbeitszeit ergänzt werden.
Mit einer Arbeitsversicherung Weiterbildung ermöglichen
Wir investieren verstärkt in die Qualifizierung und Weiterbildung
von Beschäftigten und Arbeitslosen, um sie für Berufe mit Zu
kunft fit zu machen und damit ihre Jobchancen zu verbessern.
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Dafür wollen wir die Arbeitslosenversicherung zu einer umfas
senden Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Sie soll für alle
Beschäftigten und Selbständigen da sein und sie absichern. Mit
dieser grundsätzlichen Reform der Arbeitsförderung kann es ge-
lingen, Zugänge in Arbeit auch für die zu schaffen, die es heute
besonders schwer haben: Für Menschen mit Handicap, Jugend
liche ohne Ausbildung, Langzeitarbeitslose, ältere Beschäftigte
und Geflüchtete gibt es künftig passgenaue und individuelle In
tegrationsstrategien.
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VII. WIR GESTALTEN DIE
DIGITALISIERUNG
Smartphones, 3-D-Drucker, Liefer-Apps, Online-Handel und Share
Economy – schon heute verändert die digitale Revolution unsere
Wirtschaft, unsere Arbeitswelt und unseren Alltag grundlegend.
Vieles spricht dafür, dass sich dieser Prozess noch einmal beschleu
nigen wird. Selbstfahrende Autos sind vielleicht schon in wenigen
Jahren auf der Straße, am Horizont winkt künstliche Intelligenz. Wir
wollen den digitalen Wandel aktiv gestalten. Denn wir sehen viele
Chancen und Möglichkeiten durch die Digitalisierung, die wir er
greifen wollen.
Wir wollen neue, gute Jobs in neuen Arbeitsfeldern fördern.
Wir wollen die ökologischen Möglichkeiten nutzen, die sich für die
Energie- und Verkehrswende durch intelligente Steuerung, Auto
matisierung oder Vernetzung ergeben. Für all das werden wir die
richtigen Weichen stellen. Wir wollen alle ermuntern und fördern,
die den Mut haben, etwas Neues zu wagen. Und wir wollen diejeni
gen unterstützen, deren Arbeitsplätze oder deren Zukunft bedroht
sind. Denn zugleich wirft dieser Wandel ethische Fragen auf
und erzeugt enormen Anpassungsdruck etwa im Bildungs-, Wirt
schafts-, Finanz- und Sozialsystem. Hier braucht es eine gesamtge
sellschaftliche Debatte für umfassende Lösungsansätze.
Die Digitalisierung trifft auf eine Wirtschaft, in der mit ökologi
schen Langzeitschäden, Investitions- und Nachfrageschwäche, zu
starker Konzentration von Vermögen und zu großem Ressourcen
hunger einiges im Argen liegt. Wir wollen Ordnung in dieses System
bringen. Dafür brauchen wir mehr Investitionen, damit unsere Wirt
schaft krisenfester und dynamischer wird. Dafür brauchen wir eine
öffentliche Hand, die auch gegenüber Konzernen durchgreifen
kann, um für fairen Wettbewerb, den Schutz der Verbraucher*innen
und den Erhalt öffentlicher Güter zu sorgen.
Es ist uns wichtig, die Digitalisierung mit klaren Regeln so zu ge
stalten, dass die Vorteile nicht nur wenigen in unserer Gesellschaft
zugutekommen, und Risiken, zum Beispiel beim Datenschutz oder
bei der Machtkonzentration einiger weniger Internetkonzerne, be
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grenzt werden, um einem potenziellen Machtmissbrauch gerade
mit Blick auf die Verletzung von Persönlichkeitsrechten entgegen
zuwirken. Die Digitalisierung wird wie jede technologische Revolu
tion dafür sorgen, dass bestehende Tätigkeiten und Arbeitsplätze
wegfallen und neue entstehen. Das ist für viele Menschen ein be
rechtigter Grund zur Sorge. Hier sind wir als Solidargemeinschaft
gefragt. Wir wollen uns umso stärker aktiv für neue Jobs einsetzen.
Wir werden unsere sozialen Sicherungssysteme auf diesen Wandel
einstellen und ihre Zukunftsfähigkeit sichern. Wir werden dafür sor
gen, dass alle gute Bildung genießen können – und zwar ein Leben
lang. So können wir es schaffen, dass die Digitalisierung zu einem
Gewinn für unser Land wird.
Wir wollen einen digitalen Aufbruch, bei dem Unternehmen, Zi
vilgesellschaft und Politik gemeinsam dafür sorgen, dass wir durch
die Digitalisierung unserem Ziel, einer ökologischen und sozialen
Marktwirtschaft, die sich am langfristigen Wohlstandsgewinn statt
an kurzfristigen Profiten orientiert, näher kommen.
1. Mehr und nachhaltiger in unsere Zukunft investieren
Investitionen sind die Voraussetzung für eine dynamische und zu
kunftsfähige Wirtschaft und für wettbewerbsfähige Unternehmen.
Die Erträge, zum Beispiel von Investitionen in Bildung, sind deutlich
höher als die Zinsen, die wir derzeit für unsere Kredite bezahlen
müssen, und Zukunftsinvestitionen bedeuten mehr Nachfrage und
damit mehr Aufträge für unsere Wirtschaft vor Ort und gute Ar
beitsplätze. Auch das trägt dazu bei, die Wirtschaft krisenfester zu
machen. Wir investieren in Deutschland jedoch seit Langem viel zu
wenig – sowohl die Unternehmen als auch der Staat. Unsere Kinder
und Enkelkinder werden diese Fehlentwicklung ausgleichen müs
sen, wenn wir nicht schnell umsteuern. Die ausschließliche Fixie
rung auf die schwarze Null trägt nicht zur Generationengerechtig
keit bei. Diese erreichen wir erst, wenn neben der Begrenzung der
Verschuldung Investitionen in die Zukunft des Landes getätigt wer
den. Deshalb wollen wir mindestens zwölf Milliarden Euro pro Jahr
zusätzlich investieren. Damit das öffentliche Vermögen nicht weiter
schmilzt, soll zugleich eine neue Investitionsregel die bestehende
Schuldenbremse ergänzen. Wir wollen daher die Bilanzierungsre
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geln für das öffentliche Vermögen umstellen, um dessen Wert und
Wertverlust transparent zu machen. Es macht keinen Sinn, sich über
die schwarze Null zu freuen, wenn auf der anderen Seite die öffent
liche Infrastruktur zusammenbricht. Die Zeche für heute versäumte
Investitionen zahlen immer die zukünftigen Generationen. Durch
den konsequenten Abbau umweltschädlicher Subventionen schaf
fen wir weitere Haushaltsspielräume für Investitionen.
Wir GRÜNE wollen in moderne Mobilität, bezahlbare und ener
gieeffiziente Wohnungen und einen Bildungsaufbruch – also in die
Zukunft unseres Wohlstandes – investieren. Wenn wir die Chancen
der Digitalisierung nutzen und sicherstellen wollen, dass die digita
le Gründer*innenzeit überall in Deutschland möglich ist, müssen
wir jetzt in ein schnelles und flächendeckendes Internet inves
tieren. Grundvoraussetzung dafür ist ein zukunftsfähiger Breit
bandausbau auf Basis von Glasfaser. Wir wollen dazu den Bundes
besitz an Telekom-Aktien im Wert von rund zehn Milliarden Euro
veräußern und in den Breitbandausbau investieren. Das Thema Di
gitalisierung muss dabei in der Bundesregierung besser koordiniert
werden und im Kabinett eigenständig vertreten sein.
Außerdem schaffen wir Planungssicherheit durch verlässliche
Rahmenbedingungen und wollen Unternehmen, die ihre Gewinne
nicht entnehmen, sondern reinvestieren, besonders fördern.
2. Fairer Wettbewerb statt Machtwirtschaft
Konzentrierte und verkrustete Märkte sind Gift für fairen Wettbe
werb. Wir GRÜNE setzen uns für diskriminierungsfreie und offene
Märkte ein, etwa bei der Netzneutralität. Echte Netzneutralität ist
die Voraussetzung für einen fairen digitalen Wettbewerb. Ein „Zwei
Klassen-Internet“ braucht niemand.
Wir sorgen für Preise, die die ökologische und soziale Wahrheit
sagen – wie bei der ökologischen Finanzreform und der Leiharbeit.
So haben nicht diejenigen Vorteile, die am meisten verschmutzen
oder ausbeuten. Die Rahmenbedingungen sollten so formuliert
sein, dass kleine oder junge Unternehmen sie ebenfalls meistern
können. Einfache, aber wirksame Regeln wie eine Schuldenbremse
für Banken, ein EU-weiter Mindeststeuersatz für Unternehmen und
ein funktionierender CO2-Emissionshandel sind weitere wichtige
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Hebel für einen fairen Wettbewerb. Sektoren und Märkte mit
sehr mächtigen Einzelunternehmen wollen wir besser regulieren,
damit nicht Einzelne auf Kosten der Verbraucher*innen, der Um
welt, der Persönlichkeitsrechte oder der Steuerzahler*innen ihre
Profite hochschrauben und einen Missbrauchsvorteil ausspielen
können.
Große Internetkonzerne wie Google, Facebook, Amazon und Co
verändern die Art und Weise, wie wir leben und wie unsere Wirt
schaft funktioniert, gerade rapide. Daten und Vernetzung gewinnen
für die Produktion, aber auch den Wert von Gütern und Dienstleis
tungen eine immer größere Bedeutung. Es ist denkbar, dass der
Wert eines Autos sehr bald stärker daran gemessen wird, wie gut
seine Vernetzung mit dem Internet ist und welche datengetriebe
nen Dienste und Programme es den Fahrer*innen anbietet, als wie
gut der Motor oder die Verarbeitung ist. Große Plattformen und
Portale gewinnen mit jedem und jeder Nutzer*in an Bedeutung. Ge
nerell gilt, wer die Daten hat und sie nutzt, hat einen Wettbewerbs
vorteil. Zum einen wollen wir sicherstellen, dass der Schutz unserer
Daten dabei immer gewährleistet wird. Zum anderen stellt diese
veränderte Wertschöpfung eine enorme Herausforderung für die
deutsche Wirtschaft dar. Unternehmen dürfen den Trend nicht ver
schlafen und müssen durch Innovationen fit bleiben. Wir wollen sie
dabei unterstützen, wettbewerbsfähig zu bleiben. Monopolartige
Strukturen wollen wir verhindern. Daher wird die öffentliche Hand
als Hüterin des fairen Wettbewerbs immer wichtiger. Wir setzen uns
deshalb für einen neuen politischen wie rechtlichen Ordnungsrah
men und eine Weiterentwicklung des Wettbewerbs- und Kartell
rechts ein, welche die Informations-, Markt- und Datenmacht ein
zelner Unternehmen effektiv begrenzt. Das bedeutet auch, dass
Großkonzerne, Banken, die „too big to fail“ sind, oder Netzmonopo
le in extremen Fällen entflochten werden sollten.
Damit der Mittelstand im Zuge der Digitalisierung im Wettbe
werb mit großen Unternehmen gut aufgestellt ist, wollen wir ein
IT-Beratungsnetzwerk für den digitalen Wandel einrichten. Dieses
dezentrale Netzwerk von Berater*innen soll in die Unternehmen
gehen können, die IT-Sicherheit überprüfen und anbieterunabhän
gige Verbesserungsvorschläge geben. Dabei sollen auch Empfeh
lungen ausgesprochen werden, wie das Unternehmen sich im
Prozess von Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung zu
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kunftsfähig aufstellen und auch mehr Frauen für die Branche ge
winnen kann.
Milliardenschwere Großunternehmen – auch aus der Digital
branche – nehmen wir in die Pflicht, ihrer gesellschaftlichen Ver
ant wor tung wieder gerecht zu werden. Für Großunternehmen muss
es wieder eine Selbstverständlichkeit sein, Steuern auf Gewinne zu
zahlen – wir werden sie darauf verpflichten. Ebenso müssen sie sich
an klare rechtliche Vorgaben halten, wie zum Beispiel das neue und
von uns federführend verhandelte EU-Datenschutzrecht. Außerdem
wollen wir einen europäischen digitalen Binnenmarkt schaffen, da
durch würden sich vielen innovativen europäischen Unternehmen
neue Chancen eröffnen.
3. Gute Arbeit 4.0
Die digitale Arbeitswelt wird vernetzter, technischer und auch flexib
ler sein. Und wir wollen, dass sie auch humaner, familienfreundlicher
und ökologischer wird. Mit der Digitalisierung verändern sich Arbeits
inhalte, Arbeitsplätze und Arbeitsstrukturen. Arbeit ist nicht mehr an
Ort und Zeit gebunden. Deshalb fordern wir auch ein Recht auf
Homeoffice als Ergänzung zum festen Arbeitsplatz und unter Berück
sichtigung der betrieblichen Möglichkeiten. Das schafft Zeitsouverä
nität und Freiräume für mehr selbstbestimmtes Arbeiten.
Die Digitalisierung stellt uns aber auch vor neue Herausforde
rungen: permanente Erreichbarkeit, Mehrarbeit und umfassende
Leistungskontrolle. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, ab
hängiger und selbständiger Tätigkeit, zwischen Selbstbestimmung
und Selbstausbeutung laufen Gefahr zu verschwimmen. Hier wol
len wir Beschäftigte und Selbständige schützen. Deshalb werden
wir den Arbeitsschutz an die digitale Arbeitswelt anpassen, betrieb
liche Mitbestimmungsrechte stärken und mit einem eigenständigen
Beschäftigtendatenschutzgesetz vor umfassender Leistungskon
trolle schützen. Solo-Selbständige und Kreative müssen zukünftig
für alle Lebenslagen sozial abgesichert sein und sie müssen fair
entlohnt werden. Deshalb wollen wir ein allgemeines Mindest
honorar als absolute Untergrenze für zeitbasierte Dienstleistungen
einführen und gleichzeitig branchenspezifische Mindes thonorare
für bestimmte Werke und Dienstleistungen ermöglichen, die gut zu
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den jeweiligen Branchen passen. Über Online-Plattformen vermit
telte Arbeit und die Zahl der Click worker*innen nehmen zu. Platt
formen dürfen weder für Lohndumping noch als rechtsfreier Ver
triebskanal missbraucht werden. Nur wenn die heutigen Sozial- und
Arbeitsstandards weiterhin gelten, entstehen fairer Wettbewerb
und gute Arbeitsbedingungen in der digitalen Arbeitswelt. Der digi
tale Wandel der Arbeitswelt hat bereits begonnen. Diesen Struktur
wandel wollen wir positiv gestalten.
Durch die Digitalisierung werden neue Arbeitsplätze entstehen,
aber manche Tätigkeiten werden auch automatisiert. Die ökologische
Modernisierung ist dabei eine Chance, damit nicht nur für Program
mierer*innen, sondern auch für Handwerker*innen und Facharbei
ter*innen neue Jobs entstehen. Digitale Kompetenzen werden von
zentraler Bedeutung sein. Deshalb fördern wir Weiterbildungen be
reits im Job und nicht nur bei Arbeitslosigkeit ( Kapitel: Wir kämp
fen für gute Arbeit und bessere Vereinbarkeit, Projekt Arbeitsver
sicherung, S. 216). Digitalisierung und Automatisierung bieten aber
auch die Chance der Reduzierung der Arbeitsbelastung, der Ermögli
chung anderweitigen Engagements, zum Beispiel im Ehrenamt, oder
der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hierfür
sind jedoch eine aktive politische Gestaltung der Umbruchprozesse
und das Stellen der richtigen arbeitspolitischen Weichen nötig.
4. Unternehmensgründungen fördern
Mit ihren Ideen und ihrer Schaffenskraft fordern Gründerinnen und
Gründer etablierte Unternehmen heraus, wagen Neues und moderni
sieren so unsere Wirtschaft. Aufgrund der Digitalisierung erleben wir
gerade eine neue Gründer*innenzeit. Es sind die Unternehmer*innen,
die die Energie-, Mobilitäts- und Agrarwende in die Praxis umsetzen
und zu einem Erfolgsmodell machen. Sie gehen ins Risiko und finden
kreative Lösungen. Wir wollen sie dabei unterstützen, indem wir für
Selbständige den Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen ver
bessern, neue Finanzierungsformen wie Crowdfunding stärken und
diese mit Förderbanken vernetzen sowie Co-Working- und Gewerbe
räume für Gründer*innen fördern.
Neben der Projekt- und Gründer*innenförderung wollen wir For
schungsaktivitäten in kleinen und mittleren Unternehmen auch
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steuerlich begünstigen, um das kreative Potenzial und den Erfin
dergeist dort noch stärker zu mobilisieren. Durch eine Steuergut
schrift von 15 Prozent sollen ihre Forschungs- und Entwicklungsaus
gaben künftig gefördert werden. Wir wollen ein unbürokratisches
und wirksames Förderinstrument für alle Gründungswilligen. Mit
dem grünen Gründungskapital bekommt jede*r, die oder der sich
selbständig machen will und ein überzeugendes Konzept vorlegt,
einmalig ein flexibles und zinsfreies Darlehen von bis zu 25.000
Euro. Die Rückzahlung erfolgt, sobald das Unternehmen Fuß ge
fasst hat. Wir wollen gerade für Kleinunternehmer*innen den
Zugang zu Mikrokrediten verbessern, indem der bürokratische und
finanzielle Aufwand verringert wird. Offene Standards, Schnitt
stellen, Daten und Software erleichtern es findigen Köpfen, neue
Geschäftsideen umzusetzen. Zudem wollen wir die Grenze zur So
fortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter auf 1.000 Euro
anheben. Und wir wollen einen bundesweiten One-Stop-Shop für
Gründer*innen einrichten, sodass alle nötigen bürokratischen Vo
raussetzungen und Beratungsleistungen an einem Ort aufzufinden
sind. Wir wollen politische Rahmenbedingungen so formulieren
und vereinfachen, dass kleine oder junge Unternehmen, Kultur
schaffende und Kreative sie ebenfalls meistern können – und große
Unternehmen sie mit ihren teuren Anwält*innen nicht mehr ein
fach aushebeln können.
Ein innovatives Land braucht starke Hochschulen. Wissenschaft
braucht neugierige Menschen und diese brauchen ausreichend Räu
me und eine gute Ausstattung, also eine moderne Infrastruktur des
Wissens. Dafür braucht es ein Modernisierungsprogramm, um den
Sanierungsstau aufzulösen: für mehr studentischen Wohnraum, den
Ausbau von Laboren und Bibliotheken, aber auch für digitale Infra
struktur. Mit diesem Vorschlag werden wir die Hochschulen wieder
auf die Höhe der Zeit bringen und ihre Grundfinanzierung verbes
sern, damit vielfältige, unabhängige und exzellente Forschung und
Lehre möglich ist.
Die Digitalisierung erleichtert auch die Gründung von Unterneh
men, die alternative Wirtschaftsformen im Blick haben – angefan
gen bei solidarischer Ökonomie über Social Entrepreneurship bis
hin zur Sharing Economy. Wir wollen solche Modelle politisch stär
ken und Offenheit als Leitprinzip für digitale Modelle des Teilens
verankern.
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Wer GRÜN wählt, stimmt für diese drei Projekte:
Wir investieren in die Infrastruktur der Zukunft
Wir GRÜNE wollen in die Infrastruktur der Zukunft investieren.
Den Ausbau von schnellem Internet wollen wir beschleunigen,
indem wir zehn Milliarden Euro in den Breitbandausbau investie
ren. Dafür veräußern wir die Telekom-Anteile des Bundes. Wir
wollen Elektromobilität fördern – und zwar auf allen Ebenen, sei
es beim Auto, der Ladeinfrastruktur, bei Bussen, Bahnen oder
Lastenrädern. Auch Radschnellwege werden wir fördern für die
Mobilität der Zukunft. Mit dem „Zukunftsprogramm Nahverkehr“
verbessern wir das Angebot und die Qualität des Nahverkehrs
vor Ort mit jährlich einer Milliarde Euro. Um bezahlbare Woh
nungen zu schaffen, wollen wir auf Bundesebene die soziale
Wohnraumförderung deutlich erhöhen und zusätzlich eine Milli
on Wohnungen durch die Neue Wohngemeinnützigkeit fördern.
Unser Investitionspaket für bessere Infrastrukturen in Bildung,
Ausbildung und Wissenschaft umfasst ein fünfjähriges Schul
sanierungsprogramm und ein Modernisierungsprogramm für die
Ausstattung von Hochschulen.
Ideen freisetzen – mit dem Forschungsbonus
für Unternehmen
Kleine und mittlere Unternehmen gestalten den ökologischen
und sozialen Wandel mit. Forschung und Entwicklung sind dabei
ihre wichtigsten Ressourcen. Wir wollen neue Ideen einfach und
unbürokratisch fördern – mit unserem steuerlichen Forschungs
bonus von 15 Prozent auf alle Forschungs- und Entwicklungs
ausgaben für kleine und mittlere Unternehmen. Firmen, die noch
keine Gewinne erzielen, bekommen diesen Bonus ausgezahlt. Das
hilft besonders den Gründer*innen und innovativen Start-ups.
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Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 231
Die digitale Arbeitswelt positiv gestalten und Selbstän
dige, Kulturschaffende und Kreative besser absichern
Die digitale Arbeitswelt bietet Chancen für mehr Zeitsouveräni
tät und selbstbestimmtes Arbeiten. Sie kann aber auch grenzen
los werden. Deshalb werden wir den Arbeitsschutz an die digita
le Arbeitswelt anpassen. Auch die Mitbestimmung braucht ein
Update. Wenn durch Vertrauensarbeitszeit ständig Mehrarbeit
entsteht, sollen Betriebsräte ein Mitbestimmungsrecht über die
Arbeitsmenge bekommen. Selbständige, Kulturschaffende und
Kreative schätzen ihre unternehmerische Freiheit, aber häufig
sind sie wegen geringen oder unregelmäßigen Einkünften nicht
ausreichend abgesichert. Wir wollen sie mit Mindesthonoraren
stärken und auch besser absichern. Dazu wollen wir eine Sen
kung des Mindestbeitrags zur freiwilligen Arbeitslosenversiche
rung erreichen und die Mindestbeiträge für die gesetzliche
Kranken- und Pflegeversicherung sehr deutlich senken. Als ers
ten Schritt zu einer Bürger*innenversicherung wollen wir Selb
ständige, die nicht anderweitig abgesichert sind, auch in die
Rentenversicherung aufnehmen. Die Künstlersozialkasse wollen
wir erhalten und weiter stärken.
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Zehn-Punkte-Plan
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F. WOFÜR WIR
VERANTWORTUNG
ÜBERNEHMEN
WOLLEN
I. ZEHN PUNKTE PLAN
FÜR GRÜNES REGIEREN
Wir leben in Zeiten, in denen sich vieles ändert. Bedrohliches wie
auch Positives. Veränderung wird von manchen erhofft, von ande
ren befürchtet. Wir sind überzeugt, dass unser Land in einem ver
einten Europa das Beste noch vor sich hat – wenn wir jetzt beherzt
anpacken. Wir wollen dafür Verantwortung übernehmen.
Es braucht Mut zu Veränderungen, um unser Land voranzubrin
gen. Herausforderungen löst nicht, wer bloß über Erfolge von ges
tern redet und sich darauf ausruht. Wir wollen Fortschritt erkämp
fen. Mit vielen Verbündeten. Auch für diejenigen, die noch nicht an
ihm teilhaben.
Deshalb wollen wir regieren. Dafür brauchen wir Partner*innen.
Diese Partnerschaft muss darauf gründen, dass sich heute vieles än
dern muss, damit wir alle auch morgen gut leben können. Wer mit
uns koalieren will, der muss bereit sein, bei diesen Vorhaben ent
schieden mit voranzugehen.
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Zehn-Punkte-Plan
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1. Klimaschutz voranbringen
Die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen bestimmt unser
politisches Handeln. Das Klima zu schützen, ist eine Menschheits
aufgabe. Wir wollen, dass Deutschland seine Klimaschutzziele ein
hält – ohne Wenn und Aber. Bis zum Jahr 2050 wird die Energiever-
sorgung auch für Gebäude, Mobilität und Industrie ausschließlich
aus erneuerbaren Energien erfolgen. Wir beschleunigen die Ener
giewende, schaffen die Deckelung für den Ausbau der erneuerbaren
Energien ab und achten dabei auf einen fairen Übergang. Wir führen
einen nationalen Mindestpreis für Klimaverschmutzung ein. Die
Stromsteuer schaffen wir ab und führen im Gegenzug eine aufkom
mensneutrale CO2-Bepreisung ein. Wir steigen so aus der klima
feindlichen Kohle aus, dass wir die Klimaschutzziele und unser Ziel
100 Prozent erneuerbare Energie im Strombereich bis 2030 einhal
ten. Die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke schalten wir sofort ab,
damit Deutschland das Klimaschutzziel 2020 noch erreichen kann.
2. E-Mobilität zum Durchbruch verhelfen
Eine erfolgreiche Wirtschaft ist in Zukunft erneuerbar, effizient und
digital – auch in der Mobilität. Deshalb denken wir sie neu. Ohne
Lärm, Abgase und Stau. Wir werden eine intelligent aufeinander ab
gestimmte Mobilität zwischen abgasfreiem Auto, elektromobiler
Bahn und ÖPNV, Rad- und Fußverkehr auf den Weg bringen, die auch
erschwinglich ist. Dazu gehört für uns, den öffentlichen Fern- und
Nahverkehr flächendeckend auszubauen sowie die Infrastruktur für
Fahrräder deutlich zu verbessern. Zu einer intelligenten Mobilität
gehören auch Autos ohne Abgase. Wir wollen, dass das saubere
Auto auch in Deutschland entwickelt und gebaut wird. Deutschland
hat dafür weltweit die besten Ingenieurinnen und Ingenieure. Aber
es braucht einen ehrgeizigen politischen Rahmen und damit Plan
barkeit. Wir beenden die Ära des fossilen Verbrennungsmotors mit
klaren ökologischen Leitplanken. Wir wollen ab 2030 nur noch ab
gasfreie Autos neu zulassen und schaffen dafür entsprechend die
steuerlichen, fiskalischen und infrastrukturellen Voraussetzungen
für die emissionsfreie Mobilität der Zukunft. Wir beenden die Sub
ventionen für Spritfresser wie beim Dienstwagenprivileg. Wir kur
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beln die E-Mobilität an, indem wir für Neuwagen ein Bonus-Malus-
System in die Kfz Steuer integrieren, von dem profitiert, wer weniger
CO2 ausstößt. Das befördert Innovation und sichert mit deutscher
Hightech Arbeitsplätze und Wertschöpfung.
3. Landwirtschaft nachhaltig machen
Immer mehr Menschen wollen gesunde Lebensmittel, die im Ein
klang mit der Natur hergestellt werden. Sie wünschen sich eine
Landwirtschaft, die unser Grundwasser und unsere Böden schützt,
die den Reichtum unserer Tier und Pflanzenwelt erhält, anstatt
Bienen- und Vogelsterben zu verursachen. Mit uns wird Deutsch
land auf eine nachhaltige Landwirtschaft umsteigen – ohne Acker
gifte und Gentechnik. Die industrielle Massentierhaltung schaffen
wir über die nächsten 20 Jahre ab. Wir setzen Tierschutzstandards
per Gesetz durch, die an den Bedürfnissen der Tiere orientiert sind,
die Qualzucht und quälerische Massentierhaltung beenden. Und wir
führen eine Haltungskennzeichnung für alle Tierprodukte ein – im
ersten Schritt für Fleisch. Wir schichten die europäischen Steuer
milliarden so um, dass Umweltschutz und Tierwohl zu neuen Ein
kommensmöglichkeiten für Landwirt*innen werden, denn die neue
Landwirtschaft gibt es nur mit den Bäuerinnen und Bauern.
4. Europa zusammenführen
Wir wollen das vereinte Europa stärken. Denn ohne ein vereintes
Europa wird es für uns alle weder Frieden noch Wohlstand noch
Sicherheit in der globalisierten Welt geben. Mit uns wird es eine kla
re Kurskorrektur in der deutschen Europapolitik geben. Denn es
braucht Partnerschaft mit Respekt auf Augenhöhe und mehr Solida
rität und Nachhaltigkeit statt einseitiger Sparpolitik. Wir werden
massiv in die ökologische Modernisierung und die digitale Zukunft
unseres Kontinents investieren und so auch zur Bekämpfung der Ar
beitslosigkeit in vielen Ländern beitragen – statt zwei Prozent der
Wirtschaftsleistung und damit allein in Deutschland 30 Milliarden
Euro mehr in Verteidigung zu stecken. Wir wollen mehr Transparenz
für Bürgerinnen und Bürger und mehr Entscheidungsrechte für die
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Zehn-Punkte-Plan
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 235
Parlamente in der Europapolitik. Durch gemeinsame Regeln werden
wir Steuerdumping und Geldwäsche wirksam entgegentreten. Wir
kämpfen dafür, dass CETA in dieser Form nicht ratifiziert wird.
5. Familien stärken
Wir wollen, dass das Aufstiegsversprechen für alle gleichermaßen
gilt. Dazu braucht es faire Chancen für alle. Wir investieren zusätz
lich in gute Bildung, in bessere Kita-Qualität und intakte und gut
ausgestattete Schulen – statt mit der Gießkanne Geld auszugeben.
Wir bekämpfen Kinderarmut und stärken Alleinerziehende. Wir ver
bessern die Familienförderung mit zwölf Milliarden Euro zusätzlich:
Das grüne Familien-Budget – mit allem, was dazugehört – stärkt
nicht nur Familien, sondern fördert auch die wirtschaftliche Unab
hängigkeit von Frauen. Und wir eröffnen damit endlich allen Kin
dern gute Chancen für ihr Leben – egal wie sie heißen, wo sie woh
nen und wer ihre Eltern sind.
6. Soziale Sicherheit schaffen
Mit der Digitalisierung der Arbeitswelt stehen wir vor einem großen
Umbruch. Wir wollen dafür sorgen, dass der Sozialstaat sein Verspre
chen auf Sicherheit auch in Zukunft noch einlösen kann und damit
Abstiegsängsten entgegentritt. Wir wollen soziale Sicherheit, die
vor Armut schützt und Teilhabe garantiert – egal ob bei Arbeitslosig
keit oder im Alter. Und wir wollen soziale Ungleichheit in Deutsch
land verringern. Deshalb bauen wir die sozialen Sicherungssysteme
schritt weise zu einer solidarischen Bürger*innenversicherung für alle
um. Wir stabilisieren das Rentenniveau. Wir beenden die Zwei-Klas
sen-Medizin und beteiligen Arbeitgeber*innen wieder paritätisch an
den Kosten. Und wir verbessern die soziale Absicherung von Selb
ständigen.
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Zehn-Punkte-Plan
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
236
7. Integration zum Erfolg führen, Geflüchtete schützen
Es ist nicht wichtig, wo jemand herkommt, sondern, wohin sie oder
er will. Wer hier glücklich werden will, muss unser Grundgesetz und
seine Grundwerte anerkennen. In unserem gemeinsamen Land gilt
das für alle, egal ob sie aus Dresden oder aus Damaskus kommen.
Wir legen künftig in unserer Einwanderungsgesellschaft mehr Wert
auf Erziehung zur Demokratie für alle Kinder und Jugendlichen. Wir
reformieren das Staatsbürgerschaftsrecht: Wer in Deutschland ge
boren wird, ist deutsche*r Staatsbürger*in. Wir wollen, dass aner
kannte Geflüchtete ihre Familien nachholen dürfen, denn auch das
hilft ihnen, sich zu integrieren. Auch sie haben ein Recht, als
Familie zusammenleben zu können. Wir stehen für eine humane,
menschenrechtsorientierte und zudem gemeinsame europäische
Flüchtlingspolitik ein. Mit uns gibt es keine Grundgesetzänderung
für eine Obergrenze beim Asylrecht. Weitere Asylrechtsverschär
fungen und Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete lehnen wir
ab. Das sind wir unserer Geschichte und unseren Werten schuldig.
8. Gleichberechtigt und selbstbestimmt leben
Auch im Jahr 2017 sind Frauen und Männer immer noch nicht gleich
berechtigt. Wir sorgen dafür, dass gleichwertige Arbeit endlich
gleich bezahlt wird – egal, ob sie von Frauen oder Männern geleis
tet wird. Wir bringen ein wirksames Entgeltgleichheitsgesetz auf
den Weg. Alle sollen ein Recht auf Rückkehr in Vollzeit haben. Und
wir durchbrechen die gläserne Decke, an die Frauen in ihren Karrie
ren viel zu häufig stoßen. Quoten bleiben das wirksamste Mittel, ob
im DAX-Vorstand oder an den Spitzen von Verwaltungen. Wir wol
len die Ehe für Alle auch in Deutschland ermöglichen und das Adop
tionsrecht öffnen. Wenn zwei Menschen sich lieben und füreinander
Verantwortung übernehmen wollen, dann verdient das Respekt.
Das sehen in Deutschland die meisten Menschen so: Sie wollen,
dass Schwule und Lesben heiraten dürfen. In 22 Ländern weltweit,
davon 13 in Europa, können sich Schwule und Lesben das Jawort
geben. Warum soll in Deutschland nicht möglich sein, was vieler
orts geltendes Recht ist? Das Eheverbot für Schwule und Lesben
passt nicht zu unserem modernen Land Deutschland.
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Zehn-Punkte-Plan
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 237
9. Freiheit sichern
Wer frei leben will, muss sich sicher fühlen können. Islamistischer
Terrorismus ist eine der größten Bedrohungen unserer Zeit. Rechts
extreme Gewalt und Terror konnten sich in unserem Land viel zu
lange ohne effektive Gegenwehr ausbreiten. Frauen sind immer
noch in besonderer Form von Gewalt betroffen – sowohl im privaten
wie auch öffentlichen Raum, sowohl online wie offline. Rassismus ist
immer noch alltäglich und resultiert oft in Gewalt. Geflüchtete,
LSBTIQ*, sogar Obdachlose werden bedroht oder angegriffen. Hinzu
kommen hetzerisch geführte Debatten, die unsere Gesellschaft
spalten und verunsichern. Vielen Menschen macht zu Recht die hohe
Zahl der Einbrüche Angst. Wir stehen für eine effektive Sicherheits-
politik. Eine Sicherheitspolitik, die Bedrohungen ernst nimmt, aber
mit Augenmaß und unter Wahrung der Bürger*innenrechte reagiert.
Wir sorgen dafür, dass die Polizei zur Erfüllung ihrer wachsenden
Aufgaben gut ausgestattet ist, um effektiv schützen zu können. Wir
stärken die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Sicherheits
behörden. Wir setzen auf gezielte Überwachung statt massenhaften
Ausspähens aller Bürgerinnen und Bürger. Wir stärken das Prinzip
der Prävention als integraler Bestandteil der inneren Sicherheit.
Dazu gehört auch, das Waffenrecht zu verschärfen.
10. Fluchtursachen bekämpfen
Deutschland ist international ein verlässlicher Bündnispartner.
Doch wir tragen derzeit mit Rüstungsexporten an Diktaturen und
Krisenregionen zur Unsicherheit in der Welt bei. Deshalb beenden
wir solche Exporte mit einem verbindlichen Rüstungsexportgesetz.
Wir wollen nicht auf Kosten der Menschen in anderen Ländern Pro
fite machen und Konflikte dort anheizen. Deshalb stärken wir mit
fairen Handelsabkommen ökologische und soziale Standards welt
weit. Wir wollen die Überfischung vor den Küsten Afrikas beenden
und solche Agrarsubventionen streichen, die andernorts Landflucht
und Hunger befördern. Der Kampf gegen die Klimaerhitzung ist
auch ein Kampf gegen Fluchtursachen. Die beste Flüchtlingspolitik
ist diejenige, die Menschenrechte konsequent schützt und dazu bei
trägt, dass Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen.
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Zehn-Punkte-Plan
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
238
Unser verbindliches Angebot
Diese Vorhaben beschreiben nicht alle unsere Anliegen – aber die
wichtigsten. Sie sind unser Maßstab für eine Regierungsbeteiligung.
Sie sind unser verbindliches Angebot an Sie, die Bürgerinnen und
Bürger. Wenn Sie die GRÜNEN wählen, bekommen Sie dafür vollen
Einsatz.
Wir wollen den Stillstand und die Unentschlossenheit ablösen,
die die Große Koalition bietet. Deshalb sind wir bereit, nach der
Wahl mit allen Parteien außer der AfD zu sprechen, ob wir unsere
Vorhaben umsetzen können. Das entspricht unserem Verständnis
von Demokratie und Verantwortung.
Wir haben bereits einmal sieben Jahre lang in einer Koalition mit
der SPD unsere Republik erfolgreich regiert und nach vorne ge
bracht. Daran würden wir gerne wieder anknüpfen. Doch über mög
liche Mehrheiten entscheiden Sie als Wählerinnen und Wähler. Je
stärker die GRÜNEN im nächsten Deutschen Bundestag und einer
Bundesregierung sind, umso mehr Gewicht haben wir auch, um diese
Ziele durchzusetzen. Regieren können und werden wir, wenn die
Richtung stimmt und unsere Kernvorhaben umgesetzt werden kön
nen. Das ist für uns Anforderung, um verantwortungsvoll mit Ihrer
Stimme umzugehen. Wenn unsere Kernvorhaben nicht umgesetzt
werden können, dann werden wir aus der Opposition für Verände
rung und gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen. Sollte es erfolgrei
che Koalitionsverhandlungen geben, werden wir das Ergebnis unse
ren Mitgliedern in einer Urabstimmung vorlegen.
Wir wollen eine moderne und ökologische, eine vielfältige und
gerechte Gesellschaft. Wer mit uns regieren will, muss den Politik
wechsel auf den Weg bringen.
Zukunft wird aus Mut gemacht!
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Zehn-Punkte-Plan
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 239
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
240
Stichwortregister
A
Abfall 18, 22f
Abrüstung 66, 83f
Afrika 15–19, 65, 75–78, 95, 99, 104, 237
Agrarpolitik 11, 16, 24–26, 29f, 78, 81, 93, 97, 101, 228, 237
Antidiskriminierung 9, 81, 112, 117, 119–138, 148, 155, 161, 167, 169, 225
Antisemitismus 117, 119, 140
Antiziganismus 117, 119f, 140
Arbeit 8–11, 20, 23, 27, 34–36, 40–49, 54, 61, 63, 71–73, 77, 92f, 96, 101f,
106–114, 125, 127, 129–134, 138, 141, 150–153, 171–175, 179–181, 187f,
191–197, 201–206, 209–211, 214, 216–222, 227–231
Arbeit 4.0 227
Arbeitsmarkt 73, 102, 106–113, 205, 216–221
Arbeitsversicherung 180, 205f, 218–222, 228
Armutsbekämpfung 9, 14, 65, 68, 81, 90f, 121, 125, 130, 171f, 190, 197f, 200,
204, 209, 212f, 215f, 218, 235
Artenschutz 19–21, 24, 30f
Asylrecht 98–100, 104f, 236
Atomausstieg 11, 48f, 52–55, 94
Ausbildung 72, 77, 106f, 111–113, 127, 150, 174–181, 186f, 201–204, 230
Außenpolitik 53, 75, 83–85, 101
B
BAföG 178, 182
Bahn 45, 56–60, 72, 230, 233
Barrierefreiheit 63, 125
Behinderung, Menschen mit 125, 127, 141, 176, 180f, 211, 213, 219–221
Bildung 16, 47, 71, 81f, 106–113, 120, 123, 127, 139, 141–143, 155f, 164–167,
172, 175–182, 218, 223–225, 230, 235
Bisexuelle 81, 123
Bodenschutz 14, 17, 19–21, 25, 28–30, 33, 37f, 40, 234
Breitbandausbau 225, 230
Bundeswehr 84–87, 140, 168
Bürger*innenrechte 116f, 136, 144, 155, 237
Bürger*innenversicherung 173, 199–207, 231, 235
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 241
C
Cannabis 126f
CETA 90, 93, 96, 235
CO2–Ausstoß 33–39, 41, 45–47, 58, 61, 225, 233f
Cybermobbing 135, 167
D
Daseinsvorsorge 81, 93–96, 155, 165, 185–188, 200
Datenschutz 93, 96, 121, 160, 162, 164, 167–169, 203, 220, 223, 227
Demografischer Wandel 7, 111, 197, 203
Demokratie 7, 68, 70, 73, 76–78, 113–121, 136, 141–152, 156, 164, 169f, 173,
218, 236, 238
Deutschland–Takt 60, 64
Digitalisierung 7, 28, 45f, 72, 153, 166, 171–173, 179, 187, 197, 203, 217,
223–229, 235
Direkte Demokratie 147–149, 156
Divestment 43, 46
Drogenpolitik 125–127
E
EEG (Erneuerbare–Energien–Gesetz) 35, 50
E–Government 164, 170
Ehe für Alle 123, 126, 236
Ehegattensplitting 130, 212, 215
Einwanderung 10, 67, 99, 111–115, 153, 236
Einwanderungsgesetz 99, 112, 114
Elektromobilität (auch E–Mobilität) 15, 43, 57, 60f, 64, 230, 233f
Energie 8f, 15, 33–39, 41–55, 58, 72, 78, 101, 164, 189, 223–225, 228, 233
Energiewende 8f, 41, 45–51, 54, 233
Entgeltgleichheit 130, 134, 193, 236
Entwicklungszusammenarbeit 81, 87, 104
Ernährung 21, 30, 81, 92f, 158
Erneuerbare Energien 9, 35, 39, 50
EU–Parlament 42, 73
Euro 65–74
Europa 7–13, 16, 19, 25–37, 51–55, 57–60, 65–73, 76–79, 83–88, 90–94, 109, 111,
114, 117, 120, 128, 137–143, 146, 148, 150, 154, 156, 159f, 191, 196, 227, 232–236
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
242
Europäische Union (EU) 29, 67–79, 82–88, 91f, 94f, 97f, 100–104, 114–117,
120, 125, 140, 149f, 154, 162, 187, 195, 234
F
Faire Wärme 51, 54
Familie 57, 59, 98f, 103, 105–110, 123, 130–133, 171–173, 176, 178, 183–185,
209–216, 219, 227f, 235f
Familiennachzug 107, 109
Familien–Budget 130, 212, 215
Finanzmarkt 90, 92f, 190f
Flucht 7–12, 14, 33, 66–68, 70, 75–77, 80, 82, 88f, 98–110, 237
Flüchtlinge 11, 66f, 82, 87, 98–110, 121, 149, 174, 180, 211, 219, 222, 237
Forschung 28, 45, 52, 61, 72, 85, 91, 123, 125, 153, 164, 175, 202, 228–230
Frauen 10, 15, 44f, 56, 80f, 85, 93, 100, 105–109, 113, 124, 128–135, 149, 167,
179, 188, 193, 197–200, 202, 205f, 209f, 216–221, 235f
Freihandel 91
Freiheit 7–10, 68, 70, 76, 91, 116–170, 237
Frieden 8–11, 14, 65–70, 75f, 78–86, 119, 148, 197, 234
G
Ganztagsschule 177, 182, 210
Geburtshilfe 134, 202
Geflüchtete 11, 66f, 82, 87, 98–110, 121, 149, 174, 180, 211, 219, 222, 237
Gentechnik 9, 25–28, 234
Gerechtigkeit 7, 11, 15, 66–68, 72, 79–81, 87, 121, 128, 131, 134, 149f, 153f,
164, 171–173, 187
Geringverdiener*innen 190–193
Gesellschaftliches Engagement 104, 141, 146–150
Gesundheit 18–20, 23, 27f, 31, 33, 47, 58, 62, 81, 93, 108, 123–126, 154,
157–160, 173, 187, 200–203, 207, 211, 216
Gewaltschutz 124, 129, 131, 134
Gewässerschutz 17f, 23
Gleichberechtigung 7, 81, 116f, 128–131
Globalisierung 7, 67–69, 90–97, 171–197
Green New Deal für Europa 72
Gründer*innen 10, 26, 173, 199, 205, 225, 228–230
Grundsicherung 198, 204f, 207, 212f
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 243
Grüne Wirtschaftspolitik 41
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit 116f, 119f, 140f, 146, 167
Gruppenklagen 160, 163
Gute Arbeit 27, 43, 92, 174, 180, 205, 216f, 220, 224, 227f
H
Handel 8f, 26, 29, 31–35, 38, 66–69, 72, 78, 90–97, 83, 101, 111, 127, 136, 169,
191f, 195, 223, 225, 237
Handelsabkommen 90–96, 237
Hass im Netz 116, 164, 166f
Hebammen 133f, 202
Hochschulen 10, 32, 122, 172, 174f, 178f, 203, 229f
Hochwasserschutz 14, 18, 25
Humanitäre Hilfe 82, 102f
Hunger 14, 65, 68, 81f, 91–97, 237
I
Industriepolitik 9, 15f, 18–23, 25–30, 34f, 38, 40–43, 48–54, 61–64, 72, 87, 95,
157f, 170, 233f
Inklusion 119, 124f, 127, 141, 171f, 175–177, 180–182, 200, 211, 213, 219–221
Innere Sicherheit 11, 117, 132, 136–145, 167, 237
Integration 11, 68, 99, 102, 106–115, 119, 149, 154, 180f, 222, 236
Internationale Politik 7–24, 65–67, 75–97, 101f
Intersexuelle 81, 123
Islam 122, 144
J
Jahreswohlstandsbericht 45, 47
Jugendliche 56, 71f, 108, 123, 126, 144, 156, 174, 177f, 180, 187, 211, 213, 222, 236
Jugendschutz 125–127
K
Kennzeichnungspflicht 28f, 95, 158, 162, 166, 234
Kinder 9–17, 92, 99f, 106–113, 123, 126, 130f, 134, 142, 158, 171–178,
181–187, 198, 201f, 204–215, 235f
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
244
Kinderarmut 172, 209, 212f, 235
Kindertagesstätten 107, 142, 172, 174f, 181, 183
KinderZeit Plus 210, 214
Klimaabkommen 14, 33f, 44, 46, 50, 92
Klimapolitik 8–11, 14–18, 33–40, 46, 48f, 59, 61, 81, 87f, 91, 101, 233, 237
Klimaschutzgesetz 34, 38
Kohleausstieg 15, 35–39, 50
Kommunen 11, 20, 23, 27, 43, 47, 50, 53, 59–64, 93, 98, 104–110, 143f, 148,
165, 169, 172, 175, 177, 182–188, 193, 200, 204, 208
Kreative 10, 151, 165, 227–231
Kreislaufwirtschaft 22f, 72
Krisenprävention, zivile 75, 78f, 85, 88, 101
Kultur 8–10, 71f, 82, 90, 93, 96, 111–114, 120, 151–156, 166, 176, 179, 182, 184,
203f, 212f, 229, 231
L
Ländliche Räume 7, 56, 61, 154, 165, 186f
Landwirtschaft 9, 15, 18, 20f, 24–34, 38, 44, 46, 72, 93, 97, 101, 234
Lärmschutz 15f, 56–63, 233
Lebensgrundlagen 14–16, 40, 46, 48, 90f, 101, 233
Leiharbeit 107, 193, 216f, 220, 225
Lesben 81, 123f, 236
Lobbyregister 74, 78, 147, 156
LSBTIQ* 82, 106, 117, 119, 123f
M
Massentierhaltung 9, 15, 25–27, 31, 34
Medien 116, 125, 142–146, 150–154, 166f, 180
Meeresschutz 14, 17–19, 33, 101
Menschen mit Behinderung 125, 127, 141, 176, 180f, 211, 213, 219–221
Menschenrechte 11, 23, 66, 68, 76, 79–85, 88, 93, 95f, 99, 103–105, 113, 121,
123, 140, 148f, 157, 237
Mieten 54, 182f, 185f, 189, 191
Mobilität 15, 20, 23f, 34, 38, 42–46, 54, 56–64, 178, 186, 212, 225, 228, 230, 233
MobilPass 59, 63
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 245
N
Nachhaltigkeit 44f, 54, 65, 67, 81, 85, 91, 164, 234
Naturschutz 14–32, 48, 51, 72
Netzausbau (Stromnetz) 51
Netzneutralität 165, 225
NSU 137, 141
O
Ökologische Modernisierung 7, 16, 40–44, 191, 205, 228, 234
Open Data 148, 170
ÖPNV 20, 44, 56–64, 233
P
Pflege 127, 129–131, 134, 171, 173f, 178, 183, 190, 200–208, 210f, 220, 231
PflegeZeit Plus 204, 207f, 220
Prävention (Gesundheitsprävention) 123–127, 211
Prävention (Krisenprävention) 67, 75, 78–80, 83, 85, 88, 101, 136
Präventionszentrum 143f
Q
Queere Menschen 81, 123
R
Radverkehr 24, 36, 44, 56f, 63f
Rassismus 117, 119, 140f, 146, 167, 237
Rechtsextremismus 119, 141–143, 155
Rechtsstaat 68, 70, 75–81, 85, 99f, 102, 116f, 132, 136–146, 168, 170
Recycling 18, 44
Religionen 10, 68, 111, 113, 117, 120–122, 141, 146
Rente 130, 173, 197–200, 204–206, 231–235
Ressourceneffizienz 43, 52
Rüstung 11, 65–67, 76, 81, 83f, 87f, 101, 140, 237
Stichwortregister
ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT.
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
246
S
Schuldenbremse 191, 195, 224f
Schulen 9–11, 27, 107, 142, 153, 158, 172, 174–177, 181f, 184, 187, 210, 235
Schwule 81, 123, 236
Selbstbestimmung 10, 70, 81, 83, 117, 119–133, 136, 164, 167, 172, 179, 202,
220, 227
Selbständige 194, 197, 199, 201, 206f, 218, 222, 227–231
Sexualisierte Gewalt 129, 131f, 134f, 211
Sicherheitspolitik 65, 71, 75, 79, 83f, 86f, 96, 117, 136–140, 144, 237
Sozialstaat 197–208, 235
Sozialversicherung 130, 193, 200, 216, 218
Sport 119f, 149, 152, 154f, 182–184, 213
Steuerpolitik 10, 130, 185, 193f, 196, 198, 218, 227
Strommarkt 50f, 54
Strukturwandel 7, 32, 36, 39, 228
Studium 32, 175, 179
Subventionsabbau 16, 41f, 46, 52, 57, 59f, 72, 94f, 225, 233, 237
Sucht 126f
Syrien 65, 76, 104, 109, 174
T
Tierschutz 27, 30–32, 162, 234
Toleranz 10, 68, 116
Transparenz 73f, 96, 147f, 155–161, 168, 196, 234
Transsexuelle 81, 123f
TTIP 90, 93, 96
Türkei 76f, 80, 102–104
U
Umweltpolitik 14–23, 26–30, 40–44, 46, 48, 56, 58–62, 64, 92–95, 98, 121,
134, 149, 152, 158, 225f
Umweltfreundliche Mobilität 34, 38, 42f, 44f, 46, 56–64, 225, 228, 230, 233f
Umweltschädliche Subventionen 41f, 46, 57, 59, 60, 72, 225, 233, 237
Stichwortregister
BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2017
Bundestagswahlprogramm 2017
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 247
V
Verbraucher*innenschutz 22, 26–29, 32, 46, 157–165, 168, 191f, 223f, 226
Vereinte Nationen 11, 33, 65f, 75, 79–88, 125, 127, 176
Verfassungsschutz 137, 141–144
Verkehrspolitik 34, 36, 38, 41, 44–48, 56–64, 223, 231, 233
Vermögenssteuer 194, 196
Verteidigung 75, 84–87, 140, 168, 234
Vielfalt (biologische) 17, 19, 21f, 24f, 30, 47, 97
Vielfalt (kulturelle und gesellschaftliche) 10, 13, 68, 93, 111–116, 119–124,
130, 133, 136, 138, 149–152, 155, 166, 185, 238
Volksentscheide 57, 148, 156
Vorratsdatenspeicherung 136
W
Wahlalter 149, 156, 213
Wärme 48, 51f, 136
Weiterbildung 43, 117, 131, 149, 174, 180f, 205, 210, 218f, 221, 228
Welthandel 90–96
Wettbewerb 10, 15, 38, 46, 50, 58, 60f, 72f, 92, 111, 164f, 169, 194f, 217, 223–228
Whistleblower*innen 149f, 156
Wirtschaftspolitik 15, 40–47, 139
Wissenschaft 42, 45, 53, 90, 122, 142, 144, 165, 179f, 217, 229f
Wohlstand 7f, 14, 34, 40, 42–48, 66, 68, 90, 129, 224f, 234
Wohnen 44, 52, 54, 125, 179, 184–189, 213, 235
Z
Zeitpolitik 131, 214, 220
Zivile Krisenprävention 75, 78f, 85, 88, 101
Zukunftsfonds (im EU–Haushalt) 72, 77
Zukunftspakt (zwischen der EU und Afrika) 77f
Zusammenhalt 9–11, 43, 68–71, 113, 117, 119, 121, 149f, 154, 173, 175, 187,
190, 197, 209, 216
WAHLKAMPF 2017 —
INFORMIEREN UND
MITMACHEN:
WAHLKAMPF 2017 —
INFORMIEREN UND
MITMACHEN:
WWW.GRUENE.DE
Dieses Bundestagswahlprogramm wurde auf
der 41. Bundesdelegiertenkonferenz von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 16. bis 18. Juni 2017
in Berlin beschlossen.
Dieses Bundestagswahlprogramm wurde auf
der 41. Bundesdelegiertenkonferenz von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 16. bis 18. Juni 2017
in Berlin beschlossen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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V.i.S.d.P. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Lea Belsner, Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 BerlinV.i.S.d.P. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Lea Belsner, Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 Berlin
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